Der Planeswalker Gideon Jura hat ein Problem: Es gibt ihn nur einmal. Zendikar wird von Ungeheuern aus einer anderen Daseinsebene verwüstet, die als die Eldrazi bekannt sind. Gideon wurde Zeuge dieser Verheerungen, als er diese Welt das erste Mal bereiste, und er schwor, Hilfe zu holen. Kein Planeswalker folgte seinem Ruf, und doch weigerte er sich, Zendikar seinem Schicksal zu überlassen. Auf Ravnica fand er Gleichgesinnte in der strengen Boros-Legion, doch die Politik dieser Welt bevorzugt jene, die mit einer Gilde verbunden sind. Gideon glaubt jedoch, sich für die einsetzen zu müssen, die nicht unter dem Schutz der Gilden stehen. Zendikar bei Tag. Ravnica bei Nacht. Gideon kann denen, die ihn brauchen, nicht den Rücken kehren, und die Lage droht auf beiden Welten aussichtslos zu werden.


Zendikar

Gideons Muskeln schmerzten. Sein Atem ging schwer. Staub brannte ihm in den Lungen. Er klebte ihm in den Nasenlöchern und ließ ihm die Augen tränen. Sand war ihm unter die Lider geraten, und er blinzelte verzweifelt, um ihn loszuwerden.

Er konnte ihn sogar auf der Zunge schmecken. Er sammelte die wenige Flüssigkeit, die in seinem Mund noch übrig war, und spuckte in das hohe Gras, das aus den Staubwehen um ihn herum emporstach.

Er musste diese Sache rasch beenden.

Die Eldrazimonstrosität ragte vor Gideon auf, beinahe doppelt so groß wie er. Ihr Rumpf erhob sich aus einer Masse fleischiger Tentakel, die sich schwer über das hohe Gras hinwegwälzte. Wie bei so vielen anderen Kreaturen, gegen die Gideon in den letzten Wochen bereits gekämpft hatte, war auch ihr Gesicht nahezu vollständig von einer glatten, knöchernen Schicht bedeckt. Obwohl sie keine Augen hatte, folgte ihr Kopf Gideons Bewegungen. Es war eine verstörende Geste, bar jeder Bosheit oder Hass oder Wut.

Die Eldrazi waren anders als alle anderen Gegner, gegen die Gideon bislang angetreten war: ebenso anmutig wie träge, willensstark und teilnahmslos zugleich. Sie hatten keine Körpersprache, die man hätte deuten können, und auch sonst nicht den geringsten Ausdruck, der etwas über ihre Absichten verraten hätte, und so konnte Gideon nichts tun, als außerhalb der Reichweite dieses Exemplars dort zu bleiben.

Tentakel schnellten zum Angriff vor. Doch das taten auch die vier scharfen Metallbänder seines Surals. Gideon riss den Arm zurück, die Klingen peitschten nach vorn und trennten einen der Tentakel ab. Anstelle von Blut ergoss sich ein zähflüssiger, klebriger Schleim auf Gideons biegsame Klingen und störte den Fluss seiner nächsten Angriffsbewegung.

Tollpatschig.

Ein anderer Tentakel rammte sich ihm in die Rippen, ehe er ihm hätte ausweichen können. Er sah ihn kommen, doch Gideon blieb gerade noch die Zeit, die Zähne zusammenzubeißen und sich gegen den Treffer zu wappnen. Bänder schützenden Lichts huschten instinktiv über seinen Körper, fingen den Hieb ab und ließen ihn unversehrt. Zumindest fürs Erste.

Im hohen Gras um ihn herum lagen die scharfkantigen Splitter eines herabgefallenen und zersprungenen Polyeders, einem jener unzähligen achtseitigen Monolithen, die Gideon auf dieser Welt entdeckt hatte. Sie hatten irgendetwas an sich, worauf die Eldrazi ansprachen. Niemand konnte ihm dies genau erklären, doch viele Bewohner Zendikars trugen kleine Polyeder als Talismane oder nutzten sie als Speerköpfe und Pfeilspitzen. Die Kor bemalten sogar ihre Körper mit kunstvollen Zeichen, die denen auf den Polyedern ähnelten. Für Gideon zählte in jenem Moment allerdings nur, dass die Splitter schwer und scharfkantig waren.

Ebene | Bild von Vincent Proce

Er musste sich etwas Zeit verschaffen. Wenigstens einen Augenblick.

Noch mehr Tentakel. Gideon sprang nach rechts und verdrehte seinen Körper dabei so, dass er zwischen den sich windenden und gierig zupackenden Gliedmaßen hindurchschlüpfte. Er rollte sich am Boden ab, und die Eldrazimonstrosität zog die Tentakel ein, um einen neuerlichen Angriff vorzubereiten.

Da war er.

Der Augenblick.

Gideon war bereits auf den Beinen. Er stürmte auf das verstörende Wesen zu, und es kam über ihn – schneller, als sich etwas von seiner Größe hätte je bewegen dürfen.

„Genug!“, brüllte Gideon.

Er sandte die Klingen seines Surals aus, um einen etwa helmgroßen, scharfen Polyedersplitter zu umschlingen, der an einem Ende wie eine krude Ahle spitz zulief. Als der Eldrazi herabschnellte, schlug Gideon zu. Der Polyeder traf auf den beinernen Gesichtsschild. Kein Schmerzensschrei folgte. Kein Blut spritzte. Nur ein sprödes Knacken ertönte, als die vereinte Kraft von Gideons Hieb und dem eigenen Schwung des Eldrazi den uralten Stein tief in den Knochen hineintrieb. Einen Augenblick später brach der Eldrazi reglos zusammen.

Gideon löste seinen Sural von dem Splitter und sank zu Boden. Noch immer pochte ihm das Blut wild in den Adern, und ihm wurde bewusst, wie laut das Hämmern in seinen Schläfen vor der plötzlichen Stille in seiner Umgebung zu hören war. Der Staub auf seinem Gesicht war nun von einem feinen Geäst von Schweißlinien durchzogen, doch die Sonne fühlte sich gut an. Er lächelte.

