Gegebene Versprechen
Was bisher geschah: Um jeden Preis
Vor einigen Wochen entschied sich Chandra Nalaar dagegen, sich in die Angelegenheiten Zendikars verstricken zu lassen. Sie blieb auf der Welt Regatha, wo sie ihr Amt als Äbtissin eines Klosters pyromagischer Mönche antrat. Ihre Gedanken kreisen oft um den Kampf, der gerade auf Zendikar tobt, und um das Leid, dem ihre Freunde ausgesetzt sind – und auch um die Hilfe, die sie ihnen zuteilwerden lassen könnte. Doch sie hat versprochen, ihre Pflichten auf Regatha zu erfüllen – und ein Versprechen ist ein Versprechen.
Der Schlaf wollte einfach nicht kommen. Nicht, dass sie gerade wirklich Zeit für ihn gehabt hätte.
Ein Stapel Pergamente lag auf dem Boden von Chandras Schlafgemach verstreut. Obwohl sie sich so tief wie möglich in eine Ecke des Zimmers verkrochen hatte, konnte sie noch immer die Zeilen lesen, die sie auf die oberste Seite geschrieben hatte:
MEINE INSPIRIERENDE ANSPRACHE
VON ÄBTISSIN NALAAR
Das war alles.
Der Federkiel war noch immer dort, wo sie ihn zurückgelassen hatte: mit der Spitze voran ins Mauerwerk gerammt. Chandra spürte, wie ihr Gehirn versuchte, sich aus ihrem Schädel herauszuwinden.
Morgen hatte sie die traditionelle Ansprache am Keralberg zu halten. Morgen würde sie Mutter Luti und all ihre Schüler mit einer klug durchdachten Abfolge überzeugend vorgetragener pyromagischer Übungen, einigen erhebenden Worten, die sich höchstwahrscheinlich auf die von allen so sehr geliebte Jaya beziehen würden, sowie dem einen oder anderen auf Feuer beruhenden Sprachbild beeindrucken müssen. Sie würde sich als Äbtissin des Keralberg-Klosters würdig erweisen, wie es jeder ihrer Vorgänger getan hatte – wahrscheinlich schon seit Anbeginn der Zeit.
Sie ließ sich in ihrem Äbtissinnengewand aufs Bett zurückfallen und starrte an die Decke ihres Schlafgemachs.
Das ist das Leben, wofür du dich entschieden hast, gemahnte sie sich selbst.
Sie hatte ein Versprechen gegeben. Ganz gleich, was auf Zendikar geschah, ganz gleich, wie sehr man sie dort brauchte, und ganz gleich, wie befreiend es sein würde, sich in den Kampf zu stürzen. Dies hier war nun ihre Aufgabe.
Gebirge | Bild von Sam Burley
Sie betrachtete den in der Wand steckenden Federkiel, und langsam wanderte ihr Blick zur Tür. Sie stand auf und öffnete sie. Sie beugte sich hinaus und spähte den Gang des Klosters erst in die eine, dann in die andere Richtung hinunter. Schatten tanzten hinter flackernden Feuerschalen: die Nachtleuchten. Im Kloster würde nun noch über Stunden Stille herrschen.
So fühlt es sich an, ein Versprechen zu halten, sagte sie sich. Du bist kein Kind mehr. So ist es ... Sie lehnte sich gegen den Türrahmen und zwang sich, die nächsten Worte zu denken. ... Verantwortung zu übernehmen.
Sie biss sich auf die Unterlippe, während sie dort in der Tür stand und ein weiteres Mal den Gang hinauf- und hinunterblickte. Dann schloss sie die Tür zu ihrer Kammer fest hinter sich.
Sie schaute zur der ungeschriebenen Rede und dann auf das beinahe unberührte Tintenfass hinunter.
Sie warf sich in Pose, raffte ihre Äbtissinnenrobe an der Hüfte und starrte geradeaus auf die gegenüberliegende Wand.
Nur ein kurzer Blick, dachte sie.
Sie schlang ihren Willen um den gesamten Ort herum, der sie umgab, und zwang ihn, sich zu verändern. Zendikar.
Ihr Schlafgemach löste sich auf. Die Wände wurden zu schwüler Nachtluft. Der Steinboden wurde zu einem schroffen Hang. Die Decke wurde zu einem dunklen Himmel voller schwebender Landmassen und schräg in der Luft hängender Rauten.
Instinktiv duckte sie sich. Es war Hunderte und womöglich gar volle tausend Tage her, seit der Staub Zendikars ihr Gesicht bedeckt hatte. Sie roch die fruchtbare Erde, die ungestüme Reinheit dieses Ortes und das scharfe Aroma von Gefahr, die in der Luft lag. Doch da war auch noch etwas Neues – der Geruch nach trockenem Staub. Ein leerer Geruch.
