Was bisher geschah: Die Vergeltung des Ob Nixilis

Die Elfen Zendikars verbrachten Generationen damit, sich ihrer in einem ständigen Wandel begriffenen Umwelt anzupassen. Zäh und furchtlos angesichts der Zerstörung durch die Turbulenz und die Eldrazi schienen ihre in einer starken Gemeinschaft fest verwurzelten Dörfer ebenso schnell wieder aus der Erde zu sprießen wie die Pflanzen des Dschungels selbst.

Mit der Ankunft der Eldrazi wurden jedoch zwei der drei großen Elfenkulturen – die Mul Daya und die Joraga – beinahe vollständig ausgelöscht. Die Überlebenden der Mul Daya – ein Volk, das ungebrochen die alten Bräuche und Familienbande achtete – waren hin- und hergerissen: Entweder sie blieben, um mit den Sprechern ihrer Dörfer in den verwüsteten Überresten ihres Landes zu sterben, oder sie gingen fort, um nach Hilfe zu suchen. Die Grünweberin Mina und ihr Bruder Denn sind zwei einsame Wanderer, die einen ganzen Kontinent durchquert haben, um Murasa zu erreichen, in der Hoffnung, dort die nötigen Verbündeten und sonstigen Mittel zu finden, um ihre gefallene Heimat zurückzuerobern.


Bei ihrer Reise durch die Verderbnis verstrichen Tage und Wochen. Der feuchte, schwere Atem der uralten Guum-Wälder wich dem rauen, trockenen Flüstern der Ebenen. Diese waren von den abertausenden Geschöpfen, die über sie hinweggehuscht waren, ganz zerfurcht. Mina hatte sorgsam auf die Bewegungen der Sonne geachtet und unbeirrt auf einen Ort zugehalten, den sie bislang nur aus zögerlich von sich gegebenem Raunen oder vagen Andeutungen kannte.

Nahe, ganz nahe. Der Gedanke schenkte ihr neue Zuversicht.

Ihre Kleidung und ihre bloßen Füße waren vom Staub der Verderbnis bedeckt. Der harte, verknöcherte Boden hinterließ Abdrücke auf ihren Sohlen, die mehr an das dichte Moos ihrer verlorenen Heimat gewöhnt waren. Entschlossen, wenngleich mit schmerzenden Gliedern, erreichte sie den Rand jener Kluft, die hier einen ersten Ausläufer der murasischen Wälder bildete.

Oder dessen, was einst Wälder gewesen waren. Die Verderbnis war von einem blendenden, reinen Weiß und ragte hier und dort in gewundenen Spitzen auf, in die sich Bäume, Tiere und Felsen verwandelt hatten. Die steilen Felswände waren vollkommen kahl, und die herrschende Stille hallte durch das gesamte Tal wider. Die Stille lastete lastete schwer auf ihr. Seit ihrer Kindheit war sie von den Geräuschen ihres Landes, ihrer Ältesten und ihrer Familie umgeben gewesen. Flüstern, Rufe, Befehle, Bitten ... Ihre Laute hatten sie selbst immer fest an jemandem oder etwas verankert und ihr Halt gegeben. Hier war sie nur ein einsamer Fleck aus Farbe und Klang – ein Frevel für die Leere um sie herum.

Gedankenversunken versetzte sie dem Boden unter sich einen leichten Tritt. Eine Wolke weißen Staubs waberte gehorsam empor und fiel in an Asche gemahnenden Flocken zurück zu Boden. Wie Schnee ohne Winter, sinnierte sie. Die Leere füllte ihr Augen und Ohren mit dem dumpfen, weißen Rauschen von Sinnen, die verzweifelt nach einer Aufgabe suchten. Langsam wandte sie sich um. Ihre scharfen, roten Augen suchten den Horizont nach irgendeinem Anzeichen von Farbe, Klang und Leben ab. Die nackten Steinwände hielten ihrem Blick beharrlich stand. Also reichte die Verderbnis auch bis hierher.

Bild von Jason Felix

Bei den Ahnen, fluchte sie stumm. Das wird Denn gar nicht gefallen. Sie war überzeugt gewesen, hier den Tajuru-Hain zu finden, und die beiden hatten sich am Mittag getrennt, um ein größeres Gebiet absuchen zu können.

Minas Fäuste schlossen sich um ihr langes Messer, und das Holz des Hefts fühlte sich angenehm vertraut an. Eine Woge einer inzwischen fast schon altbekannten Bitterkeit wallte in ihrer Brust auf und brandete ihr wild und warm gegen die Rippen. Sie stieß einen langen, krächzenden Ton aus, der aus der Kluft unter ihr zurückgeworfen wurde. Sie lächelte, zufrieden mit allem, was die bedrückende Stille irgendwie durchbrach.

