Sofern ihnen nichts anderes befohlen wurde, bewegten sich alle Bewohner der Bleichen Basilika in vorbestimmten Bahnen, die ihrer Position entsprachen. Aspiranten machten ihre Runden durch die emporragenden Türme wie Blut, das durch Arterien fließt, jeder Schritt eine Einladung an die Apoththegmata des Silbernen Bildwerks – Elesh Norns metall- und fleischgewordenes Wort –, sie mit Zuckungen krampfhaften Deliriums zu ergreifen. Hoch über ihnen flogen Engel auf stummer Pilgerreise zwischen nebelverhangenen Horsten auf Flügeln aus zusammengeflicktem Knorpel. Von dort oben war die ständige Bewegung der Aspiranten nicht die Ansammlung Tausender, sondern das Werk eines großen Bewegers, die Schaffung eines einzelnen göttlichen Siegels, das sich gleich einer Nabelschnur ins Sein wand. Unten auf dem Gelände von Elesh Norns Kathedrale strömten Kanzler, in öldurchtränkte Zahnräder eingewickelt, und Fiepser, von extatischem Rausch besessen, in den Großen Annex und aus ihm heraus wie schäumende Maden. Sie verkündeten die Weisheit ihrer geliebten Mutter der Maschinen.

Von diesen endlosen Kreisläufen ausgenommen waren die Auserwählten der gepanzerten Legionen der Alabasterschar, die die Wege in die und aus der eigentlichen Kathedrale bewachten. Ihre Rolle bestand im Gegensatz zu allen anderen in der Bleichen Basilika darin, perfekt, unmenschlich still zu stehen, denn sie waren der niemals blinzelnde Blick der Mutter selbst. Wehe dem Legionär, der sich dieser Auszeichnung entzog, und sei es nur, um einen Fleck auf seiner Rüstung wegzuwischen.

So überraschte es Tezzeret nicht, dass die beiden Zenturionen, die vor dem Haupttor Wache standen, nicht einmal zuckten, als die Weltenbrücke zerbrach und dann den geheiligten Boden vor ihnen aufriss. Er war einmal mehr auf der verfluchten Welt Neu-Phyrexia, in seinen Armen das verkohlte Endoskelett Ronas.

Illustration von: Camille Alquier

„Ich muss die Mutter sprechen“, bellte er die Wachen an, während die Energien der Weltenbrücke an seinem Fleisch nagten wie ein Schwarm gefräßiger Aasvögel. Keiner der beiden bewegte sich oder nahm seine Anwesenheit zur Kenntnis. „Ist sie hier oder im Kern?“ Noch immer keine Reaktion. „Antwortet mir, verdammt!“

„Bringt ihn zu uns“, donnerte eine Stimme. Ihre Stimme. „Schickt die andere zur Instandsetzung zu Jin-Gitaxias.“ Daraufhin traten die Wächter beiseite; einer brachte Ronas Überreste weg, der andere begleitete ihn auf dem langen Marsch durch den inneren Hof. Ein beständiges Brummen lag in der Luft, ebenso der kränklich süßliche, leicht beißende Gestank von Räucherwerk, das im zentralen Kohlebecken brannte. Alles war durchdrungen von einem Eifer, den Tezzeret zuvor nicht bemerkt hatte, die spannungsgeladenen Augenblicke vor einem rituellen Opfer.

Tezzerets Reise endete in einer Kammer, gestützt von Streben aus knochenähnlichem Porzellan, die aus den Wänden traten, einem Satz von Rippen, die in der Mitte ein Podest aus hohen Stufen bildeten, die zum Thron Elesh Norns hinaufführten. Zwei gewaltige Animarchen unterbrachen ihre Arbeit im hinteren Teil des Gewölbes und starrten Tezzeret an, während er sich durch die Zwischenräume näherte.

„Verehrte Mutter“, sagte er und kniete nieder.

