Was bisher geschah: Gegebene Versprechen

Die Meervolk-Planeswalkerin Kiora nahm große Hürden, um ihre Welt gegen die Eldrazi zu verteidigen. Sie stahl die heilige Waffe einer Göttin auf der Welt Theros und brachte sie heim nach Zendikar. Sie erinnerte sich der alten Geschichten an die Götter ihres Volkes und daran, wie der Schwindlergott Cosi – eine verzerrte Erinnerung an den die Wirklichkeit ins Wanken bringenden Titanen Kozilek – ein ums andere Mal den Meeresgott Ula überlistete, bei dem es sich in Wahrheit um Ulamog handelte. Während Ulamog nun auf Zendikar wütete, fand Kiora Inspiration in den alten Geschichten über Cosis Gaunereien, um sich dem zu stellen, den sie für Ula hält.

Die anderen Planeswalker, die gegen die Eldrazi kämpfen, glauben, sie locken Ulamog in eine Falle, um ihn festzusetzen, doch Kiora hat nicht die Absicht, es dabei zu belassen. Sie besitzt die Waffe einer Göttin. Sie hat starke Verbündete aus der Tiefe. Ihr weiterer Weg ist klar:

Es ist an der Zeit, gegen einen Gott in die Schlacht zu ziehen.


Kiora stieg sanft aus den schwindelnden Höhen Seetors herab. Sie stand auf einem gewaltigen, mit Saugnäpfen überzogenen Tentakel und hielt jenen Zweizack fest umklammert, der einen Gott töten sollte.

Es war doch von Planeswalkern eigentlich zu erwarten, dass sie Weitblick hatten.

Sie war nicht verärgert. Nicht wirklich. Sie war nicht so weit gekommen, indem sie sich darauf verlassen hatte, dass andere ihre Sicht der Dinge teilten, und sie war nicht ganz sicher, warum sie sich überhaupt die Mühe gemacht hatte, sie überzeugen zu wollen. Doch der Gedanke, Ula entgegenzutreten, war so gewaltig und so berauschend. Und sie hatte eine Waffe, die ihr dabei helfen würde, die Sache erfolgreich zu Ende zu bringen. Ganz gewiss würde doch irgendjemand an diesem Triumph teilhaben wollen!

Kioras Kiemen öffneten sich, als der Tentakel des riesigen Oktopus die Wasseroberfläche durchschlug. Hier – im seichten Wasser, das gegen die Mauern Seetors schwappte – wartete ihre eigene Streitmacht, die von den Landgängern einfach abgetan worden war: fünf von Cosis eigenen Schwindlern und eine Legion Meeresungeheuer.

„Wie ist der Plan?“, fragte einer der Schwindler in der eigentümlichen Sprache, die das Meervolk unter Wasser verwendete. Shen. Das war sein Name.

„Wir teilen uns auf“, sagte Kiora. „Wir haben nicht so viel Zeit, wie wir dachten.“

„Stimmt etwas nicht?“, fragte eine andere Schwindlerin namens Yesha.

„Keineswegs“, sagte Kiora. „Ula ist ... Ulamog ist auf dem Weg hierher.“

„Wer sagt das?“, fragte Shen.

Schwindler waren von Natur aus misstrauisch, da sie selbst nur allzu gut wussten, wie leicht sich etwas behaupten ließ – und wie schwer solch eine Behauptung zu widerlegen war.

„Eine Ruinentaucherin namens Jori En“, sagte Kiora.

„Ich habe von ihr gehört“, sagte Shen. „Sie ist vertrauenswürdig.“

Eine vorsichtige Wortwahl. Jori mochte zuverlässig sein, aber sie war keine Anhängerin Cosis.

„Es wird noch besser“, sagte Kiora. „Erinnert ihr euch an diese anderen Welten, von denen ich euch erzählt habe? Zu denen ich reisen kann?“

Die Schwindler murmelten wissende, bestätigende Laute. Sie war nicht sicher, wie viel sie ihr davon wirklich glaubten, doch es war offensichtlich, dass der Zweizack nicht von Zendikar stammen konnte.

„Nun, den Gelehrten aus dem Turm nach müssen wir Ulamog nicht einmal töten. Wenn wir ihn nur stark genug verwunden, könnte er Zendikar verlassen und sich einer anderen Welt zuwenden.“

Die Schwindler jubelten nicht. Das hatte sie auch nicht erwartet, auch wenn ihr Mangel an Begeisterung andere Gründe hatte wie bei der weichherzigen Elfe droben im Turm.

