Vryn

Jace hielt am Fuß des letzten Treppenaufgangs an.

Seine Familie lebte fast ganz oben in jenem Magierring, den die Einwohner Silmots Kreuzweg nannten, in jener Ansammlung von Wohnungen, wo die ärmsten Managräber des Rings sich angesiedelt hatten. Er und seine Familie mussten bei jeder Heimkehr entweder dafür bezahlen, die wackeligen Aufzüge benutzen zu dürfen, oder sich die dreiundzwanzig Treppenaufgänge hinaufschleppen. Das Geld war knapp, und so nahm Jace die Treppe.

Zweiundzwanzig Treppenabsätze lagen schon hinter ihm. Noch einer.

Bild von Chase Stone

Nun da er sein Ziel beinahe erreicht hatte, zögerte er. Er würde wahrscheinlich sofort in Schwierigkeiten stecken, sobald er die Tür öffnete, obwohl er noch immer nicht fand, dass er irgendetwas falsch gemacht hatte.

Schwachsinniger Trottel.

Ein Berg von einem Mann drückte sich von hinten an ihm vorbei.

Jace kam nicht umhin, ihm zuzustimmen.

Ich sag‘s euch, dieser Belerenjunge

Endlich hatte Jace die Treppe hinter sich gebracht. Er holte tief Luft und betrat die Wohnung.

Zu Hause.

Wie nicht anders zu erwarten, war sein Vater da. Er saß mit finsterer Miene am Küchentisch. Gav Beleren, zerlumpt und mit lichtem Haar, bedachte Jace mit wenig mehr als Verdrossenheit.

Ich wünschte, er wäre normal.

Die Gedanken seines Vaters gingen einen gewohnten Gang.

„Ich habe einen Brief von der Schule bekommen.“

Jace war nicht überrascht, dass die Nachricht bereits vor ihm daheim eingetroffen war. Illusionen mussten keine Treppen steigen, und er hatte sich nicht gerade beeilt. Sein Vater bedeutete ihm, sich hinzusetzen.

„Verrate mir doch mal, was passiert ist.“

Jace setzte sich. Er zuckte die Schultern und starrte auf die Tischplatte.

„Du willst doch nicht von der Schule fliegen, oder? Bildung ist deine Fahrkarte von hier weg in ein besseres Leben.“

Ein besseres Leben als meines. Immer lief es darauf hinaus.

„Ich weiß“, sagte Jace.

Du benimmst dich aber nicht so.

„Ich muss nur wissen, ob du das wirklich gemacht hast. Ich will es von dir hören.“

Jace starrte weiter auf den Tisch.

Er hatte eine Prüfung in Manadynamik abgelegt, die voller Fragen gewesen war, von denen er die Antworten nicht einmal ansatzweise gekannt hatte. Er hatte zwar gedacht, er hätte genug gebüffelt. Er hatte gedacht, er wäre gut vorbereitet, doch als er auf den Prüfungsbogen gestarrt hatte, war sein Kopf völlig leer gewesen. Und dann ... flogen ihm die Antworten nur so zu. Er kannte die Formeln. Er zeigte seinen Fleiß. Seine Antworten waren perfekt, und er wusste es.

Die Sache war nur: Er hatte richtig gelegen. Er war durchaus auf die Prüfung vorbereitet gewesen, doch die Fragen waren allesamt Fangfragen. Er hätte die Antworten gar nicht kennen dürfen. Er hätte sich nur an ihnen versuchen sollen, um so unter Beweis zu stellen, was er wusste, doch er wusste zu viel.

„Keine Ahnung“, sagte er.

„Du hast keine Ahnung? Was zum Henker soll das bedeuten? Hast du geschummelt oder nicht?“

„Nein“, sagte Jace. „Ich habe die Antworten einfach nur ... gewusst.“

„Sie behaupten, du hast eine Manadruckgleichung mit sechs Variablen im Kopf gelöst. Wenn das stimmt, dann solltest du eine Gruppe Regulatoren beaufsichtigen, anstatt im Unterricht zu sitzen.“

Jace zuckte erneut die Schultern. „Vielleicht sollte ich das.“

Das ging zu weit. Sein Vater schlug mit der Faust auf den Tisch.

„Geh in dein Zimmer. Wir sprechen darüber, wenn deine Mutter nach Hause kommt.“

Jace stand auf und wandte sich zur Tür.

„Was glaubst du, wo du hingehst?“

Warum ist es nie leicht mit dir?

„Raus“, sagte Jace. Und er rannte los, bevor sein Vater ihn aufhalten konnte.

Diesmal rannte er die Stufen hinauf, um die Biegung des Rings herum, bis ganz nach oben zu seinem Scheitelpunkt. Selbst nach der Überwachungsstation bahnte er sich noch seinen Weg durch die Menge weiter nach oben. Ihre Gedanken, mürrisch und laut, vermischten sich mit seinen eigenen. Er kletterte eine Leiter zu einer Luke hinauf – eine, von der die Zivilisten im Ring eigentlich nichts wissen sollten – und trat aufs Dach des riesigen Gebäudes, das er sein Zuhause nannte.

Bild von Jaime Jones

Er stand Hunderte von Fuß über der Talsohle auf den eckigen, rostigen Platten, die die äußere Hülle des Rings bildeten. Der Wind zerrte an seinem Mantel, und er schlang sich den Schal um den Kopf. Hier, weit weg von den bewohnten Teilen des Rings, konnte er ungestört nachdenken. Die Gedanken anderer Menschen waren wie ferne Echos. Er hörte nur noch das Pfeifen des Windes.

Über ihm ragte der Führungsring auf, mehr als vierzig Fuß im Durchmesser, doch winzig im Vergleich zum eigentlichen Magierring selbst. Vorsichtig lief er die gebogenen Metallplatten der Außenverkleidung entlang und ließ sich in der Nähe der Kante auf der dem Wind zugewandten Seite nieder. Schwindel übermannte ihn, und er genoss ihn. Das war wenigstens eine Empfindung, von der er sicher sein konnte, dass sie seine war. Es kam gelegentlich vor, dass Menschen abstürzten, und für gewöhnlich fing sie dann jemand auf. Für gewöhnlich.

Die Reihe der Magierringe erstreckte sich entlang einer sanften Kurve in die Ferne. Drei Ringe tiefer trafen sie aufeinander und verschmolzen zu einem einzigen Kanal: Silmots Kreuzweg. Der Name hatte auch auf die Ringe in seiner unmittelbaren Nähe abgefärbt. Jenseits des Kreuzwegs setzte sich diese leichte Biegung fort, durchschnitt das silbrige Band des Spatzenflusses und folgte danach vollkommen anderen Strömen.

Irgendwo hinter ihm befanden sich die gewaltigen Manasammelstationen, die Energie in das Ringnetzwerk leiteten. Und da draußen, vor ihm, hinter dem Horizont, waren die Kernstaaten, die in der Mitte des Ringnetzes lagen und die gesamte Energie eines ganzen Kontinents sammelten und der Magierelite zur Verfügung stellten – es sei denn, die Separatisten hatten den Zufluss mal wieder unter ihre Kontrolle gebracht. Die Ringleute schuldeten theoretisch der Ampryn-Liga die Treue, doch man wusste nie, wer gerade an den Empfängern arbeitete, und es kümmerte auch niemanden. Solange das Mana floss, würde niemand sie behelligen.

Der Führungsring über ihm begann, vor feinen Energiespitzen zu knistern – zunächst nur abgehackt, dann jedoch immer durchgängiger. Jace hatte Glück. Er lächelte und griff in seinen Rucksack, in dem er ein paar Fleischküchlein versteckt hatte, da er schon damit gerechnet hatte, dass man ihn ohne Abendessen ins Bett schicken wollen würde. Nun hatte er sein Abendessen und noch eine schöne Vorstellung dazu.

