Gideons Ursprung: Kytheon Iora von Akros
Bild von Chase Stone
Nachts herrschte im Gefängnis vollkommene Dunkelheit. Sie legte sich über die steinernen Mauern und sickerte durch die zerlumpte Kleidung der Gefangenen, einem Tintenklecks gleich, der auch von dem spärlichen Tageslicht nie ganz fortgewaschen werden konnte, das selten genug durch die engen Schächte hoch droben an den Wänden ins Innere des Gefängnisses vorzudringen vermochte. Wenn sich der Wind legte, war die stumme Finsternis eine Last, unter der viele der Gefangenen zusammenbrachen.
Doch das war es nicht, was an Kytheon nagte, einem Dieb von dreizehn Jahren, dessen erste Nacht in der Dunkelheit gerade angebrochen war. Er hatte sich in eine bestimmte Sache verbissen, etwas, was sich durch den Haufen an neuen Eindrücken, die zuvor auf ihn eingeprasselt waren, bis ganz nach oben gewühlt hatte: die täglichen Abläufe im Gefängnis, seine Regeln und welche Ordnung in ihm allgemein galt. Es war etwas, was er von Drasus gehört hatte, einem Freund aus dem Fremdenviertel, der nun auch sein Mithäftling war: „Hixus ist zwar der Schlüsselmeister, doch es ist Ristos, der an diesem Ort das Sagen hat.“
Kytheon musste das Gesicht verzogen haben, als er das hörte. „Du musst das unbedingt begreifen“, hatte Drasus ihn gewarnt. „Ristos ist nicht wie diese Raufbolde, die die Freischärler aus dem Viertel geworfen haben. Er betrachtet sich selbst als König. Er ist ein Ungeheuer. Deshalb ist er hier drin.“
„Wir sind hier drin”, hatte Kytheon erwidert.
„Du bist hier drin, weil du ein lausiger Dieb bist, der sich dabei hat erwischen lassen, wie er fauliges Obst und eine Handvoll Münzen gestohlen hat. Und ich bin hier wegen einer Rauferei. Wir sind keine Mörder. Pass auf dich auf. Mehr sage ich doch gar nicht.“ Drasus hatte mit den Schultern gezuckt, als ließe sich an all dem ohnehin nichts ändern.
Bild von Zack Stella
Drasus war drei Jahre älter als Kytheon und ein Heißsporn. Er war schon vor über einem Dutzend Wochen im Gefängnis gelandet, und das Wiedersehen mit ihm war eine freudige Überraschung gewesen, wenngleich Kytheon nicht gefiel, was er in diesem Schulterzucken zu erkennen glaubte. Er hatte es auf andere Weise versucht.
„Du bist einer meiner Freischärler, Drasus. Dieser Ristos ist es, der auf sich aufpassen sollte.“
„Das sagst du jetzt. Aber er ist größer als die Schläger da draußen. Ich sag‘s dir: Er ist der König.“ Und damit war Drasus weggegangen, bevor Kytheon widersprechen konnte.
Es gab immer Leute, die versuchten, sich mit Gewalt einen Weg ins Fremdenviertel zu schaffen und ihre Netzwerke aus Diebstahl, Schmuggel und Erpressung zu errichten: Grobiane wie Anthedes von der blutigen Axt oder Verschwörer wie Krevarios der Giftige. Kytheon wusste, woran man einen Raufbold erkannte – hatte er doch einen Großteil seines Lebens auf die eine oder andere Art und Weise mit ihresgleichen fertigwerden müssen –, und er konnte es kaum erwarten, Ristos kennenzulernen.
Im Morgengrauen wurden die neuen Gefangenen mit eisernen Ketten aneinandergebunden und durch verwinkelte Gänge aus grob behauenem Stein geführt. Kytheon zählte sechs andere Gefangene. Zwei von ihnen wirkten, als würden sie all dies nicht zum ersten Mal durchmachen. Eine Wache öffnete eine schwere Holztür, und die Gefangenen wurden in eine niedrige Kammer geführt, wo Scharen alteingesessener Häftlinge zu arbeiten schienen.
Die Luft in der Kammer war so schal wie die in Kytheons Zelle auch, doch anders als diese war sie vom Geruch von Moder erfüllt. In der Mitte der Kammer war ein runder Schacht von zwanzig Fuß im Durchmesser in den Boden gehauen worden. Ein ebensolcher Schaft befand sich an der Decke, und dazwischen wurden riesige Fässer von einem Dutzend Taue in beide Richtungen befördert.
„Willkommen am Wasserfall von Akros“, dröhnte eine Wache mit krummem Rücken. „Wo das Wasser aufwärts fließt.“ Er lachte über seinen eigenen Scherz, den Kytheon nicht verstand, auch wenn er ahnte, dass sich dies bald ändern würde.
Die Wachen trieben Kytheon und die anderen neuen Gefangenen zu einem gewaltigen Kurbelwerk mit sechs Speichen, das von Sträflingen angetrieben wurde. Sechs von ihnen standen jeweils an einer Speiche und drehten es um eine gewaltige Achse aus Eichenholz.
„Gruppe Eins! Macht Pause!“, sagte eine Wache. Die Gefangenen, die eine der Speichen bewegten, lösten sich von dieser und rieben sich die schmerzenden Muskeln oder wischten sich den Schweiß fort, der ihnen in den Augen brannte.
Kytheon fühlte einen Stoß im Rücken und nahm seine Position an der Speiche neben den anderen Neulingen ein. Der hölzerne Holm fühlte sich weich an. Zahllose Hände hatten sich bereits gegen das beständige Gewicht des endlosen Stroms aus Fässern voll Wasser gestemmt, die aus dem Fluss im Tal unter ihnen zur Polis Akros gehievt wurden, die über ihnen auf der steilen Felswand thronte. Das war es, was Gefängnis bedeutete. Schinderei und Gefangenschaft. Er sollte ein Lasttier werden. Das unterschied sich gar nicht so sehr von der Ausbildung zu einem akroischen Hopliten, sinnierte Kytheon und lächelte in sich hinein. Den Körper zu Marmor machen, nannte man es: eine tägliche Reihe von Ertüchtigungen aus schnellen Läufen und dem Werfen schwerer Gegenstände. Doch das war gewesen, als er noch Soldat hatte werden sollen. Als er ein Kind gewesen war. Das war, bevor man ihn unehrenhaft aus der Armee entlassen hatte. Bevor er zum Freischärler geworden war. Zum Dieb. Zum Gefangenen.
Bild von Willian Murai
Bei der Arbeit an dem Kurbelwerk brannten ihm Schultern und Waden. Er versuchte, den Schmerz im Zaum zu halten, indem er seine Aufmerksamkeit auf ein einzelnes Fass bündelte und dessen Reise beobachtete: von dem Augenblick an, als es aus dem Boden auftauchte, bis zu jenem, in dem es in der Decke verschwand. Er zählte sie nicht, sondern beobachtete sie nur. Er zwang sich immer wieder, nur noch einem Fass mehr mit Blicken zu folgen und danach noch einem. Es gab immer eines danach.
In der Lücke zwischen zwei aufsteigenden Fässern musterte Kytheon eine Handvoll Gefangener, die beschädigte Fässer flickten. Sie waren damit beschäftigt, mit hölzernen Hämmern neue Eisenbänder an ihnen anzubringen. Diese Sträflinge sahen gesünder aus, kräftiger – gut genährt.
Und dann endlich hieß es: „Gruppe Eins! Wasser!“
Kytheon konnte sich nicht daran erinnern, dass eine der anderen Gruppen aufgerufen worden war, doch das sollte ihm auch recht sein. Ohne den Holm als Stütze wurden ihm die Knie weich, während er sich in eine Ecke der Kammer begab, wo Steinblöcke als behelfsmäßige Sitzgelegenheiten verteilt waren.
