Was bisher geschah: In der Tiefe

Chandra schloss sich den anderen Planeswalkern an, indem sie Gideon, Jace und Nissa aus jenem Kerker der Agonie befreite, in den Ob Nixilis sie gesperrt hatte. Währenddessen jedoch wüteten Ulamog und Kozilek weiter im Land und hinterließen nichts als Zerstörung. Zendikar steht am Rand der Vernichtung.


Gideon war der Erste, der die Höhle verließ und mitten in den keckernden und zischenden Schwarm von Eldrazi hineinschritt. Die Kreaturen standen dicht gedrängt in dem Felsspalt, der den Eingang der Höhle bildete, und boten somit leichte Ziele für Gideons Sural und Chandras Feuerstöße und Flammenzyklone. Jede Faser seines Leibes schmerzte von den Hieben des Dämons und der Pein der Folterzauber, der er ausgesetzt gewesen war. Doch ein weiteres Mal verfiel er nun in seinen wohlvertrauten Rhythmus des Kampfes, gestärkt durch die Macht der Planeswalker, die an seiner Seite kämpften.

Bald schon waren die Eldrazi auseinandergetrieben wie eine Welle, die sich an einem unnachgiebigen Felsen brach. Und als der letzte von ihnen davonhuschte, die Schreie verstummten, Chandras Flammen erloschen und die donnernden Schritte langsamer wurden, war es, als würden sie nun allesamt im Wasser versinken: still und unnatürlich ruhig.

Als wäre die Welt gestorben.

Als ein letzter Eldrazi zu seinen Füßen zuckte, warf Gideon einen Blick auf seine Gefährten. Jeder von ihnen starrte von ihrem hohen Aussichtspunkt in den Bergen aus in eine andere Richtung und nahm das in sich auf, was einst ein atemberaubender Anblick gewesen war – vor der Ankunft der Eldrazi. Sein eigener Blick streifte über die Ruinen von Seetor und die verlassene Ödnis, die sich von dort aus ausbreitete, bis er schließlich an den Titanen der Eldrazi haften blieb – nun gab es zwei von ihnen. Ulamog, der gefangen und ihnen ausgeliefert gewesen war, und Kozilek, dessen plötzliches Auftauchen ihren Plan vereitelt hatte.

Die Titanen bewegten sich langsam voran, nicht ganz Seite an Seite, und hinterließen Zwillingsschneisen der Zerstörung. Doch wo Ulamog den nur allzu vertrauten weißen Staub hinter sich schuf, bestand Kozileks Spur aus bizarren Mustern funkelnder Steine, die in sonderbaren, rechteckigen Spiralen angeordnet und von blassem Violett und Grün überzogen waren. Natürlich huschte auch ihre Brut um sie herum, doch Gideon sah kein anderes Zeichen von Leben.

Schneise der Verwüstung | Bild von Jason Felix

Seine Streitmacht war nicht mehr. All seine Anstrengungen der vergangenen Monate waren zunichtegemacht. Es war nichts mehr übrig.

„Gideon“, murmelte Jace.

Gideon wandte sich um, doch Jace nickte in Richtung von Nissa.

Die Elfe war auf die Knie gesunken, fassungslos angesichts der Verwüstung ihrer Welt. Gideon machte einen Schritt auf sie zu, aber Jace griff nach seinem Arm.

„Warte“, flüsterte er. „Was willst du ihr denn sagen?“

„Was? Ich weiß nicht ...“

„Gib keine Versprechen, die du nicht halten kannst“, sagte Jace ernst.

Ob nun aus eigenem Antrieb oder durch den Hinweis des Gedankenmagiers ausgelöst kam ihm alles in den Sinn, was er hätte sagen können, um Nissa zu trösten: Wir kriegen sie. Wir machen es wieder gut. Wir können noch immer siegen. Diese zerstörte Welt wird wieder aufleben. Leere Plattitüden. Jace hatte recht: Er konnte diese Dinge nicht versprechen.