Über das Tosen des Windes war der leise Klang von Glockengeläut von tief unter ihm zu hören. Gleich sollte es losgehen. Er nahm einen Bissen von seinem lauwarmen Fleischküchlein. Nicht übel.

Während er kaute, reagierte der Führungsring, der kleiner und empfindlicher als der Primärring war, auf einen eintreffenden Manaimpuls. Alle Ringleute der zweiten Schicht machten sich tief unter ihm eilig an die Arbeit. In der Überwachungsstation maßen die Aufseher die Stärke des eintreffenden Impulses und schickten Ringmagier zu bestimmten Punkten um den gesamten Ring herum, um den Manafluss zu stabilisieren.

    

Bild von Jung Park

Zweifellos würden die Koordinatoren in der Überwachungsstation fieberhaft über den Manadruckgleichungen brüten. Ihr Ring hatte zwölf Manakontrollknoten, jeder war von einem halben Dutzend Ringmagier besetzt, und jeder Manaimpuls hatte seinen eigenen Druck, seinen eigenen Drall und seine eigene interne Dynamik. Selbst mit Hilfstabellen waren die Berechnungen ungleich komplizierter als die in seiner Prüfung, doch die Aufseher beherrschten sie.

Jace nahm einen weiteren Bissen von seinem Küchlein. Was, wenn jemand ihn bitten würde, sie zu lösen? Würde er dann feststellen, dass er das auch irgendwie konnte? Er kaute nachdenklich. Vielleicht. Wahrscheinlich. Es hatte ganz den Anschein.

Mit einem Blitz füllte sich die Luft unter ihm mit leuchtender, weißblauer Energie. Der Manastrom schoss durch das Zentrum des Rings und fluktuierte, als die Ringmagier Magie in die Manaknoten leiteten, um einen gleichbleibenden Druck zu erzeugen.

Es war ein herrlicher Anblick. Ein Meisterstück.

Der Ring ächzte und knarzte, als der Strom in seiner Bahn gefestigt wurde und die rohe Kraft des Manas an der physischen Struktur des Rings andockte.

Da ist die Missgeburt.

Der ätzende Gedanke war Jaces einzige Warnung.

Er sprang auf die Füße und wirbelte herum, doch es war zu spät. Drei seiner Klassenkameraden standen zwischen ihm und der Zugangsluke.

    

Bild von Kieran Yanner

„He, Beleren“, sagte der größte von ihnen, dessen donnernde Stimme den Wind übertönte. Sein Name war Tuck. Mit seinen vierzehn Jahren war er ein Jahr älter als Jace, einen Kopf größer und breit wie ein Ladedock gebaut.

Die anderen beiden waren Caden, ein kratergesichtiges Kind, neben dem Tuck wie ein Genie wirkte, und Jillet, eine zornige junge Frau, die Tuck und Caden mehr an der Kandare hatte, als einer der beiden es je zugeben würde. Einmal, als sie noch in der Grundschule gewesen waren, hatte sie Jace eine Treppe hinuntergestoßen.

„Ich wollte gerade gehen“, sagte Jace und versuchte, zwischen Tuck und Jill durchzuschlüpfen.

Jill schubste ihn zurück.

„Sei nicht so unhöflich“, sagte Tuck. „Wir wollen doch nur mit dir die Aussicht genießen.“

„Ich muss nach Hause“, sagte Jace. Er wollte um die drei herumgehen, doch Tuck streckte einen fleischigen Arm aus und hielt ihn an der Schulter fest.

„Plaudern wir doch ein bisschen“, sagte Tuck. „Der Lehrer glaubt, du hättest geschummelt, aber das hast du nicht, oder?“

Jace versuchte, sich aus Tucks Griff herauszuwinden, doch er wagte es nicht, Hand an den größeren Jungen zu legen.

„Du bist viel schlimmer als ein Schummler“, sagte Tuck. „Du bist eine Missgeburt.“

Die Knochen in Jaces Schulter knirschten unter Tucks Hand.

„Eine hochnäsige, besserwisserische Missgeburt.“

Tuck drückte weiter zu. Jace starrte zu Boden, unfähig, sich noch weiter zu bewegen.

„Na schön“, sagte Jace. „Wenn ihr meint.“

„Sag es“, verlangte Tuck. Er grinste.

„Ich bin eine Missgeburt.“

Tuck zog ihn dichter zu sich heran.

„Es tut mir leid“, sagte er. „Ich hab dich nicht ganz verstanden. Caden, hast du ihn verstanden?“

„Keinen Mucks“, sagte Caden.

„Ich bin eine Missgeburt“, sagte Jace, diesmal lauter.

„Seht ihr, Jungs“, sagte Jill. „Ich hab‘s euch doch gesagt: Die Missgeburt weiß, dass sie eine Missgeburt ist.“

„Also“, sagte Tuck. „Was machen wir mit einer Missgeburt?“

Er boxte Jace in den Magen. Kräftig. Jace sank auf alle viere ... und blickte in die verwinkelten und verworrenen Gänge in Tucks Kopf.

„Du musst sehr viel Angst gehabt haben“, sagte Jace zu den rostigen Metallplatten.

„Was hast du gesagt?“ Tuck zerrte Jace auf die Füße.

„Ich sagte, du musst sehr viel Angst gehabt haben.“

Tuck hörte auf zu grinsen. „Was?“

„Wenn du darauf gewartet hast, dass er nach Hause kommt.“

„Wer?“, fragte Jill.

„Und zu wissen, dass er betrunken war“, sagte Jace. „Zu wissen, dass er dich wieder schlagen würde.“

„Halt den Mund“, blaffte Tuck. Er griff nach Jaces Kehle.

„Du hast so getan, als würdest du schlafen“, keuchte Jace. „Du hattest dein kleines Messer, das du in deinem Bett versteckt hattest. Und jedes Mal ...“

„Halt den Mund!“, brüllte Tuck. Er drückte zu.

„Jedes Mal ... h-hast du dir geschworen, dass du ... dich wehren würdest.“ Jaces Blick begann zu verschwimmen. Durch Tucks Augen sah er schon ganz verzerrt aus.

„Tuck?“, fragte Caden.

„Aber das hast du nie“, flüsterte Jace.

Halt den Mund! Tuck schubste Jace, sodass dieser über die glatte, kalte Beschichtung auf dem Dach des Magierrings schlidderte – genau auf die Kante zu.

Jaces Hände scharten über das Metall, als er versuchte, seine Beschleunigung zu verringern, doch es gab nichts, woran er sich hätte festhalten können. Jace wurde über den Rand geschleudert, griff mit einer Hand nach der Kante, und dann hing er da. Seine Füße baumelten in der Luft, und seine Finger wurden sofort taub.

Der Wind pfiff.

Unter ihm summte der Manastrom. Er wusste nicht, was passieren würde, wenn er in ihn hineinfiel. Das Manapotenzial Hunderter von Hektar an Fläche, gesammelt und zu einem einzigen Strom gebündelt ... Wahrscheinlich würde er vaporisiert werden.

Seine Finger zitterten.

Er schaffte es, seine zweite Hand an die Kante zu bekommen, doch das Dach hatte hier einen Überhang. Er konnte sich nirgends mit den Füßen abstoßen. Er würde Hilfe brauchen.

Tucks Gesicht ragte über ihm auf, eine Maske aus Schmerz und Wut.

„Niemand weiß davon“, zischte er. „Niemand. Nicht seit der Bastard gestorben ist.“

„Tuck, er wird abstürzen“, sagte Caden.

Krämpfe schossen Jaces Arm hinauf und hinunter. Sein Griff wurde schwächer.

„Willst du, dass er in deinem Kopf herumwühlt? Dass er Jilly hier die Dinge petzt, die du über sie sagst, wenn sie nicht dabei ist?“

„Wie bitte?“, machte Jill.