Alte und gebrochene Gefangene füllten angeschlagene Tonbecher mit Wasser aus einem Fass und hielten sie den Sträflingen der Gruppe Eins zusammen mit einem Kanten altbackenen Brotes hin. Karge Nahrung war nichts Neues für Kytheon. Das Fremdenviertel von Akros war nicht gerade wegen seiner Üppigkeit oder seiner prall gefüllten Vorratskammern bekannt, und es gab viele Tage, an denen er, Drasus, der kleine Olexo, Epikos und Zenon sich mit solcherlei Nahrung hatten zufriedengeben müssen.
Beim Biss in das harte Brot war ihm dessen körnige Beschaffenheit sehr vertraut. Er fand einen Steinblock und ließ sich dagegen fallen. Seine kalte Oberfläche war eine willkommene Wohltat, die er mit einem Mundvoll Wasser vervollkommnen wollte. Er hob den Becher an die Lippen und ließ sich das Wasser in den Mund rinnen, wo er es der herrlich kalten Flüssigkeit gestattete, sich schwappend überallhin zu verteilen.
„Tribut!“, sagte eine krächzende Stimme und unterbrach Kytheons Augenblick der Zufriedenheit. Die Stimme gehörte zu einem stämmigen Mann, kaum größer als Kytheon, der unter den versammelten Gefangenen aus Gruppe Eins umherging.
Kytheon sah zu, wie alle Sträflinge, an denen er vorbeikam, ohne Murren die Hälfte ihres Brotes in einen Sack warfen, den er ihnen hinhielt. Kytheon schluckte das köstliche Wasser hinunter. Ristos?
Der Mann kam näher. Von der Hüfte an aufwärts war er nackt, sein Oberkörper von dichtem, dunklem Haar bedeckt – außer dort, wo sich die aufgedunsenen Striemen alter Narben entlangzogen.
„Tribut!“, sagte der Mann erneut und baute sich vor Kytheon auf.
„Ja, na gut. Was hast du denn zu bieten?“
Der Mann gab ein Geräusch von sich, das irgendwo zwischen einem Knurren und einem Keckern lag. „Mein Knie an deiner Kehle, wenn du so weitermachst, Bürschchen. Der König fordert Tribut.“
„König? Du bist Ristos?“
Der Mann antwortete nicht. Kytheon schaute an ihm vorbei, dorthin, wo die Fässer geflickt wurden. Ein großer Mann mit breiten Schultern erwiderte den festen Blick des jungen Gefangenen. Sein Gesicht war von einer Mähne aus kohlegrauem Haar umrahmt.
„Nein, du kannst nicht Ristos sein“, sagte Kytheon und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Mann unmittelbar vor ihm zu. „Man sagte mir, ich müsste mich vor Ristos fürchten.“
„Das solltest du auch“, sagte der Raufbold durch zusammengebissene Zähne. Er warf den Sack voll erpresster Brotkanten zur Seite, doch noch ehe dieser den Boden berührte, stieß Kytheon sich von dem Steinblock ab und trat dem Mann vors Schienbein.
Schmerzerfüllt brüllte der Kerl auf und wankte nach hinten. Binnen eines Wimpernschlags war Kytheon auf den Füßen und versetzte ihm einen wahren Wirbel von Schlägen ins Gesicht. Er tänzelte aus der Reichweite des Gegenangriffs und zwang seinen Kontrahenten so, sich zu weit vorzubeugen und sich einem weiteren Fausthagel gegenüber verwundbar zu machen.
Kytheon lächelte. Eine Woge aus purer Kraft brandete in ihm auf, und er vergaß seine schmerzenden Muskeln und seinen knurrenden Magen. Dies war sein Element: der Kampf.
Bild von Eric Deschamps
Ristos‘ Schläger war ein geübter Raufbold, wie Kytheon dank seiner Erfahrungen beim Balgen mit Drasus einzuschätzen vermochte. Der Kerl war ein wahrer Fleischsack, der so manch harten Schlag einstecken konnte, doch er war berechenbar und wie die meisten anderen Schläger, gegen die Kytheon in den Gassen von Akros gekämpft hatte, redete er gern.
„Ich werde Wein aus deinem Schädel saufen!“, verkündete er.
Ein weiterer Haken, gefolgt von einem weiteren Ausweichen Kytheons und einer weiteren Folge von Schlägen gegen Rippen und Kiefer.
Plappere nur weiter, dachte Kytheon, als er seinen Gegner umkreiste. Für Kytheon war das Kämpfen wie ein Reflex: intuitiv, instinktiv. Als kleines Kind hatte er herausgefunden, dass es zudem die Quelle seiner Magie war.
Die anderen Gefangenen sahen ihnen beim Kämpfen zu, machten aber keinerlei Anstalten, einzugreifen. Kytheon erlaubte sich einen winzigen Augenblick, um unter ihnen nach Ristos Ausschau zu halten, der näher herangekommen war und die Szene noch immer beobachtete.
Und dann tanzten plötzlich Sterne vor seinen Augen.
Er hatte die Schnelligkeit des Schlägers unterschätzt. Er fand sich am Boden wieder, zu dem anderen Mann aufblickend, der bereits über ihm war und Fausthiebe auf ihn herabhageln ließ. Die ersten paar trafen. Einer erwischte Kytheon mit einem garstigen Knirschen an der Nase und brachte die Sterne vor Kytheons Augen erneut zum Tanzen.
Er musste sich sammeln. Er musste seine Aufmerksamkeit bündeln.
Die Faust des Mannes hob sich, doch ehe sie erneut herabschnellte, erschienen zahllose Lichtbänder auf Kytheons Haut, die vor schierer Energie waberten.
Die Faust stieß hinab. Als sie Kytheon unter dem Auge traf, fühlte er keinen Schmerz. Stattdessen spürte er einen Schub unbändiger Kraft, den er in einen eigenen wuchtigen Schlag umsetzte, mit dem er dem Mann den Kiefer brach. Aufjaulend taumelte der Kerl von Kytheon herunter.
Der Junge rappelte sich auf. Noch immer zuckten die Lichtstreifen über seinen Körper.
Bis auf das Stöhnen des Raufbolds, der sich zusammengekauert den zersplitterten Kiefer hielt, war es still in der Kammer.
Blut tropfte aus Kytheons Nase, lief ihm das Kinn hinunter und rann auf seine grobe Kleidung. Er spie einen Klumpen Rot auf die Steine, griff in den vergessenen Sack und zog sich ein Stück Brot daraus hervor. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, doch Kytheon starrte nur zu Ristos und riss mit den Zähnen einen weiteren Bissen aus dem Brot.
Ristos machte eine Bewegung und ein halbes Dutzend Gefangene lösten sich aus der Menge und umringten Kytheon.
Der Junge wischte sich mit dem Handrücken das Blut vom Mund und verteilte es sich so über die Wange. Er blickte jedem von Ristos‘ Schlägern in die Augen, wandte ihrem Anführer den Rücken zu und grinste.
Es dauerte nicht lange, bis die Wachen sich einen Weg durch die Gefangenen bahnten, doch Kytheon brauchte auch gar nicht lange. Als die Wachen am Ort des Tumults eintrafen, sahen sie Kytheon mit blutigem Gesicht und blutigen Fäusten gerade den Letzten von Ristos Männern zu Boden schicken.
Als das Kind von dreizehn Jahren die Wachen auf sich zukommen sah, ließ es sich zu Boden sacken: ausgelaugt, erschöpft und vollkommen zufrieden.
Kytheon stand vor dem Schlüsselmeister. Seine Hände waren in Eisen gelegt, doch er lächelte übers ganze Gesicht. Auf einen Wink von Hixus hin wandten sich die beiden Wachen, die den jungen Gefangenen hereingeführt hatten, um und ließen sie allein.
