Was bisher geschah: Die Befreiung von Seetor

Es war ein kräftezehrender Kampf gewesen, doch mit Hilfe seiner zendikarischen Berater hatte Gideon seine Streitmacht in Seetor zum Sieg geführt. Dafür bedurfte es allerdings sämtlicher Talente der bunt zusammengewürfelten Streitkräfte Zendikars: Drana und ihre Legion von Vampiren, Noyan Dar und seine Turbulenzmagier, Tazri und seine Bodentruppen, die Himmelsreiter, die Goblins, die Kor, Nissa und ihre Horde von Elementaren sowie Kiora, die mit einer Armee aus Meeresungeheuern gerade rechtzeitig aufgetaucht war, um das Blatt in der Schlacht zu wenden. Während sie tagelang Seite an Seite kämpften, erfuhr Gideon vieles über sich und die Zendikari – Dinge, von denen er hofft, sie nun einsetzen zu können, wenn er die Streitmacht dem entgegenführt, was sie als Nächstes erwartet.


Kiora nahm zwei Stufen auf einmal, als sie zu der Kammer oben im Leuchtturm hinaufstieg, von der sie erfahren hatte, dass Gideon dort ein „Treffen der wichtigsten Größen Zendikars“ abhielt. Es war sicher nur ein Versehen, dass sie nicht eingeladen worden war. Sie marschierte hinein.

Kiora, die brandende Welle | Bild von Tyler Jacobson

Die Gruppe drinnen verstummte bei ihrem Eintreten. Es war ein seltsamer Haufen, selbst für die Verhältnisse Zendikars: eine Elfe, ein Mensch und eine Vampirin. Sie starrten oder vielmehr funkelten sie an, verärgert über die Unterbrechung.

Gideon war der Einzige, der lächelte. „Ich habe einige Fragen an dich.“

„Das dachte ich mir.“ Und sie hatte einige Hinweise für ihn. Sie war aus einem bestimmten Grund hier. Bei ihrer Ankunft in Seetor hatte sie Gideon dazu herausgefordert, im Kampf mit ihr Schritt zu halten, und das hatte er getan – größtenteils zumindest. Vielleicht war er doch gar kein so grässlich schlechter Verbündeter, wie sie erst gedacht hatte. Sie war hierhergekommen, um herauszufinden, ob er bei dem, was auf sie zukam, irgendwie von Nutzen sein würde.

„Lass mich dir zunächst meine Berater vorstellen.“ Gideon deutete der Reihe nach auf die Zendikari. „Drana, Tazri, Nissa und Mun...“ Er kam nicht mehr dazu, auch den Kor vorzustellen. Mit einem Knall flog die Tür auf. Kiora fuhr herum und griff instinktiv nach ihrem Zweizack.

„Ulamog!“ Eine gerüstete Meerfrau stand keuchend in der Tür. „Ulamog kommt!“

Einen Augenblick lang herrschte absolute Stille. Kioras Gedanken rasten. Sollte es wirklich so einfach sein? Sie hatte angenommen, dass sie den Titanen erst würde aufspüren müssen. Doch wenn er nun auf dem Weg hierher war, dann war es jetzt so weit: Dies war der Moment, auf den sie gewartet hatte. Sie stieß den Zweizack in die Luft. „Ja!“

„Nein!“ Gideon schoss an ihr vorbei, sein kräftiger Arm stieß ihre Waffe beiseite.

„Es ist wahr“, brachte die Meerfrau unter einem nutzlosen Zucken der Kiemen hervor.

„Wie weit ist er weg? Wann ist er hier?“ Kiora drängte Gideon mit der Schulter zur Seite. Wenn er sie stieß, stieß sie zurück. „Wo hast du ihn gesehen?“

„Wir waren so dicht beieinander.“ Die Meerfrau machte eine Geste, um die Entfernung zwischen sich und Kiora anzudeuten, als wollte sie sagen, dass sie Ulamog unmittelbar gegenüber gestanden hatte. Eine Übertreibung. Kiora musterte sie von oben bis unten. Wenn diese Meerfrau wirklich so nahe an den Titanen herangekommen war, würde sie nicht hier stehen und davon erzählen.

„Wo, Jori?“, fragte Gideon.

„Dort bei ...“ Die Stimme der Meerfrau wurde leiser. „Es war in ... Er war auf dem Weg hierher, und dann hat Jace ...“

„Jace! Wo ist er?“ Gideon blickte sich um, als erwartete er, dass dieser Jace unvermittelt aus dem Boden wachsen würde.

„Er ist ...“ Jori senkte den Blick. „Er ...“

Gideon ließ die Schultern sacken. „Es tut mir leid, dass er dich zurückgelassen hat. Nur weil wir das können, heißt das nicht, dass wir ...“

„Er ist nicht fortgegangen“, sagte Jori. „Er hat nicht das gemacht, was ihr alle macht. Dieses Weltenwandeln. Wir sind gemeinsam geflohen.“

Ah, das ergab wesentlich mehr Sinn. Die Meerfrau hatte die Hilfe eines Planeswalkers gehabt. Trotzdem musste diese angebliche Annäherung an Ulamog eine Übertreibung sein, dachte Kiora. Niemand konnte derart dicht an den Titanen heran und das überleben. Nicht unvorbereitet. Sie griff nach dem Zweizack der Göttin. Komm schon, Ula.

„Die Polyeder?“, fragte Gideon. „Hat Jace das Rätsel gelöst?“

„Das weiß ich nicht“, sagte Jori. „Wir waren noch immer recht weit vom Auge entfernt, als es geschah. Er ging weiter, aber er nutzte seine Gedankenkräfte, um mich zum Umkehren zu bringen. Ich fand, wir sollten zusammenbleiben, aber jemand musste euch doch warnen. Damit hatte er wohl recht.“

„Ein Titan ist auf dem Weg hierher.“ Der Kor schüttelte den Kopf. „Was machen wir jetzt?“ Er nickte zum Fenster hinaus in Richtung des Damms, auf dem es von feiernden Zendikari wimmelte. „Was machen wir mit ihnen?“

„Wir evakuieren sie.“ Tazri, die Menschenfrau mit dem leuchtenden Reif um den Hals, sprach mit fester Stimme, als hätte sie hier die Befehlsgewalt.

Nein, dachte Kiora. Wir ...

„Wir planen einen Angriff“, sagte Drana, die Vampirin.

Genau.

„Auf keinen Fall“, erwiderte Tazri. „Ein Angriff wäre Selbstmord.“

„Ein Angriff ist der einzige Grund, aus dem ich hier bin“, sagte Drana. „Ich habe nicht meine gesamte Legion hierhergebracht, um den Rückzug anzutreten.“

Kiora begann, Gefallen an der Vampirin zu finden.

„Das sehe ich auch so“, stimmte Nissa, die Elfe mit den leuchtenden grünen Augen, zu. „Wir können nicht davonlaufen. Wir haben zu hart für alles gekämpft. Zendikar hat zu hart dafür gekämpft.“

„Wir haben für eine Festung gekämpft. Einen Ort zum Verschanzen, keinen Ort zum Sterben“, gab Tazri zurück. Sie wandte sich an Jori. „Wenn diese Bedrohung echt ist, dann können wir nicht hierbleiben.“

„Die Bedrohung ist echt“, bestätigte Jori.

„Dann haben wir keine Wahl.“ Tazri wandte sich an Gideon. „Generalhauptmann, haben wir den Befehl zum Rückzug?“

Gideon zögerte nur für einen Augenblick, doch mehr brauchte Kiora nicht. „Eine Evakuierung ist nicht länger möglich.“ Sie trat vor. „Es gibt keinen Ort mehr, zu dem wir evakuieren könnten. Es ist Zeit zum Zurückschlagen!“ Sie hob ihren Zweizack. „Ich führe den Angriff an.“

„Beeindruckend.“ Die Vampirin applaudierte. „Ich glaube, ich schließe mich diesem Angriff an.“

„Das ist Meuterei!“ Tazri trat zwischen Drana und Kiora. „Jetzt ist nicht die Zeit, unsere Streitkräfte zu spalten. Wir halten uns an den Plan und wir bleiben zusammen. Wenn wir wüssten, ob wir die Polyeder nutzen können ... “

„Wir brauchen die Polyeder nicht“, sagte Kiora. „Wir haben das hier.“ Lächelnd wirbelte sie ihren Zweizack.

„Was ist das?“, fragte Jori.

