Auf der Welt Shandalar ging in der Stadt Lesh ein Mann durch die Straßen und faselte etwas von grauenhaften Übeln daher. Dies allein war kaum bemerkenswert.

In Lesh war man an solcherlei Benehmen gewöhnt. Die Stadt war ein Sündenpfuhl aus Korruption, Diebstahl und Mord. Manche behaupteten, sie wäre ein Abbild jenes geheimnisvollen und bösen Gottes, der sie angeblich vor Jahrhunderten gegründet hatte. Der Gott war längst fort, und doch haftete sein schändlicher Makel noch immer an Lesh – einer Heimstatt von Kulten, die den Xathrid-Dämonen huldigten, und das Zuhause von Dienern der Vaasgoth-Vampire.

Hätte die Stadt nicht an einem der wichtigsten Handelsflüsse Shandalars gelegen, wäre sie wohl gemeinhin gemieden worden. Die Händlergilden herrschten über die Stadt, gemeinsam mit einem Großteil der Vertreter ihrer Unterwelt, die einige der berüchtigtsten Übeltäter Shandalars hervorgebracht hatte.

Es waren ebenjene Händler, auf die der vor sich hin schwadronierende Mann zuging, um sie einen nach dem anderen an der Robe zu packen und durchzuschütteln, während er etwas von heimtückischen Kreaturen brüllte. Er verlangte so vehement nach ihrem Gehör, als hinge sein Leben von diesen ältlichen, beleibten Obstkrämern ab. All sein flehentliches „So hört mir doch zu!“ verschlimmerte seine Lage indes nur, da die Händler sein unentwegtes Gefasel zum Anlass nahmen, ihn tunlichst zu ignorieren.

Stets misstrauisch gegenüber solchem Wahn hätten sie sofort die Wachen herbeigerufen, hätte der Mann nicht solch glänzende und zweifelsohne wertvolle Juwelen um Hals und Handgelenke getragen. Einem derart offenkundig vom Wahnsinn Besessenen begegnete man für gewöhnlich weder mit Aufmerksamkeit oder gar Respekt – nicht an einem Ort wie Lesh! –, doch wenn er einen ganzen Jahresverdienst so lose um den Hals trug, neigten die Händler dazu, ein wenig mehr Nachsicht zu zeigen.

Während sie an ihren Ständen noch Pläne schmiedeten, wie man sich das Wohlwollen dieses krakeelenden Kerles sichern konnte, und die Diebe in den Gassen schon ihre Dolche zückten, stieß eine junge Frau mit dem Mann zusammen. Sie war in Leder gekleidet – aus der Sicht eines Adligen etwas aus der Mode, aus der eines Bettlers hingegen durchaus erlesen.

Jalira, Meisterpolymorphistin | Art by Steve Prescott

„Oh, verzeiht mir, mein Herr“, sprach sie.

„Ihr! Werdet Ihr mir helfen?“ Der Mann trug die Uniform eines Soldaten, die an das weit entfernte Thune erinnerte, doch sie war schmutzig und roch, als trage er sie bereits seit geraumer Zeit.

„Womit kann ich Euch helfen?“, fragte sie und legte ihm die Hand auf die Schulter.

„Der Stock! Liebes Mädchen, wir müssen die anderen vor dem Stock warnen!“ Er bemerkte nicht, dass eine seiner Halsketten durchtrennt wurde und in die Hand der Frau glitt.

„Das klingt ja schrecklich!“, sagte sie und legte ihre Hände in die seinen, um ihm die Ringe von den Fingern zu ziehen. „Ich glaube, ich habe davon gehört.“

„Habt Ihr? Bitte – niemand will mir glauben.“ Er blickte ihr flehentlich in die Augen.

Ein anderer Mann hielt an und wandte sich an die beiden. Sein Haar war lang und schwarz, und er trug eine lederne Klappe über dem rechten Auge. Seine braune Lederkleidung war mit dem Chitin eines Albinoinsekts verziert, und die Leier auf seinem Rücken war aus einem ähnlichen Material gefertigt.