„Wir haben dich nicht gerufen“, antwortete Elesh Norn, ihre Stimme so laut, dass es sich anfühlte, als würde sie aus seinem Kopf herausbrechen. „Warum hast du Dominaria verlassen?“

„Unsere Truppen wurden überwältigt“, begann Tezzeret.

„Nicht möglich. Unsere Weite ist allumfassend.“

„Dies ist wahr, Mutter. Aber … wir wurden verraten. Rona, mit der ich hergekommen bin …“

„Eine von Sheoldreds Dienerinnen“, sagte Elesh Norn. Ihre Stimme war anklagend, als sie sich von ihrem Sitz erhob und begann, die Stufen hinabzusteigen. „Sheoldred, die in unseren Augen eine Abtrünnige ist! Ihre Streitkräfte haben sich in einem verwegenen Griff nach der Macht gegen uns gewandt. Wir haben Gnade gezeigt ob der Vergehen der Thane, und diese Gnade wird geschmäht … Ein solches Sakrileg schmerzt uns.“

Tezzeret stolperte fast rückwärts. Sheoldred? Nach den Ereignissen auf Dominaria war Tezzeret überzeugt gewesen, dass Sheoldred unter Kontrolle gebracht worden war – ein wildes, störrisches Haustier, aber dennoch nur ein Haustier. Er hatte ohnehin geplant, Rona die Schuld an seinem Versagen zuzuschieben. Sheoldreds Verrat war ein köstliches Detail, das seine Deckgeschichte glaubwürdiger machen würde.

„Rona hat ihre Rolle in Sheoldreds Plan perfekt gespielt und sogar mich zum Narren gehalten. Wir wurden besiegt, als unsere eigenen Truppen sich gegen uns wandten.“

„Und die Planeswalker?“, fragte Elesh Norn.

„Sie sind entkommen.“

„Du bist ihnen nicht gefolgt?“ Elesh Norns Schatten ragte über ihm auf. Reflexartig zog er die Schultern zusammen, was den heftigen Schmerz von der Weltenbrücke noch intensiver werden ließ, und ihm wurde schwindelig.

„Das hätte ich getan, Mutter“, sagte er durch zusammengebissene Zähne. „Aber ich musste Euch vor der Schlange in unserer Mitte warnen. Ich war … besorgt.“

Elesh Norn war ihm jetzt so nahe, dass sie sich nach vorne beugen, den Arm ausstrecken und sein Kinn mit ihrem Finger hochheben konnte. „Du liebst uns, nicht wahr?“

Ein gut gezielter Stoß seines spitz zulaufenden Arms hätte ihren Kopf aufspießen oder ihn direkt abschlagen können. Würde das süße Gefühl dieser Tat die Hölle wert sein, mit der er dafür büßen würde? Tod? Wenn er Glück hatte. Folter? Immer noch besser als das, von dem er vermutete, dass es tatsächlich geschehen würde – das Strecken und Verformen von Körper und Geist, der Sieg des Öls über seinen eigenen beharrlichen Kampfgeist, sein Ende und der Beginn seiner immerwährenden Knechtschaft. Wie bei Tamiyo. Wie bei Goldmähne. Tezzeret schloss die Augen und befahl seinem Herzen, langsamer zu schlagen; er konzentrierte sich auf das Geräusch seines Atems.

„Welches Kind liebt nicht seine Mutter?“, fragte er und schaute wieder auf.

„Dann erzähle uns, Kind. Erzähle uns vom Feind.“

„Wir begegneten der neuen Anführerin der Planeswalker. Sie traf Rona mit ihrer furchteinflößenden Waffe.“ Tezzeret sah, wie Elesh Norns Zorn einem Ausdruck von Besorgnis wich. „Der Name dieser Anführerin ist Elspeth Tirel.“ Tezzeret ließ den Namen in der Luft hängen. Unter anderen Umständen wäre es herrlich gewesen, die Mutter der Maschinen in echter Furcht erleben zu dürfen. Aber die Weltenbrücke raubte ihm jegliches Vergnügen, das er sonst empfunden hätte.