„Bloß das mächtigste Artefakt auf ganz Zendikar – ihr braucht mir nicht zu danken. Es ist sogar noch mächtiger als die Polyeder.“ Sie nahm Tazri in den Blick. „Diese Steine sind schon seit Ewigkeiten hier, und ich habe sie noch nichts gegen die Eldrazi nützen sehen. Dies hier hingegen ist neu. Schaut her.“ Sie schwang den Zweizack nach außen, um die Flut zu rufen, und als sie ihn ein zweites Mal schwang, erhob sich eine perfekt geformte Woge aus dem Meer und schoss geradewegs durch das Fenster, ohne auch nur den Rahmen zu berühren, um dann über die im Raum Versammelten hereinzubrechen.

Promo Zweizack der Thassa | Bild von Yeong-Hao Han

„Imposant.“ Jori starrte ehrfürchtig auf Kiora und den Zweizack.

Kiora zwinkerte ihr zu. „Ich hab‘s euch ja gesagt.“

„Wir haben für so etwas keine Zeit“, spie Tazri aus und wischte sich salziges Seewasser aus dem Gesicht. „Generalhauptmann, wir müssen ...“

„Den Titanen töten!“ Kiora hob die Stimme und den Zweizack. Sie blickte die anderen an. „Das ist unsere Chance. Das ist unser Augenblick. Seht nur, was wir dort draußen erreicht haben!“ Sie stieß den Zweizack in Richtung Fenster. „Wenn wir einen solch gewaltigen Eldrazischwarm bezwingen können, dann doch auch einen Titanen.“

„Der Plan gefällt mir“, sagte Drana. „Oder vielmehr dieser zaghafte Ansatz einer Idee, um den herum wir einen anständigen Plan bauen können.“

Kioras Herz machte einen Sprung. Ja. Die Einzelheiten waren nicht wichtig: Die Vampirin war auf ihrer Seite.

„Wir haben die Macht des gesamten Meeres hinter uns“, sagte Jori und nickte in Richtung des Zweizacks. „Ich glaube, wir können es schaffen.“

Kiora richtete sich noch gerader auf. Ja.

„Die Macht des Meeres ist gewaltig, aber wir brauchen mehr als das“, sagte Nissa. „Ich werde das Land zu Hilfe holen. Wenn wir zusammenarbeiten, glaube ich, dass wir es schaffen können.“

Das war es! Endlich hatte Kiora Leute gefunden, die nicht zurückschreckten. „Wer ist dabei?“, rief sie. „Wer ist bereit, Ulamog ein für alle Mal den Garaus zu machen?“

Jubel brach in dem kleinen Zimmer im Leuchtturm aus.

„Das lasse ich nicht zu!“, schnappte Tazri.

„Korrigiert mich, falls ich mich irre, aber diese Entscheidung liegt nicht bei Euch“, sagte Drana. Sie blickte zu Gideon. „Ich glaube, sie liegt bei Euch, Generalhauptmann.“

Kiora folgte ihrem Blick. Das war der Augenblick der Wahrheit. War Gideon der Verbündete, für den sie ihn gehalten hatte?


Sie alle blickten ihn an. Jeder Einzelne von ihnen. So, wie es sein sollte. Gideon war der Generalhauptmann. Und als Generalhauptmann war es an ihm, den Befehl zu geben. Und das würde er auch tun.

In einem Augenblick.

Vielleicht auch in zweien.

Er musste nachdenken. Er musste das beste weitere Vorgehen festlegen. Es musste ein bestes weiteres Vorgehen geben.

Gideon, Champion des Rechts | Bild von David Rapoza

„Haben wir den Befehl zur Evakuierung?“, drängte Tazri.

„Ich habe dich bereits beim ersten Mal gehört, Tazri.“ Gideon hatte nicht beabsichtigt, derart bissig zu klingen. Er räusperte sich. „Gib mir einen Augenblick.“ Sowohl Tazri als auch Kiora öffneten den Mund, aber Gideon schnitt ihnen das Wort ab. „Einen stillen Augenblick.“

Als er sich von ihnen abwandte, setzte hinter ihm Gemurmel ein, doch er achtete nicht weiter darauf. Er schlenderte zum Fenster und blickte hinaus, wobei er zum Schutz vor der der gleißenden Sonne seine Augen schützte. Der Horizont war flach. Es gab kein Zeichen jenes Schreckens, der sein Kommen angekündigt hatte. Doch er glaubte ihr, denn er hatte die Gerüchte darüber gehört, wie langsam der Titan sich angeblich bewegte. Langsam genug, dass Jace mit dem Geheimnis der Polyeder vor ihm hier eintreffen konnte? Das war unmöglich zu wissen.

Ohne die Polyeder brauchten sie etwas anderes – irgendeinen anderen Vorteil, der die Waagschale zu ihren Gunsten ausschlagen ließ. Er dachte an Kiora und den Zweizack der Göttin. Eine mächtige Waffe, gewiss. Doch eine Waffe und ein Magier – er spürte einen Lichtblitz hinter seiner Stirn und sah mit einem Mal die gefallenen Freischärler vor sich.

Tragische Arroganz | Bild von Winona Nelson

Er blinzelte die Erinnerung fort. Diese Lektion hatte er vor langer Zeit gelernt.

Gideon seufzte und blickte zu den Zendikari hinab, die sich auf dem Damm versammelt hatten. Ihre Anwesenheit hier – in dieser Zusammenballung – war wahrscheinlich der Grund, weshalb der Titan auf dem Weg hierher war. Der Eldrazi konnte dem sirenenhaften Ruf derart vieler Leben nicht widerstehen. Sie saßen hier auf dem Präsentierteller.

Nein! Er hieb mit beiden Fäusten auf die Fensterbank. Auch diese Lektion hatte er gelernt. Diese Menschen waren nicht hilflos. Ganz im Gegenteil. Sie waren stark. Sie waren mutig. Sie waren fähig. Sie waren seine Armee.

Sie waren aus ganz Zendikar zusammengekommen. Sie hatten ihre Zwiste beigelegt. Mehr noch: Sie hatten gelernt, sich ihre Verschiedenheit zunutze zu machen. Und sie hatten einen Schwarm Eldrazi bezwungen, der so groß war, dass es Wochen, wenn nicht gar Monate dauern würde, all die fremdartigen Kadaver zu verbrennen.

Sie waren eine Streitmacht, wie sie Zendikar noch nie gesehen hatte und wie es sie auch nie wieder sehen würde. Das war schon eine Menge. Das war mehr als eine Menge. Das war ... vielleicht genau der Vorteil, den sie brauchten. Gideon lächelte in sich hinein.

Er wandte sich zu den anderen um und gab seine Befehle. „Wir werden nicht evakuieren. Wir werden hierbleiben und kämpfen. Und wir werden den Titanen töten.“

Tazri schnappte nach Luft.

„Ha!“ Kiora hob den Zweizack. „Ja!“

„Bravo.“ Drana spendete Beifall.

„Nissa“, sagte Gideon, während er bereits die Einzelheiten seines Plans durchdachte. „Du wirst zwei Landkontingente anführen. Und mit Land meine ich – du weißt schon – das Land selbst. Die Erde und den Fels und all das.“ Gideon ahmte den weit ausholenden Schritt eines von Nissas Elementaren nach. „Führe eine Gruppe von jeder Seite des Dammes aus heran.“

Nissa nickte.

„Kiora“, fuhr Gideon fort, „du wirst einen Angriff vom Meer aus koordinieren.“

„Natürlich werde ich das. Das musst du mir nicht ...“ Ein Klopfen an der Tür unterbrach Kioras Aufsässigkeit – zum Glück für sie.

Es war Ebi, einer der Wächter, die Gideon rund um Seetor herum aufgestellt hatte. Als Gideon sah, wie der Kor durch die Tür lugte, zog sich ihm die Brust zusammen. Er befürchtete, dass Ebi gekommen war, um ihm zu sagen, dass die Wächter Ulamog erspäht hätten. Noch nicht. Sie brauchten mehr Zeit.

„Ich glaube, ich habe etwas gefunden, wonach Ihr suchtet, Generalhauptmann." Ebi deutete hinter sich, und Gideon erhaschte einen Blick auf etwas Blaues, was sich jenseits der Tür bewegte – etwas Blaues, was er wiedererkannte ...

„Jace!“ Gideon atmete befreit auf.

Der Gedankenmagier trat über die Schwelle. „Nun sieh mal einer an, wer da seine Macht der Vorahnung geschult hat.“

Gideon überwand die Entfernung zwischen ihnen, umarmte den kleineren Mann und klopfte ihm auf die Schulter. Jace war immer so angespannt. Er lächelte Ebi zu. „Danke.“

„Mein Herr.“ Ebi nickte.

„Und wie steht es um die Stadtmauer?“ vergewisserte sich Gideon.

„Alles sicher“, sagte Ebi.

„Gut.“ Gideon schnaufte erleichtert. Gut. Ihnen blieb noch etwas Zeit.