Etwas näherte sich ihm von rechts. Es waren gleich mehrere Dinge, die sich durch das Gras flink in seine Richtung bewegten. Von seiner Position aus konnte er etwa ein Dutzend Gestalten ausmachen, die sich geschickt einen Weg über das Feld aus herabgefallenen Polyedern bahnten. Es waren größtenteils Kor, doch Gideon bemerkte auch Elfen, Menschen und sogar ein paar Goblins unter ihnen. An der Spitze der Gruppe befand sich ein besonders breit gebauter Kor. Seine nackte Brust und sein kahler Schädel waren wie die der anderen von kantigen, weißen Hautbildern bedeckt, und er hielt ein Paar hakenartiger Klingen in Händen, die durch eine Kette miteinander verbunden waren. Er rannte geduckt, und die verschiedenen Kletterseile, die er zusammengerollt am Gürtel trug, wippten bei jedem Schritt.

„Munda!“, rief Gideon. Als sie das hörten, warfen sich die Herannahenden zu Boden. Alle bis auf den Kor an der Spitze, der wachsam, aber ruhig stehen blieb und die Stirn in tiefe Falten legte. Der Kor drehte den Kopf hin und her, als er auszumachen versuchte, woher aus dem hohen Gras sein Name erklungen war.

„Vorsicht, Leute“, rief Munda über die Schulter. Seine Stimme war voller Belustigung, die Gideon sofort auffiel, weil sie im Widerspruch zur sonstigen sauertöpfischen Nüchternheit des Kors stand. „Ein Gideon durchstreift diese Lande, und es scheint seine Beute zu bewachen.“

Sie mussten eine erfolgreiche Jagd hinter sich haben. Der Gedanke ließ Gideon noch breiter lächeln. „Es ist schön, dich zu sehen, mein Freund“, sagte er. Munda, der von all jenen, die einmal gesehen hatten, wie er seine Seile knüpfte, um die Eldrazi damit zu fangen und einzuschnüren, nur „die Spinne“ genannt wurde, war ein ebenso listenreicher wie starker Krieger. Gideon hatte ihn von Anfang an gut leiden können.

Munda deutete mit einer Klinge auf die Leiche des Eldrazi. „Gleichfalls. Und der Zeitpunkt könnte nicht günstiger sein“, sagte Munda. Dieser Satz war zu einem Scherz geworden, den sie oft miteinander teilten, denn es gab immer irgendein Unheil, dem sie sich stellen mussten. „Wie es scheint, hast auch du keine Zeit verschwendet. Danke dafür. Wir haben ebenfalls gerade einen erledigt, doch sie waren insgesamt zu viert. Hast du die anderen gesehen?“

Gideon deutete beiläufig über die Schulter in die Richtung hinter dem toten Eldrazi.

Munda musterte Gideon misstrauisch. „Macht euch bereit“, sagte er zu den anderen, ehe er auf den Eldrazikadaver kletterte, um einen besseren Aussichtspunkt zu haben. Er spähte über die Ebene und entdeckte seine Beute: zwei leblose Haufen aus hellem Purpur und Blau vor dem goldenen Gras.

„Schaut euch das an. So macht man das.“ Er sprang von dem Kadaver herunter, und seine Krieger scharten sich um ihn, um Gideons Werk zu begutachten.

Munda legte Gideon eine Hand auf die Schulter, und Gideon sah, dass die Zeit für Albernheiten verstrichen war. „Wir hörten heute Morgen, dass Bala Ged – der gesamte Kontinent – überrannt und vernichtet wurde. Nichts ist noch übrig.“

Gideon starrte an Munda vorbei und beobachtete das Gras, wie es sich leicht im Wind wiegte. „Genau wie Sejiri“, sagte er schließlich.

„Genau wie Sejiri“, bestätigte Munda. „Überlebende werden an der Küste eintreffen. Kommandant Vorik hat Tazri und ihre Gruppe losgeschickt, um sie nach Seetor zu begleiten, aber ...“

„Du glaubst nicht, dass das reichen wird.“

„Es kommt noch mehr schreckliches Unheil auf uns zu, Gideon.“

Das war die Wahrheit. Nicht die Weissagung irgendeines Verkünders eines angeblich nahenden Untergangs, sondern eine Unausweichlichkeit, die ihm seine hängenden Schultern und seine blutunterlaufenen Augen bereits seit Tagen zugeschrien hatten.

„Ich werde da sein“, sagte Gideon. Munda hielt ihm einen Wasserschlauch hin – eine kleine, tröstliche Geste, die Gideon als Zeichen für das Verständnis seines Freundes deutete. Die Menschen Zendikars sahen den Tatsachen ins Auge – die Folge einer Welt, auf der das Überleben von Können, Willensstärke und Listigkeit abhing. So kam man zu Bewohnern, die die kleinen Dinge zu schätzen wussten. Ein Schluck kühlen Wassers, der einem die ausgedörrte Kehle hinunterrann, war eine echte Freude, die es unbedingt als solche anzuerkennen galt.

Um sie herum schlugen Mundas Krieger das Lager auf. Einer der Goblins kniete über der umgedrehten Hülle einer Hornschuppe und versuchte, ein bescheidenes Kochfeuer darin zu entfachen, während andere Wache hielten oder sich im kühlen Gras ein wenig Ruhe gönnten.

„Wie lange ist es her, dass du geschlafen hast?“ , fragte Munda.

Gideon war sich nicht sicher. Das Vergnügen, die Augen zu schließen und langsam in den Schlaf hinüberzudämmern, war ihm schon seit einiger Zeit verwehrt geblieben, und die Bequemlichkeit eines Bettes war nur mehr eine ferne Erinnerung. „Ein paar Tage“, war alles, was er mit Gewissheit antworten konnte.

„Ruh dich ein wenig aus“, sagte Munda. „Du kannst es gebrauchen.“

„Danke, aber noch nicht.“ Es kam noch mehr schreckliches Unheil auf sie zu. Es war bereits da, und es bedrohte nicht nur Zendikar.


Ravnica

Der leichte Nieselregen, der nun schon seit mehr als einem Monat auf Ravnica niederging, trug wenig dazu bei, die Zinnstraße vor Bränden zu bewahren. Oder den Schmelzenweg, der in der Nacht zuvor lichterloh gebrannt hatte.