„Ich glaube, wir müssen ernsthaft die Möglichkeit in Betracht ziehen, Zendikar seinem Schicksal zu überlassen.“

Jace hatte geflüstert, aber Nissa hatte ihn ganz offensichtlich gehört. Sie sprang auf und wirbelte mit geballten Fäusten und vor Zorn sprühenden, grünen Augen zu ihnen herum. „Ich gehe nirgendwohin“, sagte sie. Der Boden erbebte kaum merklich bei ihren Worten – das erste Zeichen, das Gideon sah, dass diese Welt noch am Leben war.

Jace seufzte. „Nissa“, sagte er, „wir müssen uns zumindest der Möglichkeit bewusst sein, dass das, was wir zu tun versuchen, nicht möglich ist. Ugin dachte das auch, und er hat viel mehr Erfahrung mit den Eldrazi, als wir jemals haben werden.“

„Doch du weißt, dass er sich irrt“, sagte Nissa. „Du hast die Antwort gesehen. Du warst derjenige, der sie gefunden hat.“

„Wie können wir dessen sicher sein?“, fragte Jace.

Gideon konnte ihrem Streit nicht mehr folgen. Er starrte auf den staubigen Boden zu seinen Füßen. Rüstungsteile und zerbrochene Waffen deuteten an, dass sie inmitten der Toten standen und über die Leichen derer hinweggelaufen waren, die die Berührung der Eldrazi in Staub verwandelt hatte. Sein Magen zog sich zusammen.

„Zendikar ist nicht die einzige Welt, die unsere Hilfe braucht“, hörte er Jace sagen.

„Zendikar braucht mich“, erwiderte Nissa. „Was auch immer ihr anderen beschließt, ich werde hierbleiben. Ihr könnt alle weggehen, wenn es das ist, was ihr wollt. Ich bleibe.“

Jace verstummte, und Chandra starrte noch immer in die Ferne, um den Pfad der Eldrazi mit Blicken zu verfolgen, während der Rest von ihr ungewöhnlich reglos blieb. Gideon wurde plötzlich etwas Bemerkenswertes klar: Niemand von ihnen war fortgegangen. Jeder von ihnen hätte es gekonnt. Jace hatte es ganz klar gewollt.

Doch nicht ohne die anderen.

„Du könntest fortgehen“, sagte er zu Jace. „Du hättest bereits fortgehen können, anstatt zu versuchen, den Rest von uns zu überzeugen. Auch du, Chandra. Es gibt nichts, was dich hier hält. Wir alle könnten fortgehen.“

Nissa spannte die Kiefermuskeln an, doch sie schwieg.

„Nach allem, was wir wissen, ist Zendikar verloren. Wir könnten die letzten Lebewesen auf dieser Welt sein, die Letzten, die noch zwischen den Eldrazi und dem pochenden Herzen dieser Welt stehen. Und was können wir tun? Was kann jeder von uns schon gegen die Eldrazi ausrichten – nicht einen, sondern zwei ungeheuerliche Titanen?“

„Und wer weiß, wo sich der dritte befindet“, fügte Jace leise hinzu.

„Vielleicht gibt es nichts, was wir tun können. Vielleicht kann niemand von uns – kein einziger – etwas gegen solche Ungeheuer ausrichten.“

Chandra gab einen erstickten Laut von sich.

„Aber vielleicht können es vier von uns“, sagte Gideon.

Gideons Eid | Bild von Wesley Burt

Jace lächelte, und Nissas Augen weiteten sich.

„Ich glaube, dass wir das können“, fuhr Gideon fort. „Wenn wir zusammenarbeiten, dann glaube ich, dass wir vier uns jeder Kraft entgegenstellen können, die das Multiversum gegen uns aufzubieten vermag. Vieleicht sollten wir das also einfach tun.“

„Aber –“, entfuhr es Chandra.