Ebi trat von einem Fuß auf den anderen, da er die im Raum herrschende Anspannung zu spüren schien. „Ich werde dann wieder auf meinen Posten gehen.“

„Danke, Ebi.“

Nachdem der Wächter die Tür hinter sich geschlossen hatte, wandte sich Gideon wieder an Jace. Er hatte nach einem Vorteil gesucht, und nun hatte er zwei. Das Blatt wendete sich zu ihren Gunsten. Nun war es an ihnen, diese Schlacht zu gewinnen. „Die Polyeder“, sagte er. „Das Auge. Erzähl mir alles.“


Alles war so viel besser, als Jace es sich vorgestellt hatte. Er hatte vermutet, er müsste Gideon dabei helfen, die Streitmacht aufzustellen, den vorteilhaftesten Ort für die Durchführung seines Vorhabens zu finden und die Polyeder zusammenzutragen, um den Kerker zu bauen – jenen Kerker, von dem er noch immer glaubte, ihn in eine tödliche Waffe verwandeln zu können, ganz gleich, was Ugin sagte. Doch alles war bereits getan: Er hatte eine formidable Streitmacht sowie einen günstigen Ort für den Kerker, und mehr als die Hälfte an Polyedern, die er brauchen würde, schwebten schon über dem Meer. Nun musste er sie nur noch an die richtige Stelle bewegen ... Ganz behutsam.

Polyederarchiv | Bild von Craig J Spearing

Er musste nicht erst die Gedanken aller Anwesenden in diesem kleinen Raum lesen, um zu wissen, dass eine große Spannung herrschte. Jori war hier. Sie sah ausgezehrt und erschöpft aus, was zweifellos bedeutete, dass sie gerade erst eingetroffen war und die Nachricht vom Herannahen Ulamogs überbracht hatte. Folglich rührten die funkelnden Blicke und die angriffslustigen Körperhaltungen daher, dass sie noch keine Einigung dahingehend gefunden hatten, was hinsichtlich des baldigen Erscheinens des Titanen zu tun war.

Nissa wirkte, als sei sie kampfbereit, ebenso wie die Meerfrau, die Jace nicht kannte, und die Vampirin. Tazri und der Kor indes schienen weniger überzeugt, und Jace vermochte nicht zu sagen, wo Jori stand. Es war folglich an ihm, sie alle auf dieselbe Seite zu ziehen, denn er brauchte einen jeden von ihnen, wenn er seinen Plan erfolgreich umzusetzen hoffte. Eine Übereinkunft der Ansichten, wenn nicht erzwungen oder auf magische Weise herbeigeführt – etwas, was er ernsthaft in Erwägung zog, sollte es sich als nötig erweisen –, ließ sich wohl am besten durch eine wahrheitsgemäße und fesselnde Erzählung herbeiführen. Es kam alles nur darauf an, die Informationen richtig zu verteilen. „Ihr habt Seetor zurückerobert“, sagte er lächelnd. „Ich bin beeindruckt.“ Und auch ein bisschen darauf, ihnen allen zu schmeicheln.

„Ich hatte eine ganze Streitmacht ...“, setzte Gideon an.

Doch die zweite Meerfrau – diejenige, die Jace nicht kannte – schnitt Gideon das Wort ab. „Das war gar nichts.“

Der Kor und Tazri warfen der Meerfrau finstere Blicke zu. Sie war also die Unberechenbare hier. Gut zu wissen.

„Für eine ganze Menge Leute war es schon etwas mehr als nichts“, sagte Gideon. Er blickte zwar zu Jace, wandte sich aber an den gesamten Raum. „Jeder Kämpfer, der für Seetor gestritten hat, hat alles gegeben. Und nicht wenige davon ihr Leben.“ Er hielt einen Augenblick inne. Sowohl die Menschenfrau als auch der Kor neigten ehrfürchtig die Köpfe, die unberechenbare Vertreterin des Meervolks hingegen nicht. „Aber wir haben gesiegt. Wir haben diese Stadt gesichert.“ Er schüttelte den Kopf. „Und dann hörten wir die Neuigkeiten. Und daher passen wir den Plan nun an. Ein rückhaltloser Angriff auf den Titanen. Ein Angriff, der nach deiner Ankunft wesentlich mehr Aussicht auf Erfolg hat. Die Polyeder“, bohrte Gideon nach. „Wie können wir ihre Macht nutzen?“

„Die Polyeder.“ Jace atmete bedächtig aus. Dieser Punkt war ein wenig heikel.

„Wir brauchen die Polyeder nicht. Ich habe meinen Zweizack und eine Armee aus Meeresungeheuern“, sagte die Meerfrau.

Jace schenkte ihr keinerlei Beachtung und konzentrierte sich stattdessen auf die passende Weitergabe der Informationen. „Die Gelehrten hier in Seetor waren auf der richtigen Spur, als sie daran arbeiteten, die Macht der Polyeder gegen die Eldrazi einzusetzen. Aber es sind nicht die einzelnen Polyeder, die wir einsetzen müssen. Es sind ...“

„Was wir müssen, ist, uns in Bewegung zu setzen“, unterbrach ihn die Meerfrau und wedelte mit ihrer enervierend langen Forke herum. „Ich führe den Angriff. Wenn ihr mir einfach alle folgen würdet, wären wir schon zur Hälfte damit fertig, Ulamog zu töten.“

„Das wäre ausgesprochen unklug“, sagte Jace. „Wenn ihr Hals über Kopf losstürmt, wäret ihr diejenigen, die getötet werden.“

Die Meerfrau beugte sich vor. „Nehmt es mir nicht übel ... Jace, ja? Aber all Eure Gedankentricks werden bei mir nicht wirken. Meine Gedanken gehören mir, und ich weiß, was ich tue.“

„Wenn ich Gedankentricks verwenden wollte ...“ Jace zügelte sich. Es würde ihn jetzt kein Stück weiterbringen, sein Temperament die Oberhand gewinnen zu lassen. „Ich habe nicht vor, meine Gedankentricks bei Euch oder irgendjemanden sonst hier zur Anwendung zu bringen, meine liebe ...“

„Kiora“, half ihm die Meerfrau aus. „Merkt Euch diesen Namen. Bald wird ganz Zendikar ihn kennen.“

„Kiora“, sagte Jace. Wahnsinnig. Sie war völlig wahnsinnig. Vorsicht. Na schön, er würde vorsichtig sein, aber er musste dennoch seinen Standpunkt deutlich machen. „Gehe ich recht in der Annahme, dass Ihr diese Waffe bereits zuvor schon einmal dazu eingesetzt habt, etwas von dieser Größe zu vernichten?“

„Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wozu diese Waffe schon alles eingesetzt wurde.“ Kiora ließ erneut den Zweizack wirbeln.

„Und wart Ihr es, die sie diese Dinge tun ließ?“, hakte Jace nach. Ein verbales Ausweichmanöver entging ihm nie.

„Zurzeit führe ich sie. Das ist alles, was zählt.“ Kiora verlagerte ihr Gewicht vom einen Bein auf das andere. Offenbar nicht aus Unbehagen, sondern aus Rastlosigkeit. „Und ich bin bereit für den Angriff. Nun kommt.“ Sie winkte den anderen zu.

„Hört mir zu“, sagte Jace zu den Anwesenden. „Der Titan, mit dem wir es zu tun haben, ist ein schier unbegreifliches Wesen, dem Kräfte zur Verfügung stehen, die unser Vorstellungsvermögen bestenfalls vage streifen. Er bedroht die Existenz dieser Welt. Um ihn aufzuhalten, brauchen wir bedeutend mehr als nur eine Waffe – ganz gleich, wie mächtig diese ist. Ich brauche jeden hier drinnen und jeden dort draußen.“ Er deutete auf die Zendikar unter dem Fenster. „Nur so kann ich die Falle bauen und zuschnappen lassen, die mir vorschwebt, und ...“

„Falle?“ Nissa, die sich zurückgelehnt hatte, richtete sich auf. Ihre Ohrspitzen zuckten, und sie durchbohrte Jace mit einem Blick aus ihren leuchtenden grünen Augen. „Du hast Falle gesagt.“

„Das habe ich“, nickte Jace. „Ein Polyeder allein reicht nicht aus, aber ein komplexes Netzwerk aus Polyedern lässt sich so ausrichten, damit es den Titanen bindet und er nicht noch mehr Schaden anrichten kann. Sobald wir ihn in die Falle locken ...“

„Nein.“ Nissa stampfte mit dem Stab auf den Boden.

Bild von Cynthia Sheppard

Oh, gut. Noch mehr Feindseligkeit. Jace hatte förmlich einen Lauf.