„Die Waffe …“

„Eine Klinge von gleißendem Weiß“, antwortete Tezzeret. „Wie ein Splitter eines Sterns. Wir hatten keine Antwort darauf, genau wie wir keine Antwort haben werden, wenn sie auf Neu-Phyrexia eintrifft. Ihr stimmt mir sicher zu, dass dies nun unvermeidlich ist.“

„Wir werden bereit sein“, knurrte Elesh Norn.

„Keiner von uns ist bereit. Sie hat jedoch den Vorteil der Überraschung aufgegeben. Wir müssen die Gelegenheit nutzen …“ Eine weitere Welle des Schmerzes überkam Tezzeret, der wie ein Büßer wieder auf die Knie sank. „Der Segen, der mir versprochen wurde“, sagte er, während er sich an die Brust griff. „Mit einem Körper aus Nachtstahl kann ich Euer unbezwingbarer Schild sein. Glaubt an mich, wie ich an Euch glaube, Mutter. Gegen uns zusammen kann nicht einmal die mächtige Generalin des Feindes siegen.“

Tezzeret Sehvermögen ließ immer mehr nach. In Kuldotha war er zu lange ohne seine Behandlungen geblieben, und jetzt wankte er auf dem messerscharfen Grat zwischen Leben und Tod, abhängig von der Gnade – und der Leichtgläubigkeit – ausgerechnet des Wesens, das er im Multiversum am meisten hasste. Wie passend, dass er sich erneut in dieser Situation befand. Und wie überaus ärgerlich. Er fiel zu Boden, auf seinen Rücken, und er konnte sich nur noch auf das unsichtbare elektrische Feuer konzentrieren, das von seinem Körper Besitz ergriff.

„Du hast für uns eine solche Last getragen“, sagte Elesh Norn, während sie Tezzerets Wange mit ihrer Klaue liebkoste. „Es ist an der Zeit, deinen Glauben zu belohnen. Versprochen ist versprochen.“ Elesh Norns widerwärtig überhebliches Lächeln war das Letzte, was er sah, bevor er das Bewusstsein verlor.


Die Luft war kalt und nass und roch nach Öl. Tezzerets riss die Augen auf. Kabel wandten sich wie Tentakel um seine Beine und Arme und fesselten ihn. Über seinem Kopf befand sich eine schimmernde Kugel, aus deren Seiten Greifer aus gehärtetem Quecksilber wie die Beine einer mechanischen Spinne ragten.

Illustration von: Sarah Finnigan

„Stabilisierungsmaßnahmen erfolgreich. Subjekt erlangt Bewusstsein zurück.“

Jin-Gitaxias. Tezzeret bemühte sich, so viel von seiner Umgebung zu sehen wie nur möglich. Er erkannte die Details von Jin-Gitaxias’ spärlich beleuchtetem Labor, wo in einer Palette von Stasistanks Stücke der Geschichte dieser Welt aufbewahrt wurden. Ein metallener Anzug, den Neurok-Agenten häufig trugen. Ein faustgroßes fünfseitiges Prisma, aus dessen Kern fahles gelbes Licht drang wie eine verdunkelte Sonne. Die Überreste eines kleinen schwarzen Würfels, der in Flüssigkeit schwebte, seziert wie ein Tier, das studiert werden sollte.

„Wie lange habe ich geschlafen?“, fragte Tezzeret. Seine Stimme war heiser, seine Kehle trocken.

„Lang genug, dass ich mich auf die Aufgabe vorbereiten konnte, die mir übertragen wurde“, antwortete Jin-Gitaxias, der in sein Blickfeld trat. Er hielt einen Augenblick inne und beäugte eine Tafel in seiner Hand, ein Gerät, mit dem er den Zustand seiner Laborapparate überwachte, und streckte dann seinen Hals, um Tezzeret ins Gesicht zu sehen. „Es ist unklug, Projekte kurzfristig anzugehen. Noch dazu in einer derart heiklen Zeit. Elesh Norns Besonnenheit liegt mehrere Prozentpunkte unter dem Akzeptablen.“