Großbrand | Bild von Karl Kopinski

„Ein Goblinkrieg ist eine hässliche Angelegenheit, Jura.“ Das waren die Worte von Dars Gostok gewesen, einem Hauptmann der Boroslegion, als er und Gideon dabei zugesehen hatten, wie ein leer stehendes Lagerhaus ein Raub der Flammen geworden war. Sie hatten sich in das Inferno vorgewagt, um nach Überlebenden zu suchen, doch alles, worauf sie noch gestoßen waren, waren sechs verkohlte Goblinleichen gewesen. „Dies ist nur die erste Vergeltung von vielen“, war der Hauptmann überzeugt gewesen, während er sich einen Film aus Asche vom Gesicht gewischt hatte. „Und durch den Rinnstein wird in den kommenden Tagen weitaus mehr als nur Regenwasser fließen. Wart‘s nur ab.“

Das war nun vier Tage her, und wie Dars es vorhergesagt hatte, stieg die Zahl toter Goblins an.

Das Ganze hatte mit einem Mord begonnen: an Dargig, einem Schwarzmarkthändler, der sich auf Sprengstoffe verlegt hatte. Er stand in dem Ruf, ein schlimmes Großmaul zu sein, doch er war auch der Jüngste der berüchtigten Sprengbandenbrüder.

So wie Dars es Gideon erklärt hatte, war er mit durchgeschnittener Kehle in einer Seitengasse der Zinnstraße in einer Lache seines eigenen Blutes aufgefunden worden. Dann verbreitete sich das Gerücht, Krenko – ein Verbrecherkönig unter den Goblins – hätte die Tat höchstpersönlich begangen, als ein Waffenhandel aus dem Ruder gelaufen war.

Sprengbandenbrüder | Bild von Kev Walker

In der folgenden Nacht hatte eine Reihe von Explosionen das Viertel erschüttert, bei denen einige von Krenkos Lagerhäusern in Flammen aufgegangen waren. Das war die Art der Sprengbandenbrüder, ihm den Krieg zu erklären. Und Krenko ging nur allzu bereitwillig darauf ein.

Gideon selbst war bei der Kammer des Gildenbundes wegen eines Eingreifens vorstellig geworden, was letztlich nur dazu geführt hatte, dass sein Name und seine Gilde ans Ende einer sehr langen Warteliste gesetzt wurden.

Der Lebende Gildenbund. Jace Beleren. Der Planeswalker.

Der, der das Rätsel des Verborgenen Labyrinths gelöst hatte und zur Verkörperung eines magischen Pakts geworden war, der die Gilden Ravnicas davon abhalten sollte, einander zu zerfleischen.

Diese Goblins jedoch gehörten zu keiner dieser Gilden. Und solange es nur um Goblins ging, die andere Goblins töteten, gaben sich die meisten Gilden damit zufrieden, das blutige Treiben aus sicherer Entfernung zu beobachten.

Solange die Kämpfe anhielten, schwebten alle, die keiner Gilde angehörten – die Gildenfreien –, in Gefahr.

Das war nicht zu akzeptieren.

Bild von Richard Wright

Es war kurz nach Mitternacht, als die schweren Eisentore der Garnison aufflogen. Der Tumult ließ ein Dutzend Boroslegionäre von ihren Plätzen entlang der großen Tafel auffahren, die sich quer durch die dahinterliegende Kammer erstreckte. Einige griffen nach ihren Waffen, als Gideon mit nassem Haar, das ihm an den Schultern klebte, in dem hohen Torbogen stand.

„Rühren!“, rief einer der Soldaten. „Es ist Jura.“

„Und ich bringe Geschenke“, sagte Gideon und schob etwas in den Raum, was zuvor noch von seiner eigenen Gestalt verdeckt worden war. Ein an den Händen gefesselter Goblin grinste mit spitzen, gelben Zähnen, in denen sich das schwache Licht der Lampen fing. Krenko. Der Goblin ließ den Blick über die Soldaten, seine neue Umgebung und dann erneut über die Soldaten streifen, die ihn allesamt mit ungläubig aufgerissenem Mund anstarrten.

„Eine feine Garnison habt ihr hier, ihr Soldaten“, sagte Krenko grinsend. „Zwar kein Sonnenheim, doch fürs Erste wird es reichen.“

Gideon humpelte in die Kammer. Sein rechter Fuß hinterließ bei jedem Schritt Blutflecken.

„Ich nehme an, irgendwo da draußen gibt es einen Aufruhr, den du angezettelt hast, Jura“ sagte Dars, der aus einem Nebenraum hereingeschlendert kam.

„Ich hoffe sehr, dir hat das Essen drüben im Tausendjährigen nicht geschmeckt.“ Das Tausendjährige war ein unfassbar gehobenes Speiselokal, das auf einem exklusiven Aussichtsdeck gleichen Namens errichtet worden war. Es war bekannt, dass Krenko seit seinem Aufstieg zur Macht in den Verbrecherkreisen Ravnicas dort seine Abende verbrachte. Also ging Gideon genau dorthin.

„Ich konnte dort nie einen Tisch kriegen“, erwiderte Dars. „Ich kann mir jedoch kaum vorstellen, dass du ihn dort ganz allein mit seinem Nachtisch vorgefunden hast.“

„Nicht ganz.“

„Du hättest nicht allein gehen sollen. Doch ich muss zugeben, ich bin beeindruckt. Und das kommt wahrlich nicht oft vor.“

„Sei nicht zu beeindruckt.“ Gideon schnallte die Beinschienen ab und wickelte das rechte Hosenbein bis übers Knie hoch. Gideon hatte eine der Servietten aus dem Tausendjährigen um sein Bein gebunden, doch der Stoff war bereits vollgesogen und trug kaum noch dazu dazu bei, die Blutung zu stillen. „Dieser Grinsewicht hat mir ein Messer ins Bein gerammt.“

„Zweimal“, fügte Krenko hinzu und unterstrich seinen Triumph mit einem keuchenden Lachen.

Gideons Wut flammte auf. „Du stehst hier und lachst, während andere Goblins in der Gosse verrecken.“

Dars legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Du solltest einen Feldscher aufsuchen.“

„Gut möglich“, gab Gideon zurück, doch seine Worte wurden vom Geräusch splitternden Glases verschluckt, als ein kleines Oberlicht an der Decke zerbarst. Gideon und Dars drehten sich gerade rechtzeitig um, um einen kleinen, länglichen Gegenstand zu Boden fallen zu sehen. Als das Ding so herabtaumelte, bemerkte Gideon, dass an seinem einen Ende eine kleine, orangerote Perle baumelte.