Am anderen Ende der Kluft regte sich etwas. Eine Gestalt doppelt so groß wie Mina huschte ins Licht. Knöcherne Gliedmaßen trommelten auf der spröden Oberfläche des verderbten Bodens. Mina stockte der Atem. Die Kreatur konnte sich nicht allzu weit von ihren Jagdgründen entfernt haben. Vielleicht gab es doch noch irgendwo neue für sie? Mit einem dumpfen Fauchen wandte sich das Geschöpf Mina zu.

Gut, es hatte sie gesehen. Mina grinste und entblößte dabei spitze Zähne. Sie eilte den Abhang hinunter und wirbelte mit der plumpen Begeisterung eines Balothwelpen eine Wolke aus Staub und Verderbnis hinter sich auf. Als sie den Grund der Kluft erreicht hatte, stürmte Mina auf die Kreatur zu und löste ihr Messer vom Gürtel, während sie in einer flüssigen, instinktiven Bewegung vorwärtseilte.

Das Ding hielt an. Sein augenloses Gesicht streckte Fühler in ihre Richtung aus, Scheinfüßchen schälten sich aus seiner Haut und schabten über die rund um seinen Rumpf verlaufenden Kämme. Ein knarzendes Geräusch entfuhr seinem Leib, vielleicht in Einklang mit irgendwelchen Befehlen, die Mina nicht hören konnte. Sie tauchte unter seiner Körpermitte weg, griff sich mit einer Hand einige Scheinfüßchen und fand mit der anderen Fleisch, in das die mit Gravuren verzierte Klinge ihres Messers mit befriedigender Leichtigkeit hineinglitt und eine klaffende Wunde im Unterbauch der Kreatur schuf. Das Blut pochte in Minas Schläfen. Das Fleisch dieses Geschöpfs war zäh und fühlte sich überraschend kalt an. Ein Schnitt, der jede gewöhnliche Bestie ausgeweidet hätte, sorgte stattdessen nur für ein schwaches Tröpfeln einer ätzenden, grauen Flüssigkeit.

Kein ungewöhnliches Ergebnis für diese Art von Untier. Mina war dankbar für die Gelegenheit, sich für ihren staubigen, fußlahmen Zustand mit einer garstigeren Vorgehensweise erkenntlich zu zeigen.

Sie wich dem Hieb einer gewundenen Gließmaße aus, griff danach und kletterte daran hinauf – sie war so robust wie jede Wurzel oder jeder Ast, und mit derlei Dingen wusste Mina bestens umzugehen. Auf dem Rücken des Geschöpfs angekommen hängte sie sich an seine knöcherne Gesichtsplatte und durchstach sie mit ihrem Messer, um es anschließend genüsslich hin- und herzudrehen. Das Ding brach augenblicklich mit zuckenden Gliedern unter ihr zusammen. Mina sprang von seinem Rücken und trat zurück, um abzuwarten, ob es sich noch einmal erhob.

Doch es blieb am Boden. Phantomnerven zogen hilflos an abgetrennten Gliedmaßen. Mina griff nach seinem Kopf und zog ihn zu sich heran, während sie in sein leeres Gesicht blickte.

Wonach suchst du hier? Warum bist du hiergeblieben? Die Maske starrte gleichgültig zurück. Es gab kein Gefühl, das sie hätte deuten können: Keine Todesangst, kein Betteln oder Flehen, kein Bedauern. Die Elfen waren schon immer ein zähes Volk gewesen, das in der um sie herum tobenden Landschaft überdauerte, ganz gleich, wie sehr sich diese auch verändern und verwandeln mochte. Sie lebten mit den Launen der Turbulenz im Einklang und bestatteten ihre Toten in flachen Gräbern in der schützenden Umarmung der Jaddiwurzeln. Die Ältesten hatten geglaubt, dass die Flut an Eldrazi sie lediglich dazu zwingen würde, sich an die neuen Gegebenheiten anzupassen und sich zu verändern, so wie es auch mit der Turbulenz immer gewesen war. Stattdessen ertranken sie in dieser Flut.

Das Zucken der Kreatur ließ nach und endete schließlich ganz. Mina ließ ihren Kopf los, der dumpf auf dem Boden aufschlug.

Aus den Schatten der Kluft tauchten zwei neue humanoide Gestalten auf. Eine von ihnen war ihr alles andere als unbekannt. Wie auch Mina war ihr Zwillingsbruder ungerüstet, barfuß und nicht erkennbar bewaffnet – abgesehen von den langen Messern, die aus den giftigen Hölzern des Guum geschnitzt worden waren.