Yisan der Wanderbarde | Art by Chase Stone

„Ich glaube Euch, mein Herr“, sagte der Mann, „denn ich habe zu meiner Zeit schon oft gegen Stöcke gekämpft und so manchen von ihnen erledigt.“

Die Frau wurde rot und funkelte den neuen Rivalen zornig an, der sich da ihrem Opfer näherte.

„Oh, hast du das?“, presste sie hervor.

„Nun, schon vor dem Frühstück habe ich bereits sieben von ihnen erledigt“, sprach er mit einem Schmunzeln. „Ich lausche gern Eurer Geschichte, gute Seele.“

„Oh, Ihr sollt beide gesegnet sein“, sagte der verwirrte Mann.

„Mein Herr, mir scheint, Ihr habt eine Goldmünze fallen lassen“, sprach der Neuankömmling. Er beugte sich hinunter und hob eine Münze vom Boden auf – goldbeschichtetes Kupfer – und legte sie dem Mann in die Hand, während er ihm gleichzeitig einen der goldenen Armreifen vom Handgelenk entwendete. Noch in derselben fließenden Bewegung glitt er geschmeidig zur Seite, um den Beutel des Mannes zu schneiden.

„Oh, Ihr habt recht. Ich danke Euch.“ Der heruntergekommene Mann starrte auf die Münze in seiner Hand.

Der Neuankömmling grinste die Frau breit an. Diese ballte eine Hand zur Faust und legte die andere auf die Schulter des Mannes. Der Neuankömmling ahmte ihre Bewegungen nach und und legte seinerseits eine Hand auf die andere Schulter des Mannes. Der Weissager jedoch war von der Münze derart hingerissen, dass er den Zwist seiner Zuhörer gar nicht bemerkte.

Die Händler – besorgt darüber, dass dieses Pärchen dort den Mann seiner Schätze beraubte, und gierig darauf, selbst Hand an seine Besitztümer zu legen – riefen nun endlich die Wachen herbei. Wenn sie schon keinen Anteil an der Beute erhalten sollten, warum dann jemand anders?

„Jalira und Yisan, lasst von diesem Mann ab!“, hallte eine Stimme über den Marktplatz.

Jalira, die Frau, und Yisan, der Mann mit der Augenklappe, blickten einander an und seufzten. Der Hauptmann der Wache ritt in Begleitung sechs weiterer Soldaten, von denen zwei bereits ihre Bögen auf Jalira und Yisan gerichtet hatten, auf sie zu.

„Jalira, steckt Eure Hände in die Taschen. Yisan, wenn Ihr auch nur nach dieser Leier greift, durchbohrt Euch ein Pfeil, ehe Ihr auch nur die erste Saite zupfen könnt.“

Jalira steckte die Hände in die Taschen und Yisan verschränkte die Arme.

„Oh, seid gegrüßt, Dexros“, sagte Yisan und gestikulierte beim Sprechen heftig, wohlwissend, dass dies den Wachen, die seine Bewegungen verfolgten, gewiss Unbehagen bereitete. „Wo drückt denn der Schuh?“

„Uns wurde berichtet, Ihr würdet auf dem Markt stehlen.“

Jaliras Gesichtsausdruck wandelte sich von Verärgerung zu Mitleid, als sie die Augenbrauen hob und vortrat.

„Bitte, mein Herr, wir helfen bloß dieser armen Seele, indem wir ihre Habseligkeiten stehlen, damit sie nicht mit einem Dolch im Rücken endet. Wir tun hier nichts als unsere Bürgerpflicht“, sagte sie. Der verwirrte Mann blickte irritiert drein, um dann zu bemerken, dass all sein Gold verschwunden war. Es schien ihn nicht zu kümmern. Stattdessen wandte er sich dem nächsten lächelnden Händler zu und fuhr fort, sich über den drohenden Untergang durch die Hände oder Klauen des Stocks zu ereifern. Jalira und Yisan verdrehten die Augen, als sie ihr Opfer dahingehen sahen.

