Was bisher geschah: Eid der Wächter

Zwei Titanen der Eldrazi wüten nun auf dem Angesicht Zendikars. Das Netzwerk aus steinernen Polyedern, das einen von ihnen vorübergehend in Schach gehalten hatte, wurde vollkommen zerstört und die Streitmacht, die gegen ihn ins Feld gezogen war, in alle Winde verstreut. Doch vier Planeswalker haben einen Eid geleistet: Wache zu halten über Zendikar und das Multiversum, sich Gefahren zu stellen, anstatt vor ihnen zu flüchten, und Wesenheiten wie den Eldrazi, die alles zu vernichten suchen, was den Menschen lieb und teuer ist, entschlossen die Stirn zu bieten.

Sie schworen einen Eid. Sie bildeten eine Gemeinschaft. Doch nun brauchen sie einen Plan. Und Jace Beleren ist wohl der Einzige, der dank des Wissens, das er von Ugin, dem Geisterdrachen erhielt, einen solchen ersinnen kann.


Das Gefühl, ein gemeinsames Ziel zu haben, war anfälliger, als Jaces Gefährten es offenbar wahrhaben wollten.

Er hatte ob der Worte und der Gedanken der anderen deutlich Mühe, sich selbst denken zu hören. Sie gingen – eigentlich wären sie am liebsten gerannt, doch sie mussten ihre Kräfte schonen – auf eine Schlucht zu, in der Chandra einige Überlebende gesehen hatte. Sie alle warteten darauf, dass Jace einen Plan ersann. Doch Jace hatte bereits einen Plan gehabt, der allerdings fehlgeschlagen war und ihn zum Improvisieren gezwungen hatte.

Jace hasste es zu improvisieren.

„Was auch immer wir tun müssen, wir werden es tun“, hatte Gideon gesagt, doch zu sich selbst hatte Jace hinzugefügt: Wenn es denn noch etwas gibt, was wir tun können.

„Ich bin bereit“, sagte Nissa. „Zendikar ist bereit.“ Doch ein anderer Gedanke streifte die Oberfläche ihres Bewusstseins: Woher weiß ich, dass ihr bleibt?

„Komm schon“, sagte Chandra. „Spuck‘s aus!“ Spuck‘s aus!, hatten ihre Gedanken einen Wimpernschlag zuvor – oder danach? – widergehallt. Zumindest sie wirkte derart unverstellt und zielstrebig, dass es in aller Regel überflüssig war, ihre Gedanken zu lesen.

Sie stolperten in die Schlucht hinunter, die von Kozileks absonderlicher, irisierender Spur bedeckt war. Jace spürte die anderen, noch ehe er sie sah: ein halbes Dutzend erschöpfter Menschen und Kor, den schattenverhangenen Geist eines Vampirs sowie die kühlen und beherrschten Gedanken zweier Meeresbewohner.

Sie kamen um eine Biegung und fanden Generalin Tazri nebst ein paar ihrer Kämpfer vor: Munda, den Plänkler der Kor, eine mürrische Vampirin, die vermutlich Dranas Interessen vertrat, die Ruinentaucherin Jori und – oh, na wunderbar. Hoch aufgerichtet, den Zweizack in der Hand und mit dem unverkennbar frechen Lächeln im Gesicht stand die Planeswalkerin Kiora vom Meervolk da und schien – abgesehen von ein paar Kratzern in den Finnen – reichlich unversehrt. Sie stritten.

„Wir schlagen hier zu“, sagte Tazri und deutete auf eine Karte. „Die Titanen sind in Bewegung. Wir fangen sie ab, bevor sie sich zu weit voneinander entfernen.“

„Das ist Selbstmord“, meinte Dranas Abgesandte.

Gideon trat vor.

„Generalhauptmann!“ Tazri nahm Haltung an. Sie strahlte zu gleichen Teilen Unbehagen und Erleichterung aus. Ihre Gedanken schreckten vor einer noch jungen, schmerzhaften Erinnerung zurück, die Jace gar nicht erst zu lesen versuchte.

Gideon grinste und schloss sie in die Arme.

„Rühren“, sagte er und trat zurück, um die Gruppe zu mustern. „Es ist schön, dich zu sehen. Es ist schön, euch alle zu sehen.“

Gideon ergriff Mundas Arm, legte Jori fest eine Hand auf die Schulter und nickte Kiora und der Vampirin zu.