„Wir kerkern ihn nicht ein.“ Macht schwang in Nissas Stimme mit. „Die Titanen waren schon zu lange hier eingesperrt. Und die Welt hat zu lange unter ihnen gelitten.“

„Die Falle wäre keine dauerhafte Lösung“, sagte Jace. Warum hatte er seine Auslassung nicht damit begonnen? „Sobald er darin gefangen ist, finden wir heraus, wie wir ihn vernichten können. Ich habe da ein paar Ideen ...“

„Wie ich bereits sagte: Ich weiß, wie man einen Titanen tötet.“ Kiora hob den Zweizack und schritt zum Fenster. „Wer ist dabei?“ Sie blickte zu Nissa. Was hatte sie denn nun vor? Hinauszuspringen?

Nissa nickte. „Zendikar und ich werden an Eurer Seite streiten.“

„Oh, sicher. Zendikar. Großartig. Noch jemand?“ Kiora blinzelte mit vier Lidern in den Raum hinein.

„Ich gehe dorthin, wo der Kampf ist“, sagte die Vampirin.

„Genug!“ Gideon trat vor. „Ich habe meine Befehle erteilt, und ...“

„Und wir befolgen sie“, sagte Kiora. „Zum größten Teil.“ Sie zwinkerte ihm zu und griff nach der Fensterbank. Sie wollte tatsächlich hinausspringen.

„Ich befehle Euch, Euch zu zügeln“, sagte Gideon. „Euch allen.“

„Ihr könnt nicht einfach losmarschieren und euren eigenen Angriff durchführen“, stimmte der Kor ein.

„Warum nicht?“, fragte Kiora.

„Weil jeder Angriff auf den Titanen, der ihn nicht vernichtet, droht, ihn ganz von Zendikar weg auf eine neue Welt zu treiben“, brach es aus Jace heraus.

„Für mich klingt das doch gut. Ich sage: ‚Schön, dass wir ihn los sind!‘“ Kiora streckte einen Arm aus dem Fenster, und der dicke Tentakel eines Oktopus reckte sich ihr entgegen. „Wer ist dabei?“ Sie blickte erneut zu Nissa.

Doch Nissa zögerte und sah zu Jace. „Auf eine andere Welt?“

„Ja.“ Jace nickte ernst. „Und wir werden nicht wissen, auf welche.“ Er warf einen Blick zu Kiora. „Doch wo auch immer er hingeht: Diese Welt wird er ebenfalls verwüsten. Die Leute dort und ihr Land werden vernichtet. Und wenn er damit fertig ist, sucht er sich noch eine neue Welt. Und so wird das bis in alle Ewigkeit weitergehen. Es sei denn, es endet hier.“

„Und das wird es.“ Kiora huschte auf den Tentakel.

Bitte. Jace griff nach Kioras Geist. Ihr wollt das nicht tun.

Sowohl Kiora als auch Gideon bewegten sich so schnell, dass Jace erst verstand, was geschehen war, als er sich am Boden liegend wiederfand, niedergedrückt von Gideons kräftigem Arm, während er einen Schlag von Kioras Zweizack abwehrte, der für Jace bestimmt war.

„Und Ihr wollt das nicht tun!“, spie Kiora aus. „Niemals wieder.“ Der Tentakel senkte sich aus dem Fenster und nahm die aufmüpfige Meerfrau mit sich.

Kiora, Herrscherin der Tiefen | Bild von Jason Chan

„Wir müssen sie aufhalten.“ Jace rappelte sich auf. „Wir müssen ...“

„Nein.“ Gideon trat vor das Fenster. „Wir verschwenden nur Zeit, die wir nicht haben. Der Titan nähert sich, und wir müssen uns vorbereiten. Wir werden die Falle bauen, und sobald wir ihn in unserer Gewalt haben, werden wir unsere Offensive wie geplant durchführen. Wir werden ihn einfangen und vernichten. Irgendwelche Fragen?“ Gideon, der in der Mitte der Kammer stand, schien sie ganz auszufüllen und keinen Platz mehr für Widerworte zu lassen.

„Gut. Wir müssen rasch handeln. Jace, meine Streitmacht steht dir zur Verfügung. Setze sie nach deinem Gutdünken ein, um deine Falle zu bauen. Nissa, du begleitest Jace und hilfst ihm, wo du nur kannst. Munda, Jori – ihr seht nach den Patrouillen. Wir brauchen mehr Wachposten. Der Titan wird nicht allein kommen, und wir müssen sicherstellen, dass unsere Mauer hält. Und das bedeutet auch, eine ganz bestimmte Meerfrau nicht durchzulassen. Lasst nicht zu, dass Kiora unserem Plan in die Quere kommt. General Tazri, Drana – Ihr begleitet mich, um mit der Streitmacht zu sprechen. Wir müssen unsere Truppen wappnen.“

„Ja, mein Herr.“ Die zustimmende Formel der Ehrerbietung hallte durch den Raum, und Jace bemerkte nicht, dass er sie ebenfalls ausgesprochen hatte, bis er seine eigene Stimme hörte. Es überraschte ihn. Gideon überraschte ihn. Der Planeswalker war als Anführer ein ganzes Stück gewachsen, seit Jace ihn am Himmelsfelsen zurückgelassen hatte. Das war gut. Für das, was sie vorhatten, brauchten sie einen starken Anführer.

Als die anderen den Raum verließen, wandte Jace sich an Nissa. „Ich bin froh, dass du geblieben bist.“

Sie machte keine Anstalten, etwas zu erwidern.

Also schön. Sie wollte anscheinend einfach zum Tagesgeschäft übergehen. Diesen Gefallen konnte Jace ihr tun. „Ich habe gehört, dass du das Land selbst in Bewegung versetzen kannst.“


Stunden später griff Nissa nach dem Land, um einen weiteren vergrabenen Polyeder aufzuspüren. Sanft brachte sie die Erde dazu, den Stein nach oben zu drücken. Obwohl sie den Polyeder nicht sehen konnte, wusste sie, wo er war, und sie wusste auch genau, welchen Teil von Zendikar er einnahm. Und obwohl sie den Titanen nicht sehen konnte, wusste sie, dass er da war. Im Lauf der Nacht – während sie die Arbeit an Jaces Falle aufgenommen hatten – hatte Nissa gespürt, wie Ulamog in die Bucht vor Seetor gezogen war. Er kam übers Wasser zu ihnen. Und wenn die Sonne aufging, würden sie ihn sehen können, wie er über ihnen aufragte, nur darauf wartend, vernichtet zu werden.

Nissas Erneuerung | Bild von Lius Lasahido

Sie blickte zu Ashaya, dem Elementar, ihrem engsten Freund und der Seele des Landes. „Die Zeit ist fast gekommen.“

Ashayas Essenz floss durch sie hindurch, während sie gemeinsam den Polyeder aus dem Boden hoben und ihn auf eine seiner langen, eckigen Seiten legten.

Nissa schritt um den gewaltigen Stein herum und fuhr dabei mit der Hand über seine Oberfläche. Sie suchte nach Rissen oder sonstigen kleinen Makeln. Doch wie all die anderen, die sie in dieser Nacht ausgegraben hatten, war auch dieser gut erhalten. Diese Polyeder bargen nicht nur Macht – sie waren auch von mächtiger Bauart. Widerstandsfähig genug, einem Bündeln der gesamten Macht dieser Welt standzuhalten – das hatte Jace ihr versichert.

Und sollte er sich geirrt haben und die Polyeder versagen, dann würde Nissa bereit sein.

Genau wie Zendikar. Ashaya legte die gewaltige Hand auf Nissas Schulter.

Nissa blickte zu den vertrauten hölzernen Gesichtszügen des Elementars auf. „Du weißt, ich werde nicht zulassen, dass der Titan hier erneut eingesperrt wird, wenn es eine andere Möglichkeit gibt.“ Sie hielt inne. „Oder wenn ich irgendwelche Zweifel habe.“

Ashaya wusste es. Zendikar verstand sie.

Zwischen ihnen unausgesprochen blieb ein zweiter Aspekt dieses tiefen Verstehens: Sowohl Nissa als auch Zendikar wollten, dass es hier und jetzt vorbei war. Und sie beide wollten diejenigen sein, die es beendeten. Sie wollten den Titanen nicht verjagen. Sie wollten sich ihm stellen.

Im Land wuchs ein Hunger, der nie gestillt werden würde, ehe es nicht die Gelegenheit gehabt hatte, seinem Feind gegenüberzutreten, ihn zu bekämpfen und ihn zu vernichten. Zendikar war mächtiger als jenes Ungeheuer, das es gepeinigt hatte, und heute würde die Welt ihre Stärke unter Beweis stellen.

