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Die Stadt Ghirapur auf der Welt Kaladesh

Die elf Sommer zählende Chandra Nalaar kletterte durch einen Funkenregen voran. Eines oder beide ihrer Elternteile waren irgendwo in dem Minenschacht vor ihr beim Schweißen, und sie grinste, als kleine Feuerperlen von ihrem roten Haar abprallten. Vorsichtig erklomm sie das Gerüst, das sich an die Wände des Tunnels schmiegte. Heute war es endlich so weit. Ihre Eltern waren Erfinder, und schon ihre Großeltern waren Erfinder gewesen – ebenso wie bereits unzählige ihrer Vorfahren. Heute nun war der Tag, an dem sich endlich jenes Schicksal erfüllen sollte, wozu sie auserkoren war: Sie sollte eine Lieferantin für Dosen werden.

Sie war nie sonderlich gut darin gewesen, Dinge zu erfinden.

Es war nicht so, dass sie Gerätschaften und Apparaturen nicht zu schätzen wusste. Ihre Welt war voll von kuriosen Erfindungen und Wunderwerken aus klickenden, zahnradgetriebenen Artefakten. Vielmehr endete ihre Geduld oft schon lange vor dem Abschluss eines ihrer geplanten Unterfangen. Und irgendwie endete während der Konstruktionsphase ihre Faust immer irgendwann im Gesicht von jemandem, der sich einen solchen Hieb redlich verdient hatte.

Es war eine persönliche Schwäche. Sie akzeptierte das.

Sie hatte in andere Berufe hineingeschnuppert. Sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, eine Meisterkünstlerin werden zu wollen, und sie hatte ein ganzes Zimmer voller zerbrochener Pinsel und zerfetzter Leinwände zum Beweis. Sie hatte versucht, zur Schule zu gehen, doch sie am Ende war sie nur heimgeschickt worden – mit zerschrammten Knöcheln und einem schriftlichen Tadel. Sie hatte in einer Welt, die von Uhrwerken und Konsuln beherrscht wurde, nie so richtig ihren Platz gefunden. Doch heute sollte ihre wahre Berufung beginnen.

Vielleicht würde Chandra nie ein Metallschmied wie ihr Vater oder eine Meisterin der Ingenieurskunst wie ihre Mutter sein. Doch in einer Welt, die von eleganten Maschinen angetrieben wurde, konnte sie all jenen, die sie benötigten, Energie beschaffen: in Form des mystischen Äthers. Die Versorgung mit Äther wurde streng von den Konsuln kontrolliert, aber ihre Eltern hatten ihre Mittel und Wege, an ihn heranzukommen, und sie halfen stets denen, die ihn für die Befriedigung ihres Erfinderdrangs brauchten.

Chandra kletterte über das Geländer auf die Plattform, auf der ihr Vater an einer seiner eigenen metallischen Schöpfungen arbeitete. Er schob die dicke Schutzbrille hoch. Die Haut um die Augen herum war sauber und sah wie eine Waschbärmaske aus. „Chandra! Habe ich dir nicht gesagt, du sollst innerhalb der Sicherheitsabsperrung bleiben? Warum habe ich das Ding überhaupt gebaut?”

„Es eignet sich als Leiter einfach viel besser”, sagte Chandra. Sie umklammerte seine Hüfte. „So. Mein allerliebster Vater. Ich bin bereit. Es kann losgehen. Wusstest du, dass ich bereit bin und es losgehen kann? Ich sage es dir jetzt ganz offiziell. Ich bin bereit.”

Ihr Vater verdrehte die Augen. „Ich versuche gar nicht erst, dich die Tugend der Geduld zu lehren. Doch mit mir brauchst du gar nicht anzufangen. Deine Mutter hat sie.”

Ihre Mutter kam eine schmale Wendeltreppe hinunter. Sie hatte schwere Handschuhe an und ein besticktes Tuch um die Taille geschlungen. Mit einer Feierlichkeit, die einer Geburtstagstorte würdig gewesen wäre, trug sie eine Dose vor sich her. „Ihre erste eigene Lieferung! Sieh sie dir nur an, Kiran! Sie platzt ja gleich vor Stolz! Hier, Tochter. Komm und hilf mir, die hier zu versiegeln, bevor sie explodiert – oder du.”

Chandras Mutter stellte die Dose ab. Ihr Deckel schimmerte, und ein dünner Dampfstrahl entwich zischend aus ihr. Noch im selben Wimpernschlag, den ihr Vater brauchte, um ein kurzes Wort hervorzustoßen – „Vorsicht!“ –, hatte Chandra der Dose auch schon einen flinken Tritt mit dem Stiefel versetzt. Der Deckel verbeulte sich, doch das Zischen verstummte. Chandra grinste.

„Ich sehe jetzt schon, dass du die beste Botin werden wirst, die diese Stadt je gesehen hat“, sagte ihre Mutter zwinkernd.

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Chandra hob gespielt majestätisch ihr Kinn. „Bereitet bitte all meine Medaillen und Trophäen für meine Rückkehr vor. Ich werde mich bemühen, mich an euch alle zu erinnern, wenn ich erst einmal die berühmteste Gesetzlose der Welt bin.”

“Wir bevorzugen ‚Werkzeug eines Wandels von unten‘”, sagte ihr Vater. „Aber, Chandra: Das hier ist eine erste Angelegenheit. Die Konsuln haben die Zahl der Patrouillen erhöht. Die Menschen brauchen das, was wir anbieten, doch wenn wir sie in Schwierigkeiten bringen, dann werden sie sich gegen uns wenden. Deine Mutter und ich sind auf der Suche nach Menschen, denen wir vertrauen können.”

Chandra steckte die Dose in ihren Ranzen und schwang ihn sich auf den Rücken. „Und heute vertrauen wir der alten Dame, die in der Nähe der Gießerei wohnt.”

„Frau Pashiri, ja”, sagte ihr Vater.

„Sie mag dich seit jeher“, sagte ihre Mutter. „Denke daran: Sie kennt das Zeichen. Die, die das Zeichen kennen, wissen, wer wir sind.”

„Ich weiß schon, wer ich bin. Chandra, die beste Botin der Welt.”

Ihre Mutter umarmte sie steif und tätschelte die Dose auf ihrem Rücken. „Dein Vater und ich glauben an dich. Du kennst den Weg. Du kennst die Stadt. Du schaffst das schon.”

„Achte bloß darauf, dass dir auf dem Rückweg niemand hierher folgt”, fügte ihr Vater noch hinzu, aber Chandra war bereits losgeklettert.


Die Sonne stach ihr in die Augen. Die Stadt Ghirapur bewegte sich wie ein lebendiger Organismus. Die Gebäude passten sich an die Bedürfnisse der Zahnradschmiede, der Thopterbauer, der Uhrmacher und all der anderen Handwerkskünstler und Erfinder an, die in Scharen durch sie hindurchströmten. Chandra bahnte sich ihren Weg durch die Menge, während sie sich unter fleißiger Zuhilfenahme ihrer Zähne ein Schulwams überzog. Die Dose klapperte ihr protestierend gegen den Rücken.

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Der Tunnel war von viel zu vielen Leuten verstopft. Sie entschied, einen Umweg in Richtung des Kanals zu nehmen. Zwei Brückenhälften trafen mit einer Reihe metallischer Klickgeräusche aufeinander und verschmolzen zu einem Bogen über dem Kanal. Chandra sprang über die Lücke zwischen ihnen, noch ehe sie vollends geschlossen war. Sie schlängelte sich durch die Tore des Akhara, eines riesigen, runden Platzes, der von Tribünen umringt war, und huschte an den am Boden rotierenden Zahnrädern ebenso vorbei wie an dem erhöhten Podium in der Mitte, während sie einer Gruppe schwätzender Ätherologen auswich.

Sie nahm zwei weitere Abkürzungen und hielt an einer Lehmmauer an, in die Mosaike lebensechter Konterfeis berühmter Erfinder eingelassen waren. Die Oberfläche der Mauer war sauber und glatt, doch Chandra setzte den Stiefel über die Nase eines der Erfinder und hangelte sich hinüber, wo sie sich auf einen mit auffälligen Schrägstreifen bemalten Gang fallen ließ.

Als sie am Boden aufkam, stand ihr eine Gruppe von Soldaten im Weg. Sie hielten die Rücken kerzengerade, und ihre Wangen waren glatt rasiert. Männer der Konsuln. Sie hatten ihre üblichen Springklingen an die Unterarme geschnallt, und einer hatte einen äthergetriebenen Pfeilwerfer dabei.