Also passierte es tatsächlich. Er erhielt endlich seine Belohnung. Tezzeret wäre begeisterter gewesen, wäre er nicht an denselben Stuhl gefesselt, auf dem Tamiyo aufgeschnitten und gehäutet worden war wie eine überreife Frucht, ihre Organe entfernt und ersetzt durch Drüsen in öligem Wundsekret, eine Säureleber, Knochen aus schwarzem Metall. Als er ihre Wiedergeburt als Phyrexianerin mit ansehen musste, schwor sich Tezzeret, dass ihn niemals ein derartiges Schicksal ereilen würde, dass er eher sterben würde, als sich Jin-Gitaxias’ wahnsinnigen Experimenten zu unterziehen. Aber über den Tod zu sinnieren ist nicht dasselbe, wie ihm ins Angesicht zu blicken.

Die Tür am anderen Ende des Labors öffnete sich mit einem kaum hörbaren Schleifen. Mehrere tentakelbewehrte Fiepser krabbelten herein, und mit sich zogen sie eine schwebende Plattform, ähnlich der, auf der Tezzeret Karns zerlegten Körper in Elesh Norns Garten gebracht hatte. Nur befand sich auf dieser Plattform etwas, das ihm weit wichtiger war, die Belohnung, auf die er solange gewartet hatte und deren ansonsten tiefschwarze Oberfläche von goldenen Wirbeln verziert war.

Ein Körper aus Nachtstahl. Kalt. Unzerstörbar. Unbesiegbar. In Tezzerets Brust stieg etwas auf, das sogar das ständige Brennen der Weltenbrücke auf seinem Fleisch überwand. Was es Hoffnung? Keineswegs. Solche Täuschung war etwas für Narren; Tezzeret hatte dafür keine Verwendung. Was er hatte, war Klarheit. Nichts war besser als Verzweiflung, um die eigene Überzeugung zu erneuern, die Entschlossenheit zu stärken.

Illustration von: Zezhou Chen

„Das Arbeiten mit Nachtstahl hat seinen Preis“, belehrte Jin-Gitaxias ihn in seinem charakteristischen monotonen Tonfall. „Sobald das Metall geschmiedet wurde, muss es unverzüglich in die gewünschte Konfiguration geformt werden. Die Eile, mit der dies geschehen muss, erfordert laxe Standards in anderen Bereichen. Urabrask duldet derlei Verschwendung, ich hingegen nicht.“

„Das ist mir durchaus bewusst“, sagte Tezzeret und verspottete Jin-Gitaxias innerlich dafür, dass er vorgab, etwas zu verstehen, wovon er eindeutig keine Ahnung hatte. Tezzeret hatte genug von Urabrasks Domäne gesehen, um zu wissen, dass das Metall auf eine Weise abgebaut und geformt wurde, die nicht im Entferntesten als traditionell zu bezeichnen war. Beim Schmieden von Nachtstahl wurde die Realität geschmiedet, die das Metall umfassen würde; durch diese Voraussage konnte das Metall in seine Form gezwungen werden. Tezzeret mutmaßte, dass der genaue magische Mechanismus ein zufälliges Aufeinandertreffen von Ritualen war, die über zahllose Zyklen zusammengestellt worden waren – möglicherweise zum Teil aus Vulshok-Techniken übernommen und zum Teil aus Wissen, das vor langer Zeit außerhalb der Welt gesammelt worden war. Trotz dieser Erkenntnis waren alle seine Versuche fehlgeschlagen, den Mechanismus zu replizieren. Das gefiel Tezzeret nicht; er hasste es, dass er nicht in der Lage war, die Geheimnisse des Nachtstahls zu verstehen. Aber er hatte gelernt, es zu akzeptieren.

„Eine Lektion in Effizienz“, sagte Jin-Gitaxias, während er zwei schneckenähnliche Hilfsdrohnen herbeiwinkte. „Wir werden das aus deiner Hülle extrahierte Ätherium formen und aufladen, um eine verbindende Macht zu schaffen, die deine neue Gestalt stabilisiert.“ Die Drohnen lehnten sich nach vorne, und aus Öffnungen an der Oberseite ihrer Köpfe kamen Strahlen gebündelter Energie, die auf Tezzerets Metallarm gerichtet waren.