Ashaya, die erwachte Welt | Bild von Raymond Swanland

Nissa seufzte schwer. „Beenden wir, was wir angefangen haben.“

Gemeinsam bewegten sie den Polyeder an den Rand der Klippe, wo Gideon und Jace mit einer Gruppe Kor und einer unfassbar gigantischen Menge an Seil standen.

„Gut, gut. Bringt ihn hierher.“ Gideon bugsierte Nissa und Ashaya zwischen zwei Taue. „Verschnürt und sichert ihn“, wies er die Kor an.

„Dieser hier passt genau zwischen die beiden dort.“ Jace sprach mit Munda und deutete auf eine blau leuchtende Illusion, die zwischen ihnen in der Luft schwebte. Die Illusion war ein verkleinertes Modell jenes Polyederrings, der hoch über dem Meer entstand. Nissa verstand nicht, warum der Gedankenmagier seiner eigenen künstlichen Schöpfung vertraute, die doch so viele Möglichkeiten für Ungenauigkeiten in sich trug, wo der eigentliche Ring sich doch unmittelbar vor ihnen befand. So wie er sich ständig nur über seine Illusion beugte, verpasste Jace einen erhabenen Anblick.

„Es ist wahrlich schön“, flüsterte Nissa Ashaya zu. Das Elementar stimmte ihr zu.

Die Polyeder hatten zu leuchten begonnen, sobald die ersten beiden miteinander verbunden worden waren. Nun schimmerten die auf ihrer Oberfläche angebrachten Runen in einem Muster der Macht, das Erinnerungen an das erste Mal weckte, da sie Visionen von Zendikar empfangen hatte.

Und dies war nicht der einzige Grund, warum sich diese Nacht wie ein schicksalhafter Moment für Nissa anfühlte. Es war, als hätte alles, was sie in ihrem Leben getan hatte, und alles, wonach sie je gestrebt hatte, zu ebendiesem Augenblick hingeführt. Vor langer Zeit hatte sie Zendikar einen Eid geschworen. Sie hatte ihm ein festes Versprechen gegeben, und nun war die Gelegenheit gekommen, ihre Worte in die Tat umzusetzen.

„Vorsicht ... Vorsicht!“ Mundas scharfe Stimme zog Nissas Aufmerksamkeit auf sich. „Löst das Gegengewicht.“

Nissa und Ashaya sahen zu, wie eine Vierergruppe aus Kor und Menschen, die auf einem schwebenden Felsen in der Nähe postiert waren, eine schwere Steinplatte herabließen, die durch ein Seilzugsystem an dem Polyeder befestigt war. Als sich das Gegengewicht absenkte, hob sich der Polyeder gen Himmel.

„Vorsichtig ... Ja, so ist es gut.“ Gideon ging auf der Klippe auf und ab. Nissa spürte seine Unruhe. Er wollte dort draußen sein und ziehen, heben, schieben. Er wollte da draußen sein und alles selbst tun. Wie immer. Sie lächelte. Sie war dankbar, dass Gideon nach Zendikar gekommen war.

Gideons Tadel | Bild von Dan Scott

„Alles klar.“ Gideon gab einer dritten Gruppe Kor auf dem Damm ein Zeichen. „Torgruppe! Zieht!“

Die Gruppe zog und der Polyeder glitt waagerecht durch die Luft. Er wirkte wie eine dunkle Wolke, obgleich Nissa das Knirschen der Seile und Flaschenzüge hörte, die sein Gewicht trugen. Hier und da blitzte Licht auf: Zauber, die dabei helfen sollten, den gewaltigen Stein an die ihm zugedachte Stelle zu befördern.

Jace blickte zwischen der Wirklichkeit und ihrer Abbildung hin und her und prüfte beständig, ob sich der Polyeder am rechten Platz befand. Nissa musste die Illusion nicht sehen. Sie wusste, dass alles stimmte. „So passt es“, flüsterte sie Ashaya zu.

„So passt es!“ Jaces Ruf wiederholte ihre Worte.

„Und ... haltet ihn dort!“, rief Gideon.

Dieser Teil des gesamten Ablaufs klappte nun reibungslos. Beim ersten Durchgang hatte es noch einer Menge Schreierei und vielem Bugsieren bedurft. Doch mittlerweile wussten die drei Gruppen genau, was sie zu tun hatten. Sie zogen ihre Taue in verschiedene Richtungen, um den Polyeder sanft zum Halten zu bringen. Sobald er perfekt ausgerichtet war, gab er ihnen dies deutlich zu verstehen: Es war beinahe, als ob er dann in seine beabsichtigte Position einrastete.

Gideon musterte Jace. „Wie sieht es aus?“

„Ausgezeichnet“, murmelte Nissa in sich hinein.

Jace begutachtete die Illusion ein Weilchen länger. „Die Position stimmt. Die Höhe auch. Ich würde sagen, es sieht gut aus.“

„Ich hab‘s dir ja gesagt.“ Nissa lächelte zu Ashaya hinauf.

„Gut“, sagte Gideon. „Erste Gruppe! Bereitet eure Taue für den letzten Schritt vor.“ Er wandte sich zu Nissa um. „Wir brauchen nur noch einen einzigen.“

„Und den sollst du kriegen.“ Sie griff in das Land und tastete in der pockennarbigen Klippe nach einem weiteren Polyeder. Es war möglich, dass sie zur nächsten Klippe gehen mussten ...

„Achtung! Achtung!“ Der plötzliche Aufruhr kam aus den Bäumen vor ihnen. Nissa erstarrte und griff nach ihrer Klinge, als einer der fliegenden Wachposten sich näherte: eine Elfe, die auf einem Manta ritt.

Himmelsreiter-Elfin | Bild von Dan Scott

„Seble!“, rief Gideon mit gezücktem Sural hinauf. „Was ist los?“

„Bewegung in den Bäumen dort vorn!“, rief Seble herab. „Ich vermute Brut.“

„Fliege noch eine Runde“, sagte Gideon. „Ich muss wissen, wie viele es sind und wie groß sie sind.“ Er blickte zu Nissa.

Sie nickte und umschloss fest das Heft ihres Schwertes. Sie war bereit, einzugreifen. Da sich der Titan näherte, wussten sie alle, dass mehr Brut auftauchen würde. Es war nur eine Frage der Zeit, bis eine der Kreaturen ihre Grenzen durchbrechen würde. Nissa behielt die kreisende Elfe im Blick und beobachtete ihre Reaktion.

Seble flog erneut heran und schüttelte den Kopf. „Ich glaube, es war falscher Alarm“, rief sie hinunter.

„Wenn du etwas gehört hast, dann war es auch da“, sagte Gideon. „Ich vertraue dir. Noch ein Überflug.“ Er deutete mit dem Finger einen Kreis an.

Seble flog eine weitere Runde, doch Nissa wusste, was die Elfe bei ihrer Rückkehr sagen würde.

„Nichts“, rief sie. „Da draußen ist nichts außer versengter Erde. Sieht aus, als wäre es ein altes Lager oder so etwas. Kein Zeichen von Brut oder Verderbtheit.“

„Na schön. Begib dich zu den anderen Wachposten. Ich möchte, dass unsere komplette Außengrenze überprüft wird“, rief Gideon. „Und rufe einen anderen Himmelsreiter her.“

„Mache ich.“ Seble wandte sich zum Davonfliegen ab, doch plötzlich schrie sie auf und zügelte ihren Manta.

Nissa nahm instinktiv eine defensive Haltung ein.

„Was siehst du?“, rief Gideon hinauf. „Wo?“

Wortlos deutete Seble voraus aufs Meer.

Nissas Blick folgte dem Finger der Elfe. Und dann sah sie den Titanen.

Ulamog, der Bote der Vernichtung.

Ulamog, der unermessliche Hunger | Bild von Michael Komarck

Der erste Lichtschein war am Horizont zu sehen und erhellte die hoch aufragende Gestalt des Titanen.

In diesem Augenblick wäre Nissa um ein Haar auf den nächsten schwebenden Felsen gesprungen, um sich dem Titanen an einer Ranke ein Stück entgegenzuschwingen. Sie hatte ihr Schwert, sie hatte die Macht ihres Hasses und nun hatte sie die Gelegenheit, die sie brauchte.

Doch sie gebot sich Einhalt. Zendikar hatte bereits einmal den Preis für ihre Leichtsinnigkeit bezahlt. Dieser Titan war hier und verwüstete die Welt, weil sie ihn von seinen Fesseln befreit hatte. Diese Welt und ihre Bewohner waren dahingemetzelt worden, weil sie voreilig gehandelt hatte. Das würde sie nie wieder zulassen. Dieses Mal würde sie es richtig angehen: ihn erst einsperren und dann vernichten.

