„Nur wer das Risiko eingeht, zu weit zu gehen, kann erkennen, wie weit man gehen kann.“

– T. S. Eliot

Ihr spielt eine Partie Magic gegen ein aggressives weiß-schwarzes Deck und es sieht gar nicht gut für euch aus. Euer Gegner Olivier hat euer Board bis auf eine einsame 3/3er-Kreatur leer geräumt und greift dann mit allem an.

Im Kopf geht ihr die einzelnen Optionen durch. Zwei seiner Kreaturen könnt ihr nicht blocken, denn sie haben irgendeine Ausweichfähigkeit.

Ihr denkt einen Augenblick nach. Ihr dreht eure letzte Karte auf der Hand hin und her: einen Zauber, der vier Schaden direkt verursacht.

Diesen könnt ihr einsetzen, um eine der angreifenden Kreaturen loszuwerden und das scheinbar Unvermeidliche hinauszuzögern. Wenn ihr blockt und seine Kreatur mit dem Burnzauber wegmacht, ist das Board ziemlich frei. Wenn er darauf keine Antwort findet, könnt ihr vielleicht sogar wieder ins Spiel finden. Es ist ein sicherer Spielzug.

Dann werft ihr einen Blick auf die Lebenspunkte eures Gegners. Sieben.

Und plötzlich kommt euch ein anderer Gedanke. Ihr nickt wissend. Ihr holt Luft.

„Verkohlen. Ins Gesicht.“

Ihr enttappt und ...

Dieses Risiko zahlte sich für Craig Jones aus, der dadurch für einen der wohl berühmtesten Momente in der Pro Tour überhaupt sorgte. Das ist keinesfalls das erste Mal, dass Topdecken in einem Artikel wie diesem auftaucht, und ich bin mir sicher, dass es auch nicht das letzte Mal sein wird. Schließlich ist es ein derart wunderbares Beispiel dafür, wie man korrekt ein Risiko eingeht.

Aber wann ist es richtig, Risiken einzugehen? Wann sollte man lieber auf Nummer sicher gehen?

Das ist zwar ohne genauere Kenntnis der Situation unmöglich zu sagen, doch es gibt ein paar ganz gute Faustregeln, die euch oft zur richtigen Entscheidung führen.

Und diese wollen wir uns heute ansehen.

Das Risiko-Prinzip

Bevor wir ins Detail gehen, ist es wichtig, eine Sache verstanden zu haben: das Prinzip, das hinter dem Eingehen von Risiken steht.

Und das ist dieses hier: Wenn ihr euch in einer guten Ausgangslage befindet, solltet ihr weniger Risiken eingehen. Wenn ihr euch in einer schlechten Ausgangslage befindet, solltet ihr mehr Risiken eingehen.

Das ist nicht nur bei Spielen der Fall, sondern auch im Leben generell.

Ihr bewerbt euch um einen Job, für den ihr nicht qualifiziert seid? Dann ist es okay, eine Geschichte zu erzählen, durch die ihr wirklich gut oder richtig schlecht ausseht – je nachdem, wie sie von euren Zuhörern aufgenommen wird.

Ihr bewerbt euch um einen Job, für den ihr wie geschaffen seid? Geht besser auf Nummer sicher.

Kennt ihr euch von all euren Freunden am besten mit Basketball aus und füllt die March Madness Brackets für eure Gruppe aus? Wählt die sicheren Teams, zu denen euer Wissen euch rät.

Füllt ihr dieselben Brackets aus und wisst gerade so viel über Basketball wie alle anderen auch? Trefft einige extravagante Entscheidungen und schaut, ob nicht irgendwo ein Sieg dabei rauskommt.

Und genau, wie das auch für den Rest des Lebens gilt, ist diese Vorgehensweise auch ein wichtiger Teil von Magic. Je weiter ihr hinten liegt, desto größere Risiken solltet ihr eingehen, denn ihr werdet sämtliche Hilfe brauchen, die ihr kriegen könnt, damit sich euer Wagemut auszahlt. Je weiter vorn ihr liegt, desto vorsichtiger solltet ihr spielen, weil der Verlauf der Partie ja bereits zu euren Gunsten ausfällt.

Was also sind die Zeitpunkte, zu denen ihr eventuell Risiken eingehen solltet? Welche Faktoren spielen dabei eine Rolle?

Also los ...