Anstelle einer Rüstung zogen sich rankenartige Muster über die Arme des Geschwisterpaars. Es waren Zeichen, die stolz die Worte und Ahnenreihen ihres Volkes verkündeten: die Toten, die Lebenden, die Ungeborenen. Ein in Haut gebanntes Raunen. Als die beiden Bala Ged verlassen hatten, hatten sie die Gebeine ihrer Gefallenen mitgenommen, die nun ihr dunkelrotes Haar zierten.

Hinter Denn stand eine schmächtige Frau mit einer Kapuze, die am ganzen Körper Lederrüstung trug, von ihren Armschienen bis hinunter zu ihren mit Sporen versehenen Stiefeln. Schweigend und ungerührt führte sie ihr Reittier hinter sich. Die robuste Bauweise und vorzügliche Handwerkskunst ihrer Rüstung ließ keine Verwechslung zu: Sie war eine Wächterin des Tajuru-Volkes.

Bild von Victor Adame Minguez

Mina eilte auf das Paar zu und neigte ihr Haupt vor der Tajuru, begierig darauf, sich mit ihr zu unterhalten. Denn jedoch hatte bereits die schleimige Masse des Eldrazikadavers hinter ihr bemerkt und blickte Mina ernst an.

„Wusstest du, dass sie bereits so weit nach Murasa vorgedrungen waren?“, fragte Denn Mina betont langsam, die Stimme brüchig vor aufsteigender Panik.

„Wir sind ganz in der Nähe. Hier ist der Ort, den sie uns genannt haben.“ Mina warf ihm ein leichtfertiges Lächeln zu, von dem sie hoffte, dass es ihre Zweifel verbergen würde.

„Das ist jetzt schon Wochen her! Gab es denn gar nichts seither?“ Denns Gesicht blieb hartnäckig ernst: Er hatte die wahren Bedeutungen von Minas Minenspielen schon unzählige Male kennengelernt.

Mina starrte ihn an und wünschte, sie wüsste Worte, die sie ihm hätte sagen können. Die Stille hing zwischen ihnen wie eine Schlucht, die die Zwillinge voneinander trennte.

Denn wandte als Erster den Blick ab. „Unser Sprecher hat nie ein Wort hierüber verloren.“

Nun war es an Mina, den Blick zu senken, während sie hilflos die Hände zu Fäusten ballte.

„Ihr seid gewiss weit genug gewandert“, erwiderte die Fremde hinter ihm im Singsang des Dialekts der Tajuru, ehe Mina etwas entgegnen konnte. „Ich wurde ausgesandt, um Reisende vor diesem Ort zu warnen, und fand euch beide auf meiner Patrouille.“ Sie hielt inne und musterte die beiden. „Ich bin Hüterin Tenru, eine der vielen Wächterinnen dieser Lande der Tajuru. Wie es scheint, seid ihr beide zu weit von eurem Dorf abgekommen“, sagte sie und hob eine Augenbraue.

Mina wischte ihr Messer an dem gefallenen Eldrazi sauber und sich das tote Fleisch von den Armen. „Wir sind Mul Daya.“

„Wir?“, fragte Tenru und spähte in die Leere der Kluft hinter Mina. „Seid ihr Kundschafter? Wo sind die anderen?“

Mina seufzte innerlich. Es war ihr nie leicht gefallen, die richtigen Worte zu finden. Ihr Kopf war stets so voll von Klängen und Instinkten, dass die Worte aufbrodelten, durcheinanderwirbelten und zerplatzten, noch ehe sie ihren Mund erreichten und ihr über die Lippen kommen konnten. Andere wiederum sprudelten einfach aus ihr heraus, bevor sie ihnen Form und Bedeutung zu verleihen vermochte. Doch dies hier, dies war wichtig, und sie hatte diese Rede während der langen Wochen ihrer Reise immer und immer wieder geübt.

„Bis vor einigen Monaten harrten wir Mul Daya in unserer Heimat in Guum aus, da unsere Sprecher uns versicherten, es wäre der Wunsch der Ahnen, dass wir unser Revier verteidigen. Zuerst kamen die Ausgeburten, doch die Verteidigung, die von unseren Rankengeistern angeführt wurde, schlug sie zurück.“

Sie nickte zu Denn, dessen dumpfes Schweigen bar jeder Zustimmung war. „Doch als die Ausgeburten ihre ausgewachsenen Artgenossen brachten, lichteten sich die Reihen der Rankengeister und unsere Grenzen wurden immer enger, bis sie beinahe an die flachen Gräber unserer Ältesten heranreichten.“

Sie legte eine winzige Pause ein und erinnerte sich, wie die Augen der Ältesten aus ihren lehmigen Ruhestätten zu ihr hinaufgeblickt hatten – sie erinnerte sich, wie sie von ihren Träumen geträumt hatte. Es waren ihre Essenz und ihre Erinnerungen – ganze Generationen von Geschichte –, die zusammen mit den Hainen, in denen sie gelebt hatten, in Staub verwandelt worden waren.