Bild von Chris Rallis
Hixus lehnte sich lässig gegen einen Holztisch, auf dem sich hier und da allerlei Papiere auftürmten. Der Schlüsselmeister hatte breite Schultern und trug seinen Brustpanzer mit der Gelassenheit eines erfahrenen Soldaten. Er starrte Kytheon an und schien seine Gesichtszüge zu studieren. Nach einem Augenblick fuhr er sich mit den Fingern durch den dichten, grauen Bart und sagte: „Du bist keine zwei Tage hier.“ Er holte tief Luft. „Zwei Tage einer zehnjährigen Haftstrafe. Eine Rauferei im Wasserwerk, sieben Gefangene im Lazarett und ein Aufstand ... und alles deinetwegen.“
In Kytheons Ohren klang dies wie eine Reihe von Komplimenten.
„Ach ja“, fügte Hixus hinzu. „Und man sagte mir, du hättest zu fliehen versucht, als man dich gestern hierhergebracht hat.“
„Wollt Ihr mir das verübeln?“
„Gibt es da etwa noch wen anders als dich?“
Kytheon antwortete nicht.
„Aus reiner Neugier“, fuhr der Schlüsselmeister fort. „Wäre deine Flucht gelungen, hättest du nicht Angst gehabt, was geschieht, wenn man dich erneut geschnappt hätte?“
„Das hätte ich schon ausgehalten. Und außerdem scheint Ihr nicht viel Zeit im Fremdenviertel verbracht zu haben, oder? Hätte ich es bis dorthin geschafft, hätten meine Freischärler mich beschützt. Ihr hättet mich nie wieder geschnappt.“
Nun war es an dem Schlüsselmeister, ein Lächeln aufzusetzen. „Ah, die Freischärler. Beschützer des Viertels. Kytheons Freischärler.”
Bild von Mark Winters
„Jepp.“
„Ziemlich treue Anhänger hast du da. Und viele von ihnen verbringen am Ende etwas Zeit hier drinnen. Dein Freund Drasus ist derzeit der örtliche Vertreter der Freischärler hier, nicht wahr? Und nun auch du. Weißt du, es gibt eine Menge Gefangene hier, die schon das eine oder andere Hühnchen mit dir und deinen Freischärlern zu rupfen hätten, und dennoch beharrst du darauf, dir noch mehr Feinde zu machen.“
„Ristos?“ Kytheon konnte sich das Lachen nicht verkneifen. „Meine Mutter nannte Leute wie ihn schwach, denn ihre Stärke rührt nur daher, wie andere sie sehen. ‚Stärke kommt von Taten‘, sagte sie immer. Ristos ist schwach. Das habe ich gleich gesehen. Und nun weiß es auch jeder andere hier.“
Der Schlüsselmeister schmunzelte. „Ich verstehe. In diesem Fall dürfte es dich nicht überraschen, dass er bei seinen Leuten im Lazarett ist.“
„Ich habe ihn nicht angerührt.“
„Dennoch ist es so, wie du sagst. Seine Stärke verflog in dem Augenblick, als seine Männer vor den Augen aller anderen Gefangenen von einem Kind verprügelt wurden und er sich in Sicherheit flüchtete. Als du letzte Nacht weggesperrt warst, gab es einen Aufstand – noch dazu angeführt von Drasus. Sie hatten Ristos satt, und das ließen sie ihn wissen. Nicht jeder hat dein Talent, Angriffe einfach abschütteln zu können.“
„Er hat es nicht anders verdient.“
„Vielleicht. Er ist ein Rohling. So viel ist sicher. Doch manche Dinge besitzen mehr Wert, als ihre oberflächliche Erscheinung verrät. So grausam er auch war, so sorgte er dennoch dafür, dass die Ordnung aufrechterhalten wurde.“ Der Schlüsselmeister warf die Hände in die Luft. „Was fange ich jetzt nur an?“
„Ich kann Euch nicht sagen, wie Ihr Eure Arbeit zu erledigen habt, Schlüsselmeister.“
„Nein, das kannst du nicht. Aber vielleicht kannst du mir helfen. Bist du mein nächster Ristos?“
„Ich bin besser als Ristos.“
„Bist du das? Dann beweise es.“
„Es beweisen? Er liegt im Lazarett, und ich habe kaum einen Kratzer!“
„Und was nun? Wirst du seinen Platz einnehmen? Das macht dich nicht besser als ihn. Das macht dich ihm gleich.“
„Das werden wir nie erfahren. Ich habe nicht vor, lange zu bleiben.“
Mit einer derart flinken Bewegung, dass sie Kytheon verblüffte, nahm Hixus den schweren Ring voller Schlüssel von seinem Gürtel und warf ihn auf den Tisch. Eisen klirrte auf Holz, und noch ehe das Geräusch verklungen war, hielt Hixus einen Dolch in der Hand. Kytheon trat einen Schritt zurück und hob abwehrend die Fäuste, während flirrendes Licht überall aus seinem Körper hervorbrach.
„Fühle dich nicht bedroht“, sagte Hixus. „Immerhin scheint es recht aussichtslos zu sein, dich körperlich verwunden zu wollen.“ Er drehte den Dolch flink in der Hand, sodass er ihn nun an der Klinge hielt, und bot ihn Kytheon an. „Nimm ihn.“
Kytheon zögerte nur einen kurzen Augenblick. Seine Finger schlossen sich um das Heft.
„Ich biete dir deine Freiheit“, sagte der Schlüsselmeister. „Alles, was du tun musst, ist, die Schlüssel zu nehmen und zu fliehen.“
„Ihr lasst mich hier raus? Einfach so?“
„Nein. Du wirst mich töten müssen, um die Schlüssel zu bekommen. Und wenn die Gerüchte über deine Kampfkünste wahr sind, kann ich das kaum verhindern.“
Stolz erfüllte Kytheon. Er hatte das Kämpfen immer gemocht. Er war gut darin.
Kytheon richtete den Dolch einen langen Moment auf den Schlüsselmeister. Keiner der beiden wandte den Blick vom anderen ab.
„Ich werde Euch nicht töten“, sagte Kytheon schließlich. Er ließ den Arm sinken und den Dolch zu Boden fallen.
„Weil du kein Mörder bist. Du bist kein Ristos.“
„Tut mir leid, Euch enttäuschen zu müssen.“
„Ganz im Gegenteil. Diese Wendung ermutigt mich. Auf so etwas hatte ich gehofft. An so etwas hatte ich geglaubt. Du bist hier. Ein Dieb. Eingesperrt, weil er gestohlen hat. Doch das, was du gestohlen hast, war Essen, um deine Freunde und Familie zu ernähren. Du tust das, was du für das Richtige hältst.“
Kytheon starrte auf die Kette hinab, die ihm zwischen den Knöcheln hing. „Was wollt Ihr von mir?“
„Von den meisten meiner Gefangenen erwarte ich Ruhe und Gehorsam. Von dir? Von dir erwarte ich, dass du mein Angebot annimmst. Ich möchte dich ausbilden, Kytheon.“
Obwohl Kytheon seiner Ausbildung nicht zugestimmt hatte, waren seine Beschwerden weitestgehend ungehört verhallt. Am nächsten Morgen wurde er noch vor Sonnenaufgang geweckt und zum bescheidenen Sportplatz des Gefängnisses geschleift. Es handelte sich um einen runden Flecken festgestampfter Erde, der von hohen Mauern umgeben war. Hixus stand in der Mitte des an eine Arena gemahnenden Kreises. Er warf den Schlüsselring in den Staub.
„Ich werde Euch nicht töten“, sagte Kytheon.
„Das hoffe ich doch“, sagte der Schlüsselmeister. „Versuch nur, sie dir zu holen.“ Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem schiefen Grinsen. „Gelingt es dir, dann gehören sie dir.“
Kytheon stürmte vor.