„Wenn er weggehen kann, kann er auch zurückkehren“, sagte Yesha.

„Wenn er weggeht“, sagte Kiora und umklammerte ihre gestohlene Götterwaffe noch fester, „kann ich ihm folgen.“

„Was hast du denn nun vor?“, fragte Shen erneut. Von den fünfen war er der mit der geringsten Geduld und derjenige, der sie am ehesten infrage stellen würde – ein wahrhaftiger Anhänger Cosis. Kiora mochte Shen.

Ihrer ist es, den Titanen in irgendeine Art von Falle aus Polyedern zu locken“, sagte Kiora, „um ihn an diese Welt zu binden, so wie er vorher an sie gebunden war. Das erscheint mir eine verlockende Lösung für Leute, die einfach ihre Sachen packen und diese Welt verlassen können, sobald alles vorbei ist.“

Die Schwindler schnaubten verächtlich.

„Unser Plan ist es, ihn zu töten, wenn wir können, und ihn zu vertreiben, falls wir das nicht schaffen“, sagte Kiora. „Zum Glück ist ihr Plan in gewisser Weise mit unserem vereinbar. Wir werden Ulamog mit allem angreifen, was wir haben, und wenn das bedeutet, dass wir uns ihre Ablenkung zunutze machen, umso besser. Tola, Inash, Runari – ihr bleibt hier. Helft den anderen Weltenwanderern bei ihrer Polyederfalle und dabei, Ulamog zu töten, falls sie doch noch zur Vernunft kommen. Und falls nicht – tut, was ihr tun müsst.“

Kiora, Herrscherin der Tiefen | Bild von Jason Chan

Die drei Schwindler nickten und schwammen davon. Kiora sandte einen Befehl an die Hälfte ihrer Meeresungeheuer – eine sanfte Erinnerung daran, dass diese Meermenschen ihnen Befehle in ihrem Namen geben konnten. Sie schätzte die Chancen, ob dieser Plan scheitern oder aufgehen würde, als ziemlich ausgeglichen ein. Gezeitenchancen nannte das Meervolk so etwas: Mal fielen sie höher aus, mal niedriger. Doch zumindest würden die Schwindler in Sicherheit sein.

Kiora wandte sich um und schwamm von Seetor fort, hinaus aufs offene Meer. Shen und Yesha schlossen sich ihr an, zusammen mit der anderen Hälfte ihrer Armada. Sie kämpften sich durch den Schwarm schwimmender Ausgeburten der Eldrazi, der Ulamog umgab, und dann waren sie frei – mit nichts als Wasser um sie herum.

„Was ist mit uns?“, fragte Shen. „Wohin gehen wir?“

„Hinaus und hinab“, sagte Kiora. Hinaus war eine Orientierungsangabe des Meervolks – immer weg von der jeweils nächsten Küste –, den Kiora bisweilen jedoch auch dazu verwendete, um eine Richtung zu beschreiben, die nur sie und ihresgleichen einschlagen konnten: hinaus aus der Welt und fort von den Ufern der Wirklichkeit.

„Verrätst du uns, warum?“, fragte Shen.

„Es ist wichtig genug, dass es Kiora von Ulamog wegtreibt“, sagte Yesha. „Und das reicht mir.“

Das brachte Shen zum Schweigen, doch Kiora konnte ihn aus den Augenwinkeln sehen: zusammengepresste Kiefer, dunkle Augen. Die Schwindler folgten Kiora nicht, weil sie eine Planeswalkerin war, oder auch nur ihrer Macht wegen. Sie folgten ihr, um ein Teil jener Geschichte zu sein, die sie erzählte – eine Geschichte, wie einem Gott eine Waffe gestohlen wurde, um damit einen anderen zu töten.

Sie schwammen eine Weile durch die gedämpfte Stille, vorbei am Festlandsockel und hinaus aufs offene Meer. Hinter und unter ihnen schnappten Kioras Meeresungeheuer rastlos nacheinander. Sie langweilten sich und gierten nach einem Kampf. Kiora machte ihnen keinen Vorwurf daraus.

„Das ist weit genug“, sagte Kiora. Das Trio hielt an.

Shen und Yesha warteten.