Jace sah zu Jori, bevor sein Blick an Kiora haften blieb.

Wird sie diesmal mit uns zusammenarbeiten?, fragte Jace in Joris Gedanken.

Jori zuckte leicht zusammen. Ja, dachte sie. Wahrscheinlich.

„Kiora“, sagte Gideon. „Ich dachte, wir hätten dich verloren.“

„Ich dachte, wir hätten eine Menge Dinge verloren“, sagte Kiora. Ihr Lächeln erstarb, aber nur für einen Augenblick, ehe es mit wilder Entschlossenheit zurückkehrte. „Wie auch immer. Wir sind alle hier. Was ist unser nächster Schritt?“

Unser nächster Schritt?“, fragte Jace. „Warst du es nicht, die davonstürmte, uns zum Handeln zwang, ihre kleine Flottille ins Verderben führte und jetzt –“

„Ja“, zischte Kiora. Ihre Augen glühten, und sie lächelte nun nicht mehr. „Ja. Das stimmt schon alles. Deshalb bin ich jetzt ja auch hier und frage dich, was wir nun tun werden“, erwiderte sie grimmig. „Aus irgendeinem Grund hatte ich angenommen, du wüsstest eine Geste der Bescheidenheit meinerseits zu würdigen.“

„Ganz im Gegenteil“, kam Gideon Jace zuvor. „Das ist beängstigend.“

Immerhin brachte dies ein Lächeln zurück auf Kioras Gesicht. Jace konnte Menschen dazu bringen, alles zu tun, was er wollte, falls es unbedingt nötig war, doch Gideons Fähigkeit, die Leute dazu zu bewegen, mit ihm zusammenarbeiten zu wollen, war für ihn kaum nachvollziehbar. Es war nichts Magisches an ihr, sondern sie gründete sich allein auf Charisma und persönlicher Integrität – nichts also, was zu kultivieren sich Jace jemals hatte veranlasst gesehen.

Und das bedeutete, dass es in jeder Situation seine oberste Priorität zu sein hatte, zunächst einmal Gideon für sich zu gewinnen. Etwas, was sich lohnte, im Hinterkopf zu behalten, falls sie dies alles überleben sollten.

„Was ist denn unser nächster Schritt?“, fragte Tazri. „In der gesamten Senke sind Leute versprengt. Ich versuche, sie zusammenzuführen, aber in den tiefer liegenden Gebeten steht noch immer Wasser und überall sind Eldrazi.“

„Jace hat einen Plan“, sagte Gideon. „Oder?“

Sämtliche Köpfe wandten sich mit erwartungsvollen Blicken zu ihm um. Große Hoffnung sprach aus ihnen.

Jace rieb sich die Schläfen. Schloss die Augen. Schlug sie wieder auf.

„Na schön“, sagte er. „Hört genau zu, denn wir haben nicht viel Zeit. Ich hatte einen Plan in der Hinterhand, falls unsere Polyederfalle fehlschlägt, aber darin kam nur ein Titan der Eldrazi vor. Jetzt haben wir es mit zweien zu tun, unsere Verbündeten sind in alle Winde verstreut sind und ich habe nur ... nun ja, nennen wir es einen halben Plan. Ich werde eure Hilfe brauchen, um ihn umzusetzen.“

Er beschwor eine Illusion herauf: den Ring aus Polyedern, den sie verwendet hatten, um Ulamog einzusperren. Während er sprach, ließ er die Polyeder in ein illusionäres Meer stürzen, behielt aber das Diagramm bei, das geholfen hatte, sie an den richtigen Platz zu bringen. Die Glyphe, die der Geisterdrache ihm gezeigt hatte – die Form der Leylinien, die nötig war, um die Eldrazi zu binden.

Außerhalb der Schlucht erklangen Kampfgeräusche. Chandra nestelte an ihrem Handschuh und blickte zu Gideon. Er nickte, und Chandra entfernte sich mit bereits entflammendem Haar einige Schritte von der ernsten Versammlung. Manchen Menschen war es nicht gegeben, einfach nur still zu sitzen, und Jace war es lieber, dass sie Eldrazi tötete, als sich einen Plan anzuhören, dessen Einzelheiten sie ohnehin nicht weiter kümmern würden. Sie hielt sich am Rand der Gruppe und schleuderte Flammenstöße auf kleinere Eldrazi, die ihr zu nahe kamen.