„Ihr seid verhaftet“, sagte Dexros, der Hauptmann der Wache. „Ihr werdet uns begleiten oder wir werden Haftbefehl gegen Euch erlassen.“

„Es gibt bereits einen Haftbefehl gegen mich“, ließt Jalira ihn wissen. Yisan schaute bestürzt zu ihr hinüber.

„Warum musst du immer alles so kompliziert machen?“

Yisan wandte sich an die Wachen.

„Wir werden nicht mit Euch kommen.“

Dexros machte sich bereit, seine Männer angreifen zu lassen. Gerade als er den Mund öffnete, um den Bogenschützen den Schießbefehl zu erteilen, begann Yisan, eine Melodie zu summen, die für das menschliche Ohr nicht zu hören war. Er zog es zwar vor, seine Leier zu spielen, doch ihm war jedes Instrument recht, einschließlich seiner eigenen Stimme.

Fünf Pferde bäumten sich in Panik auf, und drei warfen ihre Reiter ab, ehe sie über den Marktplatz davonpreschten. Zwei der Wachen hielten sich gerade eben noch im Sattel. Die Wachen am Boden rappelten sich auf und stürmten auf das Diebespärchen zu, doch Jaliras Hände vollführten einen Wink, woraufhin ihr blauer Rauch aus den Fingerspitzen strömte. Die Wachen verwandelten sich in winzige blaue Frösche, ihre leere Kleidung fiel um sie herum zu Boden. Yisan warf Jalira einen missbilligenden Blick zu.

„Die Fliegen wurden mir zu lästig“, gab sie grinsend zurück.

Polymorphistenscherz | Art by Craig J Spearling

Yisan verdrehte die Augen. Er war im Begriff, etwas zu erwidern und sie zu schelten, dass sie seine Melodie unterbrochen hatte, da ließ das Geräusch weiterer Wachen die Straße hinunter sie beide die Ohren spitzen.

„Ich glaube, Jalira, es ist besser, wenn wir von hier verschwinden.“


Nachdem Jalira und Yisan sich aus der Stadt geschlichen hatten, schlugen sie am Rand der Straße an einem schmalen Fluss ihr Lager auf, einige Meilen von der Stadt entfernt. Jalira trank Wasser aus einem Schlauch, während Yisan auf einem Felsen stand und in einem Buch las und dabei leise vor sich hin summte.

„Musst du wieder mit dieser Melodie anfangen?“, fragte Jalira. „Das letzte Mal, als wir gemeinsam gereist sind, bekam ich sie wochenlang nicht aus dem Kopf.“

Yisan gab keine Antwort und summte stattdessen lauter und lauter, bis er zu singen begann, was Jalira dazu veranlasste, einen Stein aufzuheben und nach dem Barden zu werfen. Yisan sprang, ohne von seinem Buch aufzublicken, von dem Felsen herab und ging zu Jalira herüber.

„Es scheint, als sei der Mann, den wir beraubt haben, ein Kundschafter aus Thume namens Hastric“, sagte er, während er mit dem Buch vor Jalira herumwedelte. „Das könnte die Lösung unserer Geldprobleme sein.“

Sie schnappte sich das Buch. „Welche Geldprobleme?“, fragte sie und klang dabei in Yisans Ohren nur wenig überzeugend. Er grinste sie an, als sie das Buch aufschlug, um darin zu lesen.

„Silber?“, rief sie.

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„Nein, das heißt Splitter“, verbesserte er sie, während er zurück auf seinen Felsen sprang. „Dein gieriger Geist betrügt deine Augen.“

Auf seiner Leier Tolumnus zupfte er dieselbe Melodie, die er zuvor gesummt hatte. Jalira überging seine Verbesserung und fuhr fort, etwas über die Remasuri zu lesen. Sie hatte Gerüchte gehört – von seltsamen Kreaturen, deren Entwicklung sich sehr rasch vollzog –, doch ihre Studien der Physiologie waren zu einem jähen Ende gelangt, als ihr das Geld ausging, ihre Versuchsobjekte und sich selbst zu ernähren.