„Viele von uns fielen bei der Verteidigung unserer Heimat. Unser Sprecher wurde krank und die Stimmen unserer Ahnen verstummten“, fuhr sie fort. Mina fühlte sich auf sonderbare Weise von sich selbst losgelöst, als sie ihrer eigenen Stimme lauschte. Ihre Worte klangen leer und formelhaft, ohne das lähmende Gewicht der Scham, des Stolzes und des Verdrusses aus jener Zeit.

„Die Eldrazi kamen, eroberten, fraßen und gingen.“ Sie hörte, wie sich ein kaum merkliches Zittern in ihre Stimme geschlichen hatte, und unterbrach sich einen Augenblick, um langsam Atem zu holen. „Ich hatte eine ... Vision, während ich in der Nähe unserer Toten schlief. Eine Vision von der Zerstörung Bala Geds. Ich nahm meinen Bruder mitten in der Nacht mit, um Gehör bei den Elfenvölkern zu finden. Um sie um Hilfe und Führung zu bitten.“

„Und du?“, fragte Tenru sanft. „Wie nennt man dich?“

„Mein Name ist Mina, Grünweberin der Mul Daya.“ Sie rollte den rechten Ärmel hoch und legte die Insignie ihres Ranges frei, die mit weinroter Tinte tief in ihren Unterarm geritzt war.

Mina sah dabei zu, wie Tenru das musterte, was ihr zweifellos wie eine zerlumpte, staubige, unerfahrene Landstreicherin erscheinen musste. Tenru hob zweifelnd eine Augenbraue, nickte jedoch höflich.

„Das Konklave befindet sich nicht an einem festen Ort, sondern es wandert mit jeder eintreffenden Welle von Eldrazi weiter“, sagte sie. „Unsere Bewegungen folgen nun einem klug angelegten Ablauf aus Planen und Kundschaften. Wir halte uns nahe bei dem, was von der Welt, wie wir sie kannten, noch übrig ist, und wir achten darauf, nicht eingekreist zu werden ... wie unsere Schwestern.“

Unwillkürlich pressten sich Minas Kiefer zusammen.

„Ich habe die Grenzlande durchstreift und Kunde von der Ausbreitung der Verderbnis zum Konklave gebracht“, fuhr Tenru fort. „Die neueste Welle kam vor zwei Nächten sehr plötzlich und in größerer Zahl, als wir es erwartet hatten. Wir rafften unsere Habseligkeiten zusammen und zogen uns ins Herz des Hains zurück ...“

„Der Hain steht noch?“ Mina richtete sich mit leuchtenden Augen auf. „Bringst du uns dorthin? Bitte?“


Der Jaddihain ragte in der Mitte des Tales auf, wo er mit dem unbarmherzigen Griff seiner Wurzeln Erde wie Fels gleichermaßen langsam fein zerrieb. Ein dichtes Dach immergrüner Blätter stieß an die Wolkengrenze, wo die Feuchtigkeit am stärksten war. Die Blätter, jedes von ihnen so lang wie ein Elf, schmückten die zahllosen Äste und Zweige des Hains. In ruhigeren Zeiten hatte das ausgehöhlte Innere umgestürzter Bäume Elfen als dauerhafte Wohnstatt gedient. Wo die Mul Daya ihre Häuser zwischen den Wurzeln eingerichtet hatten, hatten die Tajuru sich jedoch in die höheren Ausläufer der Zweige zurückgezogen, wo sie den Blicken der an den Boden gebundenen Eldrazi verborgen geblieben waren. So waren sie viele Jahre lang geschützt gewesen, bis neue Wellen von Ungeheuern aufgetaucht waren, die diesmal aus der Luft kamen.

Die drei standen am Abhang und blickten auf den Hain hinab. Als die Wolken sich verlagerten, fiel Sonnenlicht in das Tal.

Mina hörte, wie Tenru scharf einatmete. Ihr stockte offenkundig der Atem.