„Es ist nicht mehr möglich, Ulamog und Kozilek einzusperren“, sagte Jace. „Nicht mit dem, was uns zur Verfügung steht. Wir haben weder die Zeit noch die Leute, um ein Polyedernetzwerk um sie herum zu bauen. Doch diese Form besitzt dennoch Macht.“

Er deutete auf die Glyphe ohne die Polyeder, ein Kreis mit drei längentreuen Projektionen.

„Nissa, wären die Titanen nahe beieinander und würden sich nicht bewegen und falls du dich vollkommen darauf konzentrieren könntest, ohne dich verteidigen zu müssen ... glaubst du, dass du dann diese Form aus Zendikars Leylinien bilden könntest? Auf eigene Faust, ohne die Hilfe der Polyeder?“

Nissas Blick richtete sich in die Ferne und folgte geschwungenen Linien, die Jace nicht sehen konnte. Ihre Hände zuckten.

„Ja“, sagte sie. „Aber ohne die Polyeder, die die Leylinien an Ort und Stelle halten, wird die Bindung nur so lange bestehen bleiben, wie ich sie aufrechterhalten kann. Und ich weiß nicht, wie lange das sein wird.“

„Also können wir sie einsperren“, sagte Gideon. „Was versuchst du denn zu erreichen?“

Der Augenblick war gekommen. Die letzte Gelegenheit, von dem Abstand zu nehmen, was sich als schrecklicher Fehler herausstellen könnte.

Ugin, der viel älter und weiser war als jeder andere von ihnen, hatte Jace zwei klare Anweisungen gegeben: Versuche nicht, die Titanen der Eldrazi zu töten. Und lasse die Titanen nicht entkommen, um andere Welten zu bedrohen.

Doch eines von beidem stand nun nicht mehr zur Debatte. Die Mittel, einen der Titanen einzusperren, waren ihnen nicht länger gegeben. Und nun waren zwei von ihnen frei und konnten Zendikar jeden Augenblick verlassen. Die Folgen ihres Entkommens wären mit Sicherheit katastrophal. Sie würden eine andere Welt finden, eine, die nicht auf ihr Erscheinen vorbereitet war wie Zendikar. Sie würden diese Welt verschlingen und Tausende oder gar Millionen würden sterben.

Das war nicht zu akzeptieren.

Es blieb nur eine Möglichkeit. Ugin hatte nie näher erläutert, warum er nicht wollte, dass die Titanen getötet wurden und ob sein Einwand auf den Risiken eines solchen Unterfangens oder auf dessen Konsequenzen beruhte. Und nun – jetzt, im Augenblick der Entscheidung – war Ugin nicht hier, um das klarzustellen. Doch er hatte ausführlich über die Gefahren gesprochen, es den Titanen zu erlauben, die Welt zu verlassen. Gefahren, die kaum einer Erklärung bedurften.

„Wir können sie nicht einsperren und wir dürfen sie nicht entkommen lassen“, sagte Jace. „Also bleibt uns nur eine Möglichkeit. Wir werden sie töten.“

Seine Gefährten, vier andere Planeswalker und ein paar sehr mutige Kämpfer von dieser Welt ... nickten. Ja. Töten wir zwei riesige, unfassbar alte Wesenheiten mit nichts als unseren begrenzten Fähigkeiten und unserem Einfallsreichtum. Das machte doch Sinn, nicht wahr?

Azor steh mir bei, dachte er. Ich habe mich Helden angeschlossen.

„Und wie stellen wir das an?“, sagte Gideon. „Als wir zuvor darüber sprachen, schienst du nicht einmal zu glauben, dass das überhaupt möglich wäre.“

„Das tat ich auch nicht“, sagte Jace. „Doch Ugin und etwas, was er am Auge sagte, führten mich zu einer anderen Vermutung.“

„Das war doch aber, bevor du meintest, wir sollten Ulamog einsperren“, sagte Kiora. „Du hast das damals nicht erwähnt.“

„Ja, das stimmt“, sagte Jace, „und nein, das habe ich nicht. Ugin schien es für eine schlechte Idee zu halten, einen Titanen der Eldrazi zu töten, und ich habe ihm versprochen, das wenn möglich zu vermeiden.“

„Hast du dein Wort gegeben?“, fragte Gideon. Das Brechen eines Versprechens schmeckte ihm offenkundig nicht – ein Umstand, den Jace in Zukunft würde berücksichtigen müssen.