„Wo willst du denn hin, Kleines?”, fragte einer von ihnen. „Dieser Weg ist gesperrt.“ Er musterte Chandras Uniform, eine Nachfertigung derer, wie sie einige Kinder am Bauinstitut trugen. „Solltest du nicht in der Schule sein?”

„Ich hab‘s eilig”, sagte Chandra. „Und mein Lehrer zieht mir das Fell über die Ohren, wenn ich schon wieder zu spät bin. Wenn Ihr mich also entschuldigen würdet ...”

„Wie du sicher weißt, junge Dame, ist dieser Weg gesperrt“, sagte ein zweiter Soldat. Seine Springklinge schnappte aus ihrer Unterarmscheide. Ihre Schneide glänzte. „Der Fußgängerweg ist auf der anderen Seite des Platzes.”

„Und die Schulglocke hat bereits geläutet“, fügte der Erste hinzu. „Du bist sicher, dass du Schülerin bist?”

„Du trägst doch nicht etwa illegale Waren mit dir herum, oder?”

„Gib mal bitte deine Tasche da her.”

Hitzewellen brandeten über Chandras Stirn. Sie konnte weder an ihnen vorbeihuschen noch einfach so davonlaufen.

„Wenn ich noch einen Tadel bekomme, dann war‘s das für mich”, sagte sie und löste den Blick von der glänzenden Klinge des Soldaten, um ihm in die Augen zu schauen. „Könnt ihr mich nicht einfach gehen lassen?”

Der eine nickte dem anderen zu. „Pack den Ätherdetektor aus.”

Chandra verlagerte ihr Gewicht weg von dem Soldaten, der sie gerade festhielt, wirbelte zur Seite und stieß einem anderen den Ellbogen in den Magen. Sie wirbelte zurück in die ursprüngliche Richtung und hämmerte dem ersten Soldaten die Faust gegen das Schlüsselbein. Das war wahrscheinlich keine gute Idee, dachte sie noch in der gleichen Sekunde. Das war die Logik der Faust.

Die Soldaten kamen im Nu über sie. Sie drehten ihr die Hände auf den Rücken, sodass sie nur noch hinunter auf das Straßenpflaster schauen konnte. Sie trat einen vors Schienbein und versuchte, einem anderen den Kopf gegen das Kinn zu rammen, doch sie konnte sich nicht befreien. Eine Flut aus Hitze und Zorn durchfuhr sie, und sie knirschte mit den Zähnen.

Die Soldaten hielten inne. Ein weiteres Paar Füße näherte sich.

„Hauptmann Baral“, sagte einer der Soldaten.

Chandra kämpfte sich mühsam auf die Beine und blickte zu ihm auf. Hauptmann Baral war ein wahrer Monolith von einem Mann: stämmig und statuenhaft, mit einem Gesicht, das all jene um ihn herum wegen ihres weniger guten Aussehens zu verspotten schien. Die anderen Soldaten standen schweigend da.

„Was geht hier vor sich?”, fragte er, während er Chandra anschaute, ohne das Wort dabei an sie zu richten. Seine Stimme war ein raues Flüstern.

„Sie zeigte sich unkooperativ, Hauptmann. Eine mögliche Schulschwänzerin.”

„Wir haben ihr gesagt, dass dies hier nicht der Fußgängerweg ist.”

Hauptmann Baral schürzte spöttisch die Lippen. „Ihr müsst bei diesen Straßenkindern einfache Worte benutzen“, flüsterte er. „Simple Befehle. ‚Sitz‘! ‚Platz!‘”

Chandra ballte fest die Fäuste. Wut breitete sich so rasch in ihr aus, als hätte ihr jemand mit einer ganzen Schachtel Zündhölzer sämtliche Nerven im Leib in Brand gesteckt. Hitze strömte ihr die Arme hinunter in die Hände, die man ihr noch immer auf den Rücken gepresst hielt.

„Ich weiß, dass du keine Schülerin bist“, sagte Baral. „Nimm die Tasche von der Schulter und gib sie mir.”

„Nein.”

„Ich glaube, du verstehst nicht, Kindchen. Du hast bereits ein halbes Dutzend Gesetze gebrochen. Gehorche. Oder ich zwinge dich dazu.“ Er legte die Hand auf Chandras Schulter – sanft, aber ohne jegliches Wohlwollen. Es war eine emotionslose Berührung, abstoßend in ihrer kühlen Beiläufigkeit.

Chandras Muskeln verkrampften sich. Mit einem Zischen durch zusammengebissene Zähne zuckte sie vor ihm zurück. Sie wollte um sich schlagen, schreien, ihm ihre gesamte Wut entgegenschleudern.

Und dann geschah etwas, was ihr noch nie zuvor widerfahren war. Ihre Hände glühten von innen heraus und machten die Knochen und die Blutgefäße und die Linien auf den Handflächen sichtbar. Das Glühen wurde immer stärker, bis die Hitze durch ihre Haut brach und ihre Hände wie zwei Fackeln in Feuer getaucht waren. Chandra stieß einen Schrei aus und stand einfach nur da, verwirrt zwischen ihren brennenden Händen hin und her blickend.

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Die Soldaten wichen in einem Halbkreis zurück. Hauptmann Baral stand vollkommen ruhig da, während sich seine Überraschung in aufrichtiges Interesse verwandelte.

Chandra schüttelte die Hände. Sie erloschen nicht. Sie dachte daran, sie an ihrem eigenen Körper auszuschlagen, überlegte es sich jedoch anders. Zu verdutzt für Worte blickte sie zu den Männern und wedelte mit den brennenden Händen. Seltsamerweise stand ihre Haut nicht in Flammen. Das Feuer umhüllte ihre Hände, doch sie empfand keinen Schmerz.

Baral streckte erneut die Hand nach ihr aus. „Lass mich dir dabei helfen, Kind.”

„Zurück!” Chandra winkte instinktiv in Richtung des Angreifers und zog einen gleißenden Feuerschweif durch die Luft. Die Männer wichen weiter zurück. Das Feuer erlosch urplötzlich, und einen Moment lang konnten sie allesamt nur blinzeln.

Chandra spurtete los. Sie schlüpfte zwischen zwei der Soldaten hindurch – beide machten noch eine halbherzige Bewegung, um sie aufzuhalten –, und dann war sie auch schon verschwunden. Hinter sich hörte sie, wie Barals raues Flüstern zu einem Knurren wurde. „Schickt Wirbler hinter ihr her. Sofort.”


Chandra schlug eine Reihe von Haken durch die Straßen und ließ die Soldaten der Konsuln und ein Wirrwarr verstörender Gefühle hinter sich. Immer wieder blickte sie auf ihre Hände, doch sie sahen jetzt nur noch wie gewöhnliche Hände aus. Da war nicht mehr die geringste Spur von jenem entflammbaren Widersinn, der noch wenige Augenblicke zuvor geherrscht hatte. Es war nicht so, dass sie noch nie zuvor Magie gesehen hätte. Erfinder bauten regelmäßig Schöpfungen, die sich jeder Erklärbarkeit entzogen und die durch die Macht des Äthers nur umso wundersamer wirkten. Doch ohne die Hilfe eines Geräts Feuer herbeizurufen – das war neu für sie.

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Sie lief auf eine Brücke, die in Richtung ihres Zuhauses führte, erstarrte aber auf halbem Wege. Beinahe lautlos kamen drei Roterothopter in Sicht, deren Rotoren durch die Luft schnitten und deren große Linsen direkt auf sie gerichtet waren.

Sie hatte noch immer die Dose. Sie war nicht sicher, ob sie immer noch zur besten Botin der Welt werden konnte – sie fragte sich, ob es wohl auch einen Preis für die schlechteste gäbe –, und am allermeisten wollte sie nur noch nach Hause laufen. Doch das würde die Wirbler dorthin führen – geradewegs zu ihrer Familie. Die fliegenden Spione würden sämtliche Unterfangen ihrer Eltern melden, und sie war sich sehr sicher, dass Hauptmann Baral ihnen dann einen Besuch abstatten würde. Sie war sich nicht ganz so sicher, welche Strafe auf das Schmuggeln von Äther stand. Doch sie hatte Geschichten von grausamen und schmerzhaften Strafen gehört, die auf dem Akhara vollstreckt wurden – vor den Augen einer Menschenmasse.