Eine Zündschnur.

„Bombe!“, rief er und stieß Dars beiseite. Er schnappte sich den Sprengsatz, ehe dieser am Boden aufkam und drückte ihn fest gegen seinen Bauch. In Erwartung der Explosion brachen überall aus seiner Haut Wirbel aus magischem, goldenem Licht hervor. Er kauerte sich zusammen und schloss einen langen Moment die Augen.

Nichts.

Langsam öffnete Gideon die Augen und blickte an sich herunter, nur um festzustellen, dass er einen Glasbehälter mit einem Messingpfropfen umklammerte.

„Sichert das Gebiet!“ Dars‘ Befehl durchbrach die eingetretene Stille. „Ich will Antworten!“

Gideon richtete sich auf und drehte den Behälter in den Händen hin und her, um ihn zu untersuchen.

„Ein Blindgänger?“, fragte Dars.

„Keine Bombe. Schau.“ Gideon entfernte den Pfropfen und zog ein zusammengerolltes Stück Papier aus der Glasröhre. Er entrollte es. Eine Botschaft – eine Zeile nur, aber von geübter Hand geschrieben – ging über den schmalen Streifen Papier. Sie sollte klar und unmissverständlich sein.

Gideon las sie laut. „Krenko hat unseren Bruder ermordet. Wenn Gerechtigkeit walten soll, dann sind wir es, die sie durchsetzen. Übergebt ihn uns oder wir machen das Gebiet der Boros dem Erdboden gleich. Ihr alle und alle, die ihr liebt, werden Freiwild sein, falls ihr dieser Botschaft keine Beachtung schenkt. Ist euch Krenko so viel wert? Ihr habt bis morgen um diese Stunde, euch zu entscheiden. Freundlichst, Rikkig und Gardagig, die Sprengbandenbrüder.“

Es war keine Zeit für so etwas. Nicht jetzt. Gideon musste nach Zendikar zurückkehren. Er warf den leeren Behälter auf die steinernen Bodenplatten.

„Zeit für eine Entscheidung“, spottete Krenko.

„Schafft ihn weg“, bellte Dars. „Ich will, dass er hinter Gitter kommt.“

„Weißt du was, Jura?“, sagte Krenko, als die Soldaten ihn davonzerrten. „Die Boros werden mich nicht den Sprengbandenbrüdern ausliefern. Und was jetzt?“


Zendikar

Ganz wie Munda gesagt hatte, landeten Überlebende aus Bala Ged an der Küste an. Gideons flüchtiger Zählung nach waren es nicht mehr als dreihundert. Doch es handelte sich nicht um den Strom geschlagener und besiegter Flüchtlinge, den Gideon erwartet hatte. Sie waren Kämpfer – abgehärtet durch das, wessen Zeuge sie geworden waren, und die, die sie verloren hatten –, doch sie waren auch entschlossen, nicht aufzugeben. Und genau wie Munda prophezeit hatte, brauchten sie Hilfe.

Doch andererseits galt genau das wohl auch für Gideon.

Mit abgenutztem Schild und entrolltem Sural nahm Gideon Aufstellung auf jenem schmalen Pfad, der sich zwischen den Kreideklippen entlangwand, welche sich am Ufer erhoben.

Ebene | Bild von Véronique Meignaud

Die Erde grollte, und die Schwingungen weckten die Wunde, die an seinem Bein kribbelte.

Nicht ablenken lassen. Sobald dies hier zu Ende war, war auch Zeit für Ravnica.

Hinter ihm folgten die Überlebenden Tazris Stoßtrupp den Pfad hinauf in Richtung des Buschlandes dahinter. Eine Bewegung über ihm zog Gideons Aufmerksamkeit auf sich, und er wandte den Blick lange genug vom Boden ab, um zu sehen, wie Munda und einige seiner Leute schwere Eisenstacheln in die Steilwände zu beiden Seiten trieben, etwa zwanzig Fuß unterhalb der Kante.

Sie würden sich beeilen müssen.

Einer der Kor auf den Klippen stellte das Hämmern plötzlich ein, stieß einen schrillen Pfiff aus und deutete wild in Richtung Ufer. Die Eldrazi waren hier. Er hatte eine einzige Aufgabe: Mundas Leuten genug Zeit zu verschaffen, dass sie ihre Arbeit machen konnten. Ob er die Eldrazi nun nur aufhielt oder sie gleich vernichtete: Das spielte keine Rolle, solange die Überlebenden nur weiter Überlebende blieben.

Tazri sagte, es wären einige unter ihnen, die Kenner der Eldrazi und auf dem Weg zum Leuchtturm in Seetor waren. Falls das wirklich der Wahrheit entsprach, dann mussten sie auch unbedingt dort hingelangen.

Das erste Ungeheuer kam dort in Sicht, wo der Pfad unter ihnen gerader wurde. Gideon schwang die Klingen seines Surals so, dass sie ausgebreitet hinter ihm lagen – bereit zum Zuschlagen, sobald es nötig wurde. Hier war er nun – zwischen den letzten Überbleibseln von Bala Ged und einem Meer von Eldrazi, die auf unzähligen wimmelnden Gliedmaßen und sich dahinschlängelnden, glitschigen Tentakeln durch die Schlucht huschten.

Dann waren sie bei ihm.

Gideon ließ sein Sural fliegen. In voller Länge gestreckt zischten die stählernen Bänder durch die Luft wie eine einzige messerscharfe Klinge, die mehrere der Ausgeburten der Eldrazi niederstreckte. Er nutzte den Schwung seines Hiebs für einen Stoß mit dem Schild, dessen gezackte Kante sich tief in das Fleisch einer weiteren Eldraziausgeburt hineingrub.