„Du hast uns etwas verheimlicht“, sagte Kiora.

„Wenn möglich“, wiederholte Jace an Gideon gerichtet. „Es ist aber nicht mehr möglich.“ Er wandte sich zu Kiora. „Ich habe dir tatsächlich etwas verheimlicht, weil ich einen Plan hatte, der auch ohne deine Unterstützung hätte aufgehen können. Ich bin sicher, so etwas würdest du natürlich nie tun.“

Kiora lächelte.

„Also?“, rief Chandra von außerhalb der Schlucht. „Habt ihr schon einen Plan?“

Jace beachtete sie nicht.

„Wir müssen die beiden Titanen dichter aneinander bringen – dicht genug, damit Nissa sie in derselben Anordnung von Leylinien einfangen kann.“

„Wir kümmern sie nicht“, sagte Kiora. „Sie werden sich nicht von uns herausfordern lassen.“

„Die Titanen werden von Ansammlungen von Lebenskraft angezogen“, sagte Jace. Er wandte sich zu Gideon und Tazri. „Und hier kommen eure Leute ins Spiel. Positioniert sie in voller Stärke in der Senke und lasst sie Kozilek und Ulamog direkt angreifen.“

„Du willst, dass wir unsere Streitmacht als ... Köder ... einsetzen?“, fragte Gideon.

Jace seufzte.

„Was ist der Unterschied zwischen einem Köder und einem Hinterhalt?“, fragte Jace.

Gideon wartete stirnrunzelnd ab, aber Tazri ergriff das Wort.

„Ein Köder hat keine Wahl“, sagte sie.

„Richtig“, sagte Jace. „Gideon, du sagtest, all diese wären Leute gewillt, ihr Leben für Zendikar zu opfern. Nun, die Zeit dafür ist gekommen.“

Gideons Miene verfinsterte sich noch weiter.

„Ich kann alle, die noch übrig sind, zusammentrommeln und ihnen den Plan darlegen“, sagte Tazri. „Aber du bist es, der sie dazu bringen muss, daran zu glauben. Sag ihnen, was auf dem Spiel steht. Gib ihnen eine Wahl, Gideon. Wenn du es ihnen sagst, wird es sich meiner Meinung nach wohl nicht wie eine schwierige Entscheidung anhören.“

Gideon atmete tief ein und aus.

„Ruf die Truppen zusammen“, sagte er. „Ich befasse mich mit den näheren Einzelheiten und stoße dann zu euch.“

Gideon schlug Tazri auf die gepanzerte Schulter. Sie eilte davon, um die Truppen zu versammeln.

„Der Plan“, sagte er.

„Richtig“, entgegnete Jace. „Ugin beschrieb jeden Titanen der Eldrazi als einen Menschen, der seine Hand in einen Teich steckt, und die ursprüngliche Polyederfalle als einen Nagel, der in diese Hand hineingetrieben wird. Die Titanen, die wir sehen – das sind nur ihre Hände. Der Rest von ihnen liegt außerhalb dieser Welt in den Blinden Ewigkeiten. Es bringt uns nicht weiter, den sichtbaren Teil zu ‚töten‘. Unser sprichwörtlicher Mensch geht einfach weg – zwar um eine Hand ärmer, aber frei.“

„Sie sind bereits frei“, sagte Gideon.

„Ja“, sagte Jace. „Der Nagel hat sich gelockert. Deshalb müssen wir handeln. Aber wenn wir sie einfach nur angreifen – wenn wir ihnen richtig wehtun –, dann ziehen sie die Hand aus dem Teich und machen sich woandershin auf, um einen etwas weniger gefährlichen Fisch zu ärgern. Also müssen wir uns etwas einfallen lassen. Wenn du die Mittel hast, einen Nagel in die Hand eines Menschen zu schlagen, was könntest du dann noch tun?“

Verärgert erkannte er, dass er dieselbe simple Metapher verwendete, die ihn bei Ugin schon so ungehalten gemacht hatte, bis hinunter zu den rhetorischen Fragen und dem Tonfall eines wissenden Mystizismus.

„Man kann ihn hineinziehen“, sagte Nissa.

„Und dann ersäuft er“, fügte Kiora etwas zu eifrig hinzu.