Riskante Rendite

Stellt euch Risiken wie eine Investition vor. Eine „ausgewogene Rendite“ bekommt man, wenn das Risiko dem Ergebnis entspricht. Kleine Risiken bringen kleine Gewinne, wohingegen große Risiken mit großen Gewinnen locken.

Stimmen die Verhältnisse jedoch nicht überein, dann solltet ihr wirklich ganz genau aufpassen.

Schauen wir uns die passend benannte Karte Wagnis, die gerade in Eternal Masters neu aufgelegt wird, als Beispiel an:

Ihr habt einen Täuscher-Exarchen im Spiel und braucht einen Zwillingsspreißel für eure Kombo. Und hier liegt das Problem: Ihr habt nur eine weitere Karte auf der Hand und bloß noch einen Zwillingsspreißel im Deck.

Solltet ihr in dieser Runde das Wagnis eingehen?

Nehmen wir an, euer Gegner hat keine Karten auf der Hand und keine Kreaturen im Spiel. In diesem Fall geht ihr ein ziemlich großes Risiko ein: Ihr sagt euch, dass ihr euch mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 % die Chance nehmt, eure Kombo zu spielen.

Und was ist die Belohnung? Die besteht darin, dass euer Gegner nicht noch eine oder zwei Runden bekommt, um eine Bedrohung ins Feld zu führen oder euch dazu zu bringen, euer Wagnis abzuwerfen. Das ist sehr unwahrscheinlich.

In diesem Fall geht ihr ein ziemlich großes Risiko für eine sehr geringe Belohnung ein.

Verändern wir nun die Situation leicht: Jetzt wisst ihr, dass euer Gegner gerade ein Verpfuschtes Gemisch in ein Verbrennen transmutiert hat. Er ist jedoch im Augenblick ausgetappt.

In dieser Situation ist es richtig, das Wagnis auszuspielen! Wenn euer Gegner enttappt, müsst ihr versuchen, euch in eine Position zu manövrieren, in der ihr irgendwann in der Zukunft einen Zwillingsspreißel auf euren Exarchen anwenden könnt, während euer Gegner Mana fürs Verbrennen offen hat. Das ist nicht unmöglich, aber doch sehr unwahrscheinlich. Ich gewinne doch lieber die Hälfte der Zeit sofort, als zu versuchen, diese Situation herbeizuführen.

Riskante Mulligans

Manchmal sind bestimmte Paarungen vorteilhaft für euch – oder eben nicht. Diese Erkenntnis sorgt dafür, dass man eine Paarung unter Umständen schon von vornherein ganz anders angeht – und auch seine Mulligans anders nimmt.

Sagen wir, ihr spielt Modern Urzatron gegen Modern Affinity.

Diese Paarung ist fürchterlich für euch. Dagegen wollt ihr nicht spielen. Der Gegner hat viel zu viele bleibende Karten, die er viel zu schnell ins Spiel bringen kann. Und um es noch schlimmer zu machen, zieht ihr eine Starthand, die ihr unmöglich behalten könnt, und seid somit nach einem Mulligan bei sechs Karten. Diese sehen so aus:

Normalerweise ist auch das keine tolle Hand. Ihr habt einen Haufen teurer Karten, Urzas Turm und einen Sweeper, der farbiges Mana erfordert. In den meisten Paarungen würde ich jetzt lieber gleich mit fünf Karten anfangen.

Nicht jedoch hier.

Die Sache ist nämlich die: Diese Paarung ist sehr ungünstig für euch, und mit fünf Karten anzufangen macht es nicht besser. Diese Hand enthält bereits einige der Mittel, mit denen ihr vielleicht eine Chance habt: den Vergessenheitsstein und die Feuerfontäne und die Finisher zum Aufräumen.

Es besteht die Möglichkeit, dass ihr zwei Karten zieht, keine Länder seht und schnell untergeht. Doch für den Fall, dass ihr tatsächlich ein paar Länder zu sehen bekommt – vielleicht sogar Urzatron-Länder –, könntet ihr diese Partie sogar gewinnen. In einer ungünstigen Paarung wie dieser ist das ein Risiko, das ihr eingehen solltet.

