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Das Geschenk des Rabenmannes

Ein Mann starb ganz in der Nähe – viel zu nahe – und vergeudete seinen letzten Atem an einen wortlosen Schrei, den nur sein Mörder und Liliana Vess vernahmen. Liliana stürzte vor dem schlimmen Laut davon und brachte so viele der knorrigen Bäume zwischen sich und den Mörder, wie sie nur konnte.

Sie war hier aufgewachsen und die Wege und Pfade des Caligo-Waldes unzählige Male entlanggegangen. Sie kannte sie wie kaum ein anderer – und gewiss besser als irgendeiner jener Soldaten, die nun unter seinem Blätterdach kämpften und starben. Selbst in der Nacht fühlte sie sich im Wald mit seinen Eulen und Nachtigallen, die lieblich aus dem dunklen Geäst heraus riefen, zu Hause. In dieser Nacht jedoch war der Wald ein Schlachtfeld, und die einzigen Rufe waren die Schreie der Sterbenden und das raue Krächzen der Raben, die sich um das Fleisch der Toten zankten.

Bild von Karla Ortiz

Sie hielt inne und lauschte, spitzte die Ohren nach irgendeinem Geräusch eines Verfolgers, irgendeinem Hinweis darauf, dass sie bemerkt worden war. Kein menschlicher Soldat war hinter ihr her. Dessen war sie sich sicher. Nur ein Rabe hüpfte und flatterte von Ast zu Ast und wartete darauf, dass sie starb.

„Nicht heute Nacht, Vögelchen“, flüsterte sie. „Josu verlässt sich auf mich.“

Der Gedanke an ihren Bruder, der im Haus ihres Vaters im Fieberwahn an der Schwelle zum Tode lag, ließ sie schneller laufen, und bald verklangen die Geräusche der Schlacht hinter ihr. Wenn niemand anders sich in den Wald wagte, um die Esiswurz zu finden, die ihn heilen würde, dann musste sie es eben tun.

„Ich bin bereit“, teilte sie dem Vogel mit. „Ich werde ihn gesund machen, und gemeinsam werden wir diese Räuber das Fürchten lehren.“

Der Rabe krächzte.

„Lach du ja nicht über mich.“ Sie bückte sich und klaubte einen Kiesel vom Boden auf, um den Vogel damit zu bewerfen, doch als sie den Kopf wieder hob, war der Vogel fort.

An seiner Stelle stand ein Mann, dessen Gesichtszüge im Schatten einer Kapuze verborgen lagen. Sie warf den Kiesel dennoch. Er prallte ihm an die Schulter und fiel zurück zu Boden. Als Liliana nach dem Messer an ihrem Gürtel tastete, schlug er die Kapuze zurück.

Groß war er und von edler Gestalt, in ein Gewand aus Schwarz und Gold gekleidet, dem man nichts von seinem Weg durch die Bäume und Sträucher ansah. Das von der Kapuze zerzauste Haar, das sein Haupt krönte, war weiß, das Haar an seinen Schläfen jedoch, das er hinter die Ohren zurückgestrichen hatte, war schwarz. Seine Augen – seltsam golden, wie die Stickereien an seiner Kleidung – musterten sie und hielten ihrem Blick stand.

„Ich bin nicht hier, um dir Leid zuzufügen, Liliana Vess“, sagte der Mann.

„Ihr kennt meinen Namen“, sagte sie und griff nach ihrem Dolch. „Das ist nicht sonderlich vertrauenerweckend.“

Er nahm die leeren Hände hoch. „Dein Vater ist unser Herr und Gebieter. Natürlich kenne ich dich.“

„Ihr seid mir gefolgt?“

„Genau wie du würde ich mich lieber im Wald verstecken, als als kopflose Leiche zu enden, die die Feinde deines Vaters hinter ihren Pferden herschleifen, während meine Haut über ihre Schilde gespannt ist und mein Schädel durch die Büsche rollt.“

Bild von Chris Rahn

Während er sprach, vermeinte Liliana, in der Ferne Hufschlag zu hören. „Ich muss gehen“, sagte sie.

„Doch wohin willst du gehen?“

„Zur Lichtung ...“

„Wo einst die Esiswurz wuchs?“

Sie runzelte die Stirn. „Woher wisst Ihr ... Wartet ... ‚Einst wuchs?‘“

„Du weißt es nicht? Sie haben sie angezündet.“

„Die Räuber?“

„Ihre Hexen. Sie ist nun nur noch ein Kreis aus Asche, wo sie ihre Riten abhalten und immer neue Soldaten von den Toten auferstehen lassen, um gegen deinen Vater zu kämpfen.“

„Nein“, sagte Liliana.

Sie drehte sich um und lief von dem sonderbaren Mann fort. Sie achtete nicht auf die Geräusche, die sie verursachte, als sie sich ihren Weg durch Büsche bahnte und über Wurzeln stolperte. Sie roch den Rauch längst, ehe sie die Lichtung erreicht hatte, und sie hielt an, als sie das Glimmen von Glut erblickte.

Hinter ihr schlug ein Rabe mit den Schwingen. Sie fuhr herum. Dort stand der Mann mit den goldenen Augen und blickte zu Boden.

„So viel Tod“, sagte er.

Liliana zwang sich, die Augen von ihm zu lassen, und fuhr erschrocken zusammen, als ihr Blick dem eines Toten begegnete, der zu ihren Füßen lag. Der Boden war von Leichen übersät: Soldaten in Schwarz und Gold, den Farben ihres Vaters. Manche hielten die Hände auf entsetzliche Wunden gepresst, andere hatten furchtbare Verbrennungen davongetragen. Wieder andere waren enthauptet worden, und die garstige Magie der Hauthexen hatte ihnen den Balg von ihrem glänzenden Fett und Muskelfleisch gezogen. Kein einziger aasfressender Vogel kreiste über ihnen.

„Und ohne die Esiswurz“, sagte der Mann, „wird dein Bruder der Nächste sein.“

„Nein!“, rief sie. „Das werde ich nicht zulassen!“

„Nein, das wirst du nicht.“ Die ruhige Gewissheit in seiner Stimme stachelte die wilde Angst, die sich in Lilianas Eingeweiden ausbreitete, nur umso mehr an.

„Es muss eine andere Möglichkeit geben“, sagte sie. „Mehr Esiswurz ... Eine andere Lichtung.“

„Du weißt, dass es keine andere Lichtung gibt.“

„Was wollt Ihr damit sagen?“ Liliana kämpfte gegen den Drang an, den unverschämten Kerl zu ohrfeigen. „Kennt Ihr eine andere Möglichkeit, Josu zu retten? Welche?“

Der Mann deutete auf die Lichtung. Sie wandte sich um und schaute zu den Bäumen, wo die Dunkelheit vom schwachen Leuchten der Glut durchbrochen wurde.