„Genau“, sagte Jace. „Wenn wir also annehmen, dass Ugins Metapher weitestgehend zutrifft – und ehrlich gesagt haben wir an diesem Punkt auch gar keine andere Wahl –, ziehen wir die beiden Titanen vollständig in die stoffliche Welt. Wo wir sie dann töten können.“

„Und wie?“, fragte Gideon.

„Das“, sagte Jace, „ist der Grund, weshalb ich sagte, ich hätte einen halben Plan. Ich weiß es nicht.“

„Das ist deine Idee?“, fragte Kiora. „Ziehen wir den Hai ins Boot und dann ... ähm?“

„Nein“, sagte Jace. „Mein Plan war es, dieses Problem meinen vielseitig talentierten, klugen und erfahrenen Verbündeten zu präsentieren und zu sehen, ob ihnen etwas Nützliches einfällt.“

„Ich kann es tun“, sagte Nissa und starrte zu einem weit entfernten Horizont.

„Wie?“

Sie drehte sich um, als hätte sie erst jetzt bemerkt, dass Jace da stand.

„Es ist kompliziert“, sagte sie. „Lass es mich dir zeigen.“

Jace zögerte und erinnerte sich an das Chaos und die Macht, die der Geist dieser Elfe barg. Er hatte nicht die Kontrolle über ihn gehabt, und das machte ihm Angst. Doch welche Wahl hatte er schon? Er schloss seine Augen und öffnete Nissas.

Erneut war die Welt von grünem Feuer erfüllt, ein pulsierendes Licht, das von gleißenden Linien ausging, die sich kreuz und quer über den Himmel zogen. Ihre Freunde waren Gletscher, die unvorstellbar langsam dahinkrochen, während Nissa und Jace in Gedankenschnelle Zwiesprache hielten. Und die Titanen ... Die Titanen ...

Durch Nissas Augen gesehen war Ulamog ein pechschwarzer Abgrund und Kozilek ein sich windendes Rätsel. Die Leylinien krümmten sich, um auf sie zuzulaufen – verzerrt, zerfasert und schreiend aufbegehrend.

Ich kann nicht ..., sagte er in ihrem Geist. Ich verstehe das nicht.

Das letzte Mal, als er in Nissas Bewusstsein gewesen war, hatte sie ihm geholfen, nicht weiter auf die Leylinien zu achten und sich auf die klaren Umrisse des illusionären Modells zu konzentrieren anstatt auf die lebendige und alles andere überwältigende Wirklichkeit. Er versuchte erneut, die Linien auszublenden und sich vor ihnen zurückzuziehen, aber Nissas Gedanken schienen die seinen fest an Ort und Stelle zu halten. Er konnte nicht fort – zu so etwas sollte sie doch gar nicht fähig sein.

Sieh, sagte Nissa. Sieh hin.

Ich kann nicht

Sieh hin, beharrte sie.

Er sah hin. Er sah es.

Bilder blitzten auf: Erinnerungen an das Polyedernetzwerk, wie es einst gewesen war und wie Nissa es gesehen hatte. Leylinien verliefen kreuz und quer in weiten Bögen über die Welt, gelenkt und im Zaum gehalten vom Netzwerk. Über Tausende von Meilen hinweg krümmten und kreuzten sie sich, um die Titanen in einem Kerker aus reinem Mana zu umschließen.

Die Polyeder pulsierten und schickten Schübe von wildem Mana durch die Leylinien. Diese Ausbrüche wogten über das Land und fachten die wirbelnden Winde und taumelnden Felsen der Turbulenz an. Nissa hatte es damals nicht verstanden, doch nun tat sie es: Die Titanen wollten entkommen. Die Polyeder entzogen ihnen Kraft und zerstreuten die für ihre Mühen aufgewandten Energien in dem Netz aus Leylinien. Sie hatte gedacht, ihre Welt wäre wütend. Sie hatte nicht erkannt, dass sie um ihr Leben kämpfte.

Nissas Erinnerungen fluteten über ihn hinweg, und einige von ihnen waren ihm gespenstisch vertraut. Das Auge von Ugin. Der vampirische Weise Anowon, wie er schwor, dass die Eldrazi Zendikar verlassen würden, wenn sie denn nur befreit würden. Ein großer, weißhaariger Mann mit einem Schwert, dessen nüchterne, aber geschmeidige Stimme einen Namen sprach –

Du hast Sorin Markov getroffen?