„Halt den Mund, Tuck!”, sagte Caden.

„Jetzt weißt du, wie es mir geht.“ Tuck blickte auf Jace herunter. Sein Blick war irr. „Nie wieder, Beleren.“

Er hob einen Stiefel.

Helft mir.

Jaces Perspektive veränderte sich schlagartig. Er blickte auf sich selbst hinab und auf Tuck – aus Cadens Augen.

Cadens Hand bewegte sich. Jace bewegte sie. Er wusste nicht, warum oder wie oder was Caden in diesem Moment sah. Es war ihm auch egal.

Bild von Kieran Yanner

Da Caden nun unter seiner Kontrolle war, griff Jace nach Tucks Schulter, zerrte ihn von der Kante weg und reichte sich selbst steif eine helfende Hand.

Wie klein er aussah, wie er da verzweifelt über dem knisternden Manastrom hing. Wie verletzlich er aussah. Er hasste es.

Zurück in seinem eigenen Kopf packte er Cadens Hand und zog sich in die Höhe.

Er stand da, zitternd, das feste Dach unter den Füßen. Er konnte nur halb glauben, dass er noch am Leben war. Er blickte seine drei Schulkameraden an.

Caden schwankte, und seine Augen knisterten voll blauer Energie. Tuck war rotgesichtig und rasend. Jills Augen waren geweitet.

Das Leuchten in Caldens Augen verblasste. Sie rollten nach hinten, und mit einem dumpfen Schlag landete er auf dem Metalldach.

Jace rannte an Jills und Tucks erschreckten Gesichtern vorbei, vorbei an der Leere von Cadens Geist, die Treppe hinunter und fort – egal wohin, nur fort von hier.


Jace hatte eine Entscheidung getroffen.

Seine gesamten Habseligkeiten befanden sich in dem kleinen Rucksack, der neben ihm auf dem Bett stand. Viel war nicht darin: ein paar Sachen zum Wechseln, ein Tagebuch und etwas Dörrfleisch. Nun wartete er nur noch auf den Einbruch der Nacht.

Es klopfte an seiner Tür.

Anderthalb Tage waren verstrichen, und er hatte sein Zimmer nur verlassen, um das Allernötigste zu erledigen. Seine Mutter hatte gelegentlich Essen vor seine Tür gestellt, doch bislang war sie so anständig gewesen, nicht zu versuchen, mit ihm zu reden. Sein Vater hatte es anfangs versucht, doch Jace hatte den Zermürbungskrieg gegen ihn gewonnen.

„Geh weg“, sagte Jace. „Ich habe gesagt, ich will nicht darüber reden.“

In seinem Zimmer schaffte er es fast, den Rest der Welt zu vergessen. Er streifte zwar die Gedanken anderer Menschen – die seiner Eltern, die der Nachbarn, die der gelegentlich vorbeikommenden Windmagier –, doch aus dieser Ferne konnte er nur Eindrücke erhaschen, keine voll ausformulierten Überlegungen.

„Jace“, sagte seine Mutter durch die Tür. „Ich mache mir Sorgen um dich.“

Sie war nahe. Nahe genug, dass er ihre Gedanken lesen konnte, wenn er wollte. Er tat es nicht. Er wollte nie wieder in jemandes Geist blicken. Er wollte ihre dunkelsten Geheimnisse nicht ans Tageslicht zerren, sie nicht kontrollieren oder beeinflussen, und vor allem wollte er nicht sich selbst durch ihre Augen sehen: klein, gehemmt, verletzlich.

„Na gut“, sagte er. „Komm rein.“

Sie öffnete die Tür einen Spaltbreit und lächelte ihn an. Ohne ihre Gedanken hören zu können, wusste er nicht, ob das Lächeln echt oder aufgesetzt war. Er wusste überhaupt nichts.

Sie setzte sich neben ihn aufs Bett und warf wortlos einen Blick auf seinen gepackten Rucksack. Ranna Beleren war Heilerin und auf Bereitschaft für Notfälle. Sie hatte die sanfte Geduld von jemandem, der zwar schon viel Schlimmeres erlebt hatte, aber zugleich vollkommen verstand, dass jeder Schmerz echt war.

„Was haben sie dir erzählt?“, fragte er.

„Ich würde es viel lieber von dir hören.“

„Tuck hat versucht, mich umzubringen“, sagte Jace. „Haben sie das erwähnt?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Sie sind wieder auf mich losgegangen“, sagte er. „Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Und da habe ich ... Ach, ich weiß es nicht. Ich habe einfach nur ... ein Geheimnis von Tuck herausgefunden und angefangen zu reden.“

„Er sagt, du hättest seine Gedanken gelesen.“

Jace zog die Knie ans Kinn. „Ich weiß nicht, wie ich es mache“, sagte er. „Ich kann ... hören ... was Leute denken. Manchmal weiß ich nicht mal, ob es ihre oder meine Gedanken sind.“

„Du bist ein Telepath?“, fragte seine Mutter. Sie setzte sich kerzengerade auf.

Jace konnte sehen, wie es in ihr arbeitete. Er wollte wissen, was sie dachte, doch er hielt sich zurück. Er konnte warten.

„Du bist ein Telepath.“ Dieses Mal war es eine Aussage statt einer Frage. „Mein Sohn, der kluge Schüler. Der Junge, der immer ganz genau wusste, wann seine Mutter eine Umarmung und seine Liebe brauchte. Mein Sohn ist ein Telepath.“ Sie lächelte.

„Du glaubst nicht, dass ich eine Missgeburt bin?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich finde dich perfekt, und ich liebe dich, ganz egal, was auch passiert.“

Jace wusste, dass das stimmte, doch er konnte nicht sagen, ob er diese Gewissheit nun über seine Fähigkeiten erlangte oder nicht.

„Wie geht es Caden?“, fragte Jace. „Hast du etwas gehört?“

Die Lippen seiner Mutter wurden schmal. „Er ist noch immer nicht wieder zu sich gekommen“, sagte sie. „Die Heiler sind nicht sicher, was sie tun sollen.“

„Ich wollte ihn nicht verletzten“, sagte Jace.

„Ich weiß.“


Jace ging ins Wohnzimmer hinaus und rieb sich die Augen. Sein Frühstück stand auf dem Tisch. Kalt.

Nach der Unterhaltung mit seiner Mutter hatte er beschlossen, noch ein bisschen zu bleiben, um zu sehen, ob sich die Dinge vielleicht zum Besseren wandten. Gelegentlich kam er aus seinem Zimmer und nahm in schweigender Anspannung die Mahlzeiten mit seinen Eltern ein. Doch er und sein Vater sprachen ohnehin kaum miteinander, und er wagte es nicht, die Wohnung zu verlassen. Drei Tage war es nun her.

Er schlang drei fettige Würstchen und einen halben Teller kaltes Ei hinunter, bevor er bemerkte, dass seine Eltern im Zimmer standen und auf ihn warteten. Sein Vater strahlte Ungeduld aus, seine Mutter Sorge.

Jace strich sich das Haar glatt und drehte sich um. „Was ist los?“

Jaces Vater öffnete den Mund, doch seine Mutter kam ihm zuvor. „Hier ist jemand, der dich sehen will“, sagte sie. „Jemand, der dir helfen kann.“

Jace blickte sich um.

„Draußen auf dem Aussichtsdeck“, sagte sein Vater. „Er passt hier nicht hinein.“

Jace widerstand dem Drang, in den Geist seines Vaters zu blicken und herauszufinden, welche Art Helfer sie wohl gefunden hatten, der angeblich nicht in ihre Wohnung passte. Er schnappte noch immer unabsichtlich Gedankenfragmente seiner Eltern und die schemenhaften Eindrücke zufälliger Passanten auf. Doch seit dem Unfall hatte er nichts mehr mit Absicht getan. Im Grunde versuchte er sogar, überhaupt nichts mehr zu tun.