Seine Stimme war dicht hinter ihr, sein Atem an ihrem Ohr: „Du weißt es.“

Doch sie wusste es nicht. Jahrelang hatte sie an der Seite von Frau Ana fleißig gelernt und sich die heilende Wirkung von Pflanzen und Wurzeln eingeprägt. Sie hatte sich die besten Behandlungsmethoden für Dutzende Arten von Verletzungen angeeignet und wie man die Anzeichen und Symptome Hunderter von Krankheiten erkannte. Esiswurz war das einzig mögliche Heilmittel. „Ihr sagtet, die Lichtung sei angezündet worden und die Esiswurz gäbe es nicht mehr.“

„Du weißt mehr als das.“

All ihre Studien, all die Unterrichtsstunden, ihr stetes Tagwerk, das aus dem Zermahlen von Kräutern und dem Mischen von Tränken bestand: Nichts davon deutete auf irgendein anderes Heilmittel hin.

„Es sei denn ...“, murmelte sie.

„Du weißt es.“

Natürlich! Der plötzliche Gedanke hätte sie um ein Haar aufs Allerheftigste zusammenfahren lassen. Im Laufe der Jahre hatte sie ihre Studien über das, was Frau Ana sie lehren konnte, hinaus ausgedehnt und sich an einer Form der Magie versucht, die sich etwas ... unverhohlener ... mit dem Leben und dem Tod befasste. Alles im Sinne ihres Wirkens als Heilerin natürlich. Sie kannte Magie, die selbst eine verbrannte und verdorrte Esiswurz noch zu einem Heilmittel für Josu machen konnte. Zumindest der Theorie nach.

Bild von Bastien L. Deharme

Doch woher wusste er das?

„Ich bin noch nicht bereit“, sagte sie. „Ich habe noch so vieles zu lernen.“

„Ich bin sicher, dass Josu warten wird, bis du deine Studien abgeschlossen hast.“

Liliana fluchte böse in sich hinein und wich vor dem Mann zurück. Sie trat ein paar Schritte näher an die verbrannte Lichtung heran.

Er folgte ihr und sprach weiterhin dicht an ihrem Ohr. „Du kannst es dir nicht leisten zu warten, Liliana Vess. Du weißt nun genug. Du bist bereits eine mächtige Magierin, auch wenn du es dir nicht eingestehen willst. Und hast du dich erst einmal deiner Macht voll und ganz hingegeben, wirst du nur umso mächtiger sein.“

Ihre Angst verwandelte sich in eine gespannte Aufregung, die sie schwindeln machte. Sie war mächtig, doch sie hatte ihr verbotenes Wissen stets gut verheimlicht – aus Furcht vor Repressalien. Sich diesem Wissen nun hinzugeben – ungeachtet aller möglichen Folgen –, klang wie viele andere verbotene Dinge zugegebenermaßen nach einem großen Spaß.

Sie drehte sich zu ihm um, legte ihm eine Hand auf die Brust und drängte ihn zurück. „Woher wisst Ihr so viel über meine Magie?“ Sie spürte, wie die Macht in ihr aufbrodelte, und den kühlen Hauch des nahenden Todes.

„Ich nehme an, wir sind beide mehr, als wir scheinen“, sagte er.

Liliana hatte es immer gewusst: Sie war mehr – so viel mehr –, als jemals jemand in ihr gesehen hatte. Und nun würde sie es beweisen. Sie spürte, wie sich etwas ihn ihr den Weg in die Freiheit bahnte, wie eine dunkle Blume, die in einem tiefen Sumpf erblühte. Zauber stiegen in ihrem Denken auf und verwoben sich zu einem verzweifelten, schrecklichen Plan.

„Ja“, sagte der Mann. „Nun siehst du es. Esiswurz mag ein mächtiges Heilmittel sein, doch sie stellte auch den sichersten Weg dar. Du jedoch kennst etwas noch Mächtigeres.“

Überrascht erkannte sie, dass dem tatsächlich so war. Sie dehnte die Grenzen ihrer Wahrnehmung aus und spürte all die Macht, die in dem Moder und der Fäulnis des nahen Moores schlummerte. Mit einem grimmigen Lächeln saugte sie das Mana in sich auf und bemerkte kaum, dass der sonderbare Mann bereits wieder verschwunden war.

Mit jedem Schritt vorwärts schien die Macht, die in ihr entfesselt worden war, weiter aufzublühen und ihre Entschlossenheit zu bekräftigen. Sie trieb sie an, drängte sie, ihre Stärke anzunehmen. Ein Dutzend Schritte führte sie aus den schützenden Bäumen heraus auf die Lichtung.

Diese war nichts mehr als ein Kreis aus aufgewühlter Asche, der von einem Ring rauchender Glut umgeben war. In ihr rangen Schrecken und Wut miteinander, als sie den Anblick in sich aufnahm und sich der friedlichen Lichtung erinnerte, die hier einst gewesen war. Drei hutzelige Hexen standen Rücken an Rücken in der Mitte und schickten mit geschlossenen Augen ihre Zauber durch den Wald zu den Schlachtfeldern überall auf den Ländereien ihres Vaters. Drei grässliche Wächter – grausige Schädel, von denen Fleischfetzen herabbaumelten und in deren leeren Augenhöhlen ein kränkliches, purpurnes Licht leuchtete – schwebten um sie herum.

Sechs Feinde – und Liliana war allein. Doch Josus Leben lag in ihrer Hand, und die Macht, die in ihr erblühte, war mehr als genug.

„Guten Abend, meine Damen“, gurrte Liliana.

Einer der fliegenden Schädel machte sich in ihre Richtung auf. Ein unheimlicher Schrei löste sich aus seinem offen stehenden, fleischlosen Mund. Sie antwortete ihm mit einer eigenen Anrufung, einer raschen Folge in tiefer Stimme gesprochener Silben, die in der toten Luft widerhallten. Ein Messer aus vollkommener Schwärze schoss aus ihrer ausgestreckten Hand. Es durchbohrte den Schädel und löschte die nekromantische Kraft aus, die ihm seinen Anschein von Leben verlieh, sodass er zu Boden trudelte.

Die Hauthexen öffneten ihre milchweißen Augen und wandten sich wie ein Wesen zu ihr um.

Zwei weitere Male deutete Liliana, und die beiden verbleibenden Schädel fielen in die Asche. Kleine Wölkchen stoben dort auf, wo sie landeten.

„Ich glaube, Ihr braucht stärkere Leibwächter“, sagte sie. Ihr Selbstvertrauen wuchs und ersetzte ihre Furcht endgültig durch kalte Entschlossenheit. Sie bemerkte, dass sie gut hierin war. Es war so einfach, nachdem sie sich ihm erst einmal ganz hingegeben hatte. So viel leichter als ihre tristen Studien bei Frau Ana. Und es fühlte sich so gut an!

Die Hauthexen huben zu einer Beschwörungsformel an. Ihre drei Stimmen sprachen wie eine, und ein Schmerz wie von Klauen, die Male auf ihrer Haut nachzogen, fuhr über Liliana hinweg.

Sie schrie.

Ihr Schrei verwandelte sich jedoch zu einem neuen Zauber, als sie den Schmerz nutzte, um ihre Gedanken klarer zu bündeln. Die Worte drangen aus ihrem Mund wie das Läuten einer Glocke, und ein leichenkalter Schauer legte sich kühlend über ihre Haut, als ihr Zauber Gestalt annahm. Drei Geisterhände erhoben sich aus dem Boden zu Füßen der Hexen und zogen nebelgleiche Schatten hinter sich her wie geisterhafte Arme.