„Tausende Jahre lang beteten unsere Vorfahren und wir unwissentlich die Titanen der Eldrazi an“, sagte Kiora. „Ich bin sicher, es gibt sogar einige, die das noch immer tun.“

Shen geriet ob dieser Worte ins Grummeln. Viele Angehörige des Meervolks gingen davon aus, dass die Schwindler ganz gewiss zu jenen zählen mussten, die die Eldrazi noch immer in Ehren hielten – sie hätten sich gar nicht grundlegender irren können.

„Wir, die wir Cosi die Treue hielten, wissen, dass an den Göttern nichts Besonderes ist. So etwas wie Heiligkeit gibt es nicht. Es gibt nur Macht. Und alles mit genug Macht – besonders dann, wenn es auch noch alt ist – kann sich leicht den Mantel der Göttlichkeit überstreifen. Ich stahl diese Waffe von einem Wesen, das sich selbst Göttin nannte, und dieser Zweizack ist einer solchen zweifellos würdig. Doch wir sollten nicht vergessen, dass die Eldrazi nicht die einzigen Wesen sind, die unser Volk als Götter verehrt hat.“

Sie blickte hinab in den Abgrund, der sich unter ihnen erstreckte. Shens Augen weiteten sich.

„Wie auch sonst“, sagte Kiora, „will man eine Kreatur bezeichnen, die alt genug ist, um gesehen zu haben, wie die Eldrazi eingekerkert wurden? Wie sonst sollte man denjenigen nennen, der mit jeder seiner kleinsten Regungen über die Gezeiten selbst gebietet?“

Nun verstand auch Yesha. Kiora sah es in ihren Augen.

Kiora hielt den Zweizack vor sich und nahm jeden Funken Macht zusammen, den sie in sich hatte. Der Zweizack begann zu leuchten – erst blau, dann weiß und dann in einem blendenden Gleißen. Kiora weitete ihr Bewusstsein auf die Strömungen aus, und seine Fäden tasteten umher wie sich windende Tentakel. Sie verlor sich – ein winziger Flecken, der in einem unendlichen und hungrigen Meer dahintrieb –, und Zendikars Ozeane öffneten sich ihr. Dicht – viel zu dicht – an diesem Flecken befand sich Ula. Ein großer, dunkler Klumpen, von dem sich tote, fühllose Verderbnis ausbreitete wie ein Tintenklecks.

Sie tastete weiter. Übers Meer. Die Formen der Kontinente boten sich ihr als weiße Flächen dar, zwischen denen sich die Klippen und Täler des Meeresgrunds erstreckten. Irgendwo dort draußen schwammen ihre Schwester und ein paar Dutzend andere Angehörige des Meervolks durch die weite, dunkle See, doch Kiora vermochte sie nicht von den Walen und den Algen und dem Treibgut zu unterscheiden. Sie tastete an ihnen vorbei – oder vielmehr an jenem Ort vorbei, von dem sie glaubte, dass sie sich dort aufhielten – bis zu den fernen Ufern Murasas.

Dort. Sie fand ihn eng zusammengerollt in der Tiefe. Ruhend. Schlafend. Kiora hatte es nie gewagt, ihn zu rufen – wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann vor allem deshalb, weil sie stets gewisse Zweifel daran gehegt hatte, ob sie es denn überhaupt konnte. Doch nun rief nicht sie nach ihm. Nicht wirklich. Oder zumindest nicht sie allein. Der Zweizack rief nach ihm. Er würde antworten.

In der dunklen Ferne öffnete sich ein Auge.

Kiora kehrte zu sich selbst zurück und schlug die Augen auf. Sie wusste nicht, wie lange es gedauert hatte, doch sie fühlte sich, als sei sie stundenlang geschwommen. Das Gleißen des Zweizacks schwand dahin, erlosch dabei jedoch nicht vollständig, sondern pulsierte in einem langsamen, gleichmäßigen Rhythmus.

„Was hast du vor?“, fragte Shen. „Warum rufst du ihn, wenn Ulamog so nahe ist? Was nützt uns Macht, wenn uns ein Ozean von ihr trennt?“

„Nichts“, sagte Kiora. „Deshalb habe ich ihn ja auch nicht gerufen.“

Das Wasser wurde sehr kalt und sehr ruhig.

„Ich habe ihn herbeibeschworen.“

Yesha sperrte sich gegen diesen Gedanken.