„Wer ist es?“

„Er ist ein Schlichter“, sagte sein Vater. „Seine Aufgabe ist es, ein Ende des Krieges auszuhandeln. Aber er ist auch ein ... ein Magier wie, ähm, wie du. Er weiß, wie man ...“

„Er weiß, wie er dir helfen kann, deine Fähigkeiten zu beherrschen“, sagte seine Mutter.

Die anderen Kinder waren in der Schule. So konnten sie ihn wenigstens nicht anstarren, als er sich mit seinen Eltern auf den Weg zum Aussichtsdeck machte. Doch wahrscheinlich hatte inzwischen jeder in Silmots Kreuzweg gehört, was passiert war. Als sie hinaufstiegen, starrten ihn Leute an oder huschten davon oder tuschelten hinter vorgehaltener Hand.

Als würde mich das aufhalten.

Sie hassten ihn nicht. Sie fürchteten sich vor ihm. Und das sollten sie auch besser, oder etwa nicht? Er hatte in Tucks Erinnerungen gewühlt, um etwas zu finden, was ihn verletzen konnte, und als sein Leben in Gefahr gewesen war, war er ohne jedes Zögern in Cadens Geist eingedrungen.

Er und seine Eltern stiegen den letzten Treppenabsatz zum Aussichtsdeck hinauf, ein Bereich des Rings mit einer offenen Seite und einer Reihe von Geländern. Dort saß eine Sphinx auf ihren Hinterbeinen.

    

Bild von Slawomir Maniak

Sie ragte über Jace auf, mit einem majestätischen, bärtigen Gesicht, gewaltigen Tatzen, einem reich verzierten Mantel aus Gold und verspiegeltem Silber und mit auf dem Rücken gefalteten, gefiederten Schwingen.

„Mein Name ist Alhammarret. Und du, Jace Beleren, bist ein Gedankenmagier von ungewöhnlichem Talent.“

Dieser Gedanke, das wusste Jace sofort, war nicht sein eigener.

„Wie hast du ...?“

„Antworte auf gleiche Weise, wenn du kannst”, sagte die dröhnende Stimme in seinem Kopf.

„So?”, dachte Jace.

„Ganz genau.“

„Ein ‚Gedankenmagier‘?”, dachte Jace. „Wirkt ein Magier aber nicht Zauber? Ich kann keine Zauber.“

„Das, was du tust, ist das Wirken von Zaubern“, sagte Alhammarret. „Du sprichst die nötigen Zauber intuitiv, anstatt dass man sie dich lehrte.“

„Wenn ich also Zauber wirke, dann  seid Ihr hier, um mich dazu zu bringen, damit aufzuhören?”

Alhammarret lächelte. „Nein, ich möchte dich ausbilden, damit du das nicht musst.“

„Mich ausbilden? Wo denn?“ Jace warf seinen Eltern einen Blick zu. „Hier?“

„Nein”, sagte Alhammarret. „Die Gelegenheit, einen vielversprechenden Gedankenmagier auszubilden, ist zwar selten, doch nicht so selten, dass ich darüber meine anderen Studien vernachlässigen dürfte. Du würdest mich begleiten. Als mein Lehrling.“

„Für wie lange denn?“

„Für Jahre.“

Die misstrauischen Blicke, das Flüstern, die Furcht. All das konnte er zurücklassen – zusammen mit der Liebe und der Unterstützung seiner Eltern.

„Wissen sie, was du da vorschlägst?”, fragte er.

„Ich habe mit ihnen darüber gesprochen, ja. Sie wollen nur das Beste für dich. Und in diesem Fall ist das Beste für dich, aus dieser hinterwäldlerischen Einöde herauszukommen, damit du dein wahres Potenzial entfalten kannst. Deine Gabe ist selten. Verschwende sie nicht hier.“

Jace blickte wieder zu seinen Eltern. Seine Mutter nickte ermutigend. Sein Vater musste erleichtert sein. Bildung ist deine Fahrkarte hier weg.

Jace machte sich nicht die Mühe, sich wieder zu Alhammarret umzudrehen.

„Ich bin bereit“, sagte er.

Nachdem Jace seine Habseligkeiten zusammengepackt und sich verabschiedet hatte, ließ sich Alhammarret nieder und bedeutete Jace, auf seinen Rücken zu klettern. Er tat, wie ihm geheißen, und schlang die Beine um den silbernen Umhang, in der Hoffnung, dass er zu diesem Zweck da war.

Er blickte zu seinen Eltern und der versammelten Menge hinab. Tuck und Jill waren da und blickten finster drein. Schon jetzt wirkten die Menschen von Silmots Kreuzweg klein und weit entfernt.

„Ich komme wieder“, sagte er zu seinen Eltern. „Das verspreche ich.“

Er blickte Tuck in die Augen. „Und wenn du meiner Familie etwas zuleide tust, reiße ich deine Gedanken in Stücke, eine armselige Erinnerung nach der anderen.“

Tuck zuckte zusammen.

Jaces Eltern winkten. Alhammarret stand auf, streckte sich und schwang sich vom Aussichtsdeck in die Lüfte.

Sie flogen! Sicher, er hatte schon ein paar Runden in den Armen eines Windmagiers gedreht, doch das war etwas völlig anderes. Sie glitten über die Landschaft, fort von der Kette aus Magierringen und in eine Richtung, an die Jace noch nie auch nur einen einzigen Gedanken verschwendet hatte. Seine Heimat der letzten dreizehn Jahre fiel hinter ihnen zurück, wurde zu einem winzigen Fleck und verschwand dann ganz in der Ferne.

„Das war unfreundlich”, sagte Alhammarret.

Jace zuckte zusammen.

„Du ...?“ Er zögerte. Alhammarret hatte ihm noch nicht erlaubt, normal zu sprechen, und unter gewöhnlichen Umständen hätte der Wind jedes Gespräch unmöglich gemacht. „Du hast das gehört?“

„Natürlich”, sagte Alhammarret. „Das ist etwas, woran du dich gewöhnen musst. Bis jetzt warst du im Grunde der einzige Gedankenmagier, den es für dich gab. Du musstest nie darüber nachdenken, wie es ist, mit einem anderen Telepathen umzugehen.“

„Ich werde daran denken”, sagte Jace.

„Ich werde dich lehren, deine Kräfte zu kontrollieren. Ich werde dich lehren, sie zu verfeinern, telepathische Großtaten zu vollbringen, die du nie für möglich gehalten hättest, tief verborgenes Wissen zu entdecken ... und all das wirst du tun, ohne dabei jemanden zu verletzen. Setzt du deine Fähigkeiten ein, um absichtlich jemandem ein Leid zuzufügen, dann wird das das Ende deiner Ausbildung sein ... und je nach der Schwere des angerichteten Schadens auch das Ende deines Lebens. Hast du verstanden?“

„Vollkommen”, sagte Jace. „Ich wollte ihm nur einen Schreck einjagen.“

„Sei damit vorsichtig”, sagte die Sphinx. „Mit der Zeit wirst du furchteinflößender werden, als du es dir vorzustellen vermagst. Und ist Furcht erst einmal erweckt worden, so lässt sie sich selten leicht wieder besänftigen.“

Eine Zeit lang flogen sie schweigend weiter. Die Landschaft unter ihnen veränderte sich: Die Hochsteppe machte ausgedehnten Feldern und weiten, flachen Sümpfen Platz. Nur die Bahnen der Magierringe, Dutzende von Meilen auseinander, wirkten noch vertraut.

„Das ist das Gebiet der Separatisten, oder?”, fragte Jace.

„Dieses Land wird von den Trovianern beansprucht, ja. ‚Separatisten‘ ist ein politisch gefärbter Begriff.“

„Und du bist ein Schlichter?“

„Das bin ich”, sagte Alhammarret. „Warum herrscht denn noch Krieg?“

Jace wurde rot. Das hatte er als Nächstes fragen wollen. Gedankenmagier!