Stunden später stellte Kytheon fest, dass er keinen Schritt weitergekommen war. Jeder Ansturm wurde von Ketten strahlender weißer Energie aufgehalten, die aus dem Boden schossen und sich ihm um die Gliedmaßen schlangen – oder von Schnüren leuchtender Magie, die ihm gerade stark genug gegen die Beine drückten, um ihn fehltreten und im Staub landen zu lassen. Es konnte nicht gelingen. Die Schlüssel waren unendlich weit außerhalb seiner Reichweite, und mit jedem neuerlichen erfolglosen Versuch entfernten sie sich ein weiteres Stückchen von ihm.
Bild von Chris Rallis
Dann sammelte Hixus wortlos den Schlüsselbund auf und verließ den Sportplatz. Kytheon sank niedergeschlagen und trotzig im Staub auf die Knie.
Die folgenden Tage glichen diesem ersten: Hixus bot ihm die Schlüssel an, Kytheon versuchte, sie zu erhaschen und versagte, Hixus ging mit ihnen weg und Kytheon verfluchte das grausame Spiel.
Eines grauen Morgens nach einem verheerenden Sturm hatte Kytheon Mühe, sich aus dem Schlammloch aufzurappeln, in den der Boden des Sportplatzes sich verwandelt hatte. Es fühlte sich wie das hundertste Mal an. Als seine Stärke ihn verließ, sank er zurück in den Matsch.
Mit roten Augen rief er dem Schlüsselmeister zu: „Ich schaffe es nicht!“
„Und warum? Bist du nicht kühn genug?“
Kytheon wandte sich ab.
„Bist du nicht stark genug?“, fuhr Hixus fort. „Oder schnell genug?“
Der Schlüsselmeister stand über Kytheon und schaute auf den Jungen hinab, dessen Augen sich mit Tränen und Verachtung füllten.
„Es liegt nicht an mir! Es liegt an Euch! Ihr lasst mich ja nicht einmal in die Nähe kommen!“, sagte Kytheon.
Hixus kniete sich neben ihn in den Schlamm. „Jetzt verstehst du.“
Es war üblich, Hieromagie als „niedere Magie“ zu bezeichnen, doch laut Hixus war dies eine viel zu krasse Vereinfachung. „Gesetze werden von Menschen gemacht, und Gesetze können sich ändern. Doch sie werden als Antwort auf ein bestimmtes Verhalten erlassen. Jemand stiehlt, und deshalb erdenkt man Gesetze, um weiteren Diebstahl zu verhindern. Dies ist der Ausgangspunkt für die Ausübung der Hieromagie.
Für jede Handlung gibt es eine Antwort, die ihr entgegenwirkt“, fuhr Hixus fort. „Ein Meister der Hieromagie kann sich jeder Lage anpassen und sie zu seinem Vorteil wenden. Der Sieg in jedem Wettstreit gehört demjenigen, der die Lage unter seinen Willen zwingt.“
Ein halbes Dutzend Fluchtversuche später trug Kytheons Ausbildung Früchte. Sie ergänzte seine natürliche Begabung, das Verhalten anderer im Kampf zu lesen, ihre Haltung und ihre Körpersprache zu verstehen und daraus abzuleiten, was sie als Nächstes taten. Hieromagie verschaffte Kytheon eine Möglichkeit, seine Gegner in ihren Vorhaben zu stören und seinen Vorteil weiter auszubauen.
Jeden Morgen wurde der Schüler Kytheon vor dem Morgengrauen geweckt, um Hixus auf dem Sportplatz zu treffen, und jeden Nachmittag wurden ihm die Hände wieder in Eisen gelegt und Kytheon der Sträfling gesellte sich zu den anderen am Wasserfall von Akros. Er zog aus beidem Gewinn. Hieromagie stärkte seinen Geist, und das Drehen der riesigen Winde stählte seinen Körper.
Bild von Chris Rallis
Er gab sich ganz einem immer gleichen Ablauf hin und verließ sich über Jahre darauf, dass das Festhalten an ihm ihn durch den Tag brachte. Bis dieser feste Ablauf eines Morgens unterbrochen wurde.
Ein schriller Schrei. Kytheon riss bei dem durch Mark und Bein gehenden Laut weit die Augen auf. Voller Wachsamkeit fuhr er hoch. Es war später als gewöhnlich. So viel wusste er. Wo waren die Wachen?
Weitere Schreie ertönten und vereinten sich zu einem anschwellenden, entsetzlichen Chor.
Harpyien. Er wusste nicht, woher er das wusste, aber er wusste es. Er war nie einer begegnet, doch Kytheon kannte sie aus Geschichten: geflügelte Schrecken, die sich an Leichen labten und Kinder raubten.
Er sprang auf die Beine und schaute aus dem Fenster. Die Harpyien näherten sich vom Fluss. Ihre unablässigen Schreie wurden von dem tiefen Glockengeläut erwidert, das die Soldaten auf ihre Posten auf den Mauern des Kolophons rief, der mächtigen Festung der Stadt. Das hektische Rumoren bedeutete auch, dass kein Reiter mit einer Warnung eingetroffen war.
Kytheon beobachtete durch den winzigen Schlitz von Fenster, wie die Horde auf die Festung niederstieß wie ein Schwarm Fliegen auf eine von Faulgasen aufgeblähte Leiche. Der Strom der Harpyien schien endlos, und er konnte den Blick nicht von dem Gewirr aus schwarzen Federn, Krallen und Hunger abwenden.
Über den grässlichen Lärm hinweg hörte Kytheon ein Hämmern an seiner Zellentür. Hinter der Klappe an der Tür sah er Hixus‘ Gesicht.
„Die Polis wird angegriffen“, sagte Hixus.
„Harpyien.“
„In nie dagewesener Zahl.“
Der Riegel an der Tür klickte, und die Tür schwang auf. Der Schlüsselmeister füllte den Türrahmen aus. Er hatte seine volle Rüstung angelegt: seinen bronzebeschlagenen Brustpanzer, passende Beinlinge und einen Helm mit metallenem Kamm. In einer Hand hielt er sein blankes Schwert, in der anderen einen groben Sack, den er sich über die Schulter geworfen hatte.
„Willst du dir deine Freiheit verdienen?“, fragte Hixus und warf Kytheon den Sack vor die Füße.
Kytheon hob eine Augenbraue. Er kniete sich hin und griff in den Sack. Als er die Hand wieder herauszog, lag sie um das Heft eines akroischen Schwertes, das noch in seiner Scheide steckte. Der restliche Inhalt vervollständigte die Ausrüstung eines Hopliten: Brustpanzer, Beinlinge und ein runder Schild. Kytheon grinste.
Eine kurze Weile später fand sich Kytheon gerüstet und bewaffnet inmitten der Hälfte der Sträflinge im Wasserwerk des Gefängnisses wieder. Schlüsselmeister Hixus stand auf einem der Steinblöcke und wandte sich an die versammelten Verbrecher.
„Wie ihr wisst, greift allen Kundschaftern voraus ein Schwarm Harpyien die Stadt an. Wir wissen nicht aus welchem Grund, und das ist auch nicht wichtig. Ich habe den Befehl erhalten, meine Zellentüren zu öffnen und jedem die Freiheit zu gewähren, der bei der Verteidigung der Polis hilft. Ihr hier seid die Freiwilligen. Ungeachtet all dessen, was zuvor geschehen ist: Akros ist eure Polis. Was ihr heute hier tut, wird über ihre Zukunft bestimmen und über euren Platz darin. Falls ihr in der Schlacht sterbt, dann sterbt ihr unter Helden. Verdient es euch!“
Kytheon und Hixus spurteten an der Spitze der Miliz aus Gefangenen vom Bogen der Helden aus in Richtung des hellen Sands der Arena. Bei ihrer Ankunft stoben Harpyien von den Leichen der akroischen Wachen auf, von denen sie gefressen hatten, um gleich darauf wieder herumzuwirbeln und das anzugreifen, was sie wohl als frisches Fleisch ansahen.