Ihr Herz hämmerte. Sie wischte sich die Handflächen an der Zeremonienrobe ab. Plötzlich fühlte sie sich unvorbereitet und nur schlecht gegen Zendikars unermessliche Gefahren gewappnet. Das raubte ihr den Atem.
Himmelskaskaden | Bild von Philip Straub
Sie war von hutzligen Baumstümpfen und spitzen Felsen umgeben. Rasch erklomm sie den Abhang, um zu sehen, wo sie sich befand. Das Land breitete sich unter ihr bis zum Ufer eines schimmernden Meeres aus. Hinter dem Meer erhob sich eine Stadt mit weißen Steintürmen – Seetor! Sie hatte es geschafft, in der Nähe ihres Ziels einzutreffen – dort, wo Gideon gesagt hatte, dass sie nach ihm suchen solle. Die weißen Türme wurden von einem mächtigen Damm gestützt, und über dem Meer schwebte eine halbrunde Anordnung aus Polyedern, deren in der Nacht leuchtende Runen sich in den Wellenkronen widerspiegelten.
In der Ferne sah Chandra einen sonderbaren, gewaltigen Umriss am Horizont, den sie nicht erkannte. Wahrscheinlich war es eine von den Bergketten Zendikars, die der Schwerkraft trotzten, oder eine seiner monumentalen Landmassen, die vom Dämmerlicht zu derart enormen Ausmaßen verzerrt wurde.
Und unmittelbar unter ihr, am Fuß der Klippe, waren Leute. Einige von ihnen kannte sie. Gideon rief Anweisungen und nahm die Rolle als Anführer so selbstverständlich ein, wie er seine Rüstung trug.
„Vorsichtig ... Ja, so ist es gut“, sagte er gerade. „Gut. Torgruppe! Zieht!“
Chandra folgte Gideons Blick. Einer der größeren Polyeder, der über dem Wasser schwebte, bewegte sich. Tatsächlich konnte sie Gruppen von Gestalten erkennen, die ihn über dem Meer entlangschoben, indem sie ihn mit groben Tauen und wohldosierten Schubzaubern voranbugsierten. Kor-Tauzieher entlang des Damms zerrten an ihren Führseilen und brachten den Polyeder nach und nach in Stellung.
„Und ... haltet ihn dort!“, rief Gideon.
Eine zweite Gruppe zog in die entgegengesetzte Richtung. Der Polyeder kam an seinem Platz im Kreis langsam zum Stillstand.
„Die Position stimmt“, sagte Gideon. „Die Höhe auch. Nächste Gruppe! Macht die Taue bereit!“
Sie tun es, dachte sie. Meine Freunde tun es. Sie sind gekommen und sie helfen. Sie retten diese Welt.
Chandra reckte unwillkürlich voller Stolz die Faust nach oben – was dazu führte, dass sie am Rand der Klippe vor lauter Schwindel ins Taumeln geriet. Sie fing sich ab, doch ein Häuflein Kiesel purzelte den Weg hinter ihr hinunter.
„Achtung! Achtung!“, ertönte der Ruf einer Frau über ihr.
Chandra duckte sich zwischen zwei krumme Bäume, schrammte mit dem Kopf leicht an einer Astgabel entlang und sah zum Firmament hinauf. Über ihr flog eine Kundschafterin. Der massige Leib eines Himmelsmantas glitt durch die Luft. Eine Elfe hielt seine Zügel. Der Manta vollführte eine scharfe Kehre, und die Kundschafterin suchte mit Blicken das Gebiet ab, in dem Chandra sich versteckt hielt.
Himmelsreiter-Elfin | Bild von Dan Scott
„Bewegung in den Bäumen dort vorn!“, rief die Elfe nach unten.
Chandra hörte, wie Gideon der Späherin Antwort gab. „Fliege noch eine Runde“, rief er.{3744} „Ich muss wissen, wie viele es sind und wie groß sie sind.“
Die Mantareiterin setzte zu einem weiten Bogen an, um zu Chandras Position zurückzukehren. Chandra hatte nur Augenblicke, ehe die scharfen Augen der Kundschafterin sie gewiss entdecken würden. Sie war nicht gekommen, um zu bleiben. Nur ein kurzer Blick.
Halb rannte, halb schlitterte sie den Pfad hinunter, den sie gerade erst erklommen hatte. Sie kam auf losem Geröll ins Rutschen, schaffte es, sich an einem gezackten Felsbogen festzuhalten – nur um sich gleich darauf in einer völlig neuen Art von Schwierigkeiten wiederzufinden.