Die Wirbler gingen in den Sinkflug und richteten sich dabei auf sie aus. Sie blieben unmittelbar hinter ihr, als sie zurück über die Brücke floh. Es war schwierig, zu Fuß vor etwas davonzulaufen, was flog. Die Wirbler stiegen mit Leichtigkeit über Hindernisse hinweg, um die sie nur herumlaufen konnte, und sie musste noch dazu ständig aufpassen, was sich vor ihr gerade abspielte. Sie duckte sich in enge Gassen und flitzte durch Läden, doch die Wirbler kurvten gewitzt um diese Hindernisse herum und warteten schon auf sie, wenn sie auf der anderen Seite wieder auftauchte.

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Sie näherte sich einem vertrauten Turm: der Gießerei des Konsulats, jener ätherbetriebenen Fabrik, die für die Konsuln Automaten in Massen herstellte. Sie wollte gerade einen großen Bogen um sie machen und tiefer in der Stadt untertauchen, als sie ihren Namen hörte.

„Chandra?” Es war Frau Pashiri, Chandras Kontakt und eine Freundin der Familie Nalaar. Gerade trat sie, einen Schlüsselbund in der Hand, aus dem Haupttor der Gießerei.

„Frau Pashiri!”, rief Chandra außer Atem.

„Was ist los, Liebes? Wir sollten uns doch nicht hier treffen.”

„Sie sind hinter mir her”, sagte Chandra und zeigte über die Schulter auf die herannahenden Wirbler. Dann zögerte sie und erinnerte sich an die Worte ihrer Eltern darüber, wem sie vertrauen konnte. Sie musterte den Schlüsselbund zur Gießerei. Reflexartig ballte sie die Fäuste.

Doch Frau Pashiri bildete mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis und hielt ihn sich an die Stirn, ganz so, als würde sie eine Schutzbrille absetzen. Das war das Zeichen, das Chandras Eltern sie gelehrt hatten. Frau Pashiri vollführte die Geste mit einiger Ehrfurcht, beinahe wie einen Salut. „Die Nalaars und ich kennen uns schon sehr lange, Kind“, sagte sie.

Chandra schwankte zwischen Hoffen und Bangen. Sie konnte hören, wie die Wirbler näherkamen. Sie wollte ihrem Kontakt vertrauen – dieser Freundin der Familie, die die richtige Geste kannte –, doch der Schlüsselbund bedeutete irgendeine Verbindung zu den Konsuln. Ihr schwirrte der Kopf ob der anstehenden Entscheidung.

Frau Pashiris Augen verengten sich, als sie an Chandra vorbei sah und die Wirbler erblickte. Sie drehte sich um und sperrte die Tür zur Gießerei auf. „Hier hinein. Geh hinten raus. Ich lenke sie ab.”

Das war der letzte Ort, den Chandra jemals freiwillig betreten hätte. Während sie noch mit sich selbst im Widerstreit lag, holte Frau Pashiri einen zierlichen Kupfervogel unter ihrem Wams hervor. Der Vogel erwachte zum Leben, flatterte mit den Flügeln, in die Federn eingraviert waren, und schwirrte auf die Wirbler zu. Der Kupfervogel stieß mit einem von ihnen zusammen und explodierte. Ein Hagel von Teilen regnete auf die Straße.

„Rein da mit dir”, sagte Frau Pashiri mit einem scharfen Nicken, während sie von irgendwoher an ihrem Körper eine kleine Fledermaus aus filigranem Silbergeflecht hervorzog. „Die Maschinisten sind noch nicht hier. Geh, Liebes. Bring dich in Sicherheit.”

Chandra lief hinein, während Frau Pashiri begann, den Wirblern wüste Beschimpfungen zuzurufen.

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Das Innere der Gießerei war ein Stillleben stummer Maschinen. Halb zusammengebaute Automaten hingen bewegungslos an ihren Rümpfen aufgehängt über den Werkbänken der Maschinisten. Beine und Greifer standen in Regalen bereit und warteten nur darauf, zusammengeschraubt und zu weiteren massenproduzierten Dienern zu werden. Die Deckenlampen waren dunkel, und das einzige Licht kam von einem runden Oberlicht im Kuppeldach des Gebäudes. Ein riesiger Mast, der in der Mitte der Halle platziert war, reichte bis zur Spitze der Kuppel hinauf. Automatische Arme und zahnradgetriebene Greifer umschlossen den Mast wie die zusammengelegten Flügel einer Ente.

Chandra kroch zwischen Fertigungsstationen und filigranen Zahnrädern hindurch und suchte nach dem zweiten Ausgang. Von draußen hörte sie eine weitere kleine Explosion, und Frau Pashiris Beschimpfungen verklangen in der Ferne. Chandra stieß einen tiefen Seufzer der Dankbarkeit für das Ablenkungsmanöver aus.

Sie hörte ein Ticken von irgendwo hoch droben. Oben an der Decke drehte sich eine Reihe eleganter Zahnräder, und das Oberlicht öffnete sich. Ein unverkennbares Wispern von Rotoren kündigte den letzten Wirbler an, der durch das Oberlicht herabsank und dessen Auge sie erspähte.

Orangefarbene Lampen erwachten an der Decke der Gießerei flackernd zum Leben. Die Arme des Masts rührten sich und fuhren sich zu überraschend langen Gliedmaßen und klauenartigen Greifern aus. Überall auf dem Boden der Gießerei hoben sich Artefaktkreaturen aus ihren Sockeln und drehten im grellen Licht der Lampen die Köpfe in ihre Richtung.

Eine Welle aus Hitze wogte durch ihren Körper. Ihre Hände prickelten und begannen zu glühen.

„Nein danke”, sagte sie zu ihren Händen. „Nicht noch mal. Nein, nein, nein.”

Sie huschte an einer einzelnen kleinen Artefaktkreatur vorbei und schubste eine weitere mit dem Ellbogen beiseite. Sie erspähte den Ausgang, doch eine riesige Maschine mit sechs Beinen versperrte ihr den Weg. Sie drehte sich zurück zum Eingang, doch dort sah es noch schlechter aus. Automaten kamen aus dem Nichts auf sie zu, die einen stolz dahinschreitend, die anderen eher schlurfend.

Ein zahnradbetriebenes, humanoides Konstrukt griff nach ihr. Seine Arme endeten in metallenen Handeisen, und mit diesen Fesselklauen griff es nach ihr. Sie boxte es, denn das war die Logik der Faust. Doch statt einen Treffer zu landen, stieß ihre Faust einen Feuerstoß aus, der das Konstrukt zurückprallen ließ und in über den Boden verteilte, verbrannte Einzelteile zerschmetterte. Eine weitere Artefaktkreatur kroch auf sie zu, und auch diese bekam das Feuer zu spüren, das bei ihren Fausthieben aus ihr herausbrach. Ihre Hände loderten nun wieder hell. Dies waren wunderschöne Maschinen und sie konnte das Feuer nicht im Mindesten kontrollieren, doch es blieb keine Zeit, um innezuhalten und darüber nachzudenken. Mit Schreien und Schlägen stürmte sie vor und versengte einen nach dem anderen ihre aufwendig hergestellten Angreifer, die sie einzukreisen versuchten.

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Sie versuchte, zum Hinterausgang zu gelangen, doch die Horde aus Bediensteten der Gießerei drang zu schnell auf sie ein, und die große, sechsbeinige Monstrosität hielt noch immer Wache an der Tür. Der Wirbler hatte sogar die Unverfrorenheit, ein Stück tiefer zu sinken, eine scharfe Klaue auszufahren und sie in den Rücken zu zwicken.

Sie fuhr herum und schrie ihn an. Irgendwie fingen seine Rotorblätter Feuer und er kippte zur Seite weg, kollidierte mit dem Mast und fiel als brennender Haufen zu Boden.

Chandra fiel ein, dass sie die Lieferung noch gar nicht an Frau Pashiri übergeben hatte. Die Dose mit Äther war noch immer auf ihren Rücken. Als sie sich wieder dem Torwächter zuwandte, kam ihr eine ausgesprochen schlechte Idee.

„Dann zeigt mal, was ihr könnt, Hände“, sagte sie. Mit noch immer brennenden Fingern riss sie sich den Ranzen vom Rücken und schleuderte die Dose gegen die Hintertür. Sie prallte gegen den vielbeinigen Torwächter und fiel von dort auf den Boden der Gießerei. Der Deckel sprang auf. Zischend entwich Äther aus dem Behältnis.

Chandra richtete all ihr Feuer und all ihre Wut auf die Dose. Sie hatte nicht die Zeit, sich darüber Sorgen zu machen, ob sie wohl das Richtige tat.