Der Boden hier war gänzlich anders als das fahle Nichts in der Kluft. An seiner Stelle hob sich eine betörende Vielfalt lebendiger Farben von den scharfen Konturen der Felsen ab. Einige Formationen waren in der Senkrechte kristallisiert – einem verzerrten Spottbild jener Bäume gleich, die einst an diesem Ort gestanden hatten. Ein dicker, öliger Glanz sickerte aus der zerklüfteten Oberfläche wie aus einer offenen Wunde und bildete eine zähe Hülle über den Überresten des Unterholzes.

„Was ...ist das?“, hauchte Mina. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Denn in entsetztem Staunen den Kopf schüttelte.

Bild von Raymond Swanland

Unterhalb der Siedlung hatte sich eine Gruppe Eldrazi versammelt, deren Rüssel nach den Wurzeln griffen. Eines der Geschöpfe war zum ersten Ast hinaufgekrabbelt. Es löste einige Zelte der Siedlung aus ihren Verankerungen, sodass sie nun dem Waldboden entgegentaumelten. Die Bewohner hatten sich in die Behausungen in den höchsten Wipfeln zurückgezogen.

Denn blickte Mina mit bleichem, mutlosem Gesicht an. „Als wir vor dem Sprecher standen, wog unser Blut mehr als mein Wort. Ich folgte dir über einen ganzen Kontinent, als niemand anderes es tun wollte. Ich war bereit, mich in die Erde zum Rest unseres Volkes zu gesellen. In unsere Erde. Und dafür haben wir diesen weiten Weg auf uns genommen? Von einem vom Unheil heimgesuchten Dorf zu diesem, um dabei zuzusehen, wie es verwelkt und stirbt ... Eine ganze Welt entfernt.“

Tenrus Miene verfinsterte sich ob seiner Worte. „Hüte deine Zunge, Mul Daya ... Dies ist meine Heimat! Ich trauere um euren Verlust, doch ich bat nie um eure Hilfe. Wir haben nicht die Absicht, euer Schicksal zu teilen.“


Mina raste durch das Tal und schlitterte über glatte, flache Flächen auf die Eldrazi zu, die sich zum Fressen versammelt hatten. Wie ihre Geschwister in Bala Ged besaßen auch diese Untiere tödliche Ansammlungen von Gliedmaßen und Mäulern. Sie wuchteten ihre fahle Masse mithilfe ihrer kräftigen Vorderfüße an den Ästen hinauf, um sich an den Bäumen und dem Boden zu laben. Doch statt der knöchernen Platten glichen die Leiber dieser Eldrazi eher denen von Insekten und wiesen zahlreiche, schier unfassbare Symmetrien auf. Auf ihren Köpfen saßen Kronen aus filigranen Spitzen aus einem glänzenden, schwarzen Gestein, das so dunkel war, dass es das Licht gleichzeitig zu verschlingen und zurückzuwerfen schien.

Minas Messer war noch immer von den faserigen Knorpeln des Eldrazi aus der Kluft besudelt, als sie auf den ihr am nächsten stehenden Gegner zustürmte. Es handelte sich um ein gewundenes, massiges Ding, dessen Leib vom Fressen aufgebläht war und gegen die Hülle seines Außenskeletts drückte. Seine glatten Platten waren von demselben konturlosen Schwarz wie sein gekrönter Kopf. All seine ungewöhnlichen Winkel und Symmetrien ließen keinerlei Raum für Vernunft. Seine vielen Beine waren von Augen übersät, die in lidlosen, Edelsteinen gleichenden Formen leuchteten. Sie schwang ihr Messer und legte all ihre Kraft und all ihren Schwung in diese eine Bewegung, um das herauszureißen, was dieses Ding auch immer an Eingeweiden in sich tragen mochte.

Die Waffe hallte von dem unerwarteten Aufprall auf die äußere Hülle des Eldrazi wider, was Schockwellen durch Minas Arm bis hinauf zu ihren Zähnen sandte. Sie taumelte, während ihr das Messer aus den tauben Fingern glitt. Hinter sich hörte sie Denn schreiend auf sich zulaufen.

Ein dumpfer, eigenartig vertrauter Klang dröhnte ihr in den Ohren. War es nur das Klirren überreizter Nervenenden? Die Wucht des Aufpralls?

Sie rappelte sich auf und griff sich mit einer Hand an den Kopf, während sie mit der anderen nach ihrem Messer tastete. Sie bekam etwas Festes zu fassen und schaute nach oben ...

... in die vier geifernden Mäuler eines schwarzgekrönten Eldrazi. Instinktiv zuckte sie zurück, doch es war zu spät. Sie kniff die Augen zusammen.