Sie beruhigte ihren Atem und zwang sich, ihr Schwert wegzustecken. Die Zeit würde kommen. Sie blickte zu Ashaya. „Wir brauchen einen weiteren Polyeder.“

Dem Elementar fiel es ebenso schwer, sich von dem Titanen abzuwenden, wie Nissa, doch es gelang ihm und Ashaya stapfte den zerklüfteten Felsen hinab. Nissa hielt mit dem Elementar Schritt und griff nach dem Land, um nach dem letzten Teil für Jaces Bauwerk zu suchen.


Jace wollte gern glauben, dass jedes Rätsel mehr als eine Lösung hatte. Alles andere hätte ihn in seinem Denken eingeschränkt, und zudem war es naiv, anzunehmen, dass der Erschaffer eines Rätsels jede mögliche Lösung bedacht hatte, nur um dann so gut wie jeden Weg dorthin zu verbauen. Und dennoch hatte er nicht einmal den winzigsten Hinweis auf irgendeine andere Lösung finden können. Soweit er es zu sagen vermochte, gab es nur eine einzige Möglichkeit, Ulamog einzufangen. Jace war es nicht gewöhnt, ohne irgendwelche Ausfallpläne in der Hinterhand zu arbeiten. Es machte ihn nervös.

Jeder Ruf eines Wachpostens ließ ihn zusammenfahren und das Wasser nach Kiora und ihrer Armee aus Seeungeheuern absuchen – eine weitere Unbekannte, die er nicht richtig einzuordnen wusste. Glücklicherweise stellte sich jeder Ruf als nichts als ein Alarm für Tazri und ihre Verteidiger heraus, der sie vor einer weiteren Welle an Brut warnte. Jace lachte halb in sich hinein: Er hatte gerade eine Welle an Brut als glücklichen Umstand betrachtet.

Er beugte sich über das dreidimensionale Diagramm, das vor ihm in der Luft schwebte und seinen Blick von der Wirklichkeit ablenkte. Er wusste, was sich dort befand. Er hatte es schon einmal gesehen. Und die stickige Luft, die tosende Brandung und das Geräusch um sich schlagender Tentakel waren genug, um gewiss sein zu können, dass der Titan kaum einen Steinwurf von dem schwebenden Felsen entfernt war, auf dem Jace stand. Es gab keinen Grund, aufzusehen.

Zudem befand sich eine kleinere Ausgabe von Ulamog direkt in seiner Hand. Zusammen mit der Illusion des Polyederrings hatte er eine des Titanen erschaffen. Er schob seinen illusionären Ulamog, dessen gegabelte Arme unablässig umherpeitschten, durch die eine Öffnung im Polyederring. Sobald der Titan im Inneren war, bewegte Jace die kleinen Kor, Menschen und Elfen so, dass sie an ihren Tauen zogen und das Tor aus Polyedern schlossen. Das Tor bestand aus drei miteinander verbundenen Polyedern, die an einer Seite der Öffnung im Ring verankert waren. Alles, was die winzigen Leute zu tun hatten, war, das Tor und somit den Ring zu schließen. Während sie dies taten – wie er es ihnen gerade befahl –, gleißte der Ring in einem hellen, blauen Licht auf und der Titan war in seinem Inneren gefangen.

Gut.

Noch mal.

Jace wischte die Illusion fort und erzeugte eine neue. Dieses Mal ließ er Ulamog von der Seite her auftauchen, um die Sache etwas anspruchsvoller zu machen. Die winzigen Menschen mussten den Ring drehen, damit das Tor auf Ulamogs Wegs lag.

Gut.

Noch mal.

Dieses Mal erhöhte er die Geschwindigkeit des Titanen, was in Wirklichkeit sehr unwahrscheinlich war, doch er wollte es trotzdem eingeplant wissen.

Gut.

Noch mal.

Halbherzig verdoppelte er die Größe des Titanen. Sie mussten das Tor verbreitern.

Jace seufzte. Das war absurd. Das würde in Wirklichkeit nie geschehen. Seine Übungen schienen sinnlos. Er hatte es mehr als ein Dutzend Mal durchgespielt. Öfter sogar. Die Alternative? Aufsehen. Doch dies hätte bedeutet, den sehr echten und lebensgroßen Ulamog anzusehen. Aufzusehen bedeutete, die echten Gesichter der kleinen leuchtenden Figuren zu betrachten. Eine der Elfen war Nissa. Eine der Meerfrauen war Jori En. Und vor dem Polyederring würde eine weitere Gestalt auf einem schwebenden Felsen stehen – eine, die Jace nicht in die Illusion eingefügt hatte, denn diese Gestalt hatte keinen Einfluss darauf, ob der Ring erfolgreich fertiggestellt werden würde oder nicht. Diese Gestalt diente – ihren eigenen Worten nach – lediglich dazu, zwischen Seetor und dem Titanen zu stehen, „falls etwas schieflaufen sollte“. Diese Gestalt war Gideon.

Gideon, Verbündeter von Zendikar | Bild von Eric Deschamps

Jace blickte auf.

Dort war er, wie er allein vor dem letzten Rest an Zivilisation auf ganz Zendikar stand: der unerschrockene Kampfmagier, der halb tot nach Ravnica gekommen war, um Jace um Hilfe zu bitten. Eine andere Zeit, ein anderer Ort. Jace hätte diesen Ausgang nicht vorhersagen können, als er Lilianas Rose auf die Straße geworfen hatte und dem blutenden, schwitzenden Mann gefolgt war. Nun waren sie hier und versuchten etwas, wofür drei unglaublich mächtige Planeswalker zuvor Jahrzehnte gebraucht hatten.

Und dennoch glaubte Jace, dass sie es schaffen konnten.

Der Titan war hier, der Ring war errichtet und ... Jace blickte gerade rechtzeitig von Gideon zu den Polyedern, um zu sehen, wie die Zendikari eine letzte Anpassung an der Position des Tors vornahmen, ehe Ulamog sich dort hindurchwälzte.

Jubel erscholl von den an den Polyedern stationierten Gruppen.

Es war fast zu einfach ... Fast.

„Haltet das Tor gerade!“ Gideons tiefe Stimme donnerte über den Jubel hinweg. Er hieb mit seinem Sural auf einen von Ulamogs Tentakeln, um ihn zurück in den Ring zu treiben. Die Gesamtheit der Vorderseite des Titanen und die meisten seiner Gliedmaßen befanden sich bereits in der Falle, doch die knöchernen Platten auf seinem Rücken hatten die Schwelle noch nicht überquert. Nur noch ein Stückchen weiter.

Überall um den Titanen herum befanden sich Unmengen von Ausgeburten und Brut. Sie bewegten sich schneller als ihr Erzeuger und drängten vor ihm nach Seetor. Doch Gideons Streitmacht hatte schon lange bereitgestanden, sie aufzuhalten, und die Streitkräfte der Zendikari stellten sich ihnen noch immer unermüdlich entgegen. Der befestigte Wall zur See hin blieb unangetastet. Jace musste zugeben, dass er von der Streitmacht, die Gideon zusammengestellt hatte, beeindruckt war. Und er war ebenso beeindruckt von den Zendikari selbst. Keiner von ihnen hatte sich für die Evakuierung entschieden, als Ulamog am Horizont erschien. Nicht einer.

Goblin-Kriegsbemalung | Bild von Karl Kopinski

Es war eine formidable Streitmacht und Gideon war ein fähiger Anführer. Das hieß jedoch nicht, dass er nicht gleichzeitig auch ein Narr war. Nur eine äußerst törichte Eingebung konnte dem Entschluss vorausgegangen sein, sich nur eine Armeslänge von der knöchernen Gesichtsplatte des Titanen entfernt auf diesen Fels dort zu stellen.

„Drin! Er ist drin!“ Der Ruf war sogar über die Kakophonie tosender Wellen, knackender Knochen und klirrender Klingen zu hören.

Jace überprüfte die Behauptung. Ja, der Titan war in Position.

„Schließt den Ring!“ Munda – der Kor, der oft an Gideons Seite kämpfte – war es, der den Befehl rief. „Türgruppe! Zieht!“

Die Gruppe, zu der auch Nissa und Jori gehörten, zog an den Tauen und wirkte ihre Zauber, um das Polyedertor zu schließen. Doch es bewegte sich so langsam!

Jaces Hände fuhren rasch über die Illusion und ließen das Tor auf- und zufahren. Auf und zu. Jedes Mal leuchtete der Ring auf und der verkleinerte Ulamog war eingesperrt. „Kommt. Kommt schon.“

Er blickte zu Gideon, der dem Titanen nun Auge in Auge gegenüberstand. Was glaubte der Mann, dort oben erreichen zu können? Er musste wissen, dass er Ulamog nicht allein vernichten konnte. Wenn der Plan fehlschlug und die Falle nicht zuschnappte, dann würde Gideon lediglich der Erste aus der Streitmacht sein, der zu Staub zerfiel.