Das Dunkel der unterirdischen Baracke war nur ein schwacher Trost. Als Chandra die Treppe hinunterrannte, löschte ihre Mutter eine Schweißfackel und ihr Vater schob sich die Schutzbrille auf die Stirn. Sie bemerkten ihre Miene und die angesengten Säume ihres Wamses.

„Ich ... ich muss euch etwas sagen ...“, meinte Chandra.

Sie schlossen sie in die Arme. „Bist du verletzt? Hast du dich verbrannt? Was ist denn geschehen?”

„Mir geht es gut”, sagte sie zitternd. „Ich habe ... ich habe Feuer gemacht.”

„Du hast ein Feuer gelegt? Während der Lieferung?”

„Nein. Ich habe es gemacht”, sagte Chandra und löste sich aus den Armen ihrer Eltern. „Mit meinen Händen. Ich rannte in ein paar Soldaten der Konsuln und wurde wütend, und dann standen meine Hände in Flammen.”

Die Augen ihrer Mutter weiteten sich. Sie nahm Chandras Hände in ihre und drehte sie musternd hin und her. „Hast du dich verletzt? Wurde jemand anders verletzt?”

„Warte”, sagte ihr Vater. „Du bist auf Männer der Konsuln getroffen?”

„Niemand wurde verletzt.” Chandra spürte bei dem Gedanken, dass jemand ihretwegen verletzt worden sein könnte, eine Schwere, die sich wie ein nasses Tuch aus Schuld über ihr Fühlen legte. Sie ließ die Schultern sinken. Ein Kloß bildete sich in ihrer Kehle. „Ich meine, es gab ... Ich habe schon Schaden angerichtet. An der Gießerei.”

„An der Gießerei der Konsuln?”

„Frau Pashiri hat mir geholfen, hineinzugelangen, aber ich musste aus dieser Tür heraus, und ich habe sie wohl zerstört.”

„Du hast eine Tür zerstört?”

„Die ganze Gießerei.”

Ihre Eltern blickten einander an. Ihre Münder öffneten und schlossen sich, als wollten sie etwas sagen, doch sie fanden zunächst keine Worte. Irgendwann wandte sich ihr Vater dann an sie.

„Deine Hände fingen Feuer – ohne irgendein Gerät? Von selbst?”

Chandras Augen füllten sich mit Tränen, doch sie wischte sie mit dem Handrücken fort. „Ja.”

„Und deine Haut hat nicht gebrannt?”

„Mein Hemd hat ein bisschen gebrannt. Hier.”

„Kannst du mir ... das zeigen?”

„Ich weiß nicht, ob ich es auf Befehl kann. Es geschah, ohne dass ich es wollte. Was ist mit mir los?”

„Chandra! Oh, Chandra.“ Ihre Mutter schloss die Arme so fest um sie, dass ihr das Gesicht an ihren Hals gedrückt wurde.

„Ich weiß“, murmelte Chandra. Sie hätte ihre Mutter am liebsten umklammert, behielt ihre Hände jedoch bei sich. Sie quetschte eine Träne in das bestickte Tuch ihrer Mutter. „Ich ... ich bin ein Ungeheuer.”

“Nein, Liebes, du bist kein Ungeheuer”, sagte ihre Mutter. Sie löste ihre Umarmung und legte Chandra die Hände auf die Schulter, um ihr mit zusammengepressten Lippen ins Gesicht zu blicken. „Du bist eine Pyromagierin.”

„Wenn man so jemanden nennt, dessen Hände aus Zunder bestehen, dann ja. Dann bin ich das.”

„Hör mir zu“, sagte ihre Mutter. Ihr Blick war eindringlich. „Dies ist eine Gabe. Du bist etwas Besonderes. Etwas, was man seit vielen Jahren nicht gesehen hat.”

Chandra hörte die Worte, doch sie drangen nicht bis in ihr Denken vor. Sie suchte das Gesicht ihrer Mutter nach irgendeinem Hinweis ab, der ihr helfen konnte, das alles zu begreifen.

„Ich verstehe nicht.”

„Dein Feuer“, sagte ihre Mutter, „ist eine Art von Magie. Eine besondere Art. Doch das ist etwas, wovor sie Angst haben. Wenn es etwas ist, was du ohne Maschinen, ohne Äther bewerkstelligen kannst ... dann machst du es auf deine Weise, verstehst du? Und das hassen sie.”

„Sie brauchen es, dass die Menschen sie brauchen”, sagte ihr Vater. „Und wer sie nicht braucht, der ist eine Bedrohung.”

Chandra ballte die Fäuste. Wie konnten diese kleinen Hände nur so viel Unheil anrichten?

„Chandra, ich muss dich jetzt etwas fragen. Ist dir jemand hierher gefolgt?”

„Ich glaube, ich habe alles in die Luft gejagt, was mir hätte folgen können.”

„Und diese Soldaten ... Haben sie dich erkannt?”

„Vielleicht. Keine Ahnung. Aber ich habe sie bei der Arena abgehängt. Vater?”

„Ja?”

„Ich werde nie zur besten Botin der Welt, oder?”

Ihre Mutter presste die Hand vor den Mund und rang mit den Tränen.

Ihr Vater nahm Chandras kleine Hände in seine großen Pranken. „Du bist das Beste auf der Welt, meine Chandra. Das Beste, was sich eine Mutter oder ein Vater je wünschen könnten. Was immer auch passiert.”

Chandra nickte, und ihr Vater umarmte sie und ihre Mutter tätschelte ihr die Hand. Irgendwie bedeutete es ihnen so viel, dass sie einfach nur sie selbst, einfach nur ihre Tochter war. Sie fragte sich, was sie in ihr sahen. Was es bedeutete, die beste Chandra der Welt zu sein.


Die Dunkelheit sprach ihren Namen.

Chandra.

Zunächst klang es, als würde er durch zähe Molasse hindurch gemurmelt. Unwirklich. Ihr Bewusstsein stürzte sich dennoch darauf und zerrte sie aus dem Schlaf.

Chandra.

Die Stimme ihre Mutter war sanft, doch der Griff ihrer Hand, die sie Chandra auf die Schulter gelegt hatte, war fest. „Chandra. Komm, mein Schatz. Du musst aufstehen.”

Bis auf das Licht der Stirnlampen ihrer Eltern war ihr Zimmer dunkel. Eigenartigerweise weckte die Dunkelheit sie schneller, als das Licht des Morgens es je vermocht hätte. Dunkelheit passte nicht zu ihrem üblichen Tagesablauf. Dunkelheit bedeutete, dass etwas nicht stimmte. Mehr noch als gestern.

Tornister. Werkzeuggürtel. Armladungen voller Besitztümer.

„W...? Wohin gehen wir?”

„Nimm eine Tasche und geh deinem Vater nach.”

„Was ist los?”

Ihre Mutter drückte Chandra einen Tornister in die Hand. Sie kletterten die Stufen zu dem schweren Rolltor hinauf, das den Eingang ihres Zuhauses bildete. Ihr Vater verriegelte das Tor, und ihre Mutter schweißte es zu. Sie liefen hinaus in die Nacht, ihr gesamtes Hab und Gut in den Händen, und stahlen sich von Schatten zu Schatten. Niemand sprach, und Chandra stellte keine Fragen, als sie auf einen wartenden Wagen kletterten und eine Decke über sich zogen.

Bild von Dan Scott


Die Dörfer hatten keinen Namen. Die wandelbaren Mosaike auf den Plätzen von Ghirapur wichen Feldwegen. Rotierende Türme wichen strohgedeckten Dächern. Aufrüttelnde Porträts berühmter Erfinder wichen gebeugten Feldarbeitern. Ein einfaches Gewand und Sandalen ersetzten Chandras Wams und Stiefel. Sogar ihre Identität wurde ersetzt: Ihre Eltern trugen ihr auf, sie solle sich selbst und sie nur mit falschen Namen vorstellen. Sie gaben ihr einen dunkelblauen Schal, um ihr rotes Haar zu verbergen, einen Schal, den sie schon bald wieder verlor.

Sie lernten, ihre Sachen gar nicht erst auszupacken. Chandra und ihre Eltern blieben nie länger als ein paar Tage an einem Ort. Manchmal zogen sie bereits nach nur wenigen Stunden Schlaf zum nächsten Dorf weiter.

„Wie lange werden wir hier bleiben?”, fragte Chandra, als sie in einem Karren ein neues Dorf erreichten.

„Nicht lange“, sagte ihr Vater. „Vorerst ist die Straße unsere Heimat. Ich rate dir, dich daran zu gewöhnen.”