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Nun war es an den Hexen, vor Schmerz aufzuheulen, als die Hände in ihrer Brust verschwanden und aus dem Rücken wieder hervorkamen, winzige Staubkörnchen aus goldenem Licht umklammernd. Ihre Schreie wurden zu einem jämmerlichen Stöhnen, als sie zu Boden sanken und dabei mit jenem letzten Rest an Kraft, den Lilianas Zauber ihnen gelassen hatte, die Hände in die Brust krallten. Eine Hauthexe streckte den Arm nach ihr aus und murmelte etwas, was ein Zauber sein mochte, doch Liliana spürte nichts.

Die drei Geisterhände fanden sich an einem Punkt zu Lilianas Füßen zusammen und fuhren mit ihren Trophäen zurück in die Erde. Grinsend beugte sich Liliana herab, doch das Krächzen eines Raben schreckte sie auf und sie fuhr herum. Eine der Leichen, die sie außerhalb der Lichtung gesehen hatte, war auf den Beinen und schlurfte auf sie zu.

„Ihr habt also doch einen Zauber gewirkt“, rief sie der Hauthexe hinter ihr zu. „Ein kühner Versuch, doch ich denke, es wird Euer letzter gewesen sein.“

Mit einem tiefen Atemzug bündelte sie ihren Willen und löschte den Anschein von Leben aus, der dem Zombie seine Kraft verlieh. Hinter ihr gab die Hexe einen erstickten Schrei von sich.

Liliana blickte auf den Leib des Soldaten herab, auf seine zerfetzte Rüstung, auf seine zerrissene, blutbefleckte Uniform. „So viel Tod“, sagte sie. Sie hob den Blick und schaute den Raben an, der sich über ihr niedergelassen hatte. „Und dies ist erst der Anfang.“

Zu ihren Füßen stieg dort, wo die Geisterhände im Erdreich versunken waren, ein goldenes Leuchten aus der Asche auf. Sie ging auf die Knie, grub die eigene Hand in den Boden und nahm den Lohn ihrer Mühen entgegen. Als sie die Hand wieder hervorzog, umklammerte sie einen verkümmerten, geschwärzten Brocken Esiswurz, der sanft golden leuchtete. Daraus ließ sich ein weitaus mächtigerer Trank brauen, als sie es ursprünglich vorgehabt hatte, denn dieser Brocken war von der Lebenskraft durchzogen, die sie den Hauthexen geraubt hatte. Der Mann hatte recht gehabt: Sie hatte gewusst, was zu tun war. Natürlich hatte sie es gewusst.

Sie barg die Wurzel an ihrer Brust und nahm den Rückweg durch den Wald zum Haus ihres Vaters in Angriff.

Sie grinste zu dem Vogel hinauf, als sie an ihm vorüberkam. „Danke, Rabenmann.“


Das Versprechen der Leere

Der geschwärzte Esiswurz ergab einen Trank, der so golden leuchtete wie die Dämmerung, wenn sie einen Morgennebel wärmte. Das Leuchten erinnerte Liliana an die lebensspendende Kraft, die der Trank besaß. Sie trug ihn vorsichtig auf Händen wie einen verletzten Vogel, als sie durch den Trubel des Hauses schritt, und bewunderte das Licht, das ihrer dunklen Magie entsprungen war. Die Diener verbeugten sich und machten ihr Platz, wenn sie sich näherte, doch sobald sie vorüber war, nahmen sie ihr Zetern und Umhereilen sogleich wieder auf.

„Kaltes Wasser!“

„Frisches Bettzeug!“

„Wo bleibt die Brühe?“

„Wasser!“

Sie beachtete all die Rufe nicht, überzeugt, dass jenes Elixier, das sie trug, schon bald genug all der Sorge und all dem Aufruhr ein Ende bereiten würde.

„Frau Liliana ist zurück!“, rief ein Diener vor ihr aus, und endlich blickte sie auf.

Sie stand im Flur vor Josus Zimmer. Als Antwort auf den Ruf des Dieners trat Frau Ana durch die Tür heraus und stemmte die Hände in die Hüften. Stirnrunzelnd blickte sie auf die Phiole in Lilianas Händen.

„Das ist kein Esiswurz“, sagte die Heilerin.

Liliana hielt inne, denn ihr Selbstvertrauen geriet angesichts ihrer gebieterischen Lehrmeisterin ins Wanken. Doch dann hörte sie Josus Schreien aus dem Zimmer – „Schädel! Schädel fliegen durch die Bäume!“ –, und sie erinnerte sich wieder, was sie auf sich genommen hatte, um diesen Trank herzustellen, und was gerade alles auf dem Spiel stand. Sie straffte die Schultern und erwiderte Frau Anas herrischen Blick.

„Es ist besser“, verkündete sie.

Ana blickte höhnisch drein. „Das werde ich beurteilen. Wie hast du den Trank hergestellt? Woraus besteht er?“

„Für eine Untersuchung ist keine Zeit. Josu stirbt!“

„Das Verabreichen von Heilmitteln darf man nicht überstürzen“, sagte Ana und verschränkte die Arme vor der Brust. „Einige Tränke richten mehr Schaden an, als sie nützen.“ Ihr Blick huschte zu der Phiole in Lilianas Händen, und ihr Mund zog sich zusammen.

„Die Hexen!“, rief Josu aus seinem Bett. „Nein, nein, nein! Die Flammen!“

„Ich habe ihn aus Esiswurz hergestellt“, sagte Liliana, „aber ich habe ihn verbessert.“

„Verbessert? Wie?“

„Es brennt!“ Josu schrie, und Liliana konnte den Tumult hören, wie die Diener versuchten, ihn zu beruhigen, sein Fieber zu senken und seiner Qual etwas Linderung zu verschaffen.

„Tretet beiseite, Frau Ana“, sagte sie. „Josu muss das trinken. Sofort!“

Ana baute sich mit hochrotem Gesicht vor ihr auf. „Eine Schülerin hat ihre Meisterin nicht auf diese Weise anzusprechen.“

Liliana holte tief Luft und stählte sich gegen die Zurückweisung. Es war nicht nur Macht, die in ihr erblühte: Sie selbst öffnete sich immer weiter, ihr Geist entfaltete sich und ihr wahres Selbst kam zum Vorschein. Dies war ihre Zeit. Das Leben ihres Bruders stand auf dem Spiel. Sie wusste, was sie zu tun hatte.

„Dann ist es an der Zeit, dass meine Lehrzeit zu Ende geht“, sagte sie. „Eure Macht kann sich ohnehin nicht mit der meinen messen.“

„Macht? In der Heilkunst geht es nicht um Macht.“

„Ach, meint Ihr?“ Liliana lachte. „Tretet zurück und seht selbst.“

Sie drängte sich an der Heilerin vorbei in das Zimmer ihres Bruders und fiel neben seinem Bett auf die Knie.