Das Ungeheuer kreischte. Oder zumindest glaubte sie, dass es das tat. Ein schriller Choral aus Tönen, die für ihr Gehirn kaum zu verarbeiten waren, vibrierte durch ihren gesamten Schädel. Sie spürte etwas Warmes in ihrem rechten Ohr.

Blut.

Schmerz flammte durch ihren Körper und glich sich den Schwingungen an, die ihr über die Haut schossen.

Blinde Panik ergriff von ihr Besitz. Wie ein verletztes Tier kroch sie auf allen vieren rückwärts. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Denn die Hand nach ihr ausstreckte, und wirbelte zu ihm herum.

Das Ungeheuer wandte sich ihnen mit aufgeblähtem Bauch zu und heulte auf.

Bild von Jason Felix

Die Farben am Rand von Minas Sichtfeld verschwammen. Vor ihr fiel Denns Gestalt abwechselnd auseinander und setzte sich wieder zusammen. Das Rot seines Haares und seiner Augen floss aus seinem Körper heraus und sickerte in die Grenzen ihres Blickfelds hinein. Sein ausgestreckter Arm wurde in die entgegengesetzte Richtung zurückgeworfen und in einem unmöglichen Winkel verbogen. Sein Mund öffnete sich und Worte trieben wie ohnmächtig aus ihm hervor, doch seine Zunge war nicht in der Lage, sie zu formen, während die Luft aus seinen Lungen strömte. Sie hingen in der Luft, winzig und bedeutungslos, ehe sie sich auflösten.

Mina stieß ihren Arm dem seinen entgegen und spürte, wie ihre Muskeln erschlafften und ihre Knochen wie ein bösartiger Rauch unbegreiflich langsam durch die Luft schwebten. Ihre Finger drifteten auseinander. Die Sehnen lösten sich von den Knochen und die Adern blähten sich auf und hingen nutzlos herab.

Selbst der Boden unter ihr wurde zu einer zähen Flüssigkeit, die unter Minas Gewicht träge schwappte. Ihre Beine waren unfassbar schwer und zogen sie nach unten und damit fort von ihrer ausgestreckten Hand. Ihre andere Hand fand das Heft ihres Messers, und Mina zwang sich, es fest zu umschließen, während sie sich immer weiter entwirrte.

Reiner Instinkt ließ sie die Klinge in ihrer Hand fortschleudern, die aus dem Pfad des Heulens des Ungeheuers hinauswirbelte und sich in eines der vielen edelsteinartigen Augen des Eldrazi bohrte.

Das Heulen verstummte für einen Augenblick, und Minas Körper brach wie eine Lumpenpuppe in sich zusammen. Der Aufprall ließ sie durch die geschwächte Verderbnis unter ihr brechen.

Als sie die Augen öffnete, fand sie sich in einer flachen Mulde wieder. Sie rang nach Atem, und ihr Kopf dröhnte. Gedämpftes Tageslicht fiel von oben auf sie herab, und sie konnte die Unterseite der dünnen Verderbnis sehen, durch die sie eingebrochen war – so wie eine Schicht aus Eis einen winterlichen Teich bedeckte.

Der dumpfe, vertraute Rhythmus war zurückgekehrt. Nun war er lauter. Sie mühte sich, dem Geräusch unter dem Grollen der Bestien über sich zu folgen. Es wurde lauter und fühlte sich wie ein Atemhauch an. Oder war es ... eine Stimme? Sie versuchte, Muster darin zu erkennen und eine Bedeutung in den Klängen zu finden. Aus einer Höhe, die ihr wie viele Meilen vorkam, drang der Klang von Denns Stimme in ihr schwindendes Bewusstsein vor.

Mi-nah. Mie-na.

Sie kauerte in der Dunkelheit, die Hände auf den Boden gestützt, um nicht erneut zusammenzubrechen. Die Geräusche in ihrem Kopf waren ein Flüstern. Es rührte von den Stimmen her, die sie in Bala Ged gehört hatte: ihre Ältesten, ihr Jaddihain. Ihre Familie. Sie verschmolzen zu etwas Vertrautem. Was war es, was sie da sagten?

Sie runzelte die Stirn, während sie unwillkürlich die Fäuste um etwas schloss. Um etwas ... was sie kannte.

Der Boden unter ihr war nicht die harte Oberfläche der Verderbnis. Es war Erde, der kräftige, duftende Mutterboden ihrer Jugend. Die unerbittlichen Mahlsteine der Zeit hielten für sie inne, erstarrt in einer von verschränkten Sinnesempfindungen durchzogenen Blase kollektiver Erinnerungen. Der Geruch ebendieses von der Sonne verbrannten, von Füßen zertretenen, von Blut befleckten oder vom Grün des neuen Wachstums durchdrungenen Fleckens Erde füllte ihre Lungen. Sie betrachtete ihn mit Augen, die nicht die ihren waren. Die Geräusche drangen erneut in ihren Geist vor.