„Dieser Krieg tobt bereits seit einer Generation”, sagte Alhammarret. „Die Schlichter handeln alle paar Jahre einen Frieden aus, wenn beide Seite so erschöpft sind, dass sie sich einen wünschen. Und dann bricht eine Seite die Waffenruhe und der Krieg beginnt von Neuem. Wir versuchen gar nicht mehr, einen dauerhaften Frieden zu erreichen – es ist einfacher und gerechter, wenn beide Seiten von vornherein wissen, wann die Feindseligkeiten fortgesetzt werden.“

„Warum könnt ihr nicht eine Seite gewinnen lassen?”, fragte Jace.

„Die Ampryn und die Trovianer kämpfen um die Kontrolle über den Kern”, sagte die Sphinx. „Doch es kann ihn nur immer eine der beiden Seiten zur Zeit halten, und nur diese profitiert dann von dem Magierringnetzwerk. Warum sind die Magierringe dann noch unbeschädigt? Warum zerstören die Trovianer nicht den Kern , wenn er von den Ampryn gehalten wird, um sie ihrer Energiequelle zu berauben?”

Darüber hatte Jace noch nie nachgedacht. „Weil ... weil sie glauben, dass sie den Kern einnehmen können und sie die Magierringe selbst nutzen wollen, wenn es so weit ist.“

„Ganz genau”, sagte Alhammarret. „So lange jede Seite glaubt, gewinnen zu können, bleibt dieses Gleichgewicht bestehen, und so lange bleiben auch die Magierringe stehen. Städte werden lieber intakt verlassen als dem Erdboden gleichgemacht. Straßen und Brücken werden aufgegeben, um sie später erneut einnehmen zu können. Falls sich dies jemals ändert – falls sich eine der beiden Seiten in ihrer Existenz ernsthaft bedroht sieht –, dann wird sie auf ihrem Rückzug alles vernichten, um es der anderen vorzuenthalten. Die Zivilisation auf Vryn würde Jahrhunderte brauchen, um sich davon zu erholen – wenn es ihr denn überhaupt je gelänge.“

Jace wurde plötzlich schwindelig.

„Das ist es, was die Schlichter zu verhindern versuchen”, sagte Alhammarret. „Das, und nicht nur den schieren Verlust von Leben. Wie immer sind die Dinge nicht so einfach, wie sie scheinen.“

Beim Anbruch der Nacht unterbrachen sie die Reise, und Alhammarret sorgte für eine Unterkunft in einem der Magierringe, die effektiv betrachtet neutral waren. Er war anders als Jaces Heimatring: größer und erst kürzlich repariert worden. Keine Seite wollte die Ringe beeinträchtigen, aber Kollateralschäden ließen sich nicht vermeiden.

Nach ein paar Tagen erreichten sie ihr Ziel: eine Mauer aus Felsen, die über der weiten Ebene aufragte. Alhammarret flog höher, und seine kräftigen Schwingen schlugen heftiger. Er ließ sich auf einer breiten Landeplattform nieder, schüttelte die Flügel aus und ging in die Knie, damit Jace absteigen konnte.

„Willkommen zu Hause, Jace Beleren.“

Zu Hause. Jace hoffte, dass dies sein Zuhause sein konnte.


Jace hielt am Fuß des letzten Treppenaufgangs an.

Zwei Jahre hatte er als Lehrling der Sphinx verbracht und die volle Stärke – und die Grenzen – seines Geistes kennengelernt. Mit fünfzehn Jahren war er größer, klüger und mächtiger als zuvor. Er konnte die militärischen Geheimnisse aus dem Geist einer schlafenden Wache lesen, ohne jemals etwas über deren Familie zu erfahren, und er konnte Gedanken vernebeln und Meinungen ändern, ohne Schaden anzurichten. Er hoffte, dass seine Eltern stolz waren. Obwohl das Verfeinern seiner Telepathie der wichtigste Teil seiner Ausbildung gewesen war, hatte Alhammarret es nicht versäumt, ihn auch andere Disziplinen der Magie zu lehren, und so war Jace zu einem talentierten Illusionisten geworden.

Zuerst hatte er noch erwartet, dass seine Ausbildung daraus bestehen würde, an Verhandlungen teilzunehmen und alles aus dem Geist der Botschafter zu erfahren, was er nur konnte. Er hatte Alhammarret zu Gesprächen begleitet, und danach hatte die Sphinx ihn gefragt, was er aus den Gedanken der Diplomaten gelernt hatte – und das war selten etwas Interessantes gewesen. Jace hatte schon früh in seiner Ausbildung wissen wollen, warum eine der beiden Seiten sich je dazu bereit erklärt hatte, mit einem Telepathen zu verhandeln.

„Um wechselseitige Ehrlichkeit zu erreichen”, erklärte die Sphinx augenzwinkernd. „Sie lernten schon vor langer Zeit, niemanden zu entsenden, der irgendetwas weiß, was sie nicht laut ausgesprochen wissen wollen.“

Es gab lange Stunden des Studiums magischer Theorie in der Bibliothek der Sphinx, mentale Übungskämpfe draußen auf der Landeplattform und ein nie enden wollendes Bombardement von Fragen, Herausforderungen und Prüfungen. Es gab Rätselkästchen und Geheimschriften, echte und illusionäre Besucher und sogar gelegentlich eine Falle. Und Jace konnte Alhammarrets Gedanken nicht auch nur im Geringsten lesen. Das erste Mal in seinem Leben empfand Jace seine Studien als echte Herausforderung. Einmal wurde er sogar während einer Illusionismuslektion ohnmächtig, als seine eigenen Illusionen seinen Geist durch ihr Beharren auf eine wirkliche Existenz überwältigten.

    

Bild von Yohann Schepacz

Vor ein paar Monaten hatte Alhammarret damit begonnen, Jace auszusenden, um Informationen zu beschaffen. Er nannte es „Übungsmissionen“, doch sie waren sehr real. Im Schutz der Dunkelheit und von Illusionen verhüllt schlich Jace in eines der Lager der gegnerischen Seite. Dort erfuhr er – entweder durch Telepathie oder ganz gewöhnliche Detektivarbeit – von den Schlachtplänen der Armee, die er bei seiner Rückkehr an Alhammarret weitergab.

Anfangs hatte er noch protestiert, doch das, was sie bei diesen Missionen erfuhren, half Alhammarret dabei, den Frieden zu wahren. Oft reichte allein die Erwähnung von Schlachtplänen bei einem Treffen aus, dass es für ein, zwei Monate an der Front ruhig blieb.

Und zu guter Letzt setzte Jace – unter Alhammarrets Anleitung – seine Fähigkeiten auch dazu ein, Menschen zu helfen. Gerade seine letzte Mission war besonders gut verlaufen.

Er ging die Stufen hinauf und betrat Alhammarrets Arbeitszimmer.

Alhammarret starrte aus dem großen, runden Fenster. Er drehte sich nicht um, als Jace eintrat. Sie machten sich selten die Mühe, Blickkontakt aufzunehmen, und sprachen manchmal sogar von verschiedenen Räumen aus miteinander, auch wenn Jaces Reichweite noch immer deutlich begrenzter war als die der Sphinx.

„Willkommen zurück”, sagte Alhammarret. „Was hast du erfahren?“

Jace konnte Alhammarrets Gedanken nicht lesen, und aus Höflichkeit las Alhammarret nicht die seinen, ohne vorher dazu eingeladen worden zu sein, es sei denn, sie übten gerade mentale Verteidigungstechniken. Jace war zwar nicht mehr hilflos, doch sein Mentor schaffte es noch immer, seine mentalen Blockaden mühelos zu durchbrechen.