Kaum hatte sie sich gefangen, sah sie sich den Gesichtsplatten dreier knochenköpfiger Kreaturen gegenüber, deren Rümpfe nur aus frei liegenden Rippen zu bestehen schienen. Sie wirkten auf beunruhigende Weise, als trügen sie ihr Innerstes nach außen gekehrt.
Blinder Beobachter | Bild von Yohann Schepacz
Eldrazi. Das waren Eldrazi. Jene Kreaturen, die diese Welt heimgesucht hatten. Jene Kreaturen, die zu bekämpfen Gideon und Jace sie gebeten hatten.
Die größte stieß ein rasselndes, pfeifendes Fauchen aus, in das die anderen einfielen, woraufhin sie sich auf Chandra zubewegten.
„Nein, nein, nein“, flüsterte sie. Chandra lugte rasch nach oben. Die elfische Kundschafterin war bereits wieder auf dem Weg in ihre Richtung, hatte ihre Wende jedoch noch nicht beendet. Chandra schaute gerade rechtzeitig zurück zu ihren Gegnern, um zu sehen, wie einer von ihnen mit einer klingenartigen Gliedmaße nach ihrem Gesicht hieb.
Sie wich aus, doch da war auch schon ein anderer Eldrazi über ihr und presste ihren Arm gegen einen Felsen. Sie riss sich los, aber ihr erster Widersacher sprang auf sie und tastete mit schleimigen Greifwerkzeugen nach ihrem Haar und ihrem Kiefer.
„Achte auf deinen Benimm!“, murmelte sie, während sie nach seiner Brust griff und ihn von sich herunterschleuderte.
Der größte ihrer Gegner ließ sich über ihr zusammensacken und zwang ihr zusätzlich zur Last ihrer Robe nun auch noch sein Gewicht auf die Schultern. Sie spürte, wie die gezackten Vorderglieder des Eldrazi versuchten, sie bewegungsunfähig zu machen – oder sie einfach nur zu zerquetschen.
Sie ächzte unter seinem Gewicht und versuchte, nicht endgültig zu Fall zu geraten. Ihre Wirbelsäule verbog sich schmerzhaft, und sie ging in die Knie. Sie drückte die Beine der Kreatur nach oben, und die Stacheln des Eldrazi gruben sich ihr in die Hände. Noch immer lastete das Geschöpf auf ihr. Chandra verzerrte vor Anstrengung das Gesicht und bleckte die Zähne. Sie sammelte all ihre Kraft, stemmte die Füße gegen den Boden und hielt dagegen.
„Rah-AGHH!“
Das Ding taumelte von ihr herunter. Für den Augenblick war sie frei.
Der Himmelsmanta glitt über sie hinweg. Hatte die Kundschafterin sie gesehen? Die Elfe pfiff, und ihr Reittier wirbelte erneut herum und sank tiefer, während es sich wieder in Chandras Richtung wandte.
Es blieb keine Zeit. Chandra musterte die Eldrazi und spürte, wie ihr die Haut vor Hitze zu kribbeln begann. Sie fuhr geduckt herum, und die rasche Bewegung wurde zu Wut, und die Wut wurde zu Feuer.
Flammen des Hitzkopfs | Bild von Steve Argyle
Sie sandte eine Kugel aus Feuer aus, die sich in sämtlichen Richtungen um sie herum ausbreitete. Einen Augenblick lang war alles, was sie sah, das Gleißen ihres eigenen Feuers, doch dann erblickte sie wieder die Nacht vor sich. Die Kreaturen lagen auf dem Rücken, waren aber noch am Leben. Die versengten Rümpfe und Gliedmaßen zuckten, als die Eldrazi versuchten, irgendwo einen Halt zu finden, um sich aufzurichten.
Keine Zeit. Keine Zeit. Keine Zeit.
Sie rappelten sich auf und kreischten Chandra rasselnd an. Sie kreuzte die Arme vor der Brust, baute auf das Mana aus dem Berg unter sich und riss dann die Arme zur Seite, um eine dreigeteilte Klinge aus Feuer zu erschaffen, die durch jeden einzelnen Eldrazi vor ihr hindurchschnitt.
Die Kreaturen verstummten. Wabernder Rauch stieg aus den Kratern auf, die zu ihren Gräbern geworden waren.
Triumphierend ballte Chandra die Fäuste. Beinahe hätte sie gejubelt, doch sie beherrschte sich und schlug die Hand vor den Mund. Sie spähte erneut hinauf und trat zurück unter die Bäume. Die elfische Kundschafterin flog über sie hinweg, den Blick auf die rauchenden Eldrazikadaver geheftet.