So viele, dachte Kytheon.
Die geflügelten Kreaturen kreisten als wirbelnde, gierige Masse über der Polis ... und dann stießen sie auf die Sträflinge herab.
Die Gefangenen eilten auseinander und wehrten so viele Angriffe ab, wie es ihnen nur möglich war. Eine Harpyie fuhr auf Kytheon nieder, dem gerade noch die Zeit blieb, seinen Schild hochzureißen, um ihr Gewicht abzufedern. Die Harpyie krallte sich in den Rand des Schildes, doch Kytheon warf sich dagegen und schaffte es, sie darunter einklemmen. Die dunklen Augen ließen sie beinahe menschlich wirken – bis sie die ledrigen Lippen auseinanderzog, um spitze Zähne zu entblößen, die wie gemacht dafür schienen, Menschenfleisch zu zerreißen. Die Harpyie kreischte auf und versuchte, sich zu befreien. Sie verstummte, als Kytheon ihr sein Schwert in den Hals rammte.
Eine weitere Harpyie prallte gegen Kytheons Rücken, bevor er sein Schwert wieder befreit hatte. Krallen gruben sich tief in die Muskeln seines linken Armes. Kytheon biss die Zähne zusammen und verlagerte sein Gewicht nach rechts, um unter der neuerlichen Angreiferin wegzurollen, seinen Schild hochzunehmen und ihn der Harpyie in die Rippen zu rammen und sie so zum Rückzug zu zwingen.
Er bereitete sich auf einen Gegenangriff vor.
Die Harpyie umkreiste Kytheon tief geduckt auf allen vieren. Kytheon folgte ihren Bewegungen. Die Harpyie richtete sich auf, breitete die schwarzgefiederten Flügel aus und kreischte.
Kytheon sprang auf sie zu.
Mit einem Schlag ihrer Flügel schwang sich die Harpyie in die Luft, um dem Angriff auszuweichen, während eine ihrer Artgenossinnen Kytheon nun schwer bedrängte. Harpyie und Akroer stürzten in den Sand der Arena.
Weitere Harpyien stießen auf Kytheon herab wie gierige Geier, die das Fleisch von seinen Knochen zu picken versuchten.
Scharfe Zähne bissen ihm in den Oberarm.
Kytheon schrie vor Schmerz auf, doch der Schrei wurde zu zornigem Gebrüll. Er schlang beide Arme um die Harpyie, die an ihm nagte, und zog sie zu sich heran. Indem er sie wie einen Schild gegen die anderen nutzte, rollte er sich von ihren Schwestern fort. Er schleuderte die Harpyie beiseite und rappelte sich auf. Er hatte sich einen kurzen Augenblick Zeit verschafft.
Ehe die Harpyie wieder auf den Beinen war, beschwor Kytheon eine Reihe leuchtender weißer Ketten aus dem Boden herauf, um das Ungeheuer damit zu fesseln.
Bild von Igor Kieryluk
Weitere Feinde strömten aus allen Richtungen heran. Alles um ihn herum war nur ein Wirbel aus schwarzen Federn, und jedes Geräusch wurde von den schrillen Schreien der Harpyien übertönt.
Ein plötzlicher Stoß weißer Energie entlud sich am Himmel über der Arena und sandte dabei Wellen konzentrischer Ringe aus. Sie fuhren durch den Hauptschwarm der Harpyien hindurch. Der Flug der Vogelfrauen begann unstet zu werden, und sie prallten gegeneinander.
Hixus. Kytheon fand seinen Mentor auf den Stufen der Säule Iroas in der Mitte der Arena. Seine Augen strahlten weiß, während er Magie zum Himmel leitete.
Dort, wo die orientierungslosen Harpyien im Sand landeten, erzeugte Kytheon leuchtende weiße Ketten, um sie zu binden.
„Das wird sie nicht ewig festhalten.“ Hixus‘ Stimme, von der Magie verstärkt, übertönte das Kreischen der Harpyien. „Nehmt Aufstellung um die Säule herum. Mit dem Rücken dazu! Schild an Schild!“
Kytheon sammelte sein Schwert auf und eilte auf Hixus zu, dorthin, wo die überlebenden Gefangenen bereits einen Kreis um die Säule bildeten. Sie errichteten einen Schildwall, aus dem ihre Speere und Schwerter herausstachen. Sie wurden eins, eine Phalanx im Tempel des Triumphes, die sich gegen einen ganzen Schwarm Feinde stellte.
Viele Harpyien fielen, und weitaus mehr traten die Flucht an.
Kytheon hob sein Schwert zum Gruß. „Hopliten der gesprengten Ketten!“, rief er aus, und ein wie aus einer Kehle ausgestoßenes und anschwellendes Brüllen antwortete ihm.
Die Atempause endete so schnell, wie sie begonnen hatte. Ein Ruf ertönte von den Mauern des Kolophons: „Zyklop!“
„Und noch einer!“, antwortete eine zweite Stimme.
„Hier auch!“
Kytheon wandte sich zu Hixus: „Schlüsselmeister, die Mauern!“
Über der Arena formierten sich die Harpyien neu. Einige flogen zu den Mauern, um nach leichterer Beute zu suchen.
„Wenn die Harpyien zu den Wachen gelangen, dann sind die Mauern nicht zu halten“, sagte der Schlüsselmeister. „Und wenn die Anzahl der Zyklopen über eine Handvoll hinausgeht, ist ohnehin alles fruchtlos.“
„Erlaubt mir, die Freischärler zusammenzutrommeln. Wenn Ihr uns die Harpyien vom Hals halten könnt, dann können wir die Zyklopen von den Mauern fernhalten.“
Kytheon spürte Hixus‘ Blick schwer auf sich lasten. Er erwiderte ihn und rechnete selbst inmitten von all dem mit einem neuen Lehrspruch, doch sein Mentor nickte nur.
Einen Augenblick später bahnte sich Kytheon einen Weg auf jener Mauer entlang, die die Polis umringte. Harpyien flogen an ihm vorüber, während sie sich über dem Tempel des Triumphes zusammenzogen. Als er sich umdrehte, um ihrem Flug zu folgen, sah er eine weiße, helle Helix in Richtung Himmel schießen. Ein pulsierendes Leuchten fuhr die verschlungenen, nebeneinander verlaufenden Stränge hinauf, und Kytheon verstand.
Die Harpyien wurden davon angezogen und versammelten sich erneut über dem Tempel des Triumphes. Er wusste nicht, wie lange der Schlüsselmeister und die anderen den Angriffen würden standhalten können, doch wenn sie ihm nicht genug Zeit verschafften, mit den Zyklopen fertigzuwerden, war die Polis verloren.
Er rannte los, vorbei an einzelnen Gruppen von Soldaten, die gegen Zyklopen kämpften. Jeder Schlag gegen die Mauern hallte vom Marmor und Stein in der Polis wider.
Endlich erreichte er das Fremdenviertel, wo die alte Mauer sich nach innen hin wandte und so die ursprünglichen Grenzen der Polis markierte. Die Mauer war zwar inzwischen erweitert worden, um das Fremdenviertel einzuschließen, doch hier war sie weder so hoch noch so beeindruckend. Von dort, wo er stand, konnte er drei der klobigen Zyklopen sehen, die auf die Mauer eindrangen. Ließ man sie gewähren, würden sie sie einreißen.
Von der alten Mauer ließ sich Kytheon auf einen Wehrgang hinunter, den man die Steinspitze nannte und der so in die Mauer gebaut worden war, dass er raschen Zugang zu jedem Punkt des Viertels gewährte. Auf seinem Lauf wurde er von dem vertrauten Gestank des Viertels begrüßt. Unter ihm befanden sich Straßen, die er kannte und liebte, Straßen, die er nicht mehr gesehen hatte, seit die akroischen Wachen ihn fortgezerrt hatten. Vier Jahre war er nicht mehr hier gewesen. Er war nicht hier gewesen, als der Angriff begonnen hatte. Doch nun war er hier. Er war daheim.