– doch die Flut von Bildern strömte weiter auf ihn ein. Ein steinerner Drache mit blau leuchtenden Augen. Ein Polyeder, der vor weißem Feuer knisterte – das Zentrum des gesamten Netzwerks, der das halb geöffnete Gefängnis an seinem Platz hielt und vor schierer Macht summte. Nissas Stab, wie er gegen den Polyeder schlug. Ein sich weitender Riss und ein weißer Lichtblitz –

Das Bild verblasste und wurde von abstrakteren Erinnerungen abgelöst.

Inmitten einer Glyphe, die ohne Polyeder erschaffen worden war, wären die Titanen nur eine kurze Zeit lang gefangen, aber sie wären in unmittelbarem Kontakt mit den Leylinien – jenen Leylinien, die die Energie der Titanen über die Welt selbst verteilen konnten.

Die Polyeder waren wie Dämpfer. Mit ihnen im Weg konnte man die Leylinien nicht dazu nutzen, die Titanen zu töten. Doch ohne sie ...

Wir können die Titanen in Stücke reißen, sagte Jace.

Wir könnten ihre sämtliche Kraft in die Leylinien ziehen, sagte Nissa. In Zendikar hinein. Damit die Welt ihnen das antun kann, was sie ihr antun wollten. Sie verschlingen.

Das könnte hart für Zendikar werden, sagte Jace. Wenn das Ausbluten der überschüssigen Energie der Titanen die Turbulenz verursacht, dann könnte das Aussaugen sämtlicher Energie –

Ich weiß, sagte Nissa. Zendikar schafft das.

Ein Augenblick der Stille im Raum zwischen beider Gedanken.

Du hast die letzte Sicherung entfernt, sagte Jace. Du hast sie freigelassen.

Ich habe sie freigelassen, sagte Nissa. Weil ich Sorin nicht vertraute und meiner Welt helfen wollte. Ich dachte, sie würden gehen. Ich habe mich geirrt.

Das kommt vor, sagte Jace. Du hattest falsche Informationen.

Und das wusste ich, und dennoch habe ich danach gehandelt, sagte Nissa. Ihre Gedanken waren fest, unnachgiebig.

Warum hast du mich das sehen lassen?

Weil ich mich nicht fragen wollte, ob du es aus meinem Geist hervorgeholt hast, sagte Nissa. Und weil ich dich wissen lassen wollte, warum ich das tue. Ich muss es wiedergutmachen.

Ich verstehe, sagte Jace. Ich ...

Er zögerte, unsicher, wie die Elfe reagieren würde.

Ich bin ein Teil des Grundes, aus dem die Sicherung überhaupt nötig war.

Zögernd senkte er die Barrieren in seinem eigenen Geist und beschwor eine bestimmte Abfolge von Erinnerungen herauf, die er sie dann auf dieselbe rauschhafte Weise erfahren ließ. Anowon, wie er ihn zum Auge führte. Der Kampf mit Chandra und dem Drachensprecher. Das Auge, wie es sich öffnete ...

Du hast sie freigelassen!, sagte Nissa.

Ich habe sie freigelassen, sagte Jace. Chandra und ich. Wir wurden getäuscht, doch darauf kommt es jetzt wohl nicht mehr an, oder??

Drei Planeswalker hatten den Kerker der Titanen geöffnet und zugelassen, dass ihre Brut über ganz Zendikar ausschwärmte. Einer hatte Ugins letzte Sicherung entfernt und die Tür geöffnet. Drei dieser vier standen nun hier, bereit, ihren Fehler wiedergutzumachen.

Nein, sagte Nissa. Es kommt nur noch darauf an, alles wieder richtigzustellen.

Er zog sich aus ihrem Geist zurück, öffnete die Augen und blinzelte in das gedämpfte, gleichmäßige Licht eines leeren Himmels.

„Also?“, sagte Chandra. Nur wenige Wimpernschläge waren verstrichen.

Jace schluckte. Nach einer ausführlichen Unterhaltung, die im Geiste geführt worden war, fühlte sich die gewöhnliche Sprache schwerfällig und unvollkommen an.

„Wir haben einen Plan“, sagte er. „Wir ziehen sie ganz aus den Blinden Ewigkeiten, nutzen die Leylinien, um ihre Essenz in Zendikar hineinzusaugen, und lassen die Welt selbst sie verschlingen.“

„Das klingt nicht sehr kompliziert“, sagte Kiora.