„Macht uns das Spaß?”, fragte Chandra halb im Scherz.

„Es ist ein Abenteuer, ja“, sagte ihr Vater tonlos.

Immer, wenn sie über eine Anhöhe fuhren, blickte Chandra zurück zur Stadt und verglich die Entfernung mit dem letzten Mal, da sie die Gebäude am Horizont gesehen hatte. Jedes Mal, wenn sie hinsah, verblassten sie ein wenig mehr, und die spitzen Türme und hellen Kupferkuppeln der Stadt wurden von den wuchtigen Formen der Gebirgskette um sie herum schier verschlungen. Dann betrachtete sie das Gesicht ihres Vaters, um nach irgendeiner Art von Bestätigung dafür zu suchen, dass ihn all dies nicht belastete. Dass es ihn nicht zerrüttete, seiner kleinen Schmiede und seinen Werken fern zu sein. Sie gewöhnte sich an diese Zeit auf der Straße, genoss sie sogar, doch sie war überzeugt, dass diese Reise allein ihre Schuld war – das Ergebnis jenes Ärgers, den sie verursacht hatte.

Sie verbrachte ihre Tage damit, in den Dörfern und den umliegenden Wäldern herumzustromern, Spechte aus ihren Nestern aufzuscheuchen und jene Pfade zu erkunden, wie sie die hoch droben ineinander verschlungenen Äste der Bäume bildeten. Die Dorfbewohner trugen stets ein Lächeln auf den Lippen. Sie nickten ihr freundlich zu und ließen sie ansonsten in Ruhe. Ihre Mutter sagte, dass Regeln nur Worte wären, die von Menschen verwendet wurden, die etwas wollten, und diese Leute hier wollten nichts von ihr, und so sonnte sie sich in ihrer Freiheit. Sie sammelte Samen und pralle Früchte und andere Geschenke des Waldes und legte sie auf die Türschwellen im Dorf. Manchmal dachte sie an ihr Feuer, doch weder versuchte sie, es herbeizurufen, noch kam es von selbst. Sie dachte an ihre Kraft wie an eines ihrer Geräte, die sie in Ghirapur zurückgelassen hatte: unvollendet, unvollkommen und aufgegeben.

Eines schönen Tages, als sie einmal noch nicht an Feuer und noch kaum an Soldaten gedacht hatte, fand sie einen Schatz in den Bäumen. Ein riesiges, geriffeltes Horn ragte zwischen zwei dicken Ästen hervor. Es war in sich gedreht, und auf seiner groben Maserung würde Farbe gut halten. Es gab ein hübsches Geschenk für jemanden im Dorf ab. Sie kletterte zu ihrem Fund hinauf und zerrte ihn frei. Das Horn fiel zu Boden.

Als sie vom Baum hinuntersprang, wurde sie von einer Horde pelziger Bestien überrascht. Ihre Hörner glichen dem, das sie gefunden hatte – ganz offenbar befand sie sich in ihrem Revier. Sie zogen die Lefzen hoch und enthüllten Hauer in ihren Schnauzen, die zum Zerreißen von Fleisch gemacht waren. Sie brüllten sie an.

Sie brüllte zurück.

Ihr Feuer kam bereitwillig, ohne einen bewussten Gedanken und beinahe so natürlich wie ihr Fluchtinstinkt. Sie rannte und formte dabei kleine Bälle aus Feuer, indem sie die Hände wölbte, als würde sie damit Ton aus der Luft herausschälen. Ihre Geschosse streiften die Fratzen der Bestien und schnitten ihnen die Laufwege ab. Sie warf ihre Flammen ohne Zögern, ohne sich die Ärmel zu versengen, ohne Mühe. Dieses Mal gab es keine lange Unterredung mit dem Feuer. Sie brauchte es, und es kam zu ihr.

Bild von Victor Adame Minguez

Die Bestien stoben mit kokelndem Fell und leichten Verbrennungen auseinander und überließen Chandra ihrem schweren Atem und ihren brennenden Wangen. Sie fand einen Pfad und ging ins Dorf zurück, die Hände mit einem verschmitzten Lächeln zusammengepresst. Sie erzählte ihren Eltern nicht, dass sie beinahe von einer Horde Waldbestien in Stücke gerissen worden war, doch ihnen fiel auf, dass sie kaum etwas zu Abend gegessen hatte. Sie konnte einfach nichts essen. Nicht, solange ihr noch vor lauter Aufregung kleine Flämmchen im Magen loderten.

In dieser Nacht wälzte sie sich auf ihrem Bett schlaflos hin und her. Sie fuhr mit einem Finger die Linien in einer ihrer Handflächen nach und ertastete die Konturen der Knochen unter ihrer Haut. Dann wechselte sie die Hand, um mit dieser genauso zu verfahren. Etwas war in ihr. Etwas, was niemand anders hatte, etwas, was ihr so sehr den Atem raubte, wie es das Malen von Stillleben und das Liefern von Dosen niemals hätten tun können. Stundenlang lag sie wach und stellte sich eine Motte vor, die in ihrer Brust umherflatterte – eine Motte aus Feuer, das zwar brannte, aber nichts verzehrte.


Eine Kerze in einem zierlichen Halter warf kunstvolle Schatten an die Wände des Arbeitszimmers von Hauptmann Baral. Eine Botin in Uniform trat ein und schlug sich als Salut mit der Faust vor die Brust. Hauptmann Baral blickte von seinem Schreibtisch auf.

„Macht Meldung, Soldatin!“, sagte er mit seiner rauen Stimme.

„Wir haben Nachricht von einem unserer Kundschafter erhalten, Hauptmann”, sagte die Botin.

„Sie wurde gesehen?”

„Alle drei. Die Nalaars sind aus der Stadt geflohen.”

„Kennt Ihr ihren Aufenthaltsort?”

„Nur ungefähr. Sie verstecken sich in den Randgebieten, wo sie von Dorf zu Dorf ziehen. Dort wurden sie ein, zwei Male von Wirblern gesichtet.”

Hauptmann Baral verzog das Gesicht. „Kommt wieder, sobald Ihr Genaues wisst. Wegtreten.”

„Aber ... Hauptmann? Da ist noch etwas.”

Baral hob nur die Augenbrauen.

Sie legte ein Sendschreiben mit einem offiziellen Stempel auf den Tisch. „Hauptmann, die Konsuln legen uns nahe, die Suche abzubrechen. In ihrem Schreiben wird behauptet, wir würden gewaltige Mengen Äther an die Suche nach den Nalaars verschwenden. Hauptmann, falls sie versuchen sollten, jemals nach Ghirapur zurückzukehren, werden wir sie mit Sicherheit festsetzen können. Die Konsuln finden einfach nur, dass sie die Ressourcen nicht wert sind, die wir für die Suche nach ihnen aufwenden.”

„Hier geht es nicht um ein paar Flüchtlinge, Soldatin”, sagte der Hauptmann. Seine Stimme war nach wie vor nicht lauter als ein Flüstern. „Es geht um die Zukunft. Wir müssen den Menschen dieser Stadt zeigen, dass wir bereit sind, das barbarische Zeitalter der Vergangenheit hinter uns zu lassen und uns ganz dem Fortschritt zu verschreiben. Das Mädchen ist ein Überbleibsel einer Zeit des Chaos. Ein Hindernis. Wenn wir vorwärtsschreiten wollen, muss unser Weg frei sind. Die Konsuln werden das verstehen.”

„Ja, Hauptmann“, sagte die Botin. „Wir werden sie finden.”

„Gut. Ich möchte, dass sich ein Luftschiff und eine Einheit Soldaten bereithalten.”

Die Botin zögerte. „Hauptmann? Sind wir denn auf einen Kampf vorbereitet, sollten wir ihnen begegnen? Die Feuermagie des Mädchens ... Sie ist mächtig.”

„Wir haben nichts von ihr zu befürchten, denn wir sind Mitglieder einer ehrenwerten Gesellschaft von Baumeistern und Erschaffern.” Baral griff nach dem filigranen Käfig mit einer Wachskerze darin auf seinem Tisch und öffnete ein kleines Türchen daran. Der Schatten seiner Hand wanderte bedrohlich groß über die Wände. Baral berührte das Feuer nicht. Er hielt lediglich die Hand in seine Nähe. Die Flamme wurde schwächer, verlosch und hinterließ nichts als einen gewundenen Rauchfaden. „Wir wissen, dass Feuer niemals etwas erschafft – es zerstört nur. Am Ende bringt es dem, der es als Waffe führt, nur Verderben.”