Ihr Leib zitterte, Grauen und Erregung schlugen in ihrem Inneren einen heftigen Takt. Sie drückte sich mit dem Rücken gegen einen Baumstumpf, bedeckte das spiegelnde Glas ihrer Schutzbrille mit dem Ärmel und hoffte, im Verborgenen zu bleiben.
Das war‘s. Das ist alles, weswegen ich gekommen bin. Ich wollte nur wissen, ob sie in Sicherheit sind. Ich wollte nur wissen, dass sie ... mich nicht brauchen.
Sie begann ihre Rückreise nach Regatha. Die Landschaft Zendikars begann, um sie herum zu schmelzen. Sie gestattete sich einen letzten Blick auf Gideon und die anderen. Und dann sah sie die Gestalt am Horizont – jenes Ding, das sie als schwebende Landmasse oder einen seltsam geformten Berg abgetan hatte.
Im ersten Schein der Morgendämmerung konnte sie sehen, wie sich die gewaltige Gestalt bewegte. Langsam entfaltete sie ihre Gliedmaßen, was bedeutete, dass sie Gliedmaßen hatte. Ihre gezackten Kieferknochen glommen fahl in der Nacht.
Sie ragte nicht nur hoch auf. Sie näherte sich. Sie war auf dem Weg nach Seetor, hin zu Gideon und den anderen, und sie schnitt dabei eine tödliche Schneise quer über die ganze Welt. Sie drohte, alles Leben auf ihrem Weg zu vernichten.
Die Kreaturen, die sie bekämpft hatte – im Vergleich zu diesem Ungeheuer waren sie vollkommen unbedeutend. Dies hier – Ulamog selbst – das war es, worum es in diesem Kampf ging. Das war es, was jenen Geruch des Todes verursachte, der neu auf dieser Welt war, und das war es, wofür ihre Gefährten ihr Leben riskierten.
Ulamog, der unermessliche Hunger | Bild von Michael Komarck
Das war es, was zu entfesseln sie geholfen hatte.
Doch das Bild Ulamogs verschwamm, bis es nur noch ein flimmernder Schatten war. Sie reiste bereits von hier fort. Regatha formte sich um sie herum und ersetzte jenen Landstrich, der zu den Polyedern führte, zu ihren Freunden und zu dem Titanen der Eldrazi. Ihr Schlafgemach wurde heller, als Morgenlicht in breiten Streifen durch die Fenster fiel.
„Nein“, sagte sie laut.
Ein nachdrückliches Klopfen an der Tür drang an Chandras Ohren, während die Welt sich manifestierte. Die Tür wurde aufgestoßen, und das gereizte Gesicht Mutter Lutis tauchte dahinter auf. Auf Chandra wirkte es, als würde sie durch Ulamogs Nachbild hindurchschimmern.
„Chandra?“ Mutter Luti klang ungehalten. „Bist du fertig? Die Ansprache! Die Gesänge haben bereits angefangen!“
Chandras Mund stand offen.
„Du wirst dich deiner Verpflichtungen hier nicht entziehen, Äbtissin Nalaar!“, sagte Mutter Luti. „Du wirst dein Versprechen nicht brechen.“ Damit stürmte Mutter Luti den Gang entlang davon.
Langsam schloss Chandra den Mund. Sie trug noch immer die Robe. Serenoks Robe. Der Ärmel des bestickten Mantels war nun leicht eingerissen – dort, wo eine gezackte Kralle eines Eldrazi sich ihr in den Oberarm gegraben hatte.
Wie in einen Nebel aus Unwirklichkeit gehüllt machte sie zwei Schritte, bückte sich und hob den Stapel Pergamente auf: ihre Rede.
MEINE INSPIRIERENDE ANSPRACHE, stand da in ihrer eigenen Handschrift auf der obersten Seite. VON ÄBTISSIN NALAAR.
Sie blickte zur Tür. Sie führte zum Rest des Klosters, zu ihren Schülern, zu Mutter Luti, nach Regatha. Ihre Füße wussten einfach nur nicht, wie sie sich darauf zubewegen sollten.
Unvermittelt zerknüllte sie die Seiten zu einem Ball, der in ihren Händen in Flammen aufging und verbrannte. Sie ließ die Ascheflocken aus ihren Fingern zu Boden rieseln.
So fühlt es sich an, ein Versprechen zu halten, dachte sie.
Sie trat aus ihrer Kammer, das Bild von Ulamog noch immer in ihre Gedanken eingeätzt.