Anfangs spürte er nichts, doch schon bald wich das Gefühl langsam zunehmender Wärme einer sengenden Hitze an der Naht zwischen seinem Arm und seiner organischen Schulter. Tezzeret sah zu, wie die Verkörperung seiner eigenen Außergewöhnlichkeit zu Schlacke schmolz. Dieses überhitzte Ätherium sammelte Jin-Gitaxias in einer Schüssel, bevor er es in einen schmalen Kanal goss, der in den Rücken des Nachtstahlkörpers geschnitten war.

„Dies wird eine Schwachstelle einer ansonsten unbezwingbaren Gestalt bleiben, aber angemessene Vorsichtsmaßnahmen können die Gefahr für dich mindern.“

Genial, dachte Tezzeret. Ein weniger talentierter Handwerker hätte versucht, eine komplexere Methode für die Verbindung zu erfinden. Und das nur, um eine Akademie affektierter Kollegen zu beeindrucken. Nicht Jin-Gitaxias. Er verstand, dass die grundlegende Anziehungskraft von Elementen – dass Gleiches an Gleichem haftet – rein war, unberührt und unvergleichlich.

„Jetzt“, sagte Jin-Gitaxias. „Prozedur beginnen.“

Die Chirurgenkugel senkte sich auf Tezzeret herab, wobei sich ein Ring von Zangen um seinen Hals legte. Dann machte sich die Kugel ans Werk; zuerst implantierte sie Mikrofasern in seine Haut, jeder Stich wie ein Dolchstoß. Chirurgische Nadeln in seinem Sitz taten dasselbe und webten ein Gitter aus Ätheriumsträngen um seine Wirbelsäule. Tezzeret bewegte seine Finger und ballte sie zu Fäusten. Ein betäubendes Surren von Energie begann, durch die Metallfäden zu fließen, und ein plötzlicher Anflug von Benommenheit kam über ihn.

Dann wurde sein Kopf samt Wirbelsäule von seinem Körper getrennt, der jetzt kaum mehr war als eine Masse aus vernarbtem Fleisch und versengtem Metall um die Weltenbrücke herum. Der Schmerz übertraf alles, was er je erlebt hatte, um ein Vielfaches, und Visionen schossen ihm durch den Kopf – Fragmente eines vertrauten Fiebertraums, den er erlebt hatte, als Bolas ihn von der Schwelle der Todes gerettet hatte. Ein Meer, umgeben von himmelblauem Dunst. Eine Insel aus Metall, Gräser aus poliertem Zinn und Bäume mit Blättern, die vom Alter angelaufenen Rasierklingen ähneln. Traurige Kontrabass-Akkorde schwellen an zu ohrenbetäubendem Geläut – dem Schlagen einer titanischen Uhr.

Und dann … Schwärze. Stille.

Tezzeret öffnete die Augen und blickte in die grellen Lichter über ihm auf dem fleckigen Marmorblock. Funktionierte es? War er lebendig oder tot? Er war sich nicht sicher. Er konzentrierte sich auf seine Fingerspitze auf dem Block und war verblüfft, als sie sich auf Kommando bewegte. Ja, er spürte, dass die Muskeln – wenn man sie so nennen konnte – in seinen Gliedmaßen schier überquollen von einer rohen, körperlichen Kraft, die er so nie gekannt hatte. Wichtiger noch, das Brennen der Weltenbrücke fehlte, und sein Verstand fühlte sich schärfer an, als er es seit Monaten getan hatte, als wäre ein krankes Stück herausgeschnitten worden.

„Ihr habt Euch selbst übertroffen“, sagte Tezzeret.