Wenn ihr andererseits eine sehr vorteilhafte Paarung spielt, wollt ihr bei euren Mulligans weniger Risiken eingehen. Spielt ihr beispielsweise ein Deck, das euch eine Menge Lebenspunkte verschafft, gegen ein Direktschaden-Deck, dann solltet ihr keine Hand mit nur einem Land behalten. Ihr könnt die volle Starthand eures Gegners selbst mit nur fünf oder gar vier Karten auf eurer Starthand wahrscheinlich immer noch schlagen.

Chancen und Risiken

Die Frage, die ihr euch in jeder Phase und bei jeder Entscheidung innerhalb der Partie stellen solltet, lautet: „Welcher Spielzug bringt mir die besten Chancen, die Partie zu gewinnen?“

Manchmal ist das sehr offensichtlich. Ist der Gegner bei 2 Lebenspunkten und hat keine Blocker, greift ihr ihn einfach mit einer 2/2er an. Oft gibt es jedoch auch Spielzüge, die eurer Intuition entgegenlaufen und die seltsame Wege einschlagen – was euch tatsächlich die bessere Siegchance verleiht, weil es euch in die Hände spielt.

Kehren wir zu dem Beispiel von der Pro Tour zu Beginn des Artikels zurück.

Craig, unser Held der Blitzhelix, ist hier definitiv in keiner guten Ausgangslage. Er muss sich fragen: „Welcher Spielzug bringt mir die besten Chancen, die Partie zu gewinnen?“

Denken wir darüber nach.

Um mit dem Spielzug „Blocken und Verkohlen einer Kreatur“ zu gewinnen, darf Craigs Gegner in dieser Runde keinerlei weitere Kreaturen haben. Er selbst muss eine Reihe von Kreaturen zum Blocken nachziehen. Außerdem braucht er einen Entfernungszauber, um mit dem fliegenden 1/1-Spielstein fertigzuwerden. Die Wahrscheinlichkeit, dass Olivier keine Kreaturen mehr hat und dass Craig eine ganze Reihe Zeugs aus seinem Deck nachzieht, steht nicht gut.

Denken wir andererseits über das „Verkohlen ins Gesicht“ nach. Es läuft im Grunde darauf hinaus, dass Craig in der nächsten Runde drei Schaden austeilen muss. Und obwohl ihr das aus dem kurzen Videoausschnitt nicht wissen könnt, gibt es in seinem Deck jede Menge Karten, die drei Schaden machen können.

Folgende Frage ist ebenfalls zu bedenken: Was passiert in den nächsten Zügen, wenn er die Kreatur verkohlt? Eine Karte, der er braucht, um wieder ins Spiel zu kommen, ist die Blitzhelix. Er sagt sich also, dass er die Partie vielleicht gewinnt, wenn Olivier nichts Starkes nachzieht und er selbst in den nächsten paar Runden Kreaturen und eine Blitzhelix zieht. Das ist das Gegenteil davon, die Partie direkt zu gewinnen, wenn er es schafft, 3 Schaden durchzubringen.

An diesem Punkt wird es langsam ziemlich deutlich: „Verkohlen ins Gesicht“ ist der richtige Spielzug.

Es kann auch hilfreich sein, darüber nachzudenken, was wohl die Chancen des Gegners sind und wie er zurück ins Spiel kommen könnte, um sicherzustellen, genau das auch ja gründlich zu unterbinden.

Sagen wir, ihr spielt ein Spiegelmatch mit Offenbarung der Sphinx-Kontrolle. Euch und eurem Gegner sind die Ressourcen ausgegangen, und ihr habt jeweils zehn Länder und nichts anderes im Spiel. Euer Gegner hat keine Karten auf der Hand, ihr hingegen einen Bannzauber.

In eurer Runde zieht ihr eine Offenbarung der Sphinx. Was macht ihr?

Eine der Möglichkeiten, wie euer Gegner zurück ins Spiel kommen könnte, ist, nach euer Offenbarung eine eigene Offenbarung zu spielen. Es mag zwar verlockend sein, die Offenbarung in eurer Hauptphase voll auszuschöpfen und einfach anzunehmen, dass ihr eine ungetappte blaue Manaquelle spielen könnt, doch dieses Risiko lohnt sich nicht. Sechs Karten statt sieben macht wahrscheinlich keinen relevanten Unterschied, wohingegen es die Partie entscheiden kann, wenn man sicherstellt, dass es für den Gegner unmöglich wird, seine Karte zu spielen.

Risiken im Sideboard

Ein weiterer Bereich, in dem es sich manchmal lohnt, Risiken einzugehen, ist das Sideboard.