Die Äbtissin grüßte ihre Schüler mit einem Kopfnicken. So viele Gesichter blickten sie aus der großen Halle des Keralberg-Klosters an. Mutter Luti schaute aus den hinteren Reihen zu.
„Guten, ähm, Morgen“, sagte sie. Sie klammerte sich an den steinernen Obelisken, der ihr als Podium diente, und versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, wie man Worte sprach. Sie hustete in den Ärmel ihrer Robe.
Sie runzelte die Stirn und kramte in ihrer Erinnerung nach Aussprüchen von Abt Serenok. „Feuer ist ein Symbol“, sagte sie steif. „Für das, nun ja, Feuer. In unser aller Herzen.“
Irgendwie hatte das besser geklungen, als Serenok es gesagt hatte.
Die Mönche blickten einander an. Irgendjemand räusperte sich.
„Wir dürfen nie vergessen, dieses ...“ Ihre Worte wurden leiser und leiser, als sie auf das Podium vor sich blickte. „Feuer. Anzufachen. Damit es. Ähm.“
Sie schaute auf und sah Mutter Lutis Gesicht. Das war ein Fehler. Chandra rieb sich mit den Fingern über die Schläfen.
Sie hustete. Sie holte tief Luft.
„Hört zu“, sagte sie. „Als ich als Kind hierherkam, war ich völlig am Ende. Ich hatte keine Ahnung, was ich hiermit anfangen sollte.“ Sie hob die Hand, aus der Flammen sprossen. Sie schüttelte die Hand, und das Feuer erlosch wieder. „Die Menschen an diesem Ort – Abt Serenok, Mutter Luti, ihr alle – ihr habt es mir gezeigt. Ihr habt nicht versucht, mich zu bändigen. Ihr habt nicht versucht, mich zu ändern. Ihr habt mich gelehrt, auf meine Weise auszudrücken, wer ich bin.“
Sie blickte in die Dutzenden von Gesichtern vor sich. „Wenn es irgendetwas gibt, was ich tun kann, um euch dies zu vergelten, dann das, euch dazu ermutigen, dasselbe zu tun. Jeder von euch ist sein eigenes, einzigartiges Ich. Ihr seid nicht die Feuermönche des Keralberg-Klosters. Nicht wirklich. Ihr seid nicht die Jünger der Lehren Jayas. Ihr seid nicht hier, um mir oder einem anderen Abt zu lauschen. Ihr seid einzigartige Persönlichkeiten, in denen die wildesten Vorstellungen davon lodern, was wirklich wichtig ist. Ihr seid hier, weil dies ein Ort ist, an dem ihr herausfinden könnt, wer ihr seid.“
Sage ich das gerade wirklich?, dachte sie. Sage ich tatsächlich das, was ich denke, was ich da gerade sage? Chandra suchte nach Mutter Lutis Gesicht, konnte es aber nicht mehr in der Menge entdecken.
„Es tut mir leid für diejenigen, die ich gerade enttäusche“, fuhr Chandra fort. „Doch die beste Möglichkeit, die ich kenne, um die Tradition der Ansprache am Keralberg zu ehren, ist, euch zu sagen, dass ihr damit aufhören sollt, dieser Ansprache am Keralberg zuzuhören.“
Die Mönche blickten einander erneut an. Chandra löste den Gürtel ihrer Robe, zog die Arme aus den Ärmeln und wand sich ganz aus dem Stoff heraus. Darunter trug sie ihre gewohnte Rüstung. Sie ließ die Robe sanft von ihren Händen herabhängen, so wie man einen kostbaren Schatz hielt, der für jemand anderen bestimmt war.
„Jeder von euch verfügt über eine Gabe, die nur er der Welt geben kann. Eine Möglichkeit zu helfen, die andere nicht haben. Und die Art, diese Gabe auszudrücken, ist es, auf dies hier zu hören: Vertraut auf euch. Vertraut auf eure Gabe. Verlasst euch nicht nur auf Reden – weder auf meine noch auf die von irgendjemandem sonst.“
Einige der Mönche erhoben sich langsam. Köpfe nickten. Sie sah hier und da ein Lächeln aufblitzen.
„Ihr alle habt eure Aufgaben da draußen. Wichtigere Aufgaben als die Tradition einer Ansprache“, fuhr sie fort. „Krisen, an denen ihr gerade jetzt Anteil nehmen solltet, Schwierigkeiten, die nicht ohne eure Hilfe überwunden werden können. Und daher dränge ich euch zum Gehen. Geht und findet heraus, welche Aufgaben das sind.“ Sie neigte den Kopf und hob Serenoks Robe wie in einer Art Salut. „Danke.“
Viele Mönche schüttelten mit enttäuschter Miene den Kopf. Doch andere jubelten und reckten zustimmend die Fäuste. Sie spürte, wie sie wahrlich lebendig wurden, und sah ihre Augen auf eine Weise vor Freude strahlen, wie sie es in den Wochen voller Übungen und Gleichnisse noch nie erlebt hatte.