Kytheon folge der Steinspitze bis zum befestigten Wachhaus des Viertels, jenem Punkt, an dem Fremde die Polis Akros betraten. Als er sich näherte, sah er einen Mann Menschen dirigieren, die gewaltige Balken trugen, um die Tore zu verstärken. Kytheon lachte laut auf. Er kannte den Mann. Es war ein Freischärler namens Zenon, ein Setesser, der stets darauf bestand, bei allen sich bietenden Gelegenheiten Wetten zu platzieren. Sein Haar war struppig geworden, doch er trug noch immer denselben grünen Umhang, den er aus seiner Polis im Waldland mitgebracht hatte, als er vor vielen Jahren nach Akros gekommen war. Kytheon rief zu seinem Freund hinunter.
„Ich habe es nicht geglaubt, als man mir sagte, dass die Gefangenen freigelassen werden“, sagte Zenon.
„Um wie viel hast du denn gewettet, dass ich noch am Leben bin?“
„Wer sagt denn, dass ich gewettet habe, dass du noch lebst? Und außerdem ist es noch nicht vorbei. Abgerechnet wird zum Schluss.“ Sein Mund verzog sich zu einem Grinsen, das durchaus als grausam zu bezeichnen gewesen wäre, wenn Kytheon ihn nicht so gut gekannt hätte. „Für den Fall, dass es dir entgangen ist: Eine Handvoll Zyklopen will in die Polis. Hilfst du uns?“
Kytheon kletterte auf die Straße hinunter, um beim Tragen eines der Balken zu helfen. Die Mauer hinter ihnen dröhnte und ächzte, als einer der Zyklopen sich mit seinem vollen Gewicht dagegen warf.
„Sie wird einstürzen!“, rief Zenon.
Kytheon wandte sich seinem Freund zu. „Dann müssen wir die Tore öffnen.“
„Was?“ Zenon schenkte ihm einen langen Blick.
„Vertrau mir“, sagte Kytheon und rannte auf das Tor zu. Er verstand Zenons Zögern. Vor ein paar wenigen Jahren noch hätte er den gleichen verdutzten Gesichtsausdruck zur Schau getragen – oder wäre vermutlich ohne einen weiteren Gedanken auf die berstende Mauer zugestürmt. Doch er war nicht derselbe wie noch vor ein paar wenigen Jahren. Ich passe mich an, ich ändere die Lage zu meinem Vorteil und ich trage den Sieg davon.
Voller Zuversicht warf Kytheon sein Gewicht gegen einen der Balken, die das Tor geschlossen hielten.
Die großen hölzernen Flügel ächzten, als ihre Angeln der Kraft jener Winden nachgaben, die sie zum Schließen antrieben. Der Geräusch blieb nicht unbemerkt. Wie Kytheon gehofft hatte, wandten die Zyklopen ihre Aufmerksamkeit der Öffnung in der Mauer zu und stürmten darauf los. Kytheon und eine Handvoll Freischärler marschierten durch das Tor und auf den Damm.
„Versiegeln!“, rief Drasus den Soldaten im Wachhaus zu.
Der erste Zyklop kam den Damm heruntergestürmt, als die Tore sich quietschend zu schließen begannen. Es war ein Geschöpf aus reiner Wut und unstillbarem Hunger, das sein Auge fest auf das Tor hinter den Freischärlern gerichtet hatte. Schaum stand ihm vor dem übergroßen Maul, und beim Rennen schleuderte es Geifer in alle Richtungen. Dieses Maul konnte einen ganzen Menschen lebend verschlingen.
Bild von Raymond Swanland
Die Freischärler gruppierten sich, um dem Ansturm mit aufgestellten Speeren zu begegnen. Kytheon stand an der Spitze der Formation. Als der Zyklop einen seiner gewaltigen Arme hob, um das Hindernis beiseite zu fegen, beschwor Kytheon aus Magie geschmiedete Ketten aus dem Boden hervor und fesselte ihm die Handgelenke.
„Macht euch bereit, Freischärler!“, sagte Kytheon.
Der Zyklop zerrte an den Fesseln, doch weitere folgten. Wutentbrannt machte er einen Satz nach vorn, um sich zu befreien. Kytheon hob den Zauber auf und der Schwung ließ das Ungeheuer auf die Verteidiger zutaumeln. Die Freischärler nutzten die Wucht des unfreiwilligen Ansturms, um den Zyklopen sich selbst an einem halben Dutzend Speere aufspießen zu lassen. Der Zyklop stieß ein Brüllen aus, das zu einem Gurgeln verklang, als sich das Blut in seiner Kehle sammelte, ehe er auf dem Damm zwischen Kytheon und den Freischärlern zusammenbrach.
Bevor Kytheon zu seinen Kameraden zurückkehren konnte, war der zweite Zyklop schon fast an ihn heran. Zenon der Setesser warf Kytheon seinen Speer zu, der diesen gerade noch rechtzeitig auffing, um danach noch aus der Reichweite des Zyklopen springen zu können. Er wirbelte herum, stemmte die Füße in den Boden und trieb dem Zyklopen den Speer von der Seite ins Bein. Die Speerspitze schnitt durch den Muskel, ehe sie auf der anderen Seite wieder austrat.
Der Zyklop versuchte, nach Kytheon zu schlagen. Der Unhold machte einen Schritt, um sich zu ihm umzudrehen. Als der Zyklop den anderen Fuß aufsetzen wollte, stolperte er über den Schaft des Speeres und fiel auf die Knie.
Kytheon zog ihm das Schwert über die Kehle.
Bild von Adam Paquette
Kytheon sah zu, wie die Sonne über den Berggipfeln aufging, die sich über Akros erhoben. Er unterbrach seinen Aufstieg für einen Augenblick, um das Sonnenlicht auf seinem Gesicht zu genießen.
Drasus schloss hastig zu ihm auf. „Was machst du denn?“
Kytheon blickte auf Akros hinunter. „Das Gefängnis ist der letzte Ort in Akros, den die Sonne erreicht. Wusstest du das?“
„Das überrascht mich nicht.“
“Nun, heute sind wir die Ersten“, sagte Kytheon. Er schloss die Augen und ließ die kalte Luft in seine Lungen strömen.
„Wohlverdient, würde ich sagen. Sieh nur.“ Drasus deutete auf den Damm vor dem Haupttor der Polis, wo er mehr als zwanzig Akroer zählte, die an Seilen zerrten, um einen leblosen Zyklopen aus dem Weg zu ziehen. Zwei weitere Zyklopen lagen tot auf dem Damm.
„Wohlverdient“, stimmte Kytheon zu.
Die beiden Freischärler kletterten weiter den Berg hinauf. Sie hielten nach einer neuen Welle von Ungeheuern Ausschau, nach irgendeinem Hinweis darauf, dass der Angriff noch nicht vorüber war.
Weiter oben trennten sich ihre Wege. Drasus wollte den Norden auskundschaften, Kytheon nahm den Süden.
Mehr als eine Stunde lang folgte Kytheon einem steinigen Pfad, der ihn höher den Berg hinaufführte. Er war zwar kein erfahrener Kletterer, doch er verließ sich auf seine Reflexe, um nicht fehlzutreten. Der Pfad führte ihn an den Rand einer tiefen Kluft, die zu einem Fluss abfiel, der sich durch die Berge in Richtung Akros wand. Über der Kluft spannte sich eine Felsenbrücke, die auf unheimliche Weise gleichermaßen natürlich und wie von Menschenhand erschaffen aussah. Kytheons Blick folgte der Länge der Brücke. Die andere Seite war trotz des Schattens, der noch immer die umgebenden Felsen einhüllte, in hellem Tageslicht gebadet.