Als Antwort öffnete Jace eine Reihe ganz bestimmter Erinnerungen für eine Begutachtung durch Alhammarret. Jace hatte von einem hochrangigen Offizier der trovianischen Separatisten von Plänen für eine Frühlingsoffensive erfahren. Sie hatten vor, vor dem Tauwetter die Rimesümpfe zu durchqueren und zum Kern der Ampryn vorzustoßen. Es wäre für beide Seiten ein erbarmungsloses Unterfangen. Sie würden Kämpfe auf bislang unberührtes ziviles Gebiet tragen und wahrscheinlich den Würgegriff der Ampryn um die Kernstaaten sprengen. Und Jace hatte davon erfahren, ohne die Trovianer wissen zu lassen, wer er war oder wonach er suchte.

    

Bild von Cynthia Sheppard

„Ausgezeichnet”, sagte Alhammarret. „Ich erwarte, dass der Gesichtsausdruck des trovianischen Botschafters sehr ... befriedigend ... ausfallen wird, wenn ich das beim nächsten Treffen erwähne.“

Die Sphinx drehte sich um und tappte die gewundenen Stufen hinunter und an Jace vorbei. „Komm”, sagte er. „Ich möchte mir die Karten ansehen, solange deine Erinnerung noch frisch ist, und die entsprechenden Routen markieren.“

Der Raum sah kein bisschen wie die dürftige Bibliothek in Silmots Kreuzweg mit ihrer Sammlung aus eselsohrigen Manualen zur Manadynamik, veralteten Geschichtsbüchern und vereinzelten Exemplaren schlecht geschriebener Romane aus. Hier gab es keine Bücher, sondern nur Regale voller kristallener Kugeln. Alhammarrets große Tatzen konnten keine Seiten umblättern, und doch enthielt seine Bibliothek mehr Informationen, als in einen ganzen Magierring voller Bücher gepasst hätten.

Alhammarret bediente eine Reihe großer Pedale wie die einer Orgel und richtete eine der Datenkugeln vor dem Projektor aus. Eine Karte der Rimesümpfe erschien in der Mitte der Bibliothek.

Jace zeichnete Illusionen auf die Karte, die die geplante Route der Truppenbewegungen nachstellten. Währenddessen schweiften seine Gedanken ab.

Zweifellos wurde er mächtiger. Er hatte sich aus dem Lager der Trovianer herauskämpfen müssen, doch er hatte hinter sich aufgeräumt. Er hatte alles bekommen, weshalb er gekommen war. Niemand, der ihn gesehen hatte, würde sich daran erinnern. Und er hatte keine bleibenden Schäden angerichtet. Selbst vor ein paar Monaten noch wäre diese Art von Operation jenseits seiner Möglichkeiten gewesen. Schon bald würde er ein besserer Gedankenmagier sein als ...

Die Sphinx war davon abgelenkt, weitere Karten aufzurufen, Jaces Informationen darauf abzubilden und den Weg der trovianischen Armee ins Kernland zu verfolgen.

Jace hatte Alhammarrets Verteidigung schon lange nicht mehr getestet.

Natürlich würde er erwischt werden. Alhammarret wusste immer, wenn er versuchte, ihn zu lesen. Er konnte natürlich argumentieren, dass es zu seiner Ausbildung gehörte, genau festzustellen, wann die Verteidigung seines Ziels anfällig war.

Er blickte in Alhammarrets Geist.

Seine Gedanken waren gewaltig und mächtig, ein wütender Zyklon mentaler Macht. Jace war bei seinen kurzen Erkundungen bislang immer wie gegen eine Mauer geprallt. Dieses Mal gelang es ihm jedoch mit einiger Mühe, zwischen den Böen durchzuschlüpfen.

Eine Flut von Eindrücken und Erinnerungen überwältigte ihn.

Er schaute auf sich selbst hinab, wie er sich in Illusionen übte und sich stark konzentrierte, um ein paar Schemen aus Licht und Klang zu kontrollieren. Er sah so jung aus.

Irgendetwas stimmte nicht. Blauweiße Energie knisterte in seinen Augen. Die Illusionen wirbelten schneller und schneller um ihn herum.

Und dann

begann er

zu verblassen ...

Inmitten der wirbelnden Illusionen löste Jace sich vollkommen auf.

    

Bild von Ryan Barger

Alhammarret griff mit einem Ätherschweif in die Leere zwischen den Welten (es gab mehr als eine!) und zog den Jungen zurück.

Planeswalker.

Jace rührte sich. Er setzte sich auf. Er fragte, was geschehen war.

Und Alhammarret löschte den Zwischenfall aus der Erinnerung des jungen Mannes.

Die Bibliothek. Seine eigenen Augen. Der echte Alhammarret betrachtete ihn aus scharfen Augen.

„Jace?“

„Da”, sagte Jace und ließ einen Teil der Karte aufleuchten. „Entschuldigung.“

„Du bist erschöpft“, sagte Alhammarret. „Genug mit deiner Tapferkeit geprahlt. Ruh dich aus.“

Jace ging in sein Zimmer und schloss die Tür. Er hatte nicht die Absicht, sie wieder zu öffnen. Alhammarret würde es früher oder später merken. Wenn er es nicht bereits wusste. Wie lange würde es dauern, bis er Jaces Erinnerungen erneut auslöschen würde? War dies schon vorher geschehen? Gab es eine Möglichkeit, das herauszufinden?

Planeswalker.

Was auch immer das sein sollte: Alhammarret schien zu glauben, dass Jace so jemand war. Dass es Welten jenseits von Vryn gab. Dass Jace zu ihnen reisen konnte.

Er versuchte es. Nichts geschah.

Er war als Planeswalker erwacht und in den Äther gedriftet. Doch er konnte sich nicht daran erinnern ... Wie konnte er das noch mal schaffen?

Alhammarret hatte nur sein Bestes im Sinn. Eines Tages hatte die alte Sphinx sicher vor, ihm davon zu erzählen, sich für die Täuschung zu entschuldigen und ihm zu erklären, dass er einfach noch nicht bereit für das alles gewesen war. Schon aus reinem Eigennutz musste Alhammarret an einem Planeswalker-Lehrling sehr gelegen sein.

Solange diese Information jedoch in Jaces Kopf war, konnte Alhammarret sie lesen. Und dann würde er seine Erinnerung erneut auslöschen und Jace würde niemals die Wahrheit erfahren. Er musste seinen Geist verteidigen. Doch jede Abweichung von seinem gewohnten Verhalten würde Misstrauen hervorrufen, und Misstrauen führte zu Untersuchungen und durch diese würde sein Geheimnis offenbart werden.

Er zog ein Stück Papier aus seinem Schreibtisch und begann mit kleiner, krakeliger Schrift, die die Sphinx wahrscheinlich nicht würde lesen können, falls sie den Schrieb denn je fand, alles festzuhalten, was er gesehen hatte und wie ihm das gelungen war. Er fügte so viele Einzelheiten hinzu, wie er nur konnte, und er warnte sich selbst eindringlich davor, was geschehen würde, falls Alhammarret davon erfahren sollte. Als er fertig war, schrieb er das Datum darüber, faltete das Papier sorgfältig zusammen und versteckte es in seiner Schreibtischschublade.

Dann – langsam und sehr, sehr vorsichtig – brachte Jace sich dazu, alles zu vergessen, was er gesehen hatte, was er niedergeschrieben hatte, was er sich hatte vergessen lassen.

Er hatte Kopfschmerzen.

Im Lauf der nächsten Wochen fand er das Papier mehrere Male. Jedes Mal war er schier außer sich vor Wut. Jedes Mal fragte er sich, was er tun sollte. Und jedes Mal löschte er seine Erinnerung, es gefunden zu haben, um sie vor Alhammarret zu verbergen.


Dieses Mal war es das Lager der Ampryn.