Chandra, die tobende Flamme | Bild von Eric Deschamps
„Danke“, sagte sie und blinzelte die Tränen weg, während sie die Robe in ihren Armen wiegte. „Danke für alles, was ihr für mich getan habt. Danke.“
Chandra lächelte und wandte sich vom Podium ab. Sie lief gegen eine Wand in Gestalt von Mutter Luti.
Chandras Lächeln erstarb. „Es tut mir leid, Mutter Luti“, sagte sie. „Aber du weißt, dass ich gehen muss.“
„Das denkst du also?“, fragte Mutter Luti ruhig. „Das willst du also?“
„Ich gehe nach Zendikar“, sagte Chandra. „Ich werde dort gebraucht.“
Chandra sah in Lutis Augen und erkannte plötzlich den Schmerz, den ihr Weggang hinterlassen würde. Sie erkannte, wie sehr sie diesen Ort im Stich ließ – jenen Ort, der sie willkommen geheißen hatte, jenen Ort, der an sie geglaubt und ihr geholfen hatte, sie selbst zu werden.
Mutter Lutis Miene blieb unergründlich. „Du wirkst unsicher“, sagte sie. „Ist dies die Wahrheit in deinem Herzen?“
Chandra sah das Phantom Ulamogs am Rand ihres Blickfelds aufflackern. „Ja, ich glaube schon.“
„Das ist nicht hinnehmbar“, herrschte Mutter Luti sie an. „Du wirst hier gebraucht!“
„Ich muss gehen“, sagte Chandra. „Hör zu: Es tut mir leid, dass ich euch verlassen muss – ich weiß, dass ihr nun keine Äbtissin mehr habt, und ich weiß wirklich zu schätzen, was ihr alles ...“
Mutter Luti schnitt ihr das Wort ab. „Es tut mir leid, aber ich muss dich an dein Versprechen erinnern. Du wirst bei uns bleiben – als Äbtissin dieses Klosters.“
„Was?“
„Du bist diesem Ort verpflichtet. Du hattest erwogen, fortzugehen, doch du hast dich zum Bleiben entschieden. Hole die Schüler zurück. Du wirst deine Ansprache halten und Pyromagie lehren.“
Chandra runzelte die Stirn. „Was sagst du da?“
Mutter Luti meinte es todernst. „Ich verbiete dir, fortzugehen.“
Chandras Hände ballten sich zu Fäusten, doch sie zwang sich, sie wieder zu öffnen. Sie schüttelte glucksend den Kopf. „Schau mal, ich ...“
„Chandra, muss ich dich daran erinnern? Du magst nun die Äbtissin sein, doch ich stehe im Rang nach wie vor über dir! Und ich sage, dass du bleibst.“
Fäuste. „Ich werde nicht bleiben.“
„O doch, das wirst du.“
„Tu das nicht.“
„Du hast eine Verpflichtung!“
„Ich habe eine Verpflichtung!“, rief Chandra. Sie stieß einen Finger in die Luft und deutete irgendwohin. „Dort draußen leiden Menschen, und ich kann ihnen helfen. Ich kann ihnen helfen. Ich kann nicht hierbleiben und endlose Übungen wiederholen, wenn ich weiß, dass ich dort hinausgehen und das anwenden könnte, was ihr mich gelehrt habt, um eine Katastrophe zu verhindern.“
Mutter Lutis Gesicht leuchtete plötzlich vor stillem Stolz. „Jetzt bist du dir sicher“, sagte sie sanft. „Meinen Glückwunsch, Chandra.“
Chandra holte Luft. „Ich ...“
„Du kennst jetzt die Wahrheit.“
„Das ... Das war es, was du hören wolltest?“
„Das war es, was du erkennen musstest.“
Chandras Schultern sackten herab. Sie wischte sich eine ungebetene Träne aus dem Augenwinkel. „Danke“, sagte sie.
Mutter Luti streckte die Hände aus, um die Robe des Abtes entgegenzunehmen, doch Chandra umarmte sie ungestüm. Sie spürte, wie Luti zögerte, ehe sie die Arme um sie legte und sie dann fest an sich drückte.
„Geh, Chandra Nalaar“, flüsterte Luti in ihr Haar. „Geh und rette Welten.“
„Das verspreche ich“, sagte Chandra kaum hörbar.