„Bleib von meinem Kranken fort!“, zischte Ana.

In all den Jahren ihrer Lehrzeit hatte diese Stimme stets einen sofortigen Gehorsam veranlasst, und beinahe wäre Liliana ob der schieren Macht der Gewohnheit zurückgewichen. Doch Josu griff nach ihrer Hand und blickte sie an – und alles andere verblasste dagegen.

„Josu?“, murmelte sie. „Kannst du mich hören?“

„Die Hexen“, sagte er. Nun da er nicht mehr schrie, klang er wie ein verängstigtes Kind. „Sie haben ihnen die Haut abgezogen ...“

Liliana holte ihre leuchtende Phiole hervor, und ihr goldener Schimmer spiegelte sich in Josus Augen, als er sie anstarrte. „Trink das, Bruder.“ Sie hielt ihm die Phiole an die Lippen. „Es wird dir Ruhe schenken.“

„Tu es nicht!“, verlangte Frau Ana ein letztes Mal, doch es war zu spät.

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Der Trank füllte Josus Mund, und ein schimmernder goldener Tropfen rann ihm das Kinn hinunter. Einen Wimpernschlag lang war sein Gesicht von Angst verzerrt, und Liliana fürchtete, er würde die kostbare Flüssigkeit ausspucken, doch dann schluckte er. Und dann wieder. Und dann noch einmal. Danach schloss er die Augen und sank in die Kissen zurück.

Seine einzige Regung war das langsame Heben und Senken seiner Brust, wenn er atmete. Liliana strich ihm das Haar aus der schweißnassen Stirn, und seine Mundwinkel zeigten die Andeutung eines Lächelns.

„Liliana“, seufzte er.

Hinter ihr schnappte eine der Bediensteten nach Luft. „Er erkennt sie!“, sagte die Dienerin.

Frau Ana räusperte sich missbilligend. „Na schön. Nun schläft er dank dir ruhiger. Kannst du mir jetzt wohl sagen ...“

„Lili!“, rief Josu. Seine Lider öffneten sich weit und gaben den Blick auf zwei pechschwarze Murmeln frei. Einen Moment lang sah sie, wie sich ihr Gesicht darin spiegelte: tot, die Augen weggefault und die Haut straff über die Knochen gespannt.

Er wurde steif, seine leeren Augen blickten zur Decke. Liliana bemerkte dort, wo der Trank aus seinem Mund getropft war, einen schwarzen Fleck auf seiner Lippe. Josu schien vor ihr zu schrumpfen. Seine Augen sanken zurück in den Schädel, und seine bleiche Haut wurde wächsern und straff. Seine Wangenknochen ragten spitz aus dem Gesicht hervor, und seine Lippen zogen sich von seinen Zähnen zurück.

„Was hast du getan, Kind?“, flüsterte Frau Ana. Sie stieß Liliana beiseite und beugte sich über Josus reglose Gestalt.

Liliana taumelte zum Fußende des Bettes. Ihr Geist drohte zu zerspringen, als sie auf ihren Bruder hinunterstarrte. Was hatte sie getan? Der Trank – ihr Trank, durch ihre Magie und ihre Kunst gebraut – hatte ihn nicht im Mindesten geheilt.

Er hatte ihn getötet. All ihre Anstrengungen ... Und nun war das Ergebnis schlimmer, als hätte sie gar nichts getan.

Viel schlimmer.

Frau Ana stand vom Bett auf. Mit bleichem Gesicht begann sie, die Diener aus dem Zimmer zu scheuchen. Liliana setzte sich neben ihren Bruder auf die Bettkante und drückte seine kalte, starre Hand, als könnte sie ihr so die Wärme wiedergeben.

Dann entwand sich seine Hand ihrem Griff und fuhr ihr an die Kehle. Scharfe Nägel gruben sich ihr in die Haut.

„So viel Schmerz ...“, sagte Josu.

Er setzte sich auf und brachte sein Gesicht ganz dicht an ihres. „Wohin hast du mich geschickt?“, fragte er.

Sein fauliger Atem stach ihr in die Nase, während sie um Luft rang und versuchte, seinen Griff um ihren Hals zu lösen.

„So ... viel ... Schmerz!“, schrie er und schleuderte Liliana gegen die Wand. Sie sank am Boden zusammen, als Frau Ana schrill aufschrie.

„Josu“, flüsterte Liliana. „Es tut mir so leid.“

„Es tut dir leid!“ Er rappelte sich auf und schlurfte auf sie zu. „Du hast mich verdammt, Schwester!“ Er funkelte sie an und legte die klauenhaften Finger an den eigenen Hals. „Du hast mich zu endlosen Qualen verdammt!“ Er fuhr sich mit den Nägeln Hals und Brust hinunter und riss sich dabei Haut und Kleidung auf ... doch kein Tropfen Blut rann aus seinen Wunden. „Zu Qualen!“

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Sie drückte sich gegen die Wand und rappelte sich auf, um vor ihm zurückzuweichen. Doch trotz der Steifheit seiner Glieder war er schnell und umklammerte erneut mit der Hand ihren Hals, um sie gegen das Mauerwerk zu schieben.

„Lass mich dir helfen, Josu“, flehte sie. „Komm zurück. Komm zurück und wir machen es wieder gut.“

„Mir helfen?“ Seine Stimme war ein knurrendes Flüstern. „Ich bin in der Leere verloren, Lili. Verloren! Warum also bin ich noch hier?“

„Ich weiß es nicht, Bruder. Ich weiß es nicht. Aber ich mache es wieder gut. Vertrau ...“

Er schloss seinen Griff fester und schnitt ihr das Wort ab. „Dir vertrauen? Dir vertrauen? Nein!“

„Lass mich los“, krächzte sie.

„Die Leere wird dich holen, Lili. Sie ist unersättlich. Sie wird uns beide holen.“

„Lass mich los“, sagte sie erneut. Ihre Angst und Trauer wurden fortgewischt, bis nur kalte Wut übrig blieb. Erinnerungen an die moosbedeckten Bäume, die feuchte Luft und das stinkende Wasser im Herzen des Caligo huschten durch ihren Geist, als das Mana in sie strömte, ihr das Blut kühlte und ihr auf der Haut kribbelte.

„Ich werde dich niemals gehen lassen, kleine Schwester. Jetzt nicht mehr. Wir werden vereint sein, du und ich. Vereint in dieser ewigen Qual!“

„Lass los!“ Lilianas Wut entlud sich in einem Stoß fahler Dunkelheit zwischen ihnen, die Josu zurück aufs Bett warf und den Putz an der Wand hinter ihr zum Knacken und Bersten brachte. Die Schatten tanzten um seinen Körper und verschwanden dann, indem sie in seine bleiche Haut hineinsickerten. Er stand nun wieder aufrecht, nicht ganz so steif, und funkelte sie an.

„Meine süße Schwester hat sich also an der Nekromantie versucht“, sagte er, „und mich zu dem hier gemacht!“ Er streckte die Hand nach ihr aus, und eine Wolke aus Schatten quoll aus den Fingerspitzen auf sie zu.