Ulamog wälzte sich näher heran. Seine gegabelten Arme wirbelten umher und griffen nach Gideon. Gideon schwang sein Sural und zertrennte erst einen knotigen, blauen Arm und dann gleich noch einen. Nicht einmal wich er zurück. Im Gegenteil: Er machte sogar ein paar Schritte weiter auf den Titanen zu. Was mochte er in diesem Augenblick denken, da er unmittelbar vor Ulamogs blanker Gesichtsplatte stand und das Ungeheuer sah, das ihn wiederum wohl kaum richtig wahrnahm? Wie fühlte sich das wohl an? Im Grunde wollte Jace es gar nicht so genau wissen.

Er konnte nicht länger hinsehen, und so glitt sein Blick über die Reihe von Polyedern um das Tor herum. Der Ring war beinahe vollendet. Endlich! Er verglich ihn mit der Illusion. Nur noch ein paar Handbreit ...

„Ja! Genau so!“, rief Nissa, die an einer Ranke hing.

Ihre Feststellung überraschte Jace. Hatte sie recht? Er schaute von der Illusion auf den echten Ring und wieder zurück, musterte beides und verglich ihre Positionen. Wie es schien, lag die Elfe richtig. Doch wie konnte sie das ohne das Diagramm wissen ...

„Jace!“, rief Gideon. „Sind wir so weit?“ Seine Stimme verriet im Gegensatz zu seinem Gesichtsausdruck keinerlei Anstrengung, während er sich gegen eine knöcherne Wucherung aus Ulamogs Kinn stemmte. „Können sie ihn einschließen?“

Richtig. Sie warteten ja darauf, dass Jace ihnen sagte, dass die tatsächlichen Zustände dem Diagramm entsprachen. „Ja! Gut so! Schließt das Tor!“

„Schließt das Tor!“, wiederholte Munda Jaces Ruf.

Daraufhin seilten sich drei Kor am Rand jenes Polyeders ab, der kurzzeitig als Torrahmen gedient hatte, und sicherten die letzte Verbindung. Als die Kor ihre Taue verankerten, wirkte Nissa einen Zauber, um den Polyeder genau auszurichten und ... Jace hielt den Atmen an. Das Licht. Wo war das Licht?

Der Ring leuchtete nicht auf, so wie er es hätte tun sollen.

Und der Titan saß nicht in seinem Inneren fest.

Gideon duckte sich unter einem weiteren der um sich schlagenden Tentakel weg. „Sind wir schon so weit?“

„Warum leuchtet er nicht?“, rief Munda.

Jace blickte auf die Simulation herab, die noch immer über seiner Handfläche schwebte. Er öffnete und schloss das imaginäre Tor. Sein Ring leuchtete. Sein Blick pendelte zwischen der Illusion und dem echten Ring hin und her. Warum leuchtete er nicht? Er wippte auf den Fußballen. Was hatte er übersehen?

„Irgendetwas ist nicht an seinem Platz!“, rief Nissa zu ihm herunter. Sie fuhr mit den Händen über den Polyeder, der ihr am nächsten war, und presste die Wange gegen den massiven Felsen. „Etwas ist nicht richtig ausgerichtet.“

Hatte sie recht? Sollte er nicht einfach nur aufgrund ihrer bislang gezeigten Fähigkeiten, die Jace zugegebenermaßen nur bedingt verstand, darauf vertrauen, dass sie recht hatte? Zumindest konnte er ihren Hinweis prüfen, bevor er weiter einschritt. Er hatte ja schließlich selbst auch keine bessere Idee. Er fuhr mit Blicken das Diagramm des Rings ab, einen Polyeder nach dem anderen. Ja ... Ja ... Ja ...Jeder einzelne war genau dort, wo er sein sollte, und dennoch ...

„Ich glaube, es kommt von hier drüben!“ Nissa deutete auf die Polyeder, die sich am dichtesten an Seetor befanden.

Wie konnte das sein? Jace drehte die Illusion im rechten Winkel. Was hatte sie gesehen, was er nicht gesehen hatte? Er hatte alle nötigen Berechnungen vorgenommen. Er hatte die erforderliche Ausrichtung vermessen.

„Jace!“, rief Gideon. „Was kannst du mir sagen?“ Der stämmige Mann tauchte unter Ulamogs Arm auf und hieb auf die knöcherne Brustplatte des Titanen ein.

Jace fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Alles lag in seinen Händen. Gideons Leben. Das Schicksal Zendikars. Das war das Rätsel, das zu lösen er hergekommen war, doch nun kannte er die Lösung nicht. Er hatte keine Ahnung, welcher Polyeder der Schuldige war oder ob überhaupt einer falsch platziert war. Er schleuderte seine Illusion von sich. Nissa fing sie auf, als sie neben ihm auf dem schwebenden Felsen landete.

„Was ...“ Jace stolperte zurück.

„Ich weiß, es kommt von dieser Seite“, sagte sie. Sie musste schreien, um die Brandung und den Schlachtenlärm zu übertönen, obwohl sie dicht beieinander standen. „Ich weiß aber nicht, welcher genau es ist. Nicht aus dieser Entfernung. Ich müsste den gesamten Aufbau mit all seinen Verbindungen auf einmal sehen. Ich müsste auf die Klippe dort hinauf, aber ...“

„Dafür ist keine Zeit mehr“, beendete Jace ihren Satz.

„Richtig.“ Nissa schenkte ihm einen bohrenden Blick aus ihren leuchtenden Augen. „Aber ich glaube, es gibt eine andere Möglichkeit. Einen schnelleren Weg.“ Sie deutete auf die Illusion. „Dieses Diagramm aus synthetischer Energie wird es uns zeigen.“

„Wie meinst du das?“

„Wie sicher bist du, dass es keine Ungenauigkeiten gibt?“

„In meiner Illusion?“

„Darf ich sie sehen?“ Sie fasste sich an die Schläfe. „Von hier drinnen?“

Lud sie ihn gerade in ihre Gedanken ein?

Ein Schrei erklang hinter ihr, und Jace schaute gerade noch rechtzeitig auf, um zu sehen, wie ein Kor von einem der hinteren Tentakel Ulamogs getroffen wurde und in den Tod hinabstürzte.

Nissa drehte sich nicht um. Sie legte die Hand auf Jaces Schulter und lenkte seinen Blick zurück auf ihre hypnotischen Augen. „Wenn es eine Möglichkeit gibt, die falsche Ausrichtung zu finden, dann müssen wir rasch handeln. Wenn du mir das nicht erlaubst, dann habe ich keine andere Wahl, als mich dem Titanen zu stellen und zu versuchen, ihn ohne die Falle zu vernichten. Und das möchte ich nicht tun.“

Jace schüttelte den Kopf. „Und ich möchte auch nicht, dass du das tust.“

„Dann sind wir uns einig“, sagte Nissa.

Also schön. Auf in den Geist der Elfe. Jace atmete aus und blickte in Nissas wilde, grüne Augen ... und dann aus ihnen heraus.

Es war, als stünde die ganze Welt in Flammen – wenn gewöhnliche Flammen grün gewesen wären. Zuerst dachte Jace, dass der Polyederring endlich aufgeleuchtet hätte, doch dann erkannte er, dass nicht der Kreis selbst leuchtete. Es war das Netz aus Leylinien, das zwischen jedem Polyederpaar verlief. Die Linien kreuzten sich in einem verschlungenen Muster, das zu komplex war, um es auf eine einfache Gleichung zu reduzieren – oder auf überhaupt irgendeine Gleichung ...

Das Muster erhellte den Raum über dem Meer, doch die Polyeder waren nicht das Einzige, was leuchtete. Ganz im Gegenteil. Alles. Alles war mit etwas anderem durch eine Kraftlinie verbunden. Die Zendikari mit den Tauen in den Händen, Gideon, der sich vor dem Titanen aufbaute, die Mantas der Himmelsreiter, die über ihnen mit den Schwingen schlugen, der Baum zu seiner Rechten, der Stein zu seinen Füßen. Es war zu viel, um es alles zu erfassen und zu verarbeiten.

Jace schwirrte der Kopf. Er verlor den Halt und begann, aus Nissas Geist zu stürzen. Er versuchte, sich in ihr festzuklammern, aber woher sollte er wissen, was zu tun war?

Halte dich hieran fest. Es war Nissas Stimme und sie brachte etwas mit sich, was sich wie eine helfende Hand anfühlte. Wie machte sie das? Jace griff nach der unsichtbaren Hand und fiel nicht aus Nissa heraus.