Sie entließ Luti aus der Umarmung. Sie hob Serenoks Robe auf und faltete sie sorgfältig einmal. Dann faltete sie sie ein zweites und danach ein drittes Mal, um daraufhin finster auf den unordentlichen Haufen zu starren, den sie da zustande gebracht hatte. Sie faltete die Robe ein weiteres Mal und lächelte, als Mutter Luti ihr sie sanft abnahm.
„Schon gut“, sagte Mutter Luti. „Schon gut.“
Chandra wandte sich um und viele der Schüler applaudierten.
„Lebt wohl“, sagte sie. „Lebt wohl. Ich hoffe, euch alle eines Tages wiederzusehen.“
Auf Zendikar roch die Luft nach Staub. Doch Chandra hatte Hoffnung, denn sie roch auch Salzwasser – also konnte sie nicht allzu weit entfernt sein. Sie war irgendwo in dem Waldgebiet nahe der Küste aufgetaucht, doch sie konnte die Türme Seetors über die Bäumen spitzeln sehen.
Und sie sah auch Ulamog. Er hatte die Stadt bereits erreicht. Sein monströses Haupt ragte höher auf als die Türme, und seine knöchernen Kiefer und gegabelten Arme bedrohten die gesamte Stadt. Chandra hoffte, dass sie nicht zu spät kam.
Der Damm war ganz in der Nähe, nur einen mit Bäumen bewachsenen Abhang hinab. Eine kleine Gruppe von Eldrazi ließ sich aus den Ästen vor ihr fallen, fauchte rasselnd und hob die dornigen Gliedmaßen. Sie holte aus und schleuderte den Eldrazi einen Zauber entgegen. Flirrende Feuermagie verwandelte die Kreaturen in Asche, ehe sich Chandra mit einem Schulterstoß einen Weg durch ihre verkohlten Leiber bahnte.
Sie erreichte Seetor. Chandra rannte die weißen Steintreppen zur Krone des mächtigen Damms hinauf. Dutzende, wenn nicht gar Hunderte von Bewohnern Zendikars blickten über den Damm hinweg zu Ulamog ...
Und sie jubelten.
Chandra rannte zum Rand des Damms. Sie hatte Mühe, irgendwie zu begreifen, was sie da sah.
Ulamog war gefangen.
Chandra sah, wie sich der Titan in einem Ring aus Polyedern wand – unfähig, sich an ihnen vorbeizubewegen. Um sie herum spotteten Elfen und Kor und Goblins über den außer Gefecht gesetzten Titanen. Beunruhigenderweise tauchte nun ein achtarmiges Seeungeheuer aus dem Wasser auf, doch Chandra sah, dass es mit seinen Gliedmaßen nach versprengten Eldrazi schlug. Dieses Ungeheuer half ebenfalls im Kampf mit! Sie konnte undeutlich eine Magierin des Meervolks erkennen, die das tintenfischartige Untier mit ihrem zweizackigen Speer antrieb.
Chandras Herz machte einen Freudensprung. Sie rannte zurück den Damm hinunter, wand sich durch lächelnde und sich in den Armen liegende Zendikari hindurch und versuchte dabei weiterhin, aufs Meer hinauszuspähen. Sie hielt eifrig Ausschau nach vertrauten Gesichtern, doch sie konnte weder Gideon noch Jace ausmachen.
In jenem Augenblick, in dem sie den geflügelten Schatten erhaschte, der dicht über den Wellen heranhuschte, schien die Zeit sich zu verlangsamen. Als sie den Blick hob, um den höllischen Dämon anzusehen, breitete sich ein dumpfes Grauen von ihrem Magen in ihren gesamten Körper aus. Sie sah, wie der Dämon sich mit einem Schlag seiner mächtigen Schwingen höher in die Luft erhob und über Ulamogs Kerker innehielt. Sie sah, wie der Dämon mit klauenbewehrten Fingern nach unten griff, als würde er Kraft aus der Tiefe ziehen. Er sprach unverständliche Worte, und sie spürte die Erde erzittern.
Um sie herum wichen die Jubelrufe besorgtem Raunen.
Die Spitzen der Polyeder waren nun auf den Dämon gerichtet. Der Kerker aus Polyedern war zu einer neuen Art von Mechanismus geworden – zu einem Strudel der Macht mit dem Dämon an seinem Scheitelpunkt. Ströme dunkler Energien brachen aus den Polyedern hervor und liefen im Leib des Dämons zusammen. Er wand sich und warf den Kopf nach hinten. Er stieß ein tiefes, zufriedenes Lachen aus, wie er nun über Ulamogs Schädel in der Luft schwebte.