Gideon wich tänzelnd einem schweren Tentakel aus, der ihm den Schädel zertrümmern wollte, und ging zum Gegenangriff über, indem er die Klingen seines Surals aussandte, damit sie sich um den Tentakel wickelten. Er vollführte eine kleine Drehung des Griffs aus dem Handgelenk heraus. Die Klingen fraßen sich in das weiche Fleisch und Gideon bewegte sich mit dem Gewicht der Ausgeburt mit, weil er es auf einen Schlag mit dem Schild abgesehen hatte. Doch das gesamte Anhängsel fiel nach unten weg, als würde es abgeworfen. Das jähe Ende der Spannung brachte Gideon aus dem Gleichgewicht, und oberhalb seines Knies brandete der Schmerz erneut auf. Er geriet ins Straucheln, und die Klingen wirbelten wild umher. Eine schnitt ihm über die Wange und hinterließ eine tiefrote Linie vom Mundwinkel bis zum Ohr, als sie an seinem Kopf vorüberpeitschte.

Unvorsichtiger Narr, verfluchte Gideon sich für seinen Fehler. Doch er war müde. Als ihm das Blut warm den Kiefer entlangrann, verfluchte er sich für die Ausrede. Er hätte das kommen sehen müssen. Genau wie er Krenkos behelfsmäßige Klinge hätte kommen sehen müssen.

Er musste zurück nach Ravnica. Das hier dauerte zu lange. Wo war Munda?

Er musste wirklich dringend mehr auf das achten, was um ihn herum vorging.

Die Eldraziausgeburten drängten ihn zurück, und ihre bleichen Gesichtsschilde füllten sein gesamtes Blickfeld aus. Er schaute von einem glatten, perversen Zerrbild eines menschlichen Schädels zum nächsten. Die schiere Leere ihrer Gesichter erschien Gideon irgendwie als Widerspruch zu der Gründlichkeit, mit der die Eldrazi ihre Akte der Zerstörung vorantrieben. Es war ein grauenvoller Anblick ohne jeden Anschein von Menschlichkeit. Das waren keine Rohlinge wie die Gruul-Oger oder Sadisten wie die Rakdos-Bluthexen. Sie waren nicht so leichtsinnig wie Krenkos Goblins. Der Gedanke gab Gideon neuen Antrieb, dämpfte den Schmerz seiner Wunden und hauchte seinen müden Gliedern wieder Leben ein. Er brauchte sich nicht zu zügeln.

Zügle dich nicht.

Wieder und wieder zuckten die Klingen nach vorn, und um Gideons Stiefel sammelte sich der zähe Schleim Dutzender Eldraziausgeburten, die erschlagen um ihn verstreut lagen. Seine Muskeln brannten. In seinen Schläfen hämmerte es. Und die Eldrazi fielen so schnell, wie sie sich näherten. Gideon bleckte die Zähne, ein Ausdruck irgendwo zwischen einer Grimasse und einem Grinsen.

Drei schrille Pfiffe gellten plötzlich durch den Kampfeslärm. Es war Zeit. Gideon antwortete mit drei eigenen Pfiffen derselben Art.

Über dem Gemetzel sah Gideon eine Frau über den Rand der Klippe treten, die sich zu seiner Linken erhob. Einen Augenblick schwebte sie da, ehe sie sich anmutig über die Schlucht erhob, in der er die Arme nun zu beiden Seiten ausstreckte.

„Ich fürchte, ich muss euch jetzt leider verlassen, ihr Scheusale“, sagte Gideon und wirbelte aus dem Griff einer der Ausgeburten heraus.

Taumelschock | Bild von Raymond Swanland

Die Luft gleißte kurz auf, als sich Blitze von den Fingerspitzen der Magierin lösten und zu den eisernen Stangen übersprangen, die aus den Wänden der Schlucht ragten. Die knisternde Energie fuhr durch das Metall hindurch in den brüchigen Kalkstein, der mit einem ohrenbetäubendem Knall explodierte. Ein Geräusch wie vom Splittern eines gewaltigen Knochens erfüllte die Schlucht, und Risse bildeten sich um die Stangen, bis die Kanten beider Steilwände nachgaben und als gewaltige Platten aus weißem Stein auf die Eldrazi niedergingen.

Gideon stieß sich von der Wand der Schlucht ab, um von den Eldrazi fortzukommen. Einen Herzschlag später sprintete er auch schon den Pfad hinauf und unter einer der herabstürzenden Platten hindurch. Als der Fels unten aufschlug, erbebte die gesamte Schlucht. Gideon konnte sich nicht auf den Beinen halten und wurde unsanft zu Boden geschleudert. Eine riesige Wolke zu Staub zersprungener Felsen erhob sich, und als sie über ihn hinwegfegte, verbarg er das Gesicht in der Armbeuge, um nicht zu ersticken.

Gideon hörte Fußgetrappel. Er mühte sich in eine geduckte Haltung und spähte durch zusammengekniffene Augen durch den Staubschleier. Er hatte Mühe, klare Formen oder Bewegungen auszumachen.

Dafür war keine Zeit. Er musste zurück nach Ravnica.

Noch mehr trappelnde Schritte, begleitet vom satten Schmatzen von Eldrazitentakeln. Doch da waren auch andere Geräusche. Solche, die er kannte. Kriegsschreie. Das Klirren von Klingen. Munda.

Gideon erhob sich, und aus dem kreidigen Staub, der noch immer in der Luft hing, schälten sich nach und nach wieder Farben und Formen heraus. Er rannte los, das Sural schlagbereit. Doch als er Munda fand, hing der Kor an einem Kletterseil und zog gerade eine seiner Hakenklingen aus einer leblosen Ausgeburt der Eldrazi. Die ganze Szene spielte sich vor der Kulisse der zersprungenen Steinplatten ab, die nun den Boden der Schlucht bedeckten und den schmalen Pfad darunter vollständig verbargen – ebenso wie die Kadaver zahlreicher Eldrazi. Munda wurde von einem Dutzend weiterer Kor begleitet, die gerade dabei waren, jene Handvoll an Ungeheuern zu erledigen, die dem felsigen Hinterhalt entronnen waren.

„Du hättest keinen besseren Zeitpunkt wählen können, mein Freund“, sagte Gideon mit einem erschöpften Lächeln.

Nun konnte er nach Ravnica zurückkehren. Noch war genug Zeit, die Sprengbandenbrüder aufzuhalten, doch sie wurde langsam knapp.