Gideon hob die Hand. „Hört mir zu. Schaut euch doch nur an, was wir bislang erreicht haben. Wir haben Ulamog eingekerkert. Wir haben diesen Dämon besiegt. Jeder von uns ist auf seine eigene Weise mächtig. Dein Feuer, Chandra, dein Zorn ist eine unglaubliche Kraft. Nissa, du verstehst die Seele dieser Welt und ihre Magie auf eine Weise, die uns anderen unbegreiflich ist. Jace, ich habe dich zunächst unterschätzt, doch deine rasche Auffassungsgabe und dein Weitblick haben mich ein ums andere Mal gerettet. Zusammen können wir die Eldrazi besiegen. Wir können diese Welt retten. Und danach jede andere Welt, die uns braucht, wie groß die Bedrohung auch sein mag.“

„Du scheinst mir etwas voreilig“, sagte Chandra. „Vielleicht sollten wir uns zunächst mit der Bedrohung befassen, die vor uns liegt.“

„Nein“, sagte Gideon. „Wir müssen uns damit befassen, warum wir uns ihr entgegenstellen. Es geht nicht nur darum, unsere Fehler wiedergutzumachen. Es geht nicht nur um persönliche Rache. Dies hier ist größer als die Eldrazi. Größer als Zendikar. Wir müssen uns der Sache verpflichten –“ Er sah Chandra bei diesem Wort zusammenzucken, doch er fuhr unbeirrt fort. „Wir müssen uns der Sache verpflichten – nicht nur, die Eldrazi von Zendikar zu vertreiben, sondern uns gemeinsam allem entgegenzustellen, was das Multiversum bedroht. Niemand sonst kann das. Diese Aufgabe fällt uns zu – aufgrund unserer Macht. Aufgrund unserer Funken.“

Er holte tief Luft und erfreute sich einen Augenblick an der Gewissheit, dass er noch nie zuvor so sehr recht mit etwas gehabt hatte.

„Ich habe Zivilisationen fallen sehen“, sagte er. „Als die Eldrazi Seetor zerstörten, bedrohten sie alles, woran ich glaube. Die Bewohner Zendikars – meine gesamte Streitmacht – waren für sie nichts weiter als lästige Fliegen."

Er schüttelte den Kopf. „Nie wieder.“

Die anderen sahen ihn nun alle genau an. Während er sprach, suchte er den Blick eines jeden seiner Gefährten.

„Nicht nur die Eldrazi und nicht nur Zendikar. Nie wieder, auf keiner Welt. Das schwöre ich: Für Seetor, für Zendikar und all seine Bewohner, für Gerechtigkeit und Frieden werde ich Wache halten. Und sollte eine neue Gefahr aufziehen, um das Multiversum zu bedrohen, dann werde ich da sein, mit euch dreien an meiner Seite.“

Jace nickte langsam, während Chandra die Arme vor der Brust verschränkte. Immerhin ist zumindest einer von ihnen meiner Ansicht, dachte Gideon.

Doch es war Nissa, die als Nächstes sprach. Sie kniete nieder, um den staubigen Boden zu berühren. „Ich habe gesehen, wie eine Welt in Schutt und Asche gelegt wurde“, sagte sie. „Als die Eldrazi über Zendikar hinwegfegten, blieb nichts als Staub von diesem Land. Wird ihnen nicht Einhalt geboten, so werden sie alles und jeden darauf verzehren.“

Sie stand auf. Staub fiel von ihrer geballten Faust ab. „Nie wieder“, sagte sie. „Für Zendikar und das Leben, das es trägt, für das Leben auf allen Welten werde ich Wache halten.“

Nissas Eid | Bild von Wesley Burt

Jace machte einen Schritt vorwärts und blickte Chandra an. „Gideon hat recht“, sagte er. „Wir vier besitzen außergewöhnliche Macht. Wir haben die einzigartige Gelegenheit – nein, die Pflicht –, unsere Macht gegen Bedrohungen wie diese einzusetzen. Die Eldrazi, ja, aber es gibt noch andere, die sich nicht nur auf eine einzige Welt erstrecken. Ich habe einst jemanden sagen hören, dass ein Planeswalker jemand ist, der vor jeder Gefahr stets davonlaufen kann. Aber wir sind es auch, die sich entscheiden können, zu bleiben.“

„Sprich die Worte“, sagte Nissa. Die Andeutung eines Lächelns durchbrach die Maske ihres Zorns.