Ob Nixilis der Wiederentflammte | Bild von Chris Rahn
Lachende Dämonen, dachte sie. Das verheißt selten Gutes.
Chandra spuckte in die Hände, rieb sie aneinander und beschwor eine wahrlich unvernünftig große Menge an Feuer aus dem Nichts. Drei verschiedene Feuerzauber auf einmal sollten ausreichen. Sie beugte sich nach hinten und schnellte dann knurrend vor, um eine ganze Salve Pyromagie auf den Dämon abzugeben. Als ihre Zauber auf die dunklen Leylinien zuschossen, wurden sie jedoch von den Fäden aus Energie eingesponnen und aufgesaugt: Die Flammen erloschen, ohne ihr Ziel überhaupt zu erreichen.
Der Boden bebte, und das Raunen um sie herum wurde zu einem Schreien. Sie blickte nach unten und sah, wie der Ring aus Polyedern, der Ulamog gefangen hielt, sich zitternd zur Seite neigte. Die Erde grollte noch bösartiger, brachte den Damm ins Wanken und türmte gewaltige Wogen auf. Die Zendikari rasten in kopfloser Panik den Wall entlang.
Von der Seite des Halimars her brandeten Wellen über ihn hinweg. Eine besonders hohe Woge ragte vierzig Schritt über den fliehenden Zendikari auf. Chandra zerstreute die Welle mit einem Hitzestoß, der sie zischend verdampfte, ehe sie über ihnen allen zusammenbrechen und den Damm überfluten konnte. Sie rannte mit der Menge weiter und erwehrte sich des schäumenden Meerwassers mit Wellen pyromagisch aufgeladener Luft.
Während Chandra inmitten der Massen auf tiefer gelegenes Gelände zulief, blickte sie hinauf und sah, wie die Türme Seetors hin und her schwankten. In einem von ihnen bildete sich ein Riss, der weißen Staub und Trümmer auf sie herabregnen ließ.
Als der Stärkungszauber des Dämons endete, erfasste die Schwerkraft die Polyeder über der Wasseroberfläche. Sie fielen herab und stürzten einer nach dem anderen in das tosende Meer, wobei sie die Taue durchtrennten, die sie miteinander und mit dem großen Wall Seetors verbanden. Der Kreis brach auseinander. Die Mauern von Ulamogs Kerker stürzten ein.
Von seinen Ketten befreit richtete Ulamog sich auf wie eine unvorstellbares Unheil bringende Pflanze, die sich der Sonne entgegenreckte. Der Titan griff nach fliehenden Menschen in seiner Nähe, die augenblicklich zu Staub zerfielen.
Chandra schrie vor Wut auf. Sie hieb mit Peitschen aus Feuer nach Ulamog, doch sie schienen keine Wirkung zu zeigen. Noch immer konnte sie weder Gideon noch Jace in der Menge entdecken. Sie konnte weder den Dämon aufhalten noch dem befreiten Titanen etwas anhaben.
Was könnte heute wohl sonst noch schiefgehen?
Die felsige Halbinsel am anderen Ende von Seetor erbebte, ehe das Land mit einem Knirschen zerbarst. Steine und Erde stürzten in sich zusammen – eine Grube, die sich selbst verschlang. Sie breitete sich auf unnatürliche Weise aus, denn die Ränder des Lochs wölbten sich nach innen und die Landschaft bildete bizarre, rechtwinklige Muster mit einem irisierenden Schimmer.
Tief unter der Erde regte sich etwas Gewaltiges, was an die Oberfläche wollte.
NATÜRLICH, dachte sie. WARUM AUCH NICHT? WARUM JETZT NICHT AUCH NOCH DAS?
Gewaltige, kantige Splitter eines schimmernden, an Obsidian erinnernden Materials stießen aus dem Boden empor. Als sich das Wesen erhob, sah Chandra, dass die Splitter über einem gewaltigen Kopf kreisten. Dieser saß auf einem gepanzerten Rumpf voller mehrfach gegabelter Gliedmaßen, der wiederum auf einem wahren Wald von Tentakeln ruhte, wie man sie bei allerlei unterirdisch lebendem Gezücht fand. Das Wesen schüttelte Erde von sich ab, als würde es aus einer rasch abgestreiften Robe schlüpfen. Ein halber Landstrich rieselte ins Meer hinunter.
Dies war nicht einfach nur ein weiterer Eldrazi, gegen den es anzutreten galt. Dies war der Aufmarsch einer weiteren gottgleichen Kreatur wie Ulamog – einer grauenhaften Wesenheit aus den Blinden Ewigkeiten.
Ein zweiter Titan der Eldrazi war in die Schlacht eingetreten.
Bild von Lius Lasahido