Mina.

„Mina!“ Die Stimme ihres Bruders durchschnitt ihren Tagtraum und störte ihre Konzentration.

Denn!

Eine Hand verdeckte das Licht über Minas Kopf, und sie spürte, wie sie in den Armen ihres Bruders hochgehoben wurde. Sie rocht Blut an ihm, doch sie wusste nicht, von wem es stammte.

Ein Rauschen fuhr über ihre Köpfe hinweg, und der Boden hinter ihnen schwoll vor ihren Augen an und zerbarst. Die Wucht des verirrten Heulens hinterließ einen länglichen Krater in der Erde.

„Denn! Sie sind hier! Die Ahnen sind noch immer bei uns! Es ist Land unter dieser Verderbnis hier!“

„Mina? Bleib ruhig. Du blutest. Wir müssen schnell weiter ...“

Mina griff nach oben und umfing die Hand ihres Bruders, als das nächste Heulen geradewegs auf sie zuhielt. Sie ließ die Handvoll Mutterboden fallen.

Die Körnchen zerfielen zu Leben: Jedes wuchs zu einer Mauer aus dicken Stängeln, Wurzeln und Erde an, die erbebte, als die Klangwelle darauf traf. Dort, wo sie eingeschlagen war, bildete sich ein Fleck, der bunt schillerte wie ein Kaleidoskop.

„Hör nur!“

Die Geräusche in Minas Kopf waren nun ohrenbetäubend. Vielschichtig und komplex verwoben sich Choräle aus Stimmen und Klängen aller Tonhöhen, Frequenzen und Lautstärken miteinander. Eine Ruhe senkte sich auf Mina herab. Sie holte einmal tief Luft, legte die Hand auf Denns Ohr, und dann flossen ihr die Worte aus dem Mund wie durch einen gebrochenen Damm.

Manche waren verärgert, zart, mürrisch – eine geheime Sprache, die sie mit einem Bruder teilte, dessen Stimme sie wie ihre eigene spürte. Einige polterten als grollende Rüge hervor, strenge Warnungen, die sie vor langer Zeit gehört hatte. Andere waren ihr fremd in Ton und Sprache und nur als Empfindung bekannt: der warme Windhauch des Sommers, das dumpfe Nagen des Bedauerns. Es war der Klang von Erinnerungen, die in Zeit und Raum zu etwas Festem geronnen waren. Eine tiefe Entspannung breitete sich in Mina aus, und sie legte die Hände auf Denns wundes Fleisch.

Seine Augen weiteten sich, und echte Überraschung wusch jeden Anschein vorgeblicher Härte weg. „Sind dies die Stimmen der Ahnen? Wann hast du gelernt, mit ihren Stimmen zu sprechen? Was sagen sie dir denn?“

Mina nickte nur und sagte nichts.

Ein weiteres Heulen schlug gegen die Rankenmauer, und die dicht zusammengepresste Erde und die dicken, verflochtenen Stängel zerfielen zu brüchigen, funkelnden Stücken. Mina wandte sich langsam um, um die Kreatur mit ausgebreiteten Armen anzusehen, und sie begann zu sprechen.

In einem einzigen Laut sprach sie von ihrer Heimat aus Kindertagen und wie sie sich in den dampfenden Dschungeln Guums ins Unterholz geduckt und dem Regen gelauscht hatte. Säulen aus nasser Erde und Gestein schossen aus dem Boden empor und sandten gewaltige, gezackte Risse wie Blitze über das Antlitz der Verderbnis und schleuderten die Monster von ihm herunter. Die Eldrazi kreischten und taumelten, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden.

Dann erzählte sie Geschichten, die sie zuvor noch nie gehört hatte. Doch sie wusste, dass sie wahr waren. Geschichten von Heldenmut und Aufopferung. Sie zog ihr zweites Messer aus dem Gürtel. Es war warm und roch nach feuchtem Laub. Sie holte tief Luft und grinste mit wildem Eifer in sich hinein.

Mina und Denn, Wildgeborene | Bild von Izzy

Dieses Mal stieß die Klinge leicht durch den Panzer, während ihre andere Hand in die geöffnete Hülle griff und alles herausriss, was sie darunter zu fassen bekam. Mit kaltem Starrsinn gewappnet schnitt sie mit ihrem Messer beiläufige Kreise in den fahlen Leib und vergoss Ströme seiner Essenz.