Sie standen stramm. Soldaten auf einer Übung auszuweichen, war so einfach, wie sich an einer Statue vorbeizuschleichen. Man musste nur kurz in einen Geist schauen und sich die Patrouillenpläne merken. Danach konnte man ganz einfach hineinspazieren.

Es waren mehr Soldaten, als er erwartet hatte – zu viele für einen einfachen Kommandoposten. Irgendjemand Wichtiges war zu Besuch.

Und das erhöhte das Risiko. Er sollte besser sofort zu Alhammarret zurückkehren und es ein anderes Mal versuchen.

Doch mehr Risiko bedeutete auch, dass er mehr erfahren konnte, oder nicht?

Er stöberte in den Gedanken einiger weiterer Soldaten, bis er sein neues Ziel gefunden hatte. Ein General besuchte die Front, ein grauhaariger und hochdekorierter Kriegsveteran. Der General hatte zwei Einheiten aus Elitesoldaten mitgebracht, von denen zwei Vertreter rund um die Uhr den Eingang seines Zeltes bewachten.

Im Schutz der Dunkelheit, als die Lichter im Zelt noch brannten, trat Jace an den schlafenden Gestalten der beiden Wachen vorbei.

Bild von Cynthia Sheppard

Im Zelt befanden sich drei Leute. Jace schickte zwei von ihnen in den Schlaf und wandte sich dem General zu, der den Mund öffnete, um nach den Wachen zu rufen. Kein Wort kam hervor.

„Hallo, General“, sagte Jace. „Das wird nicht lange dauern.“

Er tauchte in ihn ein.

Der General war ein willensstarker Mann, der sich Jaces Sondieren zu einem gewissen Grad widersetzte, doch er war kein Gedankenmagier oder irgendwie anderweitig dazu in der Lage, Magie anzuwenden. Jace durchbrach seine natürliche Verteidigung und sah ...

Der gesamte Schlachtplan der Trovianer für den kommenden Feldzug war vor ihm ausgebreitet, als illusionäre Karte, die die Konturen des Landes bis ins kleinste Details nachbildete. Ihr Plan war waghalsig ... und ohne entsprechende Gegenmaßnahmen würde er aufgehen.

„Ihr seid sicher, dass dies echt ist?“, fragte der General.

„Absolut“, sagte die vermummte Gestalt. „Hat unsere Quelle Euch jemals fehlgeleitet?“

„Nein“, sagte er. „Ebenso wenig die Abtrünnigen. Da bin ich sicher.“

„Natürlich“, sagte die Gestalt. „Wenn Informationen euer Geschäft sind, dann ist der Ruf alles, was zählt.“

„Natürlich“, sagte er.

Der vermummte Mann – oder vielmehr der Junge, so schlaksig und viel zu selbstsicher, wie er war – wusste mehr, als er zugeben wollte ... wie beispielsweise die Identität seiner Quelle. Zum Wohle der Ampryn musste er den jungen Mann festsetzen und ihm unter Folter den Namen seiner Quelle entlocken, und ...

„Es würde nichts nützen“, sagte der Junge. „Er erzählt mir auch nicht viel.“ Die Augen des Jungen funkelten unter seiner Kapuze.

„Na gut“, sagte er. „Nehmt Eure Bezahlung und geht. Und sagt Eurer Quelle, dass es da, wo das herkam, noch viel mehr gibt, wenn er wieder Informationen für uns hat.“

„Ich sag‘s ihm“, meinte der Junge. Er steckte das Geld ein und wandte sich um, und der General erhaschte einen Blick auf sein Gesicht ...

Aus der Welt draußen hörte Jace undeutliche Rufe. Er hatte zu lange gebraucht.

Er saß in der Falle. Gefangen in einem Geist. Gefangen in einer Erinnerung. Wie eingefroren auf sein eigenes Gesicht unter dieser verdammten Kapuze starrend. Gefangen in einer Unterhaltung, deren gesamter Zusammenhang ihm rätselhaft war.

Er zog ...

... und er war draußen.

Der General sackte vor ihm zu Boden. Seine Augen waren leer.

Schnelle Schritte. Die Plane am Eingang des Zelts wurde eilig beiseite geschlagen. Jace wandte sich um.

Drei Wachen. Er machte eine Geste, und ein Schwarm von Illusionen umringte sie.

Der General atmete, doch sein Geist war leer.

Es tut mir leid.

Jace stürmte aus dem Zelt und rannte in die Nacht, so lange, bis er nicht mehr weiterkonnte.


Als Jace zu Alhammarrets Unterkunft zurückgekehrt war, ging er direkt in sein Zimmer und packte seine Sachen. Er wusste nicht, wohin er gehen würde. Es war ihm egal.

Beim Packen fand er eine Notiz in seiner eigenen Handschrift, die ihn vor Alhammarrets Doppelzüngigkeit warnte und ihm sein eigenes besonderes Wesen offenbarte.

Eine weitere Ungeheuerlichkeit. Eine weitere Lüge.

Jace kritzelte ein paar Zeilen mehr auf das Papier, stopfte es in seine Tasche und löschte es erneut aus seinem Gedächtnis. Vielleicht konnte er diese Erinnerung dieses Mal doch behalten.

Er hielt seine Gedanken so fest in sich verschlossen, wie er nur konnte. Wenn Alhammarret wissen wollte, was er dachte, würde die Sphinx regelrecht in seinen Geist einbrechen müssen.

Er schaute in der Bibliothek und im Arbeitszimmer nach. Leer.

Er konnte einfach gehen. Er wollte das Spiel der Sphinx nicht länger mitspielen.

Doch er brauchte Gewissheit.

Er machte sich auf den Weg zur Landeplattform. Alhammarret war dort. Er hockte auf den Hinterbeinen und wartete auf ihn.

„Willkommen zurück”, sagte Alhammarret. „Was hast du erfahren?“

„Sag du es mir“, meinte Jace. Er sprach, denn er hatte nicht die Absicht, der Sphinx das kleinste Schlupfloch zu lassen. Er fuhr in sich jede mentale Barriere hoch, die er kannte.

„Ah“, sagte Alhammarret. „Ich nehme an, du hast etwas erfahren, was dir nicht gefallen hat.“ Die Stimme der Sphinx in seinem Geist war nun lauter, drängender.

„Keineswegs“, sagte Jace. „Aber es ist schon eine Weile her, seit wir einen mentalen Übungskampf hatten, oder nicht?“

„Das stimmt. Du bist jetzt mächtiger. Du könntest dich verletzen.“

„Du meinst, ich könnte dich verletzen?“

„Das ist unwahrscheinlich”, sagte die Sphinx.

„Und was, wenn ich einem feindlichen Gedankenmagier in die Hände falle? Wir sind doch nicht die Einzigen, oder? Prüfe mich. Hilf mir, meine Grenzen zu erkennen. Hole die Informationen aus mir heraus.“

Alhammarret stand auf, und die gesamte Macht seines Geistes traf Jace wie eine Sturmfront.

Bild von Lin Yan

Jace hatte damit gerechnet, dass es sich wie eine Invasion anfühlen würde. Wie eine fremde Macht. Doch es war eine wahrhaft überwältigende Präsenz, ein regelrechter Ansturm von Gedanken und Eindrücken, die seine eigenen einhüllten. Alhammarret konnte Jaces Geist in Stücke reißen. Doch damit ihm das glückte, musste er ihn erst lesen, und wenn er das tat, dann konnte Jace das Gleiche tun. Endlich sah er die Wahrheit über die vergangenen zwei Jahre, jenen trügerischen Abgrund, an dessen Rand er all diese Zeit über gebaumelt hatte.

Alhammarret hatte ihn benutzt. Er hatte Jace als Mittelsmann verwendet, um Informationen zu sammeln und im Zuge ihrer Lieferung an Dritte noch mehr zu erfahren. Und jedes Mal hatte er Jaces Erinnerung daran gelöscht, das Geld für sich selbst behalten und den Krieg weiter wüten lassen. Wenn man sein Leben dem Aushandeln von Frieden widmete, wo lag dann der Profit, das tatsächlich auch zu schaffen?