„Negativ“, antwortete Jin-Gitaxias, „dieser Fortschritt lag deutlich innerhalb meiner Fähigkeiten.“

„Wie dem auch sei, ich bewundere Euer Können aufrichtig“, entgegnete Tezzeret. So aufrichtig, wie ich deine abscheuliche Welt und alles auf ihr verachte. Mit diesem Gedanken zwang er sich, die Blinden Ewigkeiten zu betreten, dieses Mal als neu geschmiedeter Mensch. Er freute sich darauf, Vergeltung an all jenen zu üben, die ihm unrecht getan hatten, und dann Macht anzuhäufen, um an seinen angemessenen Platz im Pantheon des Multiversums aufzusteigen.

Aber er bewegte sich nicht. Kein charakteristischer Knall, mit dem sich die Ränder des Universums teilen, keine kurzzeitige Übelkeit, wie er sie üblicherweise beim Weltenwandern verspürte. Tezzeret spannte seine Gliedmaßen an, aber die Klammern um seine Hand- und Fußgelenke bestanden aus demselben unzerstörbaren Nachtstahl, der jetzt seinen Körper bildete. Erst dann fiel ihm der dünne Streifen gekräuselten silbernen Metalls auf, der sich in flachen Furchen über den gesamten Marmorblock erstreckte, auf dem er lag. Er fluchte, als er sich daran erinnerte, wie Karn daran gehindert worden war, sich zu retten. Tezzeret war in dieselbe Falle getappt.

„Lasst mich auf der Stelle frei!“ Tezzeret versuchte erneut, auf eine andere Welt zu wandern, und erneut scheiterte er. „Hört Ihr mich?“

„Nachtstahl hat noch einen weiteren Nachteil“, sagte Jin-Gitaxias, der Tezzerets Rufe ignorierte. „Die Umwandlung in Schandstahl erfordert wochen-, wenn nicht monatelange Behandlung mit dem glitzernden Öl.“ Mit einem Klicken seiner Klauen rief der Prätor die Chirurgenkugel wieder herab, sodass sie bei seiner Schulter schwebte. Er tippte gegen die Kugel, woraufhin ein sich windender Tentakel aus dem Nest ihrer Anhängsel hervortrat. „Zum Glück wurden Fortschritte erzielt, um dieses Problem hinsichtlich der vorliegenden Aufgabe zu minimieren.“ Der Tentakel rollte sich aus und offenbarte ein kleines Modul an seiner Spitze.

Der Realitäts-Chip, eine neue Version, von der glitzerndes Öl tropfte.

„Das war nicht Teil meiner Vereinbarung mit unserer Mutter!“, schrie Tezzeret. „Ihr Zorn wird auf Euch herabregnen!“

„Gegen bereits gebrochene Vereinbarungen kann man nicht verstoßen.“ Jin-Gitaxias winkte in Richtung der hinteren Wand, die sich öffnete und den Blick auf einen Tank mit blauer Flüssigkeit freigab. In der Flüssigkeit schwebte der Körper eines der obersten Leutnants von Urabrask, eines Schrottmeisters, die Arme vom Körper abgespreizt wie eine Spinne, die auseinandergezogen wird. Er wusste es. Jin-Gitaxias wusste alles – Urabrask, die Mirraner, die bevorstehenden Angriffe. Alles. „Derlei Entwicklungen erregen nicht mein Missfallen. Sie führen zu Möglichkeiten, die so interessant sind, dass ich sie gewähren lasse.“

Er greift selbst nach dem Thron, dachte Tezzeret.

„Dennoch bedauere ich es, dein Gewebe nicht bei unserer ersten Begegnung an meine Larven verfüttert zu haben. Doch Flüchtigkeitsfehler kann man korrigieren, und den Verrätern kann man … Wie sagt Elesh Norn so schön? Ah. Verzeihen.“

Tezzeret versuchte erneut, seine Fesseln zu sprengen, und er wirkte Zauber in jede Richtung, in die er konnte. Aber mit jeder Zauberformel flackerte das in den Block eingelegte Metall auf; seine Farbe wechselte von Silber zu einem hellen Schillern, als es die Energie absaugte, die er für seine Flucht benötigte. Dennoch wirkte er weiter Zaubersprüche, auf der verzweifelten Suche nach irgendetwas, das das dämpfende Feld durchdringen konnte.