Konzentriere dichKonzentriere dich immer auf nur eine Sache. Sie lenkte seine Aufmerksamkeit auf seine Illusion.

Jace atmete tief ein, und konzentrierte sich auf diese eine Sache: auf die Illusion. Er nahm aus den Augenwinkeln noch immer das Chaos der Leylinien wahr, doch er ließ sich davon nicht ablenken.

Gut, sagte Nissa. Sie streckte die Hand aus, um die Illusion zu berühren. Darf ich?

Warum nicht? Sie waren so weit gekommen. Ja.

Nissa nahm den Polyederring links und rechts mit spitzen Fingern und hob die Illusion hoch. Jace gestattete Nissas Geist, die Illusion zu formen, während er sie aufrechterhielt. Sie zog sie auseinander, spreizte die Arme und streckte die Illusion, weitete den Ring und vergrößerte die Polyeder.

Du hast alle nötigen Berechnungen vorgenommen?, fragte sie. Du bist sicher, dass sie richtig sind?

Ja, sagte Jace. Ich bin sehr sicher, dass alles dort ist, wo es sein sollte. Aber ...

Dann wird das hier klappen. Nissa warf die Illusion aufs Meer hinaus und vergrößerte sie, während sie sie über den echten Polyederring legte.

Ihre Bewegungen waren unsicher und unbeholfen, aber Jace verstand, was sie zu tun versuchte, und kam ihr zu Hilfe. Brillant. Er übernahm die Kontrolle und steuerte die Illusion geschickt an ihren Platz, während er sie gekonnt erweiterte, bis sie Lebensgröße angenommen hatte. Jede der illusionären Steine war nun so groß wie sein Vorbild. Nissa wusste nicht, wie man ausrichtete, doch er wusste es. Jeder von ihnen passte auf sein Gegenstück – außer einem.

Dort, sagte Nissa, die es zur gleichen Zeit bemerkte wie Jace. Der Polyeder war leicht geneigt. Er musste sich um eine Winzigkeit verschoben haben, nachdem er an seinen Platz gebracht worden war.

Wir müssen ..., setzte Jace an, doch Nissa war bereits losgelaufen und machte einen Satz auf den schräg stehenden Polyeder zu. Sie gab seinen Geist frei, als sie von dem Stein heruntersprang – sie gab seinen Geist frei. Nicht andersherum. Sie warf ihn zwar nicht gerade hinaus, doch er glaubte nicht, dass er hätte bleiben können, wenn er es denn gewollt hätte. Das war eine mächtige Fähigkeit. Diese Elfe besaß Macht.

Jace kämpfte sich auf die Beine und blickte aus seinen eigenen Augen auf eine öde Welt. Da Netz war fort, die Verbindungen verschwunden. Das Chaos war verblasst. Es war sowohl eine Erleichterung als auch eine Enttäuschung. Ein eigenartiges Gefühl: zu wissen, dass es nur so wenig gab – von den Leylinien, von der Welt –, was er tatsächlich sehen konnte.


Das Einzige, was Gideon vor sich sah, war zerklüfteter, weißer Knochen: Ulamogs Gesichtsplatte. Der Titan war viel zu dicht an ihm dran. Die Falle hätte ihn mittlerweile aufhalten müssen. Er sollte längst festgesetzt sein. Doch irgendetwas war schiefgegangen.

Gideon hatte sich auf diesen Augenblick vorbereitet, seit er das erste Mal Jace den Plan hatte erklären hören. Er hatte geglaubt, dass er aufgehen würde. Er hatte dem Gedankenmagier vertraut – und tat es noch immer –, doch er hatte immer gewusst, dass womöglich etwas schieflaufen könnte. Auch Jace hatte das gewusst. Deshalb hatte Gideon sich hier auf diesem Felsen postiert. Er war die letzte Verteidigungslinie. Er stand zwischen Seetor und Ulamog, und er würde diese Position halten, so lange es auch dauern mochte, die Falle aufzustellen.

Und wenn sie sie nicht aufstellen konnten – falls es denn wirklich dazu kam –, dann würde Gideon eine Evakuierung anordnen. Er würde den Titanen so lange aufhalten, bis seine Streitmacht in Sicherheit war. Doch dieser Zeitpunkt war noch nicht gekommen. Er konnte noch ein wenig länger ausharren. Sie brauchten nur noch einen Augenblick ...

Einer von Ulamogs Tentakeln fuhr brausend durch die Luft, geradewegs auf Gideon zu. Wirbel aus Unverwundbarkeit flossen Gideon in Erwartung des Aufpralls über die Haut.

Er fing den Schlag ab und knirschte unter seiner Wucht mit den Zähnen. Ein zweiter Tentakel kam von der anderen Seite auf ihn zu. Er verlagerte den Schwerpunkt seines Schilds.

Wie viel länger sollte er warten? Er schlug Ulamogs nach ihm greifende Finger zurück. Nur noch ein wenig länger ...

Der Titan beugte sich vor und zu Gideon herunter. Gideon stemmte die Füße in den Boden und starrte unverwandt dorthin, wo er die Augen des Titanen vermutete. „An mir kommst du nicht vorbei.“ Er drehte die Schulter, um Ulamogs Brust abzufangen, und konzentrierte all seine Macht auf jenen einen Punkt, wo der Aufprall stattfinden würde. Er spannte jeden Muskel in seinem Körper an und hielt dagegen.

Es war, als würde die Last einer ganzen Welt auf ihn einstürzen.

Er spürte, wie ihm die Füße wegzurutschen begannen. War es an der Zeit? Er öffnete den Mund, um den Befehl zu geben, und schloss ihn dann wieder. Er konnte noch ein wenig länger standhalten. Sie brauchten nur noch einen Augenblick ...

Gideon kniff die Augen zusammen und gab vor Anstrengung einen grollenden Schrei von sich.

Er verlor an Boden.

Dann gleißte urplötzlich ein blaues Licht hinter seinen Lidern auf und der Druck auf seiner Schulter verschwand.

Gideon stolperte, vorwärts getrieben von der Kraft, mit der er sich dem Titanen entgegengestellt hatte. Er fing sich ab, kurz bevor er von dem schwebenden Felsen heruntergestürzt wäre – und das bedeutete, dass sich nichts vor ihm befand, was seinen Fall hätte bremsen können. Er stand nicht länger Auge in Auge mit dem Titanen.

Ulamog war in das Polyedergefängnis gezogen worden, und der Kerker leuchtete in einem strahlenden Blau. Das Gleißen überflutete Seetor und löschte den Schatten des gewaltigen Eldrazi aus.

Ausgerichtetes Polyedernetzwerk | Bild von Richard Wright

„Ha!“ Gideon stieß sein Sural in die Luft. Sie hatten es geschafft. Ulamog war gefangen.

Jubel erschall hinter ihm, als Nissa anmutig auf dem Felsen neben ihm landete und hinter sich eine Ranke zurückschnellen ließ. „Wir haben es geschafft“, sagte sie.

„Das haben wir“, stimmte Gideon zu, während er übers Meer hinweg Jaces Blick suchte. „Wir haben es geschafft.“


Von seinem Posten oben auf einer Klippe stieß Ebi einen Jubelschrei aus. Sie hatten es geschafft. Der Titan. Ulamog. Gefangen. Ebi stolperte mit Tränen in den Augen zurück. Es gab noch immer Hoffnung. Es gab noch immer die Möglichkeit, diese Welt zu retten.

Ein Ruf erklang von Zendikar unter ihm, und Ebi fiel in die Stimmen ein. „Für Zendikar!“ Als er seine Faust gen Himmel reckte, fiel ein Schatten über ihn. Noch ehe er aufblicken konnte, landete ein Dämon vor ihm auf dem Fels.

Ebi schwang seine Waffe, doch der Dämon griff in der Bewegung nach seinem Arm. „Es ist bedauerlich, doch wie es scheint, bist du zur falschen Zeit am falschen Ort.“ Der Dämon schob Ebi gegen die Felswand hinter ihm. Seine dicke, schwarze Hand legte sich um Ebis Hals.

Ebi wollte rufen. Er musste die anderen warnen. Er war ein Wachposten. Gideon zählte auf ihn.

Zugriff des Dämons | Bild von David Gaillet

„Sch!“ Der Dämon drückte zu. Ebi spürte, wie das Leben aus ihm wich. „Tröste dich damit, dass du nicht hier sein wirst, um Zendikars Ende mit anzusehen.“

Die Welt wurde schwarz.


Kampf um Zendikar-Storyarchiv

Planeswalker-Profil: Gideon Jura

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Weltenbeschreibung: Zendikar