Hastric hatte es auf sich genommen, die Remasuri zu erforschen, aber die Aufzeichnungen in Jaliras Händen legten den Schluss nahe, dass er langsam den Verstand zu verlieren begann – offenbar durch etwas, was er anfangs als das „Summen“ bezeichnet hatte. Spätere, weitaus sprunghaftere und von Verfolgungswahn geprägte Passagen nannten es das „Surren“. Der letzte hingekritzelte Eintrag sprach schließlich nur noch von dem „Ruf“.

In den Notizen fanden sich zudem Berichte über tote Händler und Reisende im tiefsten Teil des Splitternetzwerks der Remasuri – Händler und Reisende, die Goldhaufen und Edelsteine zurückließen und nur darauf warteten, gefleddert zu werden.

Jaliras Wangen röteten sich und ihr Herz schlug schneller, als sie weiterlas. Sie konnte nicht nur einzigartige und wundersame Kreaturen studieren, wie sie die zivilisierte Welt noch nie zuvor erblickt hatte, nein, sie konnte dabei auch noch ein kleines Vermögen verdienen.

„Na, dann lass uns mal gehen“, sagte Jalira und warf dem nach wie vor leierspielenden Barden das Tagebuch zu. Sie lächelte noch immer, doch es war ihr gewohntes falsches Grinsen.

Yisan fing das Buch mit der Schlaghand auf und unterbrach das Lied.

„Das führt uns tief in die Kalonische Wildnis, vorbei an den Ruinen von Onakke“, sagte er. „Dann sollten wir uns besser auf dem Weg machen.“

Yisan zurrte Tolumnus auf seinem Rücken fest und summte die vertraute Melodie, als das Pärchen aufbrach.


Die Reise stellte sich als mühseliger heraus, als sie erwartet hatten. Schon früh wurden Jalira und Yisan von einem Rudel Bestien heimgesucht, die von dunklen Zaubern verdorben waren – Kreaturen, wie sie erst seit Kurzem das Land unsicher machten. Jalira verwandelte einige von ihnen in Hasen, während Yisan versuchte, sie zu besänftigen. Seine Musik verfehlte jedoch ihre Wirkung auf die Bestien, weswegen er gewaltige Tausendfüßler aus der Erde emporrief. Während des anschließenden Kampfes gelang dem Pärchen die Flucht.

Nachdem sie eine Nacht bei einer eigentümlichen und mathematisch gesinnten Kompanie von Bergleuten verbracht hatten, schlugen sie einen weiten Bogen zur Küste und nahmen sich die Zeit, den Kalonischen Wald zu durchqueren, um Talrands Luftpatrouillen auszuweichen. Aus einer Vielzahl unterschiedlichster Gründe betrachtete keiner von beiden den Drachenbeschwörer als Freund: Talrand hatte sie beide um zwanzig Goldbarren, den Besitz eines Leuchtturms und eine Heirat gebracht.

Yisan hatte einige Zeit in der zweifellos dichten und gefährlichen Wildnis von Eloren zugebracht, doch in Kalonien war die Zahl furchterregender und urtümlicher Bestien größer. Obwohl es ihn ermüdete und Jalira verärgerte, spielte Yisan eine heitere Melodie auf seiner Leier, als sie in den tiefsten Teil des Waldes von Kalonia vordrangen, um die Hydren und die Keiler fernzuhalten, auch wenn ihm die Finger nach endlosen Stunden des Spielens bluteten.

Schließlich befanden sie sich nach großen Strapazen in der Nähe jenes Gebietes, das im Tagebuch genannt wurde. Obwohl es nicht der genaue Ort war, so kündete dennoch ein deutlich vernehmbares Zwitschern und Summen, wie Hastric es in seinen Aufzeichnungen beschrieben hatte, von der Anwesenheit der Remasuri.