„Du wolltest mich sehen?”, fragte Chandra und betrat ihre bescheidene Unterkunft im jüngsten Dorf, in dem sie zu Gast waren.

„Komm herein”, sagte ihr Vater und klopfte auf eine Holzbank. „Setz dich.”

Anstatt sich zu setzen, wischte Chandra den Staub von ihrem Wams. „Warte mal. Ist das deine ‚Wir müssen uns mal ernsthaft über dein Verhalten unterhalten, junge Dame‘-Stimme? Oder ist das deine ‚Du weißt, dass ich immer für dich da bin, allerliebste Tochter‘-Stimme? Ich kann‘s nicht sagen.”

„Es ist immer Zweiteres. Heute aber auch ein bisschen was von Ersterem. Hinsetzen.”

Chandra setzte sich. „Ist das ‚Wir haben herausgefunden, dass du Sachen angezündet hast, und das ist schlecht?‘”

„Es ist nie schlecht, deine Gabe einzusetzen“, sagte ihr Vater. „Sie macht dich zu etwas Besonderem, und das ist immer gut. Es ist nur so, dass ... das nicht jeder so sieht.”

„Geht es um die Bestien? Wer hat mich verpetzt?”

„Es ist nur so, dass einige Menschen in diesem Dorf ... Sie sind auf die Tiere des Waldes angewiesen, um zu überleben. Sie helfen uns, uns zu verstecken, weil sie die Konsuln nicht mögen.”

„Die Soldaten der Konsuln. Sie sind es, die hinter uns her sind.”

„Das ist wahr. Die Menschen hier helfen uns, in Sicherheit zu bleiben. Wenn wir hier sind, sind wir also ihre Gäste. Wir müssen uns an ihre Regeln halten.”

„Mutter sagt, hier draußen gibt es keine Regeln.”

„Ich bin mir nicht ganz sicher, ob du ihre Meinung da korrekt wiedergibst. Wir schulden unseren Gastgebern viel für ihre Großzügigkeit. Wir dürfen unsere Gaben nur so einsetzen, dass es sie nicht in ihrem Leben stört.”

„Es ist Feuer. Was bringt es denn zu sagen, es wäre gut, wenn es gegen alle Regeln verstößt?”

„Du musst einfach vorsichtiger sein. Ich habe etwas für dich. Etwas, was dir helfen sollte.“ Ihr Vater überreichte ihr einen kleinen Mechanismus. Es war ein fein ziseliertes Metallkästchen mit Ventilen an einer Seite. Es hatte einen Schultergurt und ein bewegliches Kabel, das in es hineinführte.

Chandra drehte es in den Händen hin und her. „Was ist das?”

„Man nennt es einen Dampfkasten. Er beruht auf einer sehr alten Erfindung. Deine Mutter und ich haben ihn für dich gebaut.”

„Sollte ich diesem Geschenk mit Argwohn begegnen? Das tue ich nämlich.”

„Probiere ihn aus.”

Chandra stand auf und legte sich den Riemen über die Schulter. Der Dampfkasten schmiegte sich ihr knapp über den Hintern an den Rücken. Ihr Vater führte das lose Ende des Kabels zu einem Flecken nackter Haut an ihrem Schulterblatt, wo es sich mit ihrer Haut verband.

„Wozu ist er gut? Er ist schwer.“ Sie verdrehte den Kopf, um nach dem Kasten zu spähen. Das Metall fühlte sich durch ihr Hemd hindurch kalt an. Dort, wo das Kabel ihre Haut berührte, spürte sie einen leichten Stromfluss.

Ihr Vater legte ihr die Hand unters Kinn und blickte sie an. „Ich habe schlechte Neuigkeiten. Ich fürchte, du darfst nicht mehr in den Wald gehen. Nie wieder.”

Chandra wirbelte zu ihm herum. „Was? Warum?”

Der Kasten zischte und stieß eine Dampfwolke aus.

„Test bestanden“, sagte ihr Vater.

Chandra kniff die Augen zusammen. „Argwohn wird gerade zu Misstrauen, lieber Vater.”

„Es tut mir leid. Der Dampfkasten verwandelt überschüssige Energie in Dampf. Normalerweise wird er zum sicheren Entladen von Ätherkollektoren verwendet. In deinem Fall ist dein Temperament die Energiequelle. Sie nährt deine Gabe. Und dies wird dir helfen, sie zu kontrollieren.”

Chandra runzelte die Stirn. „Wenn ich das trage, werde ich also kein Feuer erschaffen können?”

„Es sollte deine Gabe so weit abschwächen, dass sie sich nur noch in sicherer Form manifestiert. Sie wird nicht ausgelöst, wenn du es nicht willst. Und du wirst es von nun an immer tragen.”

Der Dampfkasten zischte. Sie dachte wieder an das Bild der flatternden Feuermotte, doch nun sah sie sie im Inneren des Dampfkastens vor sich, wie sie erstickt wurde und sich in Rauch auflöste. Vielleicht sollte niemand je Freude an Feuermagie haben. Plötzlich fühlte sie sich kindisch.

Ihr Vater drückte ihr den Arm. „Es ist zu deinem Besten und zur Sicherheit unserer Gastgeber.”

Chandra seufzte und ließ sich wieder auf die Bank fallen. „Vater. Dass wir hier draußen sind. Ist das meinetwegen? Wegen der Sache, die ich in der Gießerei angestellt habe?”

„Chandra, hör mir zu.” Ihr Vater legte die Arme um sie. „Deine Mutter und ich sind sehr stolz auf das, was du wirst. Du bist das Wichtigste auf der Welt für uns. Wir möchten, dass du weißt, dass alles, was wir tun, dazu dient, dich in Sicherheit zu wissen und die Welt zu einem besseren Ort für unsere Familie zu machen. Nur das ist wichtig.”

Ihr Vater löste die Umarmung. Sie blickte zu ihm auf. Sein Lächeln war warm und aufrichtig. Die metallene Ecke des Dampfkastens stach ihr schmerzhaft in den Rücken, doch sie ließ sich nichts anmerken.


An jenem Tag, als die Soldaten das Dorf umstellten, war Chandra im Wald. Ihr Dampfkasten schlug ihr beim Gehen gegen den Rücken. Sie bemerkte nicht, wie sie sich den Häusern näherten. Sie hörte nicht einmal das Luftschiff landen. Erst als sie Rufe hörte, rannte sie zum Dorf zurück und sah sie dort.

Sie trugen dieselben Uniformen wie jene, die sie auf dem gesperrten Weg in Ghirapur angehalten hatten. Waffen waren an ihre Unterarme geschnallt, und viele von ihnen hatten brennende Laternen dabei, obwohl es helllichter Tag war. Einer von ihnen, der groß war und sehr selbstsicher wirkte, sprach zu den anderen in einem rauen Flüsterton. Hauptmann Baral. Irgendwie hatte er sie gefunden.

Bild von Daarken

Die Soldaten bildeten eine menschliche Absperrung um das Dorf: Sie kreuzten die Arme und präsentierten ihre Springklingen. Eine Frau aus dem Dorf schrie sie an, und auf Hauptmanns Barals Befehl hin schubsten die Soldaten sie zurück.

Chandras Dampfkasten stieß eine heiße Wolke aus. Sie stapfte aus dem Wald heraus auf sie zu. „He!“, rief sie. „Sucht ihr mich? Kommt und holt mich doch!”

Die Soldaten blickten einander an. „Das ist das Nalaar-Mädchen.”

„Mein Name”, sagte sie und richtete sich auf, bis sie auf Brusthöhe mit ihnen war, „ist Chandra. Lasst diese Leute in Ruhe. Sie haben nichts Falsches getan. Nehmt mich.”

„Wir werden dich mitnehmen“, sagte Hauptmann Baral. Sie hatte vergessen, wie seine Stimme klang – als würden Steine zu Staub zermahlen. „Denn du und die deinen sind eine Gefahr für sich und andere.“ Er wandte sich zu der Frau und den anderen Dorfbewohnern um. „Ihr könnt gehen.”

Die Dörfler nahmen Abstand. Die Erwachsenen scheuchten die Kinder zurück in die Häuser. Chandra suchte nach ihren Eltern, konnte sie aber nirgends in der Menge entdecken.

„Ich bin keine Gefahr“, sagte sie. „Nicht mehr.“ Sie drehte sich um, damit Baral ihren Dampfkasten sehen konnte. Eine beständiger Dampffaden stieg daraus auf.