Als Gideon jedoch entdeckte, das die Miene seines Freundes so grimmig war, dass man es selbst für ihn wirklich ungewöhnlich nennen musste, verschwand sein Lächeln. „Was ist los, Munda?“

„Ein gewaltiger Schwarm Eldrazi nähert sich Seetor.“


Ravnica

Der Verband über seiner Wange hatte sich mit Regenwasser vollgesogen. Jetzt hing er durchnässt herab und legte so die tiefe Wunde darunter frei. Darum würde er sich später kümmern müssen. Irgendwo hier unten waren Gefangene. Das Wichtigste zuerst.

Bild von Michael Komarck

Gideon warf sich gegen die alte Tür. Die Scharniere gaben bereitwillig nach, und er folgte dem splitternden Holz in die dunkle Kammer dahinter nach. Der Schmerz in seinem Bein schwoll beim Aufprall an, und Gideon holte scharf Luft, um nicht laut aufzuschreien. Ein Geruch, süß und bitter zugleich, stieg ihm ihm die Nase. Es war derselbe Geruch, den er an Gardagig gerochen hatte, als ihm von dem Goblin das Versteck der Sprengbande verraten worden war.

Sprengstoff.

Sei auf der Hut.

„Du hast Krenko nicht mitgebracht“, erklang eine tiefe, dunkle Stimme hinter einer schweren, überladenen Werkbank. „Das darf ich doch wohl annehmen?“

„Du darfst überhaupt nichts, Rikkig. Außer jetzt sofort mitzukommen.“

Ein abgehacktes Brummen, das Gideon für Gelächter hielt, erfüllte den Raum. Er hörte Schlurfen. Eine Laterne, die von der niedrigen Decke hing, erhellte seltsame, massige Umrisse, die Gideon zunächst nicht einzuordnen verstand. Doch dann war eine Gestalt zu erkennen. Sie war in einen dicken, gepolsterten Anzug gekleidet. Auf dem Kopf trug sie einen Helm, nicht unähnlich dem eines Ritters, doch mit einer Schutzbrille vor dem Visier.

„Ihr seid schon ein arroganter Haufen, ihr Boros. Ihr fangt Krenko ein und verwehrt uns unsere Genugtuung.“ Er hielt etwas in der Hand. Der Art nach, wie sich das Licht der Laterne darin spiegelte, vermutlich etwas aus Glas. Eine Bombe. Und er trug einen Schutzanzug. „Krenko wird uns gehören. Nur dass jetzt auch noch das Viertel brennen wird wegen ...“

Genug. Das musste aufhören.

Gideon stützte sich auf sein verletztes Bein und trat mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, gegen die Werkbank. Sie prallte mit solcher Wucht gegen Rikkig, dass sämtliche Luft mit einem rasselnden, lauten Stöhnen aus den Lungen des Goblins entwich. Er wurde über die Werkbank geschleudert und die Bombe flog ihm aus den Händen.

Gideon wollte sie noch abfangen, doch seine Glieder waren schwer und langsamer als sonst. Wie in Zeitlupe segelte die Bombe außerhalb seiner Reichweite an ihm vorbei, und Gideon konnte sich nur noch so drehen, dass er seinen Körper zwischen Rikkig und jenen Punkt brachte, an dem die zerbrechliche Glasröhre auf dem Boden zerschellte.

Als die Explosion einsetzte, flammte überall auf seinem Körper goldenes Licht auf, um ihn vor umherfliegenden Trümmern zu schützen. Das Geräusch war einen Augenblick lang alles, was existierte, und verschluckte noch danach bis auf ein hohes Summen jedes andere Geräusch.

Überall im Raum züngelten Flammen.

Er hatte Mühe, deutlich zu sehen, doch er hörte, wie Rikkig hustete und versuchte, sich zwischen Werkbank und Wand hervorzuwinden. Gideon wirbelte herum, riss die Werkbank zurück und Rikkig brach zusammen. Gideon stand über ihm.

„Die Boros haben Krenko nicht eingefangen. Das war ich. Genau wie ich deinen Bruder geschnappt habe. Und jetzt bin ich deinetwegen hier.“

Ein gedämpftes Wimmern war zu hören, von dem Gideon zunächst glaubte, dass es von Rikkig kam, der abwehrend die Hände hob. Ein neuerliches Wimmern belehrte ihn jedoch eines Besseren. „Hilfe!“ Die Gefangenen. Gideon spähte im Raum umher, bis sein Blick an einem schwarzen, hölzernen Bücherregal hängen blieb, das voll von Dingen war, die Gideon für Utensilien zum Bombenbau hielt. Feuer leckte an seinem Fuß und drohte, es ganz zu erfassen und seinen entflammbaren Inhalt zu entzünden. Und natürlich kam das Wimmern, das er gehört hatte, von dahinter.

Er schalt sich leichtsinnig. Und dumm.

Gideon ließ Rikkig zusammengekrümmt liegen und eilte zu dem Bücherregal. Er stemmte die Schulter dagegen und drückte. Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Nasenspitze und am Kinn, und jeder Muskel flehte nach Erholung, doch das schwere Regal weigerte sich standhaft, auch nur einen Deut nachzugeben. Gideon schloss die Augen wegen des Rauchs, der den Raum ausfüllte, und er hatte Mühe, genug Atem zum Weitermachen zu schöpfen.

Seine Kraft begann ihn schon zu verlassen, als das Regal plötzlich nachgab und nach vorn rutschte. Er riss die Augen auf und sah, wie Dars und andere Boroslegionäre ihn bei seinen Anstrengungen unterstützten. Gemeinsam schoben sie, bis das Bücherregal zur Seite glitt und sich ein enger, runder Durchgang auftat.

Gideon sank hustend gegen das Regal. „Gefangene“, konnte er noch hervorstoßen, bevor Borossoldaten an ihm vorbei in den Durchgang strömten.

Dars blieb bei Gideon.

„Rikkig?“, fragte Gideon.

Der Hauptmann schüttelte den Kopf.

Gideon blickte sich im Raum um. Rikkig war fort. Er wandte seinen Blick wieder zu Dars. „Du bist mir gefolgt.“

„Ich hatte offenbar auch allen Grund dazu. Du hättest das nicht allein tun müssen, Gideon. Wir kämpfen als Legion, weil einige Dinge nun einmal größer sind als wir.“

„Ich hatte ihn, Dars.“

„Wir finden ihn. Als Legion. So werden wir ihn finden. Ruh dich aus.“

Noch nicht.