Sie riss schützend die Hände nach oben. Die Schatten durchbohrten sie, zerrten ihr an der Seele und prallten gegen die Mauer hinter ihr. Obwohl ihr nun bitterkalt war, hatte Josus Zauber ihr weniger geschadet als der Wand. Als ihre Stütze zu Asche zerfiel, stolperte sie und fiel zwischen die Trümmer.

Liliana war sich vage des Chaos bewusst, das um sie herum ausbrach: Das Gesinde schrie, rannte umher und wimmerte vor Schmerz oder weinte vor Trauer. Wie konnte das alles nur derart aus dem Ruder laufen?, fragte sie sich. Sie hatte ob der erblühenden Macht in ihr frohlockt, doch nun schien diese Macht in sich zusammenzufallen und nichts als eine öde Leere zu hinterlassen.

Nein, dachte sie. Ich muss das wiedergutmachen.

Während sie zurückwich, als er erneut auf sie zuschritt, versuchte sie, sich eines Zaubers zu entsinnen, um das, was sie getan hatte, rückgängig zu machen und den pervertierten Anschein eines Lebensfunkens zu echtem Leben zu entfachen. In der Zwischenzeit musste sie ihn jedoch von sich fernhalten. Sie schleuderte ihm Zauber um Zauber entgegen, Wogen aus Dunkelheit und gierig um sich greifende Schattenklauen. Wieder und wieder heulte er vor Schmerz auf, während er sie mit einem endlosen Strom an Beschimpfungen überzog. Doch statt ihn am Näherkommen zu hindern, schienen ihre Zauber ihn nur stärker werden zu lassen.

Und dann verstand sie, dass das auch durchaus Sinn ergab. Das wahre Ausmaß ihrer Selbsttäuschung wurde ihr nun offenbar. All diese Zeit hatte sie geglaubt, sie hätte ihre geheimen nekromantischen Schriften studiert und die dunklen Künste erforscht, um damit ihrer Heilkunst zu dienen. Um die Macht des Todes in den Dienst des Lebens zu zwingen. Um jedes ihr zur Verfügung stehende Mittel zu nutzen, wie alle Heiler es tun sollten. Doch das Ergebnis war Josu: eine schreckliche Verschmelzung aus Leben und Tod. Und all ihre Zauber, die dazu dienten, Einfluss auf die Lebenskraft Sterblicher zu nehmen, konnten den Toten nichts anhaben.

Josu erwiderte jeden ihrer Zauber mit einem eigenen, zertrümmerte Mauern und zerschlug Fenster. Irrläufer, die von ihren eigentlichen Zielen abprallten, trafen Diener und ließen deren Fleisch verdorren, schmolzen ihre Knochen oder verschlangen ihre Seelen.

So viel Tod, dachte sie. Und wenn mir nicht bald etwas einfällt, bin ich die Nächste.

Josus gnadenloser Ansturm forderte seinen Tribut. Das Mana, das sie durchflossen und ihre Magie befeuert hatte, schien die Wirkung seiner Zauber auf sie zu dämpfen, doch es war kein perfekter Schild. Ihre Hände waren kalt, ihre Glieder steif und ihre Gedanken verlangsamten sich, als die Magie des Todes ihre Stärke, ihren Körper und ihre Seele verzehrte.

Josu – das Ding, das einst Josu war – streckte die Hände aus und Schatten hüllten sie ein. Klauen aus Dunkelheit griffen nach ihr, hoben sie vom Boden auf und schnappten nach den letzten Funken aus Leben und Kraft, die noch in ihr waren. Sie keuchte, als die Schatten in ihren Mund krochen und ihr den Atem unmittelbar aus den Lungen raubten. Sie fühlte sich so kalt wie der Tod selbst, erstickt, als wäre sie lebendig begraben, gefangen im unerbittlichen Griff der Magie ihres Bruders.

Er stand nun vor ihr und blickte ihr in die Augen, die klauenartigen Hände erhoben, als würde er selbst und nicht sein Zauber sie in der Luft halten und das Leben aus ihr herauspressen.

„Komm zu mir, Lili“, sagte er. „Wir können all die Qualen der Leere nun für immer miteinander teilen.“

Ihre Augen flehten, doch kein Funke des Mitleids leuchtete in seinen leblosen schwarzen Höhlen auf. Endlich schloss sie die Lider, unfähig, jenen Schrecken anzusehen, den sie erschaffen hatte. Der Tod rückte immer näher, und in ihrem Kopf drehte sich alles.

Und dann entzündete sich in einem Augenblick vollkommener einsamer Verzweiflung etwas in Liliana: ein Funke unergründlicher Dunkelheit, der zugleich kälter als der Griff des Todes und heißer als die Sonne war, dunkel und endlos wie die Leere, doch ewiglich am Leben. Eine Unendlichkeit an Möglichkeiten, die Macht der Schöpfung selbst ... und die der vollständigen Auslöschung. Sie griff nach dieser neuen Macht, klammerte sich an diesen letzten Hoffnungsschimmer.

Ihre Seele brannte in köstlicher Qual, und Josus Magie löste sich auf, nicht länger in der Lage, sie noch weiter festzuhalten. Sie öffnete die Augen und sah, wie Josu vor ihr zurückwich, das eingefallene Gesicht vor Schreck verzerrt.

Sie streckte die Hände zur Seite aus und die Leichen, die verstreut in den Trümmern lagen, erhoben sich und erwarteten ein weiteres Mal ihre Befehle. Die Horde von Zombies schlurfte auf Josu zu, übermannte und verschlang ihn.

Bild von Izzy

Als Josu gegen den Strom untoten Fleisches ankämpfte, spürte sie etwas von hinten an ihr zerren. Als sie herumwirbelte, sah sie, wie sich die Ruinen des Hauses ihres Vaters veränderten. Die Wände verdrehten sich und brachen auseinander, um dunkle Baumstämme unter einem Dach schwarzen Laubes zu bilden. Staubwolken wurden zu Nebelschwaden und der von Trümmern übersäte Fußboden zu sumpfigem Untergrund voller toter Blätter und knorriger Wurzeln. Ihre Füße bewegten sich nicht, doch sie spürte, wie sie durch unaussprechliche Weiten gezogen und aus jener Welt, die sie kannte, herausgerissen und in eine neue hineingestoßen wurde.

Dann war ihr Zuhause fort. Josu war fort. Die Zombies waren fort. Alles, was sie kannte, war fort, und sie sank auf dem sumpfigen Boden auf die Knie.


Einst waren wir Götter

Mehr als ein Jahrhundert später trat eine alte Frau von einer Welt in eine andere. Die Jahre lagen ihr wie eine Last auf den Schultern, die nicht minder schwer wog wie ihre Trauer.

„Ich dachte schon, ich warte umsonst.“

Die grollende Stimme grüßte sie, noch ehe sie die andere Welt vollständig hinter sich gelassen hatte, und mit ihrem ersten Schritt auf dem Marmorboden der großen Halle spürte sie diesen von der Macht jener Stimme erzittern.