„Allein deine bloße Existenz ist schon eine Gefahr“, flüsterte Baral. „Weißt du, wie wir dich gefunden haben, Kind? Diese Leute haben dich am Ende doch verraten.”

„Das ist eine Lüge. Meine Eltern meinten, sie würden uns beschützen.”

„Die Verbrechen deiner Eltern sind zahlreich, aber die deinen wiegen um vieles schwerer, Pyromagierin. Du bist ein Werkzeug des Chaos und des Todes. Wie viele Menschen hast du getötet?”

„Keinen. Ich habe nur ein paar eurer massenproduzierten Spielzeuge kaputtgemacht.”

Einer von Barals Mundwinkeln zog sich nach oben und entblößte einige seiner Zähne. „Das ist nicht, was ich gehört habe. Ich hörte, du wärst für Dutzende Todesfälle in ebendiesem Dorf hier verantwortlich.“ Er nickte den anderen Soldaten zu. „Tut es.”

Die Soldaten setzten mit ihren Laternen die Strohdächer der Häuser in Brand. Sie gingen augenblicklich in Flammen auf. Dicker, hässlicher Rauch stieg auf.

„Nein!“ Impulsiv riss Chandra die Arme hoch, um Flammen auf sie zu schleudern, doch nichts geschah. Dampf zischte aus ihrem Dampfkasten. Baral lächelte und etwas glitzerte in seinen Augen.

„Chandra!” Ihr Vater kam um eines der Gebäude herumgerannt. „Chandra, lauf! Hier lang!“ Er schleuderte eine kleine Kupferkugel vor den Soldaten auf den Boden. Sie zerbarst zu einem gleißenden Lichtblitz und hüllte ihre Gesichter in schimmernde Staubteilchen ein. Sie stöhnten auf und schlugen die Hände vor die Augen.

Chandra rannte ins Dorf, ihr Vater dicht hinter ihr. Sie raste zwischen den Häusern des Dorfes entlang, die nun voller Feuer und Schreie waren. Rauch wälzte sich über die Wege und verbarg den Blick auf jenes Haus, in dem ihre Familie gewohnt hatte. Sie stürmte trotzig vorwärts und versuchte, ihren Vater nicht aus den Augen zu verlieren.

Als sie aus dem Rauch auftauchte, befand sie sich am anderen Ende des Dorfes. Feuer loderten hoch auf und verzehrten ganze Gebäude. Menschen stolperten brennend aus ihren Häusern. Schreiend wälzten sie sich im Staub, um die Flammen zu ersticken. Barals Soldaten standen tatenlos daneben. Ihr wurde klar, dass man ihr dafür die Schuld geben würde. Sie war diejenige, die die Bestien aus dem Wald mit ihrem Feuer erschreckt hatte. Also musste irgendein Dorfbewohner Hauptmann Baral benachrichtigt haben. Und nun würde all dieser flammende Tod ihr zugeschrieben werden, denn sie war die Pyromagierin. Sie war so leicht hereinzulegen gewesen, und Baral hatte es ihr auf den Kopf zu gesagt.

Die Soldaten erblickten sie. Sie wirbelte herum, um in die andere Richtung davonzulaufen, doch sie stolperte und fiel hin. Ihr Fuß hatte sich in einem Fetzen eines glatten Stück Stoffs verheddert, das dort im Staub lag. Sie nahm es in die Hand. Es war Tuch ihrer Mutter, jenes, das so reich bestickt war und das sie immer um die Hüfte geschlungen trug. Es rauchte und war vom Feuer versengt. Ihr wurde klar, dass sie vor dem Haus lag, in dem sie hier untergebracht waren – und dass es in Flammen stand.

„Mutter!”, schrie sie. Plötzlich fehlte ihr sämtliche Kraft, um sich aufzurappeln und die Flucht fortzusetzen. „Nein!”

Die Soldaten ließen die scharfen Klingen aus ihren Unterarmscheiden springen. Sie bildeten ein Spalier, um Hauptmann Baral durchzulassen. Er hielt einen schlichten Dolch in der Hand und ragte über ihr auf. Sie brachte nicht die geringste Bewegung zustande.

„Das wird eine hervorragende Vorstellung in der Arena”, flüsterte Baral. „Die Konsuln lieben es, ein Exempel an Dissidenten zu statuieren. Und die Leute lieben Zurschaustellungen roher Gewalt, solange man sie nicht ihnen antut.”

Ihr Vater tauchte aus dem Rauch auf. Er warf sich zwischen sie und schirmte Chandra von den Soldaten ab. „Genug“, sagte er hustend. „Nehmt mich. Ich bin es, den ihr wollt. Ich ergebe mich.”

Baral näherte sich ihrem Vater, legte ihm eine Hand auf die Schulter und stieß ihm den Dolch in die Eingeweide. Ihr Vater rang rasselnd nach Atem und fiel auf die Knie. Mit beiden Händen hielt er sich den Bauch. Einen kurzen Moment lang blickte er Chandra an, und sie konnte sein letztes Gefühl sehen: Nicht Angst war es, sondern nur Enttäuschung, dass er ihr nicht mehr hatte helfen können. Er beugte sich vor, erzitterte und sank zu Boden.

Bild von Jason A. Engle

Chandra hörte das Geräusch nicht, das sie von sich gab. Die Welt bestand nur noch aus Rauch und Dampf und den Uniformen der Soldaten. Sie spürte auch nicht, wie sich die Ketten – mit ihren feinen Gliedern aus Kupfergeflecht, die dennoch fest wie Eisen waren – klirrend um ihre Handgelenke schlossen. Sie spürte nicht, wie der Dampfkasten Dampf ausstieß. Sie spürte nicht, wie man sie zum Luftschiff führte, wie sie über die Schwelle trat und in einen Sessel gesetzt wurde, während sie den Schal ihrer Mutter umklammert hielt. Und sie sah nicht die Rauchschwaden, die vom Dorf aufstiegen, als das Luftschiff abhob und seinen Bug in Richtung Ghirapur drehte. Sie sah nur ihren Vater, der dort im Schlamm kniete, wieder und wieder, und sie hörte seinen letzten Atemzug mit einem mutlosen Seufzen aus ihm entweichen.


Der Scharfrichter war groß und stämmig. Sein Gesicht war von einer Kapuze mit einer filigranen Maske verhüllt. Wesentlich wichtiger für Chandras augenblickliche Lage war jedoch, dass sein Unterarm in einer gewaltigen Klinge endete. Womöglich war sie nur über und um die Hand herum angepasst worden, doch für Chandra sah es eher so aus, als wäre sie mit dem gesamten tödlichen Kostüm des Scharfrichters verwachsen. Er ging im Kreis um Chandra herum, wobei er das Podium in der Mitte der Arena umrundete. Es war der Akhara, derselbe Platz, über den Chandra erst vor wenigen Wochen während ihrer fehlgeschlagenen Lieferung gehuscht war. Nun waren die Tribünen voller Menschen, die dem grausamen Spektakel beiwohnen wollten.

Sie blickte auf die feingliedrigen Ketten herab, die ihre Hände fest an ihrem Platz hielten. Ihre Hände sahen nicht aus wie die Waffen eines Pyromagiers, sondern nur wie die kleinen Hände eines gewöhnlichen Kindes.

Ein gedrungener Herold in einer seidenen Robe verlas mit donnernder Stimme ihr Urteil. „Wegen Verbrechen wider das öffentliche Wohl, der Zerstörung der vielgerühmten Gießerei von Ghirapur und wegen des Todes dreier Menschen im Feuer von Bunarat wird diese Bürgerin verurteilt, die Klinge der Gerechtigkeit zu spüren.”

Während er las, versuchte Chandra, ihr Feuer herbeizurufen. Doch es wollte nicht kommen. Sie spürte, wie etwas auf ihr lag und jegliches Feuer erstickte, das sie hätte heraufbeschwören können. Sie trug noch immer den Dampfkasten auf dem Rücken, genau über dem Schal ihrer Mutter. Der Kasten zischte nicht. Ihre Wut war tot, ebenso wie ihr Vater. Sie suchte in der Menge nach ihrer Mutter. Wenn sie am Leben war, dann würde sie zweifellos hier sein und versuchen, dies hier zu verhindern und ihre Tochter zu retten. Doch nichts unterbrach die Rede des Herolds, und Chandra gewann Klarheit. Ihre Mutter musste ebenfalls tot sein.

Nichts war ihr mehr geblieben. Vielleicht war es nur richtig, dass der Scharfrichter ihr das Leben nahm.