Das Summen dröhnte ihnen in den Ohren. Yisan und Jalira bahnten sich ihren Weg durch das Dickicht und fanden sich an einer Felswand mit einer Höhle wieder. Darüber, entlang der Felswand und bis in die Höhle hinein hingen sie: die Remasuri, die Hastrics wirren Skizzen ähnelten. Hastric hatte sie die „kleine Brut“ genannt, obschon ihre Größe noch immer an die Jaliras und Yisans heranreichte. Sie krochen hin und her und hingen an ihren Schwänzen und klauenbewehrten Gliedmaßen, die sich dort befanden, wo Jalira ihre Brust vermutete, von den Felsen über ihnen herab.

Remasuri-Nest | Art by Igor Kieryluk

„Ich glaube nicht, dass meine Musik hier etwas bewirkt“, flüsterte Yisan und warf einen kurzen Blick zu Jalira, ohne seine Aufmerksamkeit vom Schwarm abzuwenden.

Es ärgerte sie, dass er gesprochen hatte, doch sie wusste, dass er die Wahrheit sagte. Es waren mindestens ein Dutzend Remasuri, und ihre bizarren Klicklaute hätten Yisans Lied gewiss erstickt.

Nur durch den Umstand ermutigt, dass Hastric monatelang an diesem Ort überlebt hatte, ging das Pärchen langsam weiter. Als sie in die Höhle schlichen, glitten mehrere Remasuri von den Felsen herab, um ihnen den Weg zu versperren. Sie bewegten sich weder schnell noch in angriffslustiger Manier. Sie schienen ihnen nicht einmal die Köpfe zuzudrehen. Und dennoch hob jeder Remasuri vor ihnen einen klingenbewehrten Arm in ihre Richtung.

„Ich habe eine Idee“, flüsterte Jalira und versuchte, ihr Lächeln zu verbergen, während sie die Kreaturen betrachtete.

„Mir gefällt das nicht“, gab Yisan zurück.

Blauer Rauch begann, aus Jaliras Fingerspitzen aufzusteigen.


Alles, was sie kennen, ist der Schwarm. Das Summen des Nestes. Der Wille des Schwarmfürsten.

Sie kämpfen dagegen an, Jalira und Yisan, ihre Gedanken rasen in dem Versuch, ihre neuen Remasurikörper zu beherrschen. Es sind die der niederen Art. Sie können die Gedanken des gesamten Schwarms hören – ein stetiges Summen. Als sie sich durch den Schwarm bewegen, verlieren sie sich, unterwerfen sich dem Willen des Schwarmfürsten. Sie verlieren einander, vergessen, wer sie sind. Sie fassen flüchtig einen klaren Gedanken, eilen zueinander zurück und versuchen, sich jenem steten Drang zu widersetzen, der danach trachtet, sie in Drohnen zu verwandeln.

Der Schwarm ist alles, und alles ist der Schwarm.


Nach einigen Minuten (Stunden? Tagen?) kamen Jalira und Yisan nach und nach wieder zu sich. Quälend langsam kehrte ihr eigener freier Wille zurück. Sie bewegten sich an den auf zwei Beinen gehenden und humanoiden „Alphas“ vorbei, die Hastric beschrieben hatte. Sie sahen aus wie die intelligenten Völker Shandalars, bewegten sich jedoch wie Insekten, und ihr Zwitschern war eindringlich und laut.

Das Pärchen, das sich noch immer als Remasuri fortbewegte, erreichte eine größere Kammer, deren Wände von Alkoven gesäumt waren. Niedere Remasuri kümmerten sich um die seltsame lebende Masse in den Nischen. Ein Remasuri glitt auf seinen Flügeln herab und taumelte von der Decke der Kammer zu Boden. Als er einen anderen Remasuri streifte, wuchsen auch diesem Flügel und er begann sogleich zu schweben. Jalira und Yisan spürten, wie auch auf ihrem Rücken Flügel wuchsen, spürten, wie sich die neuen Körperteile formten, und sie wussten sofort um die Kunst des Fliegens, als hätten sie sie schon ihr ganzes Leben lang beherrscht. Als sie sich jedoch der Mitte des Baus näherten, verloren sie ihre Flügel. Manchmal wuchsen ihnen zusätzliche Klingen oder sie begannen, Gift abzusondern, was aufhörte, wenn sie sich weiter nach innen bewegten.