Zendikar

Der Angriff auf Seetor brach mit einer derartigen Schnelligkeit und Wildheit über die Ortschaft herein, dass ihre Miliz vollkommen machtlos dagegen war. Die Eldrazi drangen von beiden Seiten des Seewalls vor. Einige kamen sogar aus dem Meer, um den Seewall selbst abzutragen. Es waren einfach zu viele. Hauptmann Vorik hatte das Signal zur Evakuierung gegeben, doch sie kam nicht schnell genug voran. Und auch Gideon nicht. Vier Tage ohne Schlaf. Oder waren es fünf? Er hatte es doch geschafft, für ein paar Minuten die Augen zuzumachen, als er vom Lager des Hauptmanns hierhergeritten war. Warum war er dann nur so müde?

Nicht jetzt.

Gideon stemmte sich gegen den dicken Holzbalken, der ihn am Boden eines Gebäudes festnagelte, das um ihn herum einstürzte, doch es half nichts. Der Balken war quer über seinen Körper gefallen, als ein fliegender Eldrazi ihn mit einem mächtigen Hieb in dieses Gebäude hineingedroschen hatte.

Ich habe keine Zeit für so etwas.

Sein linker Arm war frei, genau wie sein Kopf, aber das war es auch schon. Mit den Zähnen löste er die Lederriemen seines Schildes. Als er ihn mit seiner freien Hand bewegen konnte, klemmte er ihn so gut es ging zwischen seinen Brustpanzer und den Balken. Er musste nur ein winziges bisschen Hebelwirkung aufbauen. Er drückte mit aller Macht. Ein Knurren wurde zu einem Brüllen, als der Balken sich bewegte. Gideon verlagerte sein Gewicht, und der Balken rollte von ihm herunter.

Müde rappelte er sich auf. Eine der Wunden über seinem Knie hatte sich wieder geöffnet – vielleicht auch beide –, und Blut lief ihm das Bein herunter. Er griff nach seinem Schild. Während er ihn wieder an seinem linken Arm befestigte, musterte er die Ruinen um sich herum. Überall waren Teile zerstörter Möbelstücke und zerschlagenes Geschirr verstreut. Das hier war jemandes Zuhause gewesen. Und Seetor drohte nun das Schicksal dieses Gebäudes zu teilen. Man hatte ihm gesagt, Seetor wäre die größte Siedlung auf ganz Zendikar. Es war ein kleiner Streifen der Zivilisation, der sich an jenen alten, weißen Damm klammerte, der Seetor seinen Namen gab, und die Eldrazi waren darauf aus, die Siedlung und all ihre Bewohner zu Staub zu zermalmen.

Gideon holte tief Luft und machte sich zu dem bröckelnden Torbogen auf, der zu dem Gemetzel dort draußen führte. Gerade war er an der Schwelle angekommen, als eine Gestalt um die Ecke bog und an ihm vorbei in das Gebäude schoss. Er musste zur Seite wirbeln, um einen Zusammenstoß zu vermeiden.

„Schnell, ich brauche deine Hilfe“, sagte die Gestalt. Es schien mehr ein Befehl als eine Bitte zu sein. Eine Kriegerin vom Meervolk. Sie blutete aus einem tiefen Schnitt über dem Auge, und sie trug jemanden: eine Menschenfrau, die schlaff in ihren Armen hing. Beide waren für den Kampf gewappnet: die Meerfrau in den für ihr Volk so charakteristischen, an Muscheln erinnernden Panzer aus Schuppen und Platten, die Bewusstlose in einen zusammengestoppelten Plattenpanzer aus Stahl. Die Meerfrau trug zudem einen Speer auf dem Rücken. Diesen beiden Kämpferinnen war der Schrecken der Eldrazi nicht fremd.

Gideon half der Meerfrau, die Bewusstlose gegen die zertrümmerten Überreste einer Wand zu lehnen, und gemeinsam lösten sie die zerdrückten Stahlplatten, die sie hatten schützen sollen. Unter der Rüstung war die Haut der Frau eine ausgetrocknete, eingefallene Hülle, die den vernarbten, aschfahlen Knochen der Eldrazi glich. Er sah so etwas nicht zum ersten Mal. Auf diese Weise sogen die Eldrazi die Energie aus der Welt. Das war keine Wunde. Sie war in dem Augenblick gestorben, als die Eldrazi sie erwischt hatten.

Auch die Meerfrau wusste, was das bedeutete, denn sie hielt inne und sank neben dem leblosen Körper zu Boden, wo sie mit leeren Augen auf die Verwüstungen blickte.

Gideon kniete sich hin. „Wie lautete ihr Name?“

„Kendrin“, sagte sie und legte die Hand auf die Stirn der Toten.

„Du musst später um Kendrin trauern. Du musst sofort von hier weg.“

„Du verstehst nicht.“ Sie nahm den Kopf hoch und wandte den Blick langsam von Kendrin zu Gideon. „Es bleibt keine Zeit. Wir sind nur um Haaresbreite aus Bala Ged entkommen. Wir haben die Zerstörung gesehen.“

„Du warst unter den Überlebenden, die gestern angekommen sind.“

„Ja. Kendrin war kurz vor einer Entdeckung. Das ‚Rätsel der Ley-Linien‘ nannte sie es. Die Polyeder. Die Eldrazi. Die Verbindung. Sie war so kurz davor. Sie sagte, alles würde auf das Auge hindeuten und dass sie hierher gekommen wäre, um im Leuchtturm die Aufzeichnungen über das Auge zu lesen."

„Du musst einfach nur zum Leuchtturn? Dort findest du die Antworten?"