„Ich versichere dir, es ist enorm kompliziert“, sagte Jace. „Aber Nissa und ich glauben, es könnte klappen.“

„Wo brauchst du uns?“, fragte Gideon.

„Wir suchen eine Stelle aus“, sagte Jace. „Du und deine Truppen lockt die Titanen in ...“ Er lächelte. „... einen Hinterhalt. Nissa und ich warten dort mit einer kleinen Abteilung von Truppen, um uns zu beschützen. Wenn die Zeit kommt, verflicht Nissa die Leylinien und bindet die Titanen. Eure Aufgabe ist es, die Eldrazi so lange fernzuhalten, wie sie dafür braucht.“

Er wandte sich zu der Meervolk-Planeswalkerin, die ihren Zweizack hin- und herdrehte. Ungeduldig? Oder nervös?

„Kiora, du kennst deine Fähigkeiten besser als ich“, sagte er. „Ich bin offen für Vorschläge.“

„Das ist ... bemerkenswert schlau von dir“, sagte sie.

Jace lachte.

„Ich wäre auch mit ‚rücksichtsvoll‘ zufrieden gewesen.“

„Ich leere die Senke“, sagte Kiora. „Ich halte euch den Rücken frei, was die Eldrazischwärme angeht, und sorge dafür, dass eure Truppen trockenen Fußes marschieren können.“

„Was ist mit mir?“, fragte Chandra.

„Geh mit Gideon oder bleib bei uns“, sagte Jace. „Steck Sachen in Brand. Aber greif nicht die Titanen an. Das riskiert, sie zu vertreiben und unseren einzigen Versuch zunichtezumachen.“

Chandra runzelte die Stirn, nickte jedoch.

„Was ist mit dir?“, fragte Kiora.

„Ich koordiniere alles“, sagte Jace. „Wo sich jeder befindet, wann Nissas Zauber beginnt und was zu tun ist, falls alles schiefzugehen droht.“

„Ah“, sagte Kiora abschätzig. „Du übernimmst die Führung.“

„Nein“, sagte Jace. „Die Führung ist Gideons Aufgabe. Dies hier ist mehr so etwas wie Verwaltungsarbeit.“

„Noch schlimmer“, sagte Kiora.

„Eine Sache noch“, sagte Jace. „Sobald wir hiermit loslegen, könnten sich die Titanen der Eldrazi ... verändern.“

„Was soll das heißen?“, fragte Nissa.

„Ihre Körper sind größer als das, was wir im Augenblick sehen, und wir werden den Rest von ihnen in die stoffliche Welt ziehen.“

Nissas helle, grüne Augen weiteten sich. Sie verstand.

„Und das heißt?“, fragte Gideon.

„Das heißt, dass sie, na ja, größer werden könnten“, sagte Jace.

„Größer?“, fragte Chandra beinahe begeistert.

Könnten?“, spie Kiora aus. „Was ist denn das für ein Plan?“

„Ein in letzter Minute zusammengeschusterter Plan mit viel zu vielen Unbekannten und aufeinander aufbauenden Bedingungen“, sagte Jace. „Und noch dazu der einzige, den wir haben. Es sei denn, du möchtest versuchen, uns aufzuhalten. In diesem Fall können wir all unsere Kräfte daran verschwenden, gegeneinander zu kämpfen, während die Eldrazi in der Zwischenzeit das gesamte verdammte Multiversum auffressen.“

Kiora starrte ihn an. Er hielt sich vollkommen aus ihren Gedanken fern – hätte sie gespürt, dass er dort einzudringen versuchte, hätte sie sich sofort gegen sie alle gewandt.

„Na schön“, sagte sie. „Machen wir‘s auf deine Weise. Und, Gedankenmagier?“

„Ja?“

„Wenn das nicht klappt, bekommst du es mit mir zu tun.“

„Das kann ich mir bestens vorstellen“, sagte Jace. „Wenn es aber doch klappt, dann musst du dir wohl keine Gedanken mehr darum machen.“

„Friss oder stirb“, sagte Gideon. „Gefällt mir.“ Er erhob die Stimme. „Wir haben einen Plan, und wir haben die Stärke und den Willen, ihn umzusetzen. Gehen wir‘s an.“

Kiora und Jori verließen die Schlucht. Jori warf Jace einen letzten Blick zu – lag da etwa Zweifel in ihm? Dann war sie auch schon verschwunden.