Sagen wir, ihr spielt einen Draft und nach Partie 1 erweist sich euer Deck als deutlich schwächer als das eures Gegners. Das bedeutet, dass ihr im Nachteil seid und nach Risiken suchen solltet, die sich auszahlen könnten.

Eines, das ich häufig eingehe, ist es, ein Land gegen einen anderen Zauber zu tauschen (oder ein Land weniger zu spielen, als ich es sonst tun würde, falls mein Draft-Deck besonders schwach ist). Hat euer Gegner bessere Karten als ihr, dann werdet ihr mehr Zauber brauchen, um ihn zu besiegen. (Gut zu spielen hilft natürlich auch!)

Ähnliches gilt, wenn ihr enorm im Vorteil seid, aber befürchtet, eventuell in Manaschwierigkeiten zu geraten. Auch dann könnt ihr ein zusätzliches Land eintauschen.

Eine weitere Taktik besteht darin, Karten einzuwechseln, die in bestimmten Situationen gegen das Deck eures Gegners besonders gut sind. Falls ihr gegen ihn hinten liegt, braucht ihr eine besonders mächtige Waffe, um durchzubrechen.

Wenn man zu guter Letzt noch kurz über die gesamte Turnierszene und das Metagame nachdenkt, so erkennt man, dass das Sideboard hier eine äußerst gewichtige Rolle spielt. Das Sideboard ist im Grunde das auf fünfzehn Karten reduzierte Metagame. Und manchmal muss man Risiken dabei eingehen, wie man diese Karten aufteilt.

Kehren wir zu dem Beispiel mit dem rot-grünen Urzatron gegen das Affinity zurück. Sagen wir, ihr seid fest davon überzeugt, dass die Paarung für euch einfach nicht zu retten ist. Ihr könnt vier Mal den Uralten Groll einwechseln und damit vielleicht auf eine Siegrate von 30 % kommen.

An irgendeinem Punkt jedoch müsst ihr davon abkommen, immer alles gewinnen zu wollen, und das Risiko schlichtweg akzeptieren lernen: Wenn ihr gegen Affinity spielt, werdet ihr wahrscheinlich verlieren. Eine Reihe von Slots im Sideboard zu blockieren, die für wesentlich knappere Paarungen verwendet werden könnten, lohnt sich nicht in Anbetracht dessen, wie wenig sich das Ergebnis ändert, wenn ihr Karten speziell gegen Affinity bereithaltet.

Angemessene Risiken

Jon Finkel sagte einst: „Der richtige Zug ist der richtige Zug, ganz egal, wie er ausgeht.“

Nicht jedes Risiko wird sich auszahlen, ganz egal, wie gut der Spielzug war. Ihr werdet immer wieder Risiken eingehen, die sich am Ende nicht lohnen. Falls es jedoch der richtige Spielzug ist, dann solltet ihr ihn machen. Dabei müsst ihr euch allerdings vergegenwärtigen, dass ihr ihn unabhängig vom Ausgang der Partie immer und immer wieder genau so machen würdet, weil er in der Regel eben auch genau der richtige ist.

Ich hoffe, ihr könnt diese Entscheidungen jetzt mit etwas gesteigertem Selbstvertrauen treffen.

Im Lauf der Zeit und mit dem richtigen Blick werden aus angemessenen Risiken einfach nur richtige Spielzüge. Ihr müsst euch lediglich daran gewöhnen, sie einzugehen. Ich hoffe sehr, euch dabei auf den richtigen Weg geführt zu haben.

Es gibt zu diesem Thema eine Menge Stoff zum Nachdenken und zum Diskutieren. Falls ihr also etwas dazu (oder zu irgendetwas anderem) zu sagen habt, dann würde ich das wirklich gern hören. Schreibt mir einfach auf Twitter oder Tumblr. Dort treibe ich mich am meisten rum.

Wenn das für euch nicht funktioniert, könnt ihr mir auch einfach eine E-Mail an BeyondBasicsMagic@gmail.com schreiben.

Ich wünsche euch ganz viel Spaß beim Magic-Spielen und hoffe, dass ihr immer die richtigen Risiken eingeht. Macht doch einfach diese Woche ein paar Spielzüge, die ihr normalerweise nicht machen würdet, und schaut, wie das so läuft.

Wir sehen uns nächste Woche!

Gavin