Die Meerfrau schüttelte den Kopf. „Wir waren gerade dort. Dort drin ist nichts mehr übrig. Wir wurden angegriffen, als wir versuchten, wieder herauszukommen. Außerdem war Kendrin da die Fachfrau, nicht ich. Ich war ihre Beschützerin auf ihren Expeditionen ... und ich habe versagt.“ Sie hämmerte die Faust gegen die Steinwand, und einen Wimpernschlag später schien die gesamte Wand nach außen in die Leere zu explodieren. Die Meerfrau wäre wohl mit ihr nach hinten über die Kante des Seewalls gestolpert, hätte Gideon nicht ihre Hand ergriffen. Gewaltige Tentakel erschienen und rissen die verbleibenden Steine fort, sodass nun auch zu sehen war, wem die Greifwerkzeuge gehörten: einem gesichtslosen und grässlich anzusehenden Eldrazi, der seinen Anstieg den glatten Wall hinauf fast vollendet hatte. Weitere Tentakel setzten den verheerenden Kurs fort und zermalmten Steine, bis nur noch Staub übrig blieb.

Uralte Regungen | Bild von Vincent Proce

Gideon und die Meerfrau erklommen rasch einen Trümmerhaufen, der einst ein erstes und zweites Stockwerk gewesen war. Von dieser Position aus konnte Gideon die Verwüstungen sehen, die sich von einem Ende des Seewalls zum anderen erstreckten. Viele der Gebäude lagen in Trümmern, und viele weitere waren vollständig von der Krone des Walls heruntergerissen worden, sodass das Wasser zu beiden Seiten die Bruchstücke nun gegen die glatten Flanken des Damms drückte.

Die Zendikari waren zäh, und selbst jetzt sah er, wie viele von ihnen sich noch immer in letzten Widerstandsnestern verteidigten. Sie hatten den ganzen Tag lang Eldrazi getötet, doch es war nicht genug. Die Wahrheit war, dass Seetor verloren war. Dieser Ansatz reichte nicht aus.

Ulamogs Wegbereiter | Bild von Goran Josic

Doch vielleicht war es so, wie sie gesagt hatte: Kendrin hatte eine Antwort gefunden. Das Rätsel der Ley-Linien. Der Gedanke brodelte erst in Gideon und loderte dann unvermittelt in ihm auf. Zu kämpfen, um etwas zu verhindern, war nicht dasselbe, wie für etwas zu kämpfen. Kendrins Rätsel barg eine mögliche Antwort. Und das war fürs Erste genug.

Sie brauchten einfach nur einen weiteren Kenner dieser Angelegenheit.

„Wie heißt du?“, fragte Gideon, als sie einem zwischen ihnen einschlagenden Tentakel auswichen – er zur einen, sie zur anderen Seite.

„Im Ernst? Jetzt?“

„Ich werde jemanden holen, der helfen kann. Doch danach muss ich dich wiederfinden.“

Sie warf ihren Speer auf den Eldrazi, der sich langsam über den Rand des Walls in das zerstörte Haus zu hieven versuchte. Knirschend fand der Speer sein Ziel und grub sich in das glatte Gesichtsschild. In den Augen der Meerfrau blitze es kurz rot auf, und die Wunde, die sie geöffnet hatte, begann zu zischen und zu dampfen. „Ich heiße Jori En“, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, als die Tentakel wild zu wirbeln begannen.

„Jori En, begib dich in das Lager von Hauptmann Vorik. Du musst es schaffen. Ich finde dich dort.“

Im nächsten Moment schossen Gideons Klingen vor und schlangen sich um Jori Ens Speer, der nach wie vor in seinem Ziel feststeckte. Gideon katapultierte sich in die Luft, und am Scheitelpunkt seines Schwungs betätigte er den Hebel an seinem Unterarm, der den Rückholmechanismus seines Surals auslöste. Anstatt jedoch seine Klingen zurückzuholen, riss ihn die Wucht auf Joris Speer zu. Er prallte mit solcher Wucht gegen das Gesicht des Eldrazi, dass dieser über die Kante und zurück ins Meer unter ihm geschleudert wurde.

In einem Gewirr aus Tentakeln fiel Gideon mit ihm in die Tiefe.

Nicht ablenken lassen.

Er musste sich von dem Eldrazi befreien, wenn er nicht unter die Oberfläche gezogen werden wollte. Seine Hände tasteten fieberhaft nach den Klingen des Surals und versuchten, sie von dem Speer zu lösen, doch der Eldrazi fiel schnell und Gideon verlor den Halt. Er befand sich nun zwar im freien Fall, doch er war noch immer an den Eldrazi gekettet, und alles, was er tun konnte, war, sich auf den Aufprall vorzubereiten.

Der Eldrazi landete zuerst, und auf Gideons gesamtem Körper erstrahlten Bänder aus goldenem Licht, als er ebenfalls auf die Meeresoberfläche aufschlug. Der Eldrazi zerfiel augenblicklich, und Gideon wurde im wirbelnden Wasser umhergeworfen. Inmitten der schäumenden See und der darin treibenden Eldrazistücke hatte er Mühe, sich zu orientieren.

Endlich durchbrach er die Oberfläche. Er schnappte gierig nach Luft. Mit letzter Kraft schwamm er zu der Ansammlung von Treibgut, die am Fuß des Walls aufgetürmt war. Er fand ein Stück eines Holztisches und klammerte sich daran fest. Von oben drangen die Geräusche des Gemetzels durch die Brandung. Er legte den Kopf in den Nacken, um zu beobachten, wie die Eldrazi wie hungrige Ameisen über Seetor ausschwärmten. Gideon wusste, dass er keine Zeit zu verschwenden hatte.

Er musste jemanden finden, der sich mit all dem auskannte.

Er schloss die Augen und spürte, wie die Welt um ihn herum verschwamm. Die Kälte der See verschwand, und er spürte Stein unter seinen Füßen. Das Geräusch brechender Wellen wich dem Lärmen der Stadt. Vertraute Geräusche. Der Klang Ravnicas.


Ravnica

Zerschunden und blutend stand Gideon am Fuß der steinernen Stufen, die zur Kammer des Gildenbundes hinaufführten. Zendikar war noch immer in Gefahr. Und Waffengewalt allein würde nicht ausreichen, den Sieg davonzutragen. Es musste eine andere Antwort geben. War es, wie Jori gesagt hatte, das Rätsel der Ley-Linien? Und wer eignete sich besser für diese Aufgabe als derjenige, der einen Weg durch Ravnicas Labyrinth gefunden hatte?

Der Lebende Gildenbund.

Der Planeswalker Jace Beleren.

Gideon stieg die erste Stufe hinauf, versuchte es mit einer zweiten, doch eine jähe Schwere übermannte ihn und er brach zusammen.