Gideon wandte sich ebenfalls zum Gehen, drehte sich jedoch wieder um.

„Was der Dämon sagte ... Darüber, den Telepathen zuerst zu töten ...“

„Was ist damit?“

„Ich vertraue dir“, sagte Gideon.

Jace legte zwei Finger an die Schläfe und sagte in seiner finstersten Gedankenmagierstimme: „Ich weiß.“

Gideon verdrehte die Augen, klopfte Jace auf die Schulter – etwas, wovon er wusste, dass Jace es nicht leiden konnte –, und trottete davon. Chandra hatte sich bereits auf den Weg gemacht, und Gideon verfiel in einen eiligen Lauf, um sie einzuholen.

Jace und Nissa kletterten aus der Schlucht und starrten zu dem, was sie von den Titanen der Eldrazi sehen konnten und vom Boden der nun trocken gelegten Senke aus aufragte.

„Mein Herr!“, bellte eine Stimme hinter ihnen.

Jace drehte sich um und erblickte zwei Schwadronen von Kriegern, die von einer mürrischen Menschenfrau angeführt wurden. Es handelte sich um Freischärler, die eher in lockerer Formation als in echten Marschreihen vorrückten. Sie stellten sich in einer kruden Linie vor den beiden Planeswalkern auf und nahmen Haltung an.

„Die Nachhut meldet sich zur Stelle!“, sagte ihre Anführerin.

Jace brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass die Frau mit ihm sprach. Selbst in seiner Rolle als lebender Gildenbund von Ravnica hatte er sich nie auch nur an das kleinste Maß von Ehrerbietung gewöhnen können, das man ihm entgegenbrachte.

„Oh“, sagte er. „Ähm ... Rühren.“

Sie starrten ihn unverwandt an.

„Sag etwas“, flüsterte Nissa.

Sag du doch etwas, dachte Jace in ihre Richtung.

Ich bin nicht diejenige, die ihnen Befehle erteilen muss, sobald der Kampf beginnt.

Jace musterte die Truppen – seine Truppen –, und das Gewicht dessen, was sie vorhatten, gewann grausame Wirklichkeit. Er hätte es erklären können. Er hätte ihnen ein Diagramm aufzeichnen können, um die Metaphysik hinter dem Ganzen zu veranschaulichen und all seine Metaphern und Berechnungen von sich zu geben.

Doch nichts davon hätte sie dazu angetrieben, zu kämpfen und zu sterben. So ging das nicht ...

Nun, das war nur eine Möglichkeit, sich dem Problem zu nähern.

Er schluckte.

„Es mag nicht so aussehen“, sagte er, „aber in wenigen Augenblicken werdet ihr die wichtigsten Leute auf dem Schlachtfeld sein. Genau genommen sogar auf der ganzen Welt.“

Er vollführte eine Geste.

„Das hier ist Nissa“, sagte er, während er die Reihe abging. „Sie wird die Titanen binden, und sie wird sie letztendlich auch töten. Wenn sie fällt, spielt nichts anderes mehr eine Rolle. Plant also entsprechend.“

Augen weiteten sich, Kiefer wurden fest zusammengepresst. Sie verstanden ihre Aufgabe. Dessen war er sich sicher. Doch waren sie wirklich in der Lage, sie auch auszuführen?

Was würde Gideon sagen?

Jace lächelte. Natürlich.

„Für Zendikar!“, sagte er und reckte eine Faust gen Himmel. Für ihn hörte es sich wie ein schwacher Ruf an, so ganz ohne Gideons gepanzerte Faust, die tiefe Stimme oder die eiserne Überzeugung.

Nichts davon war wichtig. Die Soldaten hoben die Waffen und riefen wie aus einem Mund:

„Für Zendikar!“

Jace drehte sich zu den Titanen um. Im Tal unter ihren Schatten schwärmten inmitten zahlloser Feinde seine Freunde und Verbündeten aus, um seinen Plan in die Tat umzusetzen.


Eid der Wächter-Storyarchiv

Planeswalker-Profil: Gideon Jura

Planeswalker-Profil: Jace Beleren

Planeswalker-Profil: Chandra Nalaar

Planeswalker-Profil: Nissa Revane

Planeswalker-Profil: Kiora

Weltenbeschreibung: Zendikar