Hinter ihr streifte etwas ihre Schulter, als Denn ein weiteres der Ungeheuer niederstreckte. Es krachte zu Boden, als er ihm die insektenhaften Beine vom Leib trennte. Sein Lachen hing für einen Augenblick wie erstarrt zwischen ihnen, ehe sie es erfasste, um es zu einer Erinnerung zu kristallisieren. Es war lange her, seit sie es das letzte Mal gehört hatte.

Sie griff nach den Wurzeln des Jaddi. Die Gekrönten hatten sie nun erspäht. Sie strotzten vor Macht und neuem Leben und schossen von den Ästen wie Pfeile auf ihr Ziel zu. Sie versammelten sich um sie herum in einem Gewirr aus klackernden Krallen und geöffneten Schlünden.

Mina sah Denns Kopf in dem Ansturm der gekrönten Bestien verschwinden. Ein tiefes Grollen breitete sich unter ihren Füßen aus. Dicke Wurzeln sprossen blitzschnell aus dem Boden und umschlangen die gepanzerten Leiber der Eldrazi, um sie durch die entstandenen Risse in die Erde hinabzuziehen. Die Äste des Jaddi schlängelten sich herbei und zerrten den Rest der eklen Geschöpfe in den Stamm des Baumes selbst, wo sie von Rinde umfangen wurden. Die Oberfläche des Tals zersplitterte zu schillernden Platten aus Verderbnis, die in der weichen, neuen Erde versanken, welche unter Minas und Denns Füßen emporsprudelte.


Tenru traf wenig später ein, zusammen mit einer Gruppe schwer gerüsteter Tajuru auf ihren Reittieren. Hinter ihnen stand eine Elfe mit feinem Haar und von kleinerer Statur, aber jener Aura der Ruhe und Gesetztheit, wie ein hohes Alter sie für gewöhnlich mit sich brachte. Ihre Lederrüstung war kunstvoll verziert, wenn auch von Jahren des Gebrauchs stark abgewetzt. Sie kauerten sich neben Mina, die mit dem Rücken gegen die Baumwurzeln gelehnt zusammengebrochen war, und säuberten ihre Wunden.

„Du bist also eine unseres Volks vom anderen Ufer des Meeres?“, fragte die Elfe mit dem feinen Haar. Sie hob Minas Messer auf, das halb unter der zerschlagenen Schicht aus Verderbnis verborgen war, und reichte ihr das Heft.

„Verzeih bitte“, warf Tenru ein. „Dies sind Grünweberin Mina und ihr Bruder Denn. Geistranken der Mul Daya.“

Die Elfe lächelte freundlich und neigte den Kopf. „Wir heißen euch willkommen wie alle unsere elfischen Geschwister. Mögen Ferne und Zeit uns nicht trennen. Welche Kunde bringt ihr von eurem Volk?“

Mina neigte ebenfalls den Kopf und stählte sich für ihre nächsten Worte, die sie diesmal völlig mühelos fand. „Ich kam auf der Suche nach Nisede, der Anführerin der Tajuru, mit der Bitte, die Hilfe der ... Überlebenden ... von Bala Ged anzunehmen.“

„Ich bin Nisede. Was ist mit eurem Sprecher? Hat er euch an seiner Stelle geschickt?“

Minas Wangen brannten. Als sie zu sprechen ansetzte, wurde sie sanft von Denn unterbrochen. „Wir sind ... nicht sicher. Doch ich weiß, dass auch Mina mit der Stimme unseres Volkes sprechen kann. Ich habe es gehört. Ich ... Wir bitten darum, uns euch anschließen zu dürfen, damit die Erinnerungen der Mul Daya in Sicherheit sind.“

Nisedes Gesicht wurde ernst und ihr Tonfall bedächtig und nachdenklich.

„Meine Elfen werden damit fortfahren, sich anzupassen und weiterzuziehen, so wie wir es immer getan haben. Wir haben von einer Siedlung der Zendikari in der Nähe des Halimars gehört. Ein Bündnis aus Kor, Menschen und Meervolk hat sich erhoben, um das Unheil zurückzuschlagen oder bei dem Versuch zu sterben. Ich kann euch keinen sicheren Ort für eure Erinnerungen versprechen, aber ich kann euch versprechen, eure Kraft und eure Geschichten an den mächtigsten Ort zu bringen, den wir kennen.“

Die anderen nickten feierlich.

„Wir brechen heute auf, um uns ihnen anzuschließen. Unsere Anführerin heißt ‚Tazri‘. Sie ist ein Mensch aus einer Stadt an der Küste des Halimars. Die Stadt Seetor.“


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Weltenbeschreibung: Zendikar