Nach einer Zeitspanne, deren Länge sie nicht einzuschätzen vermochten, erreichten sie die innere Kammer, den Mittelpunkt allen Treibens des Schwarms. Der Remasuri-Schwarmfürst thronte hier, eine gewaltige Kreatur, zwanzig Mal so groß wie sie. Hastric hatte erwähnte, dass er der Ursprung der Remasuri war und ihr Herr. Die Knochen der Toten – und wichtiger noch, ihr Gold und ihre Habseligkeiten – lagen an den Rändern der Kammer, Zeugnisse der Festmahle des Schwarmfürsten.

Remasuri-Schwarmfürst | Art by Aleksi Briclot

Jalira und Yisan betraten die Kammer, doch ihre Remasurikörper gerieten ins Wanken. Irgendwie zwang der Schwarmfürst sie, ihre Maske fallen zu lassen. Er schien sie zu beobachten, wobei seine Klingen sich beinahe völlig unabhängig von seinem sich windenden, fast schlangengleichen Leib bewegten. Nackt hielten Jalira und Yisan ihre Augen auf den Schwarmfürsten gerichtet, von Furcht ergriffen. Sie warfen einander kurze Blicke zu, um irgendeinen Hinweis vom jeweils anderen darauf zu erhaschen, was sie als Nächstes tun sollten.

Ihnen fiel nichts Besseres ein, als sich vor dem Schwarmfürsten zu verbeugen. Der gewaltige Remasuri zeigte keine Regung. Wortlos zogen sie sich an die Wände der Kammer zurück und griffen vorsichtig nach den Überresten von Gewandung, die dort lagen. Sie kleideten sich an und sammelten sorgsam um den Zweck ihrer Reise bedacht vorsichtig so viele Münzen und Schätze ein, wie ihre von den Toten geborgte Kleidung fassen konnte, ohne den Schwarmfürsten dabei aus den Augen zu lassen.

Weder taten die Remasuri etwas, um Jalira und Yisan das Vorbeigehen zu erleichtern, noch hinderten sie sie daran, diesen Ort zu verlassen. Das Pärchen, das nun durch keine Tarnung mehr geschützt war, wich den Alphas aus, deren menschenähnliche Köpfe sich ihnen zuwandten, als sie sie passierten. Nachdem sie umsichtig abgewartet hatten, bis die Remasuri ihnen den Weg nicht länger versperrten, fanden sie schließlich ihren Weg aus dem Nest zurück in die Wälder, wo sie ihre alte Gewandung zurückgelassen hatten.

„Wir müssen nach Martyne“, brach Jalira endlich das Schweigen. „Grendub wird in der Lage sein, das meiste hiervon loszuschlagen.“

„Ich glaube, ich werde eine Weile hierbleiben“, gab Yisan zurück, den Kopf in Richtung der Höhle gewandt. Er griff zu Tolumnus. „Ich möchte sie noch etwas länger studieren. Ihre Musik ist faszinierend. Du kannst die ganzen Schätze behalten.“

Jalira wich seinem Blick aus. „Ja, sicher“, sagte sie. „Wenn du mir vertraust, behalte ich das Gold, was wir hierfür erhalten, aber ich bleibe nur ein paar Tage in Martyne.“

Yisan schien sie nicht zu hören. Er starrte auf die Höhle und schlug seine Leier, um das Summen des Schwarms nachzuahmen.

„Gut. Ich komme später nach.“ Er ließ sich nieder, um die Remasuri zu betrachten, die von den Felsen herabhingen, und schlug seine aus Insektenpanzern gefertigte Leier.

Jalira wollte noch etwas sagen, doch ihr Stolz ließ sie ohne weiteres Wort aufbrechen. Sie würde ihre Zeit nicht mit Torheiten verschwenden. Sie wusste nun, was sie über die Remasuri wissen musste. Sie brach nach Martyne auf und hoffte, sich an jenes schreckliche Lied von Yisan zu erinnern, das ihr immer im Kopf herumgegangen war.