Und dann hatte er Erfolg. Planeswalker, hörte er eine Präsenz sagen, eine Stimme, die mit der Wut von Phyrexias Schmieden kochte, jedoch kurz vor der Auslöschung durch Erschöpfung stand. Wie kannst du in meinen Geist eindringen?

Es war so lange her, dass Tezzeret Kontakt zu einem Telemin aufgenommen hatte, dass er beinahe vergessen hatte, wie dies ging. Das war weniger ein echter Zauberspruch als vielmehr ein Trick von Esper-Mentalmagiern, der eine mentale Verbindung herstellte, mit deren Hilfe der Wirkende die vollständige Kontrolle über ein anderes Lebewesen übernehmen konnte, sofern dieses es ihm gestattete. Nutzlos gegen einen Feind. Aber in einer Situation wie dieser war es genau die improvisierte Waffe, die er brauchte.

Überlasse mir die Kontrolle, Phyrexianer, dachte Tezzeret. Ich bin deine einzige Hoffnung auf Rettung, und du die meine. Andernfalls werden wir beide hier sterben. Der Schrottmeister leistete zunächst Widerstand – ein natürlicher Reflex; doch kurz darauf verschmolz Tezzerets Psyche mit seinem neuen Wirt. Er spürte die nachlassende Wut der Kreatur, die wie eine schwelende Schmelze war, und schürte sie mit seiner eigenen.

Als er durch die transparente Mauer des Gefängnisses des Schrottmeisters sah, wie Jin-Gitaxias sich über seinen Körper beugte, ließ Tezzeret die Kreatur mit ihrem scharfen Oberkiefer einmal gegen das Glas schlagen. Er schlug immer wieder zu, und der Riss im Glas wurde jedes Mal größer, bis der Tank in einem Splitterhagel zerbarst.

Illustration von: Billy Christian

Tezzeret trieb den Schrottmeister voran und rammte Jin-Gitaxias zu Boden, wobei dieser den Realitäts-Chip verlor. Unter anderen Umständen wäre Tezzerets nächster Schritt gewesen, Jin-Gitaxias gnadenlos zu verprügeln. Ihn zu brechen. Stattdessen befahl er dem Schrottmeister, an ihm vorbeizustürmen und das volle Gewicht seines schweren, metallbewehrten Arms auf den Marmorblock zu hämmern, um ein Loch in diesen zu schlagen. Immer wieder. Je mehr der Block – und mit ihm das Gitter auf seiner Oberfläche – beschädigt wurde, desto stärker wurde Tezzerets Verbindung zur Magie. Er hob die Arme des Schrottmeisters zu einem letzten Schlag über seinen Kopf, als ein Schmerz durch seinen Rücken – vielmehr durch den des Schrottmeisters – fuhr. Er blickte hinab und sah Jin-Gitaxias’ Klaue aus der Brust des Schrottmeisters ragen.

Tezzerets Geist schoss gerade rechtzeitig zurück in seinen eigenen Körper, um zu sehen, wie Jin-Gitaxias den Leichnam des Schrottmeisters in einem leblosen Haufen zu Boden schleuderte. Aus dem Mund des Prätors kam kein Wort . Die Zeit für intellektuelle Gespräche war vorbei; das war sowohl dem Prätor als auch dem Planeswalker klar. Einer bewegte sich – Jin-Gitaxias sprang nach vorne, bewaffnet mit dem Realitäts-Chip –, und der andere tat es ihm gleich.

Tezzeret weltenwanderte fort.