„Noch nicht“, sagte Liliana grinsend. „Und das müsst Ihr auch niemals tun, wenn Ihr mir so helft, wie Ihr es versprochen habt.“ Die Aussicht auf den nahenden Tod – einen derart gewöhnlichen Tod, wie er nur sein konnte: vom Alter dahingerafft – hatte sie hierhergeführt, um die Hilfe des einzigen Wesens auf allen Welten zu suchen, das mächtig genug war, den Tod selbst in Schach zu halten.

Der Boden bebte erneut, als der Drache kicherte. Liliana wandte sich um, um ihn anzuschauen: Sie drehte sich um, hob den Kopf, trat zurück, um mehr zu sehen, und dennoch füllte seine immense Größe ihr gesamtes Blickfeld aus. So gewaltig die Halle auch sein mochte, die riesigen, geschwungenen Hörner kratzten an der Decke und seine ausgestreckten Schwingen streiften zu beiden Seiten die Wände. Sie unterdrückte einen finsteren Blick: Nicol Bolas versuchte, sie einzuschüchtern und sie daran zu erinnern, wer bei ihren Unterredungen die Oberhand hatte. Und schlimmer noch: Er hatte Erfolg damit.

„Ich kann dir helfen, Liliana Vess“, sagte Bolas. „Doch Unsterblichkeit liegt außerhalb unser aller Möglichkeiten.“

Bild von D. Alexander Gregory

„Sprach der dreißigtausend Jahre alte Drache.“ Liliana drehte ihm den Rücken zu und starrte auf ihre Hände hinunter. Faltig und voller Flecken, wie sie das Alter mit sich brachte, hing ihr die Haut lose von den Knochen. Sie stand so aufrecht, wie sie konnte, nicht gewillt, die Zerbrechlichkeit ihres Körpers dem mächtigen Drachen preiszugeben. Doch es war nicht nur ihr Körper: Auch ihre Seele glich einer verwelken Blume und war jeglicher Hoffnung beraubt.

„Wie tief wir doch gesunken sind“, sagte er. „Einst waren wir Götter, die bekannte und unbekannte Welten gleichermaßen mit dem von ihnen gestifteten Chaos überzogen.“

Seine Worte trafen sie. Sie waren Planeswalker, keine Götter, doch in jenen ersten Jahren hatte dies kaum einen Unterschied gemacht. Der Funke, der in ihrem Herzen entzündet worden war, hatte eine größere Macht entfesselt, als sie sich jemals hatte vorstellen können. Er hatte sie unsterblich und nahezu allmächtig gemacht und die endlosen Heerscharen des Todes unter ihren Befehl gestellt. Über Jahrzehnte war sie über die zahllosen Welten des Multiversums gewandelt und hatte ihren Willen und ihre Launen Welten aufgezwungen, die nicht mächtig genug waren, sich ihr zu widersetzen. Nur eines war dieser Tage jenseits ihrer Macht gewesen: das rückgängig zu machen, was sie Josu angetan hatte.

Und dann hatte sich das Multiversum neu geformt und sie und jeden anderen Planeswalker jener gottgleichen Kräfte beraubt, über die sie einst geboten hatten. Einige nannten es die Erholung, als wäre etwas, was zerbrochen war, geheilt worden, doch für Liliana war es genau das Gegenteil. Sie war daran zerbrochen, ohne jede Hoffnung auf Heilung. Sie hatte Jahrzehnte darauf verwendet, zumindest einen Bruchteil jener magischen Macht zurückzugewinnen, die sie verloren hatte, und es war nicht genug – nicht genug, den Tod von ihrer Schwelle fernzuhalten. Josu hatte versprochen, dass sie im Tode vereint sein und sie seine ewige Qual teilen würde, und Liliana hatte nicht vor, dem eisigen Griff des Todes zu gestatten, dieses Versprechen einzulösen.

„Ihr seid nicht so tief gesunken“, sagte Liliana, ohne dass es ihr gelungen wäre, die Bitterkeit aus ihrer Stimme zu verbannen.

„Du kanntest mich nicht auf der Höhe meiner Macht, die größer war als alles, was du in einem Dutzend Leben lernen könntest.“

„Dann gebt mir hundert!“ Liliana wirbelte zu ihm herum. „Seht mich an, Bolas! Ich kann den Atem des Todes bereits im Nacken spüren!“

„Vielleicht liegt das daran, dass er dir in all den Jahren ein solch treuer Gefährte war.“

„Kein Gefährte. Ein Werkzeug. Etwas, was man anderen antut. Nichts, dem man sich selbst hingibt.“

„Ich bin sicher, einige deiner alten Lehrmeister würden dem widersprechen.“ Der Boden bebte erneut unter der Belustigung des Drachen. „Sicher hast du viel von den Vampiren gelernt, als du nach Innistrad gingst, und mit Lichen studiert, den Meistern der Nekromantie. Sie haben sicher von dir verlangt, dich im Tod zu ergehen und forsch in ihn voranzuschreiten, anstatt sein Nahen zu fürchten.“

Als Nicol Bolas sprach, senkte er das Haupt dichter an Lilianas heran und drehte es so, dass sie sich selbst in einem seiner riesigen, schwarzen Augen sehen konnte. Faltig und ausgelaugt, von verblasster Schönheit. Das Gespenst des Todes ging in ihren Augen um, und was sie da sah, war kaum anders als das, was sie vor all den Jahren in Josus Augen gesehen hatte.

Liliana wandte sich ab. Ich bin mehr als das, was ich zu sein scheine, gemahnte sie sich selbst.

„Eine Königin herrscht nicht über ihr Volk, indem sie eine der ihren ist“, sagte sie. „Wollte ich diesen Weg beschreiten, wäre ich jetzt auf Innistrad, nicht hier. Wie ist es nun? Könnt Ihr mir helfen oder nicht?“

„Wie ich dir bereits sagte, kann ich dich mit jenen Wesen bekannt machen, die dazu in der Lage sind.“

„Vier Dämonen, sagtet Ihr. Und der Preis ist meine Seele, ja? Zahlbar bei meinem Tode?“

„Ganz so leicht ist es nicht.“

„Natürlich nicht.“ Liliana seufzte. „Nichts ist je einfach mit Euch, nicht wahr, Bolas?“

„Ganz im Gegenteil. Viele Dinge, die dein Geist nicht einmal zu erahnen mag, sind für mich höchst einfach.“

Sie schnaubte. „Eure Bescheidenheit ist wahrlich atemberaubend.“

„Nichts mehr als eine reine Tatsache, Liliana Vess. Immerhin bist und bleibst du doch nur ein Mensch.“

„‚Einst waren wir Götter.‘ Ich brauche diese Macht zurück, Bolas. Macht und Jugend und Stärke. Selbst wenn es mich meine Seele kostet.“

„Gut.“ Der Atem des Drachen war nah und versengte ihr den Nacken. „Doch eine Seele ist kein Kleinod, das du einem Dämon einfach überreichen kannst, oder ein Fünkchen Energie, das er bei deinem Tod in sich aufnehmen könnte. Du verpfändest deine Seele. Vergiss das nicht. Denn niemand mit nur einem Hauch einer Seele könnte die Aufgaben erfüllen, die man dir stellen wird, um deine Schulden zu begleichen.“

Liliana versuchte, ein Schaudern zu unterdrücken.