„Was?“

„Sprich die Worte“, wiederholte sie. „Wie einen Eid.“

Jace erwiderte ihr Lächeln. „Na schön. Ich sah ...“ Er runzelte die Stirn, und das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. „Ich sah eine größere Gefahr, als ich mir je vorzustellen vermochte. Die Eldrazi bedrohen nicht nur Zendikar. Wenn wir hier fortgehen und sie in Ruhe lassen, dann werden sie Welt um Welt verschlingen, bis selbst Ravnica in Trümmern liegt. In diesem Augenblick könnte Emrakul auf der Suche nach einer anderen Welt, die er verschlingen kann, durch die Blinden Ewigkeiten streifen.“

Gideon dachte an Theros, an Bant, an Ravnica.

Jace nickte entschlossen. „Nie wieder. Zum Wohle des Multiversums werde ich Wache halten.“

Jaces Eid | Bild von Wesley Burt

Gideons Blick wanderte zu Chandra, und er bemerkte, wie auch Nissa und Jace die Pyromagierin ansahen. Er war nicht sicher, was er von ihr zu erwarten hatte – außer dem Unerwarteten.

„Ich weiß, was ihr denkt“, sagte sie. „Dass ich so etwas niemals wirklich ernst nehmen könnte. Vielleicht habt ihr recht.“

Sie drehte den Kopf und suchte Nissas Blick. „Aber die Sache ist die“, sagte sie. „Ich habe gesehen, was wir gemeinsam erreichen können. Und Gideon hat recht – keiner von uns wird allein mit den Eldrazi fertig. Es bedarf aller vier von uns gemeinsam und all unserer vereinten Magie, um sie zur Strecke zu bringen.“

Sie holte tief Luft und stieß sie laut wieder aus. „Jede Welt hat ihre Tyrannen, die ihren eigenen Begierden folgen, ohne sich um die Leute zu scheren, auf denen sie dabei herumtrampeln. Sie sind nicht anders als die Eldrazi. Und daher sage ich: Nie wieder. Wenn die Leute dadurch in Freiheit leben können, ja, dann werde ich Wache halten. Mit euch.“

Chandras Eid | Bild von Wesley Burt

Während Nissa Chandra umarmte und die Pyromagierin sich verstohlen die Augen rieb, dachte Gideon über die Chandra nach, die er auf Regatha kennengelernt hatte und die von einer Verpflichtung erdrückt zu werden schien, welche sie nur mit Worten, aber nicht mit dem Herzen eingegangen war. Er hatte das Gefühl, dass es dieses Mal anders war, und er lächelte.

„Also schön, Gideon“, sagte Chandra, als sie sich von Nissa löste. „Was nun? Du hast doch immer einen Plan.“

„Ich habe keinen“, sagte er. „Ich muss erst mehr wissen. Ich habe keine Ahnung, wie lange wir dort drin waren. Ob noch irgendwo Kämpfer am Leben sind –“

„Das kann ich dir sagen“, meinte Chandra. „Ich ließ Tazri und eine kleine Gruppe von Kämpfern ein paar Meilen in dieser Richtung zurück.“ Sie vollführte eine vage Geste.

„Tazri. Gut“, sagte Gideon. „Sie wird wissen, welche Ressourcen uns noch geblieben sind.“

„Folgt mir“, sagte Chandra bereits im Gehen.

„Ich habe auch ein paar Ideen“, fügte Jace hinzu. „Vielleicht könnt ihr mir helfen, sie in einen Plan zu verwandeln.“

Gideon lächelte und klopfte Jace auf die Schulter. Nissa eilte Chandra sofort nach, und die beiden Männer folgten ihnen.

Gideon erkannte, dass all seine Bemühungen der vergangenen Monate genau zu diesem Punkt geführt hatten. Zu diesen vier Planeswalkern, die eine Entscheidung trafen: die Entscheidung zu bleiben, wie Jace es ausgedrückt hatte. Die Entscheidung zu kämpfen, anstatt davonzulaufen. Eine Entscheidung – eine Verpflichtung, ein Versprechen. Wache zu halten.

Selbst wenn das alles sein sollte, was er erreicht hatte, so war es genug.

Herbeirufen der Wächter | Bild von Yefim Kligerman


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Weltenbeschreibung: Zendikar