Nun wusste Alhammarret alles und er ließ sich in die tiefsten Tiefen von Jaces Geist hinab, um die unfassbaren Erinnerungen auszulöschen und sein nützliches Werkzeug nicht zu verlieren. Oder um es zu vernichten, falls es nicht anders ging.

Jace schlug zuerst zu.

Die Sphinx war mächtiger. Doch hier, in Jaces Geist, war er genauso verwundbar, solange Jace nur gewillt war, seinen eigenen Geist zu schädigen. Und Alhammarret war zu arrogant und zu feige, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen.

Jace spürte, wie er fiel – nach hinten, nach oben, nach außen. Er konnte sich weder an seine Heimat erinnern noch an das Gesicht seiner Mutter noch an seinen eigenen Namen. Doch der Sphinx erging es schlechter.

Alhammarret hatte vergessen, wie man atmete.

Er sackte nach vorn, rang um Luft, und der Umriss seines Kopfes war das Letzte, was der Planeswalker sah, ehe er

in

Stücke

zerbrach und

wandelte ...

    

Bild von Eric Deschamps

Ravnica

Er fiel zu Boden, landete krachend auf dem Rücken. Es war hell. Und laut. Und geschäftig.

Er hatte Kopfschmerzen.

Die Gestalten, die um ihn umhereilten, wurden zu Menschen, die Geräusche zu Stimmen und die Kopfschmerzen zu Gedanken, die seine eigenen waren.

„Pass doch auf“, sagte eine Stimme, als deren Besitzer um ihn herumlief.

Ich sollte dich den Boros melden wegen fahrlässiger Teleportation.

Boros?

„Aus dem Weg!“, rief eine andere Stimme, und er blickte gerade noch rechtzeitig auf, um einem Karren auszuweichen, der von einer wolligen Bestie mit Hufen und ausladenden Hörnern gezogen wurde.

Kam wie aus dem Nichts. Wahrscheinlich das arme Versuchsobjekt irgendeines Izzet.

Er rappelte sich auf. Die Leute starrten ihn an. Er sah so schlecht aus, wie er sich fühlte: verschwitzt und bleich und zerlumpt. Er zog sich den Schal über Mund und Nase und huschte an den Straßenrand.

Ich bin kein Versuchsobjekt. Ich ... Ich bin ...

Ich bin in Schwierigkeiten.

Na schön. Vertagen wir das.

Er lief so schnell er konnte, ohne den Anschein zu erwecken, in Eile zu sein. Er horchte behutsam nach den Gedanken um sich herum. Es war eine Kakophonie, ein irrsinniges Gewirr von Stimmen. Und die Hälfte davon war nicht einmal menschlich.

Rumtreiber. Dieb. Armer Junge. Wicht.

Seine Kopfschmerzen wurden schlimmer.

Und doch gelang es ihm, Fragmente von Bedeutung aus dem ganzen Tumult zu fischen. Das hier war das Tuchviertel, und seine Kleidung – Ringkleidung, sagte ein tief vergrabener Teil seiner selbst in seinem Kopf – wirkte im Vergleich dazu wie Lumpen. Ein Feiertag namens Rauck-Chauv stand bevor. Eine Gruppe, die als die „Orzhov“ bekannt war, schien dieses Gebiet zu besitzen oder es zumindest politisch zu kontrollieren oder irgendetwas dazwischen. Hunderte von Köpfen, und nicht einer schien an irgendetwas außerhalb dieser Stadt zu denken. Was das seltsam? Vielleicht waren Stadtbewohner so.

Er entdeckte mindestens zwei verschiedene Sorten von Gesetzeshütern und hielt sich so gut es ging von ihnen fern. Er musste irgendwo hin, wo er weniger Aufmerksamkeit erregte. Er suchte nach den zwielichtigsten, schäbigsten Gedanken in Köpfen, deren Körper Kleider trugen, die seinen am meisten ähnelten, und folgte ihnen wie an einem Faden gezogen.

Nach zehn Minuten war er irgendwo anders, in einem Viertel, in dem die Gassen enger und die Schatten dunkler waren und wo sich jeder nur um seine eigenen Angelegenheiten scherte.

Er lief weiter, achtete auf Hinterhalte, tastete nach den Gedanken um sich herum und suchte nach jedem Bröckchen an Information, das ihm womöglich helfen konnte.

Und endlich, im Geist eines abgerissenen, hungrigen Mädchens geborgen wie ein kostbarer Schatz, fand er sie.

Emmara Tandris.

Sie nahm Streuner auf. Aber wo?

Ovitzia.

Immerhin.


Die Tür schwang auf und gab den Blick auf eine Frau von nahezu statuenhafter Schönheit mit langen, spitzen Ohren, eleganter Kleidung und milchweißen Augen frei. Ihre Gedanken waren Irrgärten, die tief unter der Oberfläche verborgen lagen.

Sie ist schön.

„Wenn du nur hier bist, um mich zu bewundern“, sagte sie, „dann habe ich dafür leider keine Zeit.“

„Du kannst Gedanken lesen?“, fragte er. Sofort bereute er es.

Die Elfe lächelte. „Nein. Du bist ein Halbstarker.“

Er wurde rot und sah sich selbst, nur für einen winzigen Moment, durch ihre Augen: schmutzig, gehemmt, mit getrübtem Blick und so leicht zu lesen wie ein Buch.

„Ich komme von ...” von außerhalb der Stadt, hätte er um ein Haar gesagt, doch er hatte keine Ahnung, was das hier bedeutete. „Ich komme aus einem anderen Viertel. Ich brauche einen Platz zum Schlafen. Ich habe gehört, dass du Leute wie mich aufnimmst.“

„Manchmal. Wie heißt du?“

Er suchte in den Gedanken um sich herum nach einem örtlichen Namen, der unverdächtig klingen würde.

„Berrim“, sagte er nach einer nur einen kleinen Tick zu langen Pause, nachdem er den Namen aus den Gedanken eines vorbeigehenden Dieners aufgeschnappt hatte. „Mein Name ist Berrim.“

Die Lüge schien harmlos und viel besser, als die Wahrheit zuzugeben. Und was ihn anging, hätte es auch die Wahrheit sein können.

„Komm herein ... Berrim“, sagte Emmara. „Schauen wir doch mal, ob wir ein paar neue Sachen zum Anziehen für dich finden.“


Er war in Sicherheit. Er war sauber. Er war satt. Endlich hatte er etwas Zeit zum Nachdenken. Konnte er sich überhaupt an etwas erinnern?

Er projizierte Illusionen in die Luft, zufällige Formen, die ihm beim Nachdenken helfen sollten. Tropfen und Linien und Ringe.

Silmots Kreuzweg.

Der Gedanke tauchte wie aus dem Nichts auf, begleitet von dem Bild eines riesigen, ringförmigen Bauwerks. Der einzige Grund, weshalb er sicher sein konnte, dass es sein eigener Gedanke war, war, dass hier sonst niemand war.

Eine Form floss vor ihm zusammen: ein länglicher, unten offener Ring, in dessen Mitte ein Kreis schwebte. Er hatte keine Ahnung, was das bedeutete – oder ob es überhaupt etwas bedeutete.

Jace.

Mein Name ist Jace Beleren.

Also war da etwas in seinem Inneren, was darauf wartete, von ihm ausgegraben zu werden.

Und wer ist Jace Beleren? Ist er ein guter Mann? Ist er freundlich?

Er verdrängte die Form und saß einfach nur da, allein und weiter fort von Zuhause, als er es jemals für möglich gehalten hatte.

Er musste sich wohl oder übel überraschen lassen.

Bild von Jaime Jones