Kytheon überquerte die Brücke.
Zu seiner Überraschung begrüßte ihn auf der anderen Seite ein Mann. Er war von mächtiger Gestalt und in goldene, fließende Stoffe gehüllt. Dichtes, schwarzes Haar fiel ihm auf die Schultern, und über seinem Kopf schwebte ein Lorbeerkranz aus goldenen Blättern. Der Speer, den er trug, war von glitzerndem Zierwerk aus Gold gekrönt, das eine strahlende Kugel umgab. Hinter dem Mann erhob sich eine riesige Marmorstatue, die derart hell erleuchtet war, dass es Kytheon unmöglich war, ihre Züge auszumachen.
„Kytheon Iora von Akros“, rief der Mann mit einer Stimme, die aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen schien. „Deine Aufgabe ist noch nicht beendet.“
„Das ist wahr, wenn Ihr mir weiter im Weg steht.“ Schon zuckten ihm Streifen aus weißem Licht über die Haut. „Wer seid Ihr?“
Der Mann senkte die Spitze seines Speeres zu Boden und das veränderte Licht brachte die Einzelheiten der Statue zum Vorschein, die Kytheon nun als marmornes Ebenbild des Mannes vor ihm erkannte.
Bild von Raymond Swanland
Alles, was Kytheon sagen konnte, war: „Heliod.“
„Gott der Sonne“, donnerte Heliod.
Nun neigte Kytheon das Haupt.
„Man hat dir aufgetragen, die Polis zu schützen. Die Ungeheuer, die sie angriffen, taten dies nicht aus Bosheit. Sie flohen vor etwas weitaus Schlimmerem. Mein Bruder Erebos, der Gott der Unterwelt, hat einen grausamen Titanen in seine Dienste genommen, der nun das Land jenseits dieser Berge heimsucht. Auf seinen Befehl hin wird er Akros durchqueren.“
„Welcher Befehl? Was wird er tun?“
„Ihm wurde aufgetragen, jene einzufangen, die aus der Unterwelt entkommen sind. Jene, die ihm im Weg stehen, haben keine Bedeutung für Erebos, der stets nur jene Unausweichlichkeit sieht, mit der alle Sterblichen in der Unterwelt enden.“
Der Sonnengott legte Kytheon eine Hand auf die Schulter. „Du hast dich bei dem Angriff auf deine Polis als würdiger Krieger bewiesen, doch nun ist es an der Zeit, dich auch als mein würdiger Auserwählter zu beweisen.“ Er streckte die Hand dem sonnendurchfluteten Himmel entgegen, und um seine Faust herum gerann ein Lichtstrahl. Er wurde länger und nahm die Form eines Speeres an, der dem des Gottes glich.
„Mit diesem Speer sollst du den Titanen vernichten. Dies ist die Aufgabe, mit der ich dich betraue. Dies ist deine Prüfung.“
Kytheon klappte den Mund auf: sowohl wegen des Speeres als auch wegen der Aufgabe, die der Gott ihm da gerade aufgetragen hatte.
Kytheon rannte. Unter seinen Füßen flog die rissige, karge Erde nur so dahin. Seine Brust hob sich schwerer und schwerer und seine Lungen brannten, doch seine Beine trugen ihn unablässig weiter. Wenn es nach Kytheon ginge, würden sie ihn zu jene flachen Hügel ein Stück voraus führen, wo eine vom Wind verwitterte Felsformation stand. Und dort wäre er dann nicht länger allein.
Schwere Schritte, einer für jedes Dutzend seiner eigenen, ließen den Boden hinter ihm erbeben und wirbelten Staubwolken auf. Das Töten eines Titanen war keine leichte Aufgabe, doch Kytheon hatte Erebos‘ Diener zweifellos beeindruckt. Er warf erst einen Blick auf das klebrige schwarze Blut an der Spitze seines sonnenberührten Speeres, ehe er auch einen kurzen Blick über die Schulter wagte. Sein Blickfeld war von der Gestalt des Titanen ausgefüllt.
Bild von Peter Mohrbacher
Der Titan trug einen Schuppenpanzer, der aus Unmengen goldener Masken von Flüchtlingen aus der Unterwelt bestand. Die leeren Augen jeder einzelnen Maske schienen Kytheon anzustarren.
Ein Schatten huschte über ihn hinweg. Kytheon sah, wie der Kopf des riesigen Flegels des Titanen wie ein Meteor auf ihn zuraste. Er rollte sich zur Seite, als er neben ihm im Boden einschlug.
Kytheon erreichte die Felsen und rannte weiter. Als er zwischen zwei der zerfallenen Säulen hindurchlief, zerschmetterte der Flegel des Titanen die zu seiner Linken zu Staub. Sie zersprang in einem wahren Hagel aus Steinsplittern.
Kytheon taumelte zu Boden. Die Rückseite seines Kopfes fühlte sich warm an, und als er sie berührte, war seine Hand danach blutverschmiert. Unvorsichtig, dachte Kytheon. Das hätte ich kommen sehen müssen. Das Rasseln von Ketten verriet Kytheon, dass der Titan zu einem neuerlichen Schlag ausholte. Er musste in Bewegung bleiben.
Der Titan stieß ein tiefes, grollenden Brüllen aus, und der Gestank von Schimmel und Fäulnis drang aus seinem Mund. Erstickt würgte Kytheon die üble Luft hinunter, und obwohl sie ihm im Mund zu kleben schien, reichte dieser Atemzug dennoch aus, um ihm die Kraft zu schenken, dem Versuch des Titanen zu entgehen, den angeblichen Auserwählten Heliods zu Brei zu zerstampfen.
Der Titan holte zu einem Rückhandschlag aus. Kytheon hatte nichts anderes erwartet. Er fing den Hieb ab, unversehrt und unbeeindruckt. Seine Schutzmagie hatte den Aufprall gemildert. Er griff nach einem der riesigen Finger des Titanen, stellte sich breitbeinig hin und klammerte sich fest. Er brauchte nicht mehr als einen Augenblick.
„Jetzt!“, rief Kytheon.
Einen Wimpernschlag später kam Drasus hinter einer der anderen Felssäulen hervorgestürmt. „Freischärler!“, rief er. „Erledigt ihn!“
Drei Freischärler tauchten aus ihren Verstecken auf, um sich Drasus anzuschließen. Sie hatten Seile, an denen grobe Greifhaken befestigt waren. Nur noch so ein Raufbold aus dem Viertel, dachte Kytheon und lächelte inmitten des Chaos.
Olexo, der Jüngste von ihnen, warf sein Seil über den Unterarm des Titanen, und der Haken grub sich in bleiches Fleisch. Die anderen folgten seinem Beispiel, und als sich der Titan aus Kytheons Griff befreite, zogen die Freischärler an ihren Seilen. Der Titan verlor das Gleichgewicht. Wütend ließ er den Flegel über seinem Kopf kreisen, ganz offensichtlich begierig darauf, sich der lästigen Angreifer zu entledigen.
Bild von Karl Kopinski
Für jede Handlung gibt es eine Antwort, die ihr entgegenwirkt. Kytheons gesamtes Denken war von diesem Lehrspruch erfüllt. Jede Handlung hat einen Umschlagpunkt, der mittels Magie nutzbar gemacht werden kann, um einen Kampf dem eigenen Willen zu unterwerfen, solange man diesen Punkt nur erkennt. Er sah seine Gelegenheit.
Als der Flegel aus schwarzem Eisen um den Kopf des Titanen kreiste, nutzte Kytheon seine Hieromagie, um einen Keil aus ätherischer Energie zu formen, der den Titanen an der Innenseite des Ellenbogens traf, sodass sein Arm sich beugte. Der Schwung des Flegels wirbelte ihn hoch über die Schulter des Titanen und ließ ihn auf seinen Rücken niederfahren. Der Titan fiel auf die Knie und hob den Kopf, um vor Schmerz und Wut aufzuschreien.