Schmutz. Dunkelheit. Trostlosigkeit. Es wurde schon viel über die Gezeitenleere gesagt, den vergessenen Untergrund, in den die Esper-Elite den Abschaum verbannte, der sie an ihre Sünden erinnerte. Die herzlose Gezeitenleere! Die gnadenlose Gezeitenleere! Je länger man dort lebt, desto länger und komplexer werden die Worte. Die Gezeitenleere, die die Schädel der Vergessenen auf perfekt gearbeiteten Stacheln aufspießt! Die Gezeitenleere, deren von Müllfeuern aufsteigende Rauchwolken die toxische Hoffnung der Jungen und die säurehaltigen Gebete der Alten ersticken! Die Gezeitenleere, mit Zähnen wie zersplitterte Fensterscheiben, Säuglinge gemästet mit Mark, das aus Sarkophag-Knochen gekratzt wurde!

Tezzeret wühlte auf Knien zwischen Brocken zerbrochenen Pflasters und kratzte die Erde darunter zusammen. Er hielt sich den Ruß und das Erdreich vor sein Gesicht, roch das Blut, die Krankheit, die Hoffnungslosigkeit. Dann lehnte er sich zurück und heulte vor Lachen. Die Dichter konnten an ihren Versen ersticken. Für Tezzeret gab es nur ein Wort, das wirklich zur Gezeitenleere passte.

Heimat.

„He!“, hörte er eine Stimme hinter sich. Sie hallte von den Mauern der verdammten Gebäude beiderseits der schmierigen Gasse wider. „Da hat wohl jemand zu tief ins Glas geschaut. Hast wahrscheinlich nicht mehr viel in deinen Taschen, aber wir nehmen, was du hast!“

Tezzeret drehte seinen Kopf und sah eine Bande Höhlenbengel, angeführt vom Größten und Ältesten, der mit einem Messer bewaffnet vorne stand. Er sah so abgebrüht aus wie jemand, der schon häufiger an seinem Ende der Waffe gestanden hatte, der solche Transaktionen unter Zwang durchführte, wie die Leute oben in Vectis ihren Nachmittagstee genossen. Vor langer Zeit, vor weltenwandernden Drachen, Welten umwälzenden Zusammenflüssen und biomechanischen Geißeln, war Tezzeret in die gleichen Lumpen gekleidet gewesen, mit demselben bösen Gesichtsausdruck, die diese Jugendlichen jetzt hatten.

„Ich durchlebe gerade einen Augenblick der Schwäche“, sagte Tezzeret ruhig. „Ich gestatte euch zu gehen.“

„Ich glaube, wir bleiben, danke sehr!“, erwiderte ein Mädchen, das Tezzeret für die rechte Hand des Anführers hielt. „Was sind das für Dinger, die um ihn herumfliegen?“

Der Anführer grinste. „Magie. Tand, für den reiche Leute ein Vermögen ausgeben.“ Er stieß sein Messer in Tezzerets Richtung. „Komm schon. Gib uns deine Sachen, dann passiert dir nichts.“

„Ich habe nichts für euch.“

„Das entscheide ich“, sagte der Anführer.

„Du willst über mich entscheiden? Wie kommst du darauf, dass du würdig bist?“

„Ich habe ein Messer in der Hand, siehst du?“

„Ja", antwortete Tezzeret. In einer fließenden Bewegung drehte er sich um, stand auf und wirkte einen Zauberspruch, um das Messer in der Hand des Anführers zu beleben. Es wand sich aus dem Griff des Jungen und bohrte sich in seine Handfläche, wobei es seine Finger fast vollständig abtrennte. „Verstehe.“

„Ein Äther-Lich!“, schrie das Mädchen und löste damit eine panische Flucht aus, bei der der Anführer wegstolperte, während er sich das Handgelenk hielt. Die Bande zerstreute sich, wobei die Größeren über die Kleineren, die die hinteren Reihen bildeten, hinwegtrampelten. Zurück blieb ein einsames blondes Kind, das von seinen ehemaligen Gefährten in die Gosse geschubst worden war. Der Junge presste sich an ein nahes Gebäude – eines, das Tezzeret erkannte. Er hatte sich an die Schwelle des Zuhauses seiner Kindheit gebracht, an den abgründigen Ort, an dem er geboren worden war.

„Warum ist dieses Gebäude mit Brettern vernagelt?“, fragte