„Heute lernen wir eine wichtige Lektion über die Grenzen des Mitleids und die große Bedeutung der Wachsamkeit“, fuhr der Herold fort. „Heute lernen wir, dass für manche keine noch so große Anleitung und moralische Führung je ausreicht. Manche werden bereits mit der Zerstörung in sich geboren, und zu unser aller Wohl müssen sie ausgelöscht werden.”

Vielleicht sollte sie nicht weiterleben. Vielleicht war es ihr nie bestimmt gewesen, die Beste in überhaupt irgendetwas zu sein. Vielleicht war sie letzten Endes doch nur ein Ungeheuer, ein Monster mit einer „Gabe“, die jedem in ihrer Nähe nur Leid zufügte. Vielleicht konnte niemand ihr vertrauen oder sie um ihrer selbst willen lieben. Vielleicht sollte sie einfach den Kopf senken und ihr Schicksal annehmen.

Etwas in der Menge zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Es war Frau Pashiri, ihr Kontakt aus der Gießerei. Frau Pashiri nickte ihr aus der Menge heraus zu, ihr Mund ein dünner, zusammengepresster Strich. In ihren Augen funkelten trotzige Tränen. Langsam hob Frau Pashiri die Hand. Ihre Finger formten einen Kreis an ihrer Stirn: das Zeichen der Nalaar, wie eine Nachahmung der Schweißerbrille ihres Vaters, ausgeführt wie ein Salut.

Chandra ballte fest die Fäuste. Der Dampfkasten zischte erst und pfiff dann wie ein Teekessel. Sie ließ ihre Augen nicht von Frau Pashiri, dieser Geste, dieser Achtung vor dem, was sie war. Sie war eine Nalaar. Sie war Chandra Nalaar.

„Die fortdauernde Existenz dieser Bürgerin bringt uns alle in Gefahr”, sagte der Herold. „Demnach soll zu unser aller Wohl der Gerechtigkeit Genüge getan werden. Klingenträger, tretet bitte vor.”

Als der Scharfrichter drei zeremonielle Schritte auf Chandra zu machte, glitt die Klinge aus seinem Arm und ihre tödliche Länge verdoppelte sich. Chandras ganzer Körper spannte sich an. Das Pfeifen des Dampfkastens wurde zu einem nassen Stottern, als etwas in ihrem Inneren zu kochen und zu brodeln begann.

Bild von Lius Lasahido

Der Scharfrichter brachte sein maskiertes Gesicht dicht an Chandras heran. „Ich weiß, dass du es versuchst, Pyromagierin“, sagte er mit einem rauen Flüstern.

Chandra riss ihren Blick von Frau Pashiri los und starrte geradewegs und mit zusammengebissenen Zähnen in seine Maske. Diese Stimme erkannte sie sofort. „Baral.”

Sie konnte Barals Augen durch das Geflecht der Maske erkennen. Sie funkelten kalt. Sie spürte die Bürde seiner bloßen Anwesenheit, die Last seiner Antimagie.

„Wir beiden sind nicht die einzigen Magier, die die Welt je erblickt hat”, flüsterte er. „Doch ich bin der Letzte, den du jemals kennenlernen wirst.“ Langsam wandte er sich von ihr ab und hob die Klinge, damit die Menge sie sehen konnte.

Chandra blickte wieder fest zu Frau Pashiri drüben in der Menge. Die alte Dame senkte die Hand nicht. Die Ketten um Chandras Handgelenke spannten sich, doch ansonsten konnte sie sich einfach nicht rühren. Dies war ihr letzter Augenblick.

Baral hob die Klinge noch höher. Chandra hörte, wie der Herold den Befehl gab: „Schlagt zu.”

Jeder einzelne ihrer Muskeln verkrampfte sich. Sie suchte in ihrem Innersten verzweifelt nach etwas – irgendetwas! –, was sie zu fassen bekommen konnte, und sie fand die feurige Motte, deren helle Flügel kräftig flatterten. Die Motte war eine winzige, aber aufsässige Lichtquelle, unbeirrt, unausgelöscht. Das war sie, wie ihr nun klar wurde. Eine Manifestation ihrer Gabe, doch ebenso eine Manifestation ihrer selbst. Sie war ihr Feuer, und ihr Feuer war sie. Sie spürte einen winzigen Teil dessen, was es bedeutete, eine Pyromagierin zu sein. Was es bedeutete, am Leben zu sein. Was es bedeutete, Chandra zu sein.

In einem sonderbar lang dahingezogenen Wimpernschlag beschrieb die Klinge einen Bogen durch die Luft auf ihren Hals zu. Chandra spürte ein heißes Prickeln wie eine Welle aus glühenden Kohlen über sich hinwegbranden. Ihr Blick wurde an den Rändern trüb, und Baral und der Herold und alles um sie herum verschwammen. Die Arena und die Menge versanken in flirrendem Dunst. Sie spürte den sprühenden Dampf aus ihrem Dampfkasten zu einer weißglühenden Flüssigkeit werden. Es drang kaum in ihr Bewusstsein vor, dass der Kasten geschmolzen war, die Schlacke an ihrem Bein herabtropfte und sich durch das steinerne Podest brannte.

Bild von Eric Deschamps

Ihre Hände standen in Flammen und schmolzen die Ketten binnen eines Herzschlages fort. Ihre Arme brannten. Ihre Schultern und ihr Oberkörper brannten. Sie wandte ihr Gesicht ab, doch die Flammen breiteten sich auch dorthin aus. Ihr Haar wurde zu einem Gleißen weißer Glut. Ihre Augen wurden geröstet und zu rotglühenden Kugeln in ihren Höhlen.

Sie stieß einen Wutschrei aus, und der Schrei wurde zu einer Explosion. Eine Kaskade aus Feuer brach aus ihr hervor, hüllte die Empore ein, hüllte ihre Häscher ein, hüllte die ganze Welt ein. Alles, was sie wahrnahm, war in Flammen getaucht.

Sie hielt ihre brennenden Arme über ihr brennendes Haupt und kniff ihre brennenden Augen fest zusammen. Ihre Ohren brausten, taub und dröhnend zugleich. Ein Augenblick oder eine Ewigkeit verging. Einen Moment lang glaubte sie, Barals Schreie zu hören, und als Nächstes fühlte sie sich, als würde sie wie eine Kerze ausgeblasen oder eine Windhose hinaufgesogen werden, um an deren anderem Ende herauszukommen.

Als sie die Augen öffnete, war die Welt noch immer in den Rauch ihres Ausbruchs gehüllt. Ihre Kleidung rauchte, und ihr Dampfkasten war fort. Als sie die Stimmen herannahender Menschen hörte, rief sie noch mehr Feuer herbei, bereit, es erneut auf ihre Häscher zu schleudern. Das Feuer kam bereitwillig zu ihr wie ein vertrauter Verbündeter.

Der Rauch lichtete sich so weit, dass sie die Leute nun sehen konnte, die sich ihr näherten. Sie wirkten nicht wie Vollstrecker der Konsuln oder überhaupt wie jemand, den sie jemals gesehen hatte: groß und edel, wie Mönche in Roben gekleidet, die Gesichter wie mit feinen Masken aus Asche eingerieben. Hinter ihnen erhoben sich raue Felsen, und Stufen führten hinauf zu einem gewaltigen Torbogen, der ins Innere des Berges führte. Schroffe Gebäude aus Stein wuchsen aus dem Berg, beleuchtet von Feuern, die in keinem Kohlebecken brannten. Die Luft roch nach heißen Gasen und kochender Erde.

Die Arena war nirgends zu sehen. Die gesamte Stadt, ihre gesamte Welt hatten sie verlassen – oder sie hatte sie verlassen.

Chandra geriet voller Schrecken ins Stottern. Die Mönche streckten die Hände in einer beruhigenden Geste nach ihr aus, und einer von ihnen sagte etwas in besänftigendem Tonfall.

Also sammelte sie ihre Kräfte und schleuderte Feuer auf alle von ihnen. Die Logik des Feuers.

Aus irgendwelchen Gründen jedoch konnte ihnen die lodernde Feuersbrunst nichts anhaben. Einer der Mönche hob die Hand und ihr Feuer verglomm, wurde immer schwächer und bildete schließlich einen warmen, leuchtenden Ring, der sie alle umschloss. Der Mönch nickte ihr zu.

„Seid gegrüßt, Pyromagierin“, sagte der Mönch. „Ihr seid hier willkommen.”

Bild von Eric Deschamps