„Doch warum sollte dich das scheren?“, sagte der Drache. „Nach allem, was du bereits getan hast? Du hast mit den größten Nekromanten sämtlicher Welten studiert. Du hast Engel dahingeschlachtet. Du hast den bezwungen, der dich auf deinen Pfad geführt hat. Wie hast du ihn genannt? Den Rabenmann?“

Liliana nickte abwesend und dachte an ihre erste Begegnung mit dem Rabenmann vor so vielen Jahren zurück. Und an die schrecklichen Ereignisse, die darauf gefolgt waren. Sie hatte ihn besiegt, wie der Drache gesagt hatte, doch nicht getötet – noch nicht.

„Vielleicht hast du deine Seele bereits aufgegeben“, sagte Bolas.

Mit einiger Überraschung stellte Liliana fest, dass diese Vorstellung sie beunruhigte. Bolas hatte recht. Seit ihrer ersten Begegnung mit dem Rabenmann im Caligo-Wald hatte sie sich ihrer Macht hingegeben und sich von ihr führen lassen. Ihr Leben war eine einzige moralische Gratwanderung gewesen, ein unaufhaltsames Hinabschlittern in die Finsternis. Was war noch übrig, was sie von den übelsten Schurken des Multiversums unterschied?

Nur dieser Augenblick, dachte sie, dieser kurze Augenblick des Zögerns.

Liliana wandte sich um und blickte dem Drachen in sein ungerührtes Auge. „Bringen wir‘s hinter uns.“


Auf die Haut geschrieben

Zum vierten Mal führte Nicol Bolas Liliana von seiner großen Marmorhalle auf eine Welt, die sie nicht erkannte. Nachdem sie drei Pakte mit drei verschiedenen Dämonen geschlossen hatte, floss neue Macht durch ihren Körper – und dennoch war sie in den Klauen des Drachen kaum mehr als eine Lumpenpuppe.

Und sie war noch immer alt.

Der Drache setzte sie in einer weiteren großen Halle ab. Lodernde Flammen füllten einen Bogengang vor ihr aus, doch als Bolas sich zurückzog, erstarben sie und der vierte Dämon kam in Sicht, wie er sich an sie heranschlängelte. Statt Beinen hatte er einen mächtigen Schwanz, der hinter ihm in den Feuern endete. Sein tierhafter Kopf ragte aus massigen Schultern vor, und sein Gesicht wurde von einem scheelen Grinsen beherrscht, das seine spitzen Zähne entblößte. Zwei Hörner, die ein ausladender Kopfschmuck krönte, wanden sich seitlich aus einer gelbbraunen Mähne. Löchrige, ledrige Flügel wuchsen ihm aus den Schultern. Seine langen Arme, die in scharfen Klauen endeten, reichten beinahe bis zum Boden.

Bild von Tianhua X

„Liliana Vess“, sagte er und beugte sich herab, sodass sein Atem ihr über das Gesicht wallte. Seine Stimme war ein kehliges Flüstern, und eine Schlangenzunge huschte zwischen seinen Zähnen hervor, als er die letzte Silbe ihres Namens in die Länge zog. „Ich bin Kothophed.“

„Und du kennst meinen Namen. Ich nehme daher an, dass wir keine weiteren Höflichkeiten auszutauschen haben.“

Der Dämon stieß ein kurzes Lachen aus. „In der Tat. Wenn ich es richtig verstehe, bin ich der vierte deiner Gönner. Entsprachen deine anderen Übereinkünfte deinen Erwartungen?“

„Ich kann nicht klagen.“ Bolas hatte sie davor gewarnt, einem der Dämonen zu viel von den anderen zu erzählen, und sie versuchte, selbst die leiseste Erinnerung an die bisherigen drei aus dem Vordergrund ihres Denkens zu verbannen.

„Oh, ist das so? Können wir dann auf eine Vereinbarung verzichten? Du hast schon alles, was du begehrst?“

Sie grinste. „Ich bin mit den Vorzügen einer jeden der früheren Vereinbarungen zufrieden, und ich bin sicher, dass ich es auch mit dieser sein werde, sobald sie erst einmal getroffen ist.“

„Oh, aber ich werde von all deinen Meistern am meisten von dir fordern, Liliana. Ich habe Großes für dich im Sinn. Falls du also auch nur das geringste Zaudern empfindest, solltest du es dir vielleicht anders überlegen. Du hast bereits reichlich Macht angehäuft.“

„Nicht genug“, sagte sie. Bolas hatte sie auch gewarnt, dass die Dämonen sie töten würden, falls sie versuchen sollte, einen Pakt zu brechen, und selbst mit jener Macht, die sie angesammelt hatte, bezweifelte sie, dass sie Kothoped gewachsen gewesen wäre. Dunkles Mana stieg von ihm auf wie Hitze von einem Scheiterhaufen.

„So gierig nach Unsterblichkeit“, sagte der Dämon und schlängelte sich nach vorne und um sie herum. „Doch du hast genug Macht, um dein Leben um einige Jahrzehnte zu verlängern, vielleicht sogar um ein ganzes Jahrhundert. Und in dieser Zeit könntest du mit dem Multiversum anfangen, was immer du auch möchtest. Ist das nicht genug?“

„Den Tod in den Jahren, die noch vor mir liegen – wie viele es auch immer sein mögen –, nur auf Armeslänge entfernt halten? Nein, das ist nicht genug. Ich will frei sein von seinem Schatten.“

Wie ich es vor Josu war, dachte sie. Jung und lebendig und herrlich unwissend, was die Anzahl der mir noch verbleibenden Tage anbelangt.

„Doch du hast den Tod bereits angenommen“, sagte der Dämon nun von hinter ihr aus. „Du hast ihn in deine Seele gelassen, deinen Funken an ihn gebunden, ihn in jeden Hauch von Magie in dir eingewoben. Er wirft einen sehr langen Schatten über dich, meine Teure.“

„Doch der Tod kam immer nur für andere, aber nie für mich“, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu dem Dämon.

Als sie sprach, zerfloss der Raum um sie herum und sie stand auf einer tristen Ebene. So weit das Auge reichte, türmten sich Leichen, und Raben hüpften von Kadaver zu Kadaver und pickten sich die köstlichsten Stücke heraus.

„Ich bin dein Tod“, flüsterte Kothophed ihr ins Ohr. „Töte mich und du wirst niemals sterben.“

Sie wirbelte herum, einen Zauber auf den Lippen, doch der Dämon war fort. Sie hörte nur sein keckerndes Lachen hinter sich, nun einige Dutzend Schritte entfernt.

Liliana streckte die Hand aus, und schwarze Vögel stoben flügelschlagend auf, als sich überall auf dem Schlachtfeld Leichen ungelenk aufrichteten und auf den Dämon zuschlurften. Kothophed musterte das Schlachtfeld, als würde er die Zombies darauf zählen. Sein Schakalsgrinsen blieb unverändert.