Mehr brauchte Kytheon nicht. Er sprang halb auf eine der Säulen, wirbelte herum und warf sich, den Speer in der Hand, auf den Titanen. Die Spitze des Speeres fing einen Sonnenstrahl ein und blendete den Titanen während des Sprungs. Tief trieb Kytheon ihm den Speer in die Brust und teilte die Masken der Wiedergekehrten. Dunkles Blut sprudelte um den Speer herum, und der Titan nahm einen letzten, flatternden Atemzug, ehe er im Staub zusammenbrach.
Kytheon rollte von dem gefallenen Ungeheuer herunter. Die Prüfung ist geschafft, dachte er. Heliods Aufgabe ist vollbracht. Akros ist sicher.
Er sammelte seinen Speer ein und wandte sich zu den Freischärlern um. Da waren sie also, ein Haufen Kinder aus dem Fremdenviertel. Zusammen hatten sie den Würgegriff der Verbrecherfürsten um ihr Viertel gesprengt, Akros vor einer Horde gefräßiger Monster verteidigt und auf Geheiß eines Gottes einen Titanen eines anderen Gottes zur Strecke gebracht. Sie waren seine Kameraden, seine Familie und der Grund, weshalb er die Prüfung des Sonnengottes überhaupt angenommen hatte. Allein war er schon stark und kühn. Doch gemeinsam mit seinen Freischärlern, was waren da schon selbst die Zänkereien der Götter?
Aus dem Augenwinkel heraus sah Kytheon eine Bewegung am Horizont. Als er hinsah, erblickte er zwei Rauchwölkchen, die zum Himmel stiegen. Ihr Ursprung war ein dunkles Augenpaar. Erebos, Gott der Toten, ragte über der Landschaft auf, ein Zeuge der Niederlage seines Dieners. Träger, schwarzer Rauch quoll aus den dunklen Augen im ausdruckslosen Gesicht des Gottes.
Kytheon hob den Speer. Er war der Auserwählte Heliods, des Gottes der Sonne. Wenn Erebos die Ursache all dieses Übels war, dann würde er dafür bezahlen müssen. Kytheon schleuderte den Speer. Er spürte seine Macht, als er ihn losließ, und der Speer flog durch die Luft auf den Gott der Toten zu.
Ungerührt zuckte Erebos leicht mit einem dürren Handgelenk. Am Horizont entrollte sich seine Peitsche, die umgehend ein Eigenleben zu entwickeln schien. Als sie den Speer des Auserwählten auf seinem Flug traf, zuckte Erebos‘ Handgelenk ein zweites Mal. Die Peitsche knallte und schleuderte den Speer blitzschnell zu Kytheon zurück.
Dieser stellte sich trotzig dem Gegenangriff entgegen, und seine Freischärler nahmen Aufstellung an seiner Seite. Lichtstreifen erwachten flackernd auf seiner Haut zum Leben, und er beschwor so viel Magie und Kraft herauf, wie er nur konnte, während er dabei zusah, wie die Spitze der Waffe immer näherkam.
Als der Speer gegen ihn prallte, zerbarst er in einem Blitz aus grellem Licht, das über Kytheon hinwegbrandete und alles weiß werden ließ.
Das Licht strahlte noch ein wenig nach und als es dann schließlich verlosch, brauchten Kytheons Augen einen Moment, um sich den neuen Gegebenheiten anzupassen. Seine Ohren dröhnten, und er konnte kaum klar sehen.
Langsam schlich sich die Farbe in seine Umgebung zurück. Er blickte nach unten, um sich anzusehen, wo der Speer eingeschlagen war. Keine Verletzung, doch er bemerkte rote Flecken. Er bewegte eine Hand, um sie fortzuwischen, und sah, dass sein Handrücken ebenfalls rot gesprenkelt war – an beiden Händen sogar. Doch wenn das nicht sein Blut war ...
Bild von Winona Nelson
Nein.
Er wirbelte herum.
Seine Augen blickten auf vier leblose Körper.
Nein.
Der Boden schwankte, und Kytheon hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Er stolperte mit offenem Mund zwischen seinen Freischärlern umher. Seine Gedanken kreisten um den Speer, geworfen von seiner eigenen Hand.
Mit geballten Fäusten begann Kytheon zu erbeben. Seine Magie erwachte erneut zum Leben, und Lichtstreifen bewegten sich schneller und schneller über seinen ganzen Körper. Seine Haut sandte Bögen aus Licht aus, die immer greller von ihm aufstiegen. Der Himmel über ihm drehte sich.
Als weißes Licht sich immer schneller von ihm löste, begann die Landschaft um ihn herum sich zu verändern, zu dehnen und zu strecken.
Weite Ebenen stiegen daraus auf,
und der in Zwielicht getauchte Himmel wurde zu einem strahlenden Blau.
Nichts ergab mehr Sinn. Es fühlte sich an, als würde die gesamte Welt enden.
Mit roten Augen und verzerrtem Gesicht richtete Kytheon den Blick himmelwärts, wo eine helle Sonne schien. Er schloss die Lider und kniete dort, unfähig, diesen Ort zu verlassen.
Zeit verstrich. Kytheon konnte nicht sagen, wie viel. Ein beständiger, dumpfer Schmerz lähmte sein Innerstes.
Die Härchen in seinem Nacken richteten sich auf. Ich werde beobachtet, dachte er. Erebos? Heliod? Schön. Sollen sie nur.
Dann spürte er einen warmen Lufthauch, der von einem tiefen, grollenden Knurren begleitet wurde. Er riss die Augen auf, und eine riesige Schattengestalt, schwarz vor der Sonne, füllte sein Blickfeld aus.
Ein Gesicht.
Seine Augen gewöhnten sich an das Licht.
Ein Löwengesicht.
Kytheon taumelte angesichts der Erkenntnis zurück und nahm abwehrend die Arme hoch. Der Löwe machte keine Bewegung, und nach ein paar Augenblicken ließ Kytheon die Arme sinken. Er sah, dass der Löwe wie ein Schlachtross zurechtgemacht war, und oben auf seinem Sattel saß eine Reiterin, die eine Rüstung trug, wie Kytheon sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sie bedeckte die Reiterin von Kopf bis Fuß und dort, wo die Sonne darauf schien, funkelte sie.
Bild von Anastasia Ovchinnikova
Obwohl seine Kehle trocken war, gelang es Kytheon, ein paar Worte hervorzustoßen. „Wo bin ich? Wer seid Ihr?“
„Ich bin Moukir, Anführerin der Ritter des Pilgerwegs. Du bist im Lande Valeron auf Bant. Du bist verletzt.“ Als die Reiterin sprach, bemerkte Kytheon, dass sie nicht allein war. Eine Handvoll anderer Reiter hatte hinter ihrer Anführerin Position bezogen. „Wie ist dein Name, Wanderer?“
„Kytheon“, brachte Kytheon mühsam hervor.
„Gideon?“, versuchte Moukir, den Namen zu wiederholen.
Ehe er sie berichtigen konnte, wurde er von einer Ruhe übermannt, die plötzlich in sein Innerstes strömte. Seine Augen richteten sich zum Himmel.
Hinter den Reitern sah er eine Frau vom Himmel herabsteigen, die von zwei weißen Schwingen getragen wurde. Sie hatte etwas Edles an sich, etwas, was beruhigend und aufrüttelnd zugleich wirkte. Sie schwebte nun vor ihm, ein Engel, der eine Plattenrüstung ähnlich der der Reiter trug.
In diesem Augenblick wusste Kytheon, dass er seine Heimat Theros verlassen hatte. Seine Freischärler waren tot: Diesen Schmerz hatte er aus seiner alten Welt mitgenommen. Seine Prüfung hatte gerade erst begonnen.
Bild von Willian Murai