„Was lässt dich glauben, dass du das überhaupt –“

Und dann war er bei ihnen: ein nahezu unermesslicher, brodelnder Strudel aus Finsternis, der das wenige Sonnenlicht verdunkelte, das noch zu ihnen hinunterdrang.

Lorthos, der Gezeitenmacher | Bild von Kekai Kotaki

Lorthos!

Sie hatte ihn beschworen und er war gekommen! Kiora hätte gelacht, wäre dies alles auch nur einen Deut weniger verstörend gewesen.

Die immense Masse bewegte sich und drehte sich um die eigene Achse. Eine ganze Landschaft aus Seepocken und Narben und zähem Fleisch wälzte sich unfassbar rasch an ihnen vorbei. Es war schwindelerregend – fast so, als würde man fliegen. Ein gewaltiger Schnabel schälte sich aus der Masse, ein Schlund, der einen Wal verschlingen konnte, ohne dabei auch nur ein einziges Mal nachfassen zu müssen.

Warte!, sagte Kiora und hielt den Zweizack ein weiteres Mal vor sich. Sie lenkte den Gedanken in den Zweizack, doch er war kein Befehl – nicht so, wie wenn sie niedereren Geschöpfen Gehorsam abrang. Es war eine Bitte. In deinem Meer sind Eindringlinge, o Ehrwürdiger. Wirst du an meiner Seite gegen sie kämpfen?

Der Schnabel öffnete sich und schloss sich und öffnete sich wieder, doch der riesige Oktopus verschlang sie nicht mit Haut und Schuppen.

Ich bin nicht schwach, dachte Kiora. Ich habe dich hierher beschworen, und ich trage eine Waffe, die sie verletzen kann. Gemeinsam können wir diesen Kreaturen eine Lektion in Demut erteilen.

All dies waren nur von der Zivilisation geschaffene Begriffe – Waffe und Lektion und Demut –, doch sicherlich wusste irgendetwas in Lorthos Innerem, dass er eine Macht war und dass eine Macht sich zu verteidigen hatte.

Der Schnabel schloss sich, und Lorthos‘ gigantischer Leib mit seinen komplexen Mustern darauf glitt ein weiteres Mal in rasender Eile an ihnen vorbei. Schließlich kam sein Auge in Sicht, blau leuchtend und im gleichen Takt wie der Zweizack pulsierend. Wie klein ihm diese drei Meeresbewohner erscheinen mussten! Unbedeutende Staubkörnchen, die in der Dunkelheit tanzten und es wagten, seinen Namen zu flüstern.

Dann ließ er sich unter sie sinken und präsentierte ihnen die Oberseite seines Mantels. Der entstehende Sog zog Kiora und die Schwindler an und sie schwammen mit ihm. Kioras niederere Meeresungeheuer zogen sich an den Rand ihres Bewusstseins zurück und versuchten, außerhalb der Reichweite dieser mächtigen Tentakel zu bleiben.

„Haltet euch an irgendetwas fest“, sagte Kiora. „Das wird nicht sanft vonstattengehen.“

Shen und Yesha fanden einen Platz in den Kluften in Lorthos Haut. Narben, die tief genug waren, um sich darin zu verstecken, und Seepocken von enormeren Ausmaßen als die größten Muscheln, die sie je gesehen hatte: Seine bloßen Dimensionen waren schier unbegreiflich. Und Ula ist noch größer.

Kiora nahm ihren Platz ganz oben auf Lorthos‘ Mantel ein. Ihr Zweizack pulsierte noch immer im Gleichtakt mit seinem Auge. Shen setzte sich neben sie – zweifellos jederzeit dazu bereit, den Zweizack an sich zu nehmen, sollte sie denn fallen. Sie bemerkte seinen Blick und zwinkerte ihm zu.

Noch nicht.

Dann erhob sich Lorthos und Kiora erhob sich mit ihm.

Sie musste ihm nicht sagen, wohin er sich wenden sollte. Er wusste es, da er das Eindringen des Titanen der Eldrazi in seine Meere spürte. Er wusste nichts von anderen Welten und wahrscheinlich nicht einmal, was die Eldrazi waren. Doch er wusste, was Macht war – und was eine Herausforderung.

Lorthos arbeitete sich schubweise voran, indem er anschwoll und sich dann wieder zusammenzog wie ein riesiges Herz. Kiora biss die Zähne zusammen. Die Reise auf einem Oktopus war immer so, doch diese hier war sogar noch schlimmer: Er war so verdammt groß. Über das Ergebnis konnte sie sich jedoch kaum beschweren, denn jeder Schub brachte sie Hunderte von Schritten voran.

Langsam, aber unausweichlich bewegten sich Lorthos und Ula auf Seetor zu.

Kioras Meeresungeheuer schwärmten um sie herum aus und dienten als Schild gegen die Wellen von Ausgeburten. Ihr Geist wurde in Dutzende Richtungen gleichzeitig gezogen, während sie versuchte, die Kontrolle über diese vielköpfige Armada aufrechtzuerhalten, als deren Mitglieder verwundet wurden und ihre Instinkte ihnen zur Flucht statt zum Kampf zu raten begannen.

Das Wasser wurde flacher, je weiter sie sich ihrem Ziel näherten, und bald hob jeder von Lorthos‘ Schüben seine Reiter aus dem Wasser, wo sie angesichts der Sonne ins Blinzeln gerieten, nur damit gleich darauf das Meer wieder um sie herum krachend zusammenschlug. Dann war es selbst dafür zu seicht, und Lorthos zog sich mit seinen Tentakeln voran. Sein Mantel durchbrach die Oberfläche und blieb dort. Er türmte hohe Wellen in dem kleinen Hafen auf und gewährte Kiora einen ersten Blick auf den Feind.

Der Plan der anderen Planeswalker ging auf. Ula stand inmitten eines Rings aus Polyedern, der hell in einem bindenden, blendenden Licht erstrahlte. Ulas Arme und Gliedmaßen wirbelten wild umher, um nach seinen Angreifern und seinem Kerker zu hauen, doch er schien in der Falle zu sitzen.

Bild von Craig J Spearing

Wie er aussah! Das war das Antlitz eines Gottes? Diese stumpfe, knochenfahle Leere? Er wirkte so dumm, wie er sich da wie ein Kuttelfisch in der Reuse wand. Wie hatte jemals irgendwer glauben können, dass diese erbärmliche Kreatur auch nur ansatzweise verehrungswürdig war? Lag es allein an seiner Größe? Ha!

Aber er war tatsächlich sehr groß.

Hier – so nah und sich ihrem Gegner immer weiter nähernd – begann sie, dessen Ungeheuerlichkeit zu erfassen. Er ragte fast so hoch wie der Leuchtturm über dem Wasser auf, obwohl er teilweise noch darin untergetaucht war. Gegen einen Titanen der Eldrazi wirkte selbst Lorthos klein. In einem Zweikampf hätte der große Oktopus aus Murasa wohl kaum eine ernsthafte Aussicht auf den Sieg gehabt. Gut, dass sie ihm zur Seite stand.

Und dann ging irgendetwas ... schief. Die Macht, die das Polyedernetzwerk durchströmte, wurde erst rot und anschließend schwarz. Sie gleißte über einem der Polyeder als dunkler Blitz auf. Und dann fiel ein Polyeder nach dem anderen vom Himmel.

Kiora wusste nicht, was geschehen war oder wie es so weit hatte kommen können. Vielleicht waren die Polyeder verwittert oder defekt oder was auch immer mit Polyedern passierte, wenn man sie ein paar Jahrhunderte zu lange herumliegen ließ. Oder vielleicht hatte er sich einfach nur losgerissen. Was auch immer die Ursache war, ihre Wirkung war deutlich: Ula hatte sich aus seinem Kerker befreit.

Vorwärts!, spornte sie Lorthos an, obwohl sie ihm das nicht hätte sagen brauchen. Sie grinste und wagte es, sich aufzurichten und sich auf dem Zweizack abzustützen. Endlich würde sie Ula für das bestrafen, was er ihrem Volk und ihrer Welt angetan hatte – für die Verwüstungen seit seiner Befreiung, für die Jahrtausende der Täuschung davor und dafür, so lange die eiternde Wunde am Herzen Zendikars gewesen zu sein.

„Ula!“, rief sie. „Dreh dich um und stell dich mir, du elendes Geschöpf!“

Shen blickte sie an, als hätte sie den Verstand verloren. Das war äußerst befriedigend.

Ula wandte sich nicht zu ihr um, sondern von ihr ab, um am Damm entlang aufs Ufer zuzustapfen. Feigling!

Das Wasser begann zu brodeln und wurde immer aufgewühlter. Anfangs dachte sie noch, dies könnte von ihrem eigenen Zorn herrühren, weil sie ihn unbewusst durch den Zweizack leitete. Aber nein – das hier war etwas anderes. Hier ging etwas vor sich, und erst wusste sie nicht, was es war, doch dann sah sie es und bei allen Göttern und Ungeheuern –

Bild von Lius Lasahido

Die fremdartige Gestalt, die sich über die Landschaft erhob, war ihr auf grauenhafte Weise vertraut. Eine Krone aus pechschwarzen Klingen ruhte auf jenem Nichts, was wohl der Kopf dieses Wesens sein musste und zugleich unfassbar flach und unfassbar schwarz war – als hätte jemand ein Loch in die Wirklichkeit selbst gerissen. Ein glänzender Panzer breitete sich unter ihm aus. Seine gewaltigen Hände tasteten sich greifend vor. Zwei Schwerter aus Obsidian ragten aus seinen Unterarmen hervor.

Cosi.

Mit einem Satz war er im Wasser und sandte eine brandende Welle durch die gesamte Bucht. Ein weiterer und er stand vor Seetor. Er hob einen seiner riesigen Arme und holte aus. Der schimmernde, weiße Stein des Damms schien sich unter der Wucht des Hiebs auszudehnen, zu schmelzen und in wirbelnden Mustern von der Farbe von Öl auf Wasser zu zerfließen. Kiora musste hilflos mit ansehen, wie das vom Damm aufgestaute Wasser des Halimars sich durch die Lücke zu ergießen begann, wobei es in Winkeln und Bögen an Cosis Arm hinabströmte, die sämtlichen Regeln der Formenlehre spottete.

Die beiden Titanen bewegten sich aufeinander zu, und einen kurzen, irrsinnigen Augenblick glaubte Kiora, sie würden um das Vorrecht kämpfen, wer von ihnen beiden Zendikar verschlingen durfte. Sie streiften einander, langsam und majestätisch wie Eisberge. Der Augenblick verstrich.

Cosi wandte sich zu ihr um.

Der Raum schien sich um ihn herum zu beugen, als wäre er der Mittelpunkt der Welt. Diese perfekten schwarzen Splitter über seinem Kopf sogen offenbar das Licht selbst ein. Es war für Kiora nicht nachzuvollziehen, welche Form sie genau hatten oder ob sie tatsächlich von fester Natur waren. Dort, wo sie sich überlappten, schienen sie miteinander zu verschmelzen. Dies waren keine Objekte oder auch nur Formen: Es waren Risse im Raum und sie schlugen sie in ihren Bann.

Wer hatte sie nur gelehrt, dass man den Göttern trotzen konnte? Wessen Beispiel hatte sie zu diesem Zusammenstoß mit einem Gott – nein, zwei Göttern – geführt? Die Geschichten über Cosi hatten sie gelehrt, dass man Ula überlisten, schlagen, ausstechen konnte. Doch da war diese eine Sache, die sie in ihrer Eile, Ula entgegenzutreten, völlig vergessen hatte. Diese eine Sache, die für alle Geschichten über Cosi galt.

Am Ende gewann immer Cosi. Nicht die Sterblichen, die seinem Beispiel folgten. Nicht die Delphine, die sein Loblied schnatterten. Cosi gewann immer. Kiora hatte Thassa hereingelegt und geglaubt, Ula demütigen zu können. Doch Cosi hatte sie überlistet.

Eine Bewegung in ihrem Augenwinkel weckte sie aus ihrer Starre. Shen stand neben ihr – die Gesichtszüge schlaff, die Augen schwarz. Um seinen Kopf schwebte eine Krone aus Obsidiansplittern wie die Cosis.

Er holte nach ihr aus.

Kiora stolperte rückwärts über Lorthos‘ zerklüftete Haut. Shen setzte ihr nach – geistlos, verloren. Der Zweizack verfing sich in einer der tiefen Narben des Oktopus, und sie steckte fest. Ihr blieb nur ein Wimpernschlag für ihre Entscheidung.

Der Zweizack war die Waffe einer Göttin, ja. Er besaß eine immense Macht, von der sie zweifellos noch einiges zu erkunden hatte. Doch letzten Endes war er eben eine Waffe und konnte dem gleichen Zweck dienen wie jede andere Waffe auch.

Sie hob den Zweizack und seine Zwillingsspitzen gruben sich in Shens Brust.

Shens Blick wurde klar und die Splitter über seinem Kopf verschwanden. Er blickte sie an, während seine Hände so ungelenk nach dem Schaft des Zweizacks tasteten, als wären sie ihm taub geworden. Er versuchte, etwas zu sagen oder zu fragen, doch alles, was er hervorbrachte, war ein tiefes, rasselndes Stöhnen. Blut sickerte um die Spitzen des Zweizacks herum hervor.

Sie trat ihn weg. Der Zweizack glitt mühelos aus ihm heraus. Helles, rotes Blut spritzte auf Lorthos‘ Haut. Shen taumelte von ihr weg, glitt aus, fiel ins Wasser und war verschwunden.

Cosi ragte nun über ihr auf. Seine peitschenden Tentakel verflochten sich in einem wilden Ringen mit denen Lorthos‘. Kiora leitete Macht in den blutbefleckten Zweizack, um Lorthos für den Kampf zu stärken, doch der Oktopus war hoffnungslos unterlegen. Cosis Arme drehten sich auf eine für andere Wesen unmögliche Weise, indem er sie höchst eigentümlich an seinem doppelten Ellenbogen abknickte. Die Obsidianklingen, die aus seinen Unterarmen ragten, fuhren wie breite Spaten tief ins Meer hinab und erhoben sich danach in einer Kaskade aus Wasser über ihr. Dies waren wahrhaft die Waffen eines Gottes. Verglichen mit ihnen war der Zweizack nur Tand.

Erst die eine, dann die andere riesige Klinge bohrte sich mit aller Gewalt in Lorthos‘ Leib. Die zweite verfehlte Kiora nur um Haaresbreite. Blaues, fast schwarzes Blut quoll überall um sie herum empor.

Kiora schaute zu Cosi hinauf, doch Cosi schaute nicht zu ihr hinunter. Das konnte er gar nicht – da waren kein Kopf und auch kein Gesicht, sondern nur eine fremdartige Präsenz von ungeheuerlichen Ausmaßen. Er hatte Lorthos angegriffen, weil der Oktopus der einzige Gegner weit und breit war, der auch nur annähernd an seine Größe heranreichte. Kiora und ihr mächtiger Zweizack waren zu unbedeutend, um sie überhaupt zu bemerken.

Endlich verstand sie ihren Irrtum. Cosi hatte sie nicht überlistet. Cosi wusste nichts von der kleinen Geschichte, die sie da erzählte. Die, in der die Schwindler die treuen Delphine waren, die anderen Planeswalker Narren und sie selbst – wie lachhaft – Cosi.

Thassa hatte sie gehasst. Cosi sah sie nicht einmal.

Mit einem entsetzlichen, feuchten Geräusch spreizte Cosi die Arme. Lorthos‘ Leib erbebte und zerriss. Ströme dunkelblauen Blutes spritzten ins Wasser. Das Licht des Zweizacks erlosch. Kiora verlor den Halt und stürzte, während Cosi die beiden ungleichmäßigen Hälften der mächtigsten Kreatur der Meere von seinen Klingen gleiten ließ.

Im Fallen glitt ihr der Zweizack aus den tauben Fingern. Hilflos sah sie zu, wie ihre größte Trophäe in die Tiefe taumelte.

Sie hatte Shen getötet. Wahrscheinlich auch die anderen Schwindler und Dutzende ihrer edlen Giganten der Ozeane. Lorthos, den Gezeitenbringer, das womöglich älteste und größte Geschöpf in Zendikars Meeren. Sie hatte sie alle getötet. Sie hatten an sie geglaubt, an ihr kleines Spielzeug, an ihre Geschichten. Und dafür waren sie gestorben. Zumindest ihre Schwester hatte sie verlassen. Den Göttern sei Dank. Oder wem auch immer.

Cosi verdunkelte die Sonne. Nein, nicht Cosi. Kozilek, gewaltig und unbegreiflich, ein Zerrbild jeglicher Vorstellung von Göttern.

Sie traf aufs Wasser auf, und Dunkelheit umfing sie.

Bild von Zack Stella


Kampf um Zendikar-Storyarchiv

Eid der Wächter-Storyarchiv

Planeswalker-Profil: Kiora

Weltenbeschreibung: Zendikar