„Beeindruckend“, rief er. Der Dämon peitschte zweimal kurz mit dem Schwanz und schleuderte die Leichen – erneut leblos – in alle Richtungen davon.

„Das war zum Aufwärmen“, rief Liliana zurück und versuchte, ihre Angst zu verbergen. Bolas hatte ihr versichert, dass die Dämonen zugestimmt hatten, sie nicht zu töten, solange sie sich an die getroffenen Abmachungen hielt. Doch Kothophed schien begierig darauf zu sein, den Pakt von Anfang an zu brechen, und dieser Kampf fühlte sich nicht wie eine Prüfung an.

Ein halbes Dutzend Schemen – wie Irrlichter aus Schatten, die eine bittere Käte verströmten – fuhren auf den Dämon nieder, glitten durch seinen Körper und kehrten doch mit leeren Händen zurück. Ein einzelner dieser Schemen konnte einen Menschen töten, indem er dessen Seele packte und eine kalte Leiche am Boden zurückließ, doch selbst sechs von ihnen konnten dem Dämon nichts anhaben.

Als Liliana endlich ihren gewohnten Zauberrhythmus gefunden hatte, stieg sie langsam in die Höhe, umgeben von einer Aura aus Schatten. Sie griff nach der Lebenskraft des Dämons selbst und versuchte, ihm Kraft zu entziehen, um ihre eigene Magie zu stärken. Kothophed schlängelte sich auf ihr magisches Ziehen und Zerren hin näher an sie heran und sandte dann eine Woge aus Kraft gegen sie aus, die sie zurücktaumeln ließ.

Welle um Welle gieriger Schemen, schlurfender Zombies und Geister auf großen geflügelten Schatten folgten ihren fieberhaften Beschwörungen und stürmten auf ihren Befehl hin auf den Dämon ein, nur um von Kothopeds Schwanz, schwertartige Klauen oder knirschende Kiefer ausgemerzt zu werden. Doch sie verschafften ihr Zeit: Zeit, um aus den Knochen und dem Fleisch der Gefallenen einen wahren Schrecken zu formen, ein giftspeiendes Ungeheuer mit den seelenraubenden Klauen eines Geistes und der rohen Stärke eines Titanen.

Einen Augenblick lange dachte sie, diese Kreatur könnte Kothoped tatsächlich zu schaffen machen. Der Dämon rang mit ihr und geriet dichter an Liliana heran, als die beiden Ungeheuer zu einem einzigen Gewirr aus Gliedmaßen, Klauen und Zähnen verschmolzen. Doch als der Dämon näherkam, war deutlich, wer den Kampf diktierte. Kothophed griff nach dem Schrecken und riss ihm die Gliedmaßen entzwei, um sie ihr vor die Füße zu werfen.

Dann drang er auf sie ein.

Der kalte Atem des Dämon ließ ihre Haut taub werden. Seine Klauen schlugen in ihr Fleisch. Er hielt sie in einer seiner großen Hände. Mit der anderen schnitt er ihr mit einer Klaue vom Scheitel bis zu den Zehen hinunter die Haut auf, so tief, dass er über Knochen kratzte. Sie schrie.

Als der Schnitt gemacht war, schlug der Dämon ihre gealterte Haut zurück und zog sie ihr ab, als wäre sie ein frisch geschlachtetes Kaninchen. Doch was Liliana darunter sah, war ein jüngerer Körper, über und über von Blut bedeckt, doch geschmeidig und weich. Kothoped stellte sie zurück auf die Füße, und sie spürte festen Marmor unter sich. Das Leichenfeld verschwamm, und ein weiteres Mal stand sie in der Säulenhalle des Dämons.

Sie blickte an sich herunter. Ihr schwarzes Kleid war unversehrt. Doch ihre Haut, ihre Figur, ihre Haltung waren die eines jüngeren Selbst. Sie war wieder schön.

„Was“, stieß sie aus, „war das?“

Der Dämon lachte, lange und laut.

„Falls dies eine Prüfung gewesen sein soll“, sagte sie, „dann habe ich sie offensichtlich nicht bestanden. Warum also bin ich noch hier? Warum sehe ich so aus?“

Der Dämon unterdrückte ein Lachen und senkte den Kopf, bis seine gelben Augen auf einer Höhe mit ihren waren. „Es war keine Prüfung. Es war eine Lektion. Eine, die du sicher nicht vergessen wirst.“

Er hielt ihr erneut eine Klaue vors Gesicht. Ob der Erwartung von neuerlichem Schmerz wand sie sich leicht in seinem Griff, was ihn ein weiteres Mal auflachen ließ. „Halt still“, sagte er. „Ich bin mit meinem Teil der Abmachung noch nicht fertig.“

Seine Berührung war sanfter, doch noch immer schmerzhaft, als er die Linien auf ihren Gesicht mit seiner Klaue nachzeichnete. „Du bist ein Planeswalker“, sagte er, während er weiterarbeitete. „Das macht dich zu etwas Besonderem. Überdies bist du eine der mächtigsten Magierinnen aller Welten, und das macht dich zu etwas Außergewöhnlichem.“

Bild von Aleksi Briclot

Ja, dachte sie. Das hat der Rabenmann auch gesagt.

Als er mit ihrem Gesicht fertig war, wandte sich der Dämon ihrem Hals und ihren Schultern zu. „Doch im Vergleich mit mir bist du nichts. Deine mächtigsten Zauber konnten mir kaum etwas anhaben. Und dein menschlicher Geist wird dem meinen nie ebenbürtig sein.“

Glaub das nur, dachte sie unter Schmerzen. Der Dämon hatte sie zermalmen wollen, doch die Kraft in ihr erblühte erneut, strahlender und mächtiger als je zuvor. Das war die Qualen wert.

„Solltest du jemals auf den Gedanken kommen, dich gegen mich messen zu wollen“, sagte der Dämon, „schlitze ich dich ein weiteres Mal auf. Doch dann wird keine junge und schöne Liliana in dir warten.“

Die Linien, die Kothopeds Klaue gezeichnet hatte, bluteten nicht. Vielmehr leuchteten sie in einem fahlen, violetten Licht, als würde die Macht, die sie ihr gewährten, wieder aus ihr hervortreten. Trotz der Qualen und trotz der Drohungen des Dämons spürte sie, wie der Schatten des Todes sich von ihr löste. Sie war jung und mächtig, und das würde sie für Äonen bleiben.

Oder zumindest bis die Dämonen kamen, um ihre Schulden einzufordern.

Doch ein Teil von Liliana war überzeugt, dass Kothoped derjenige war, der sich besser in Acht nehmen sollte. Sie war mehr, als sie zu sein schien, und der Dämon hatte sie unterschätzt, wie so viele andere vor ihm. Es war ihr Schicksal, die Dämonen zu besiegen, die Anspruch auf sie erhoben. Das wusste sie so sicher, als wäre es ein Teil ihres eigenen Fleisches. Als hätte Kothoped dieses Schicksal in ihren Wesenskern eingewoben.

Es war ihr auf die Haut geschrieben.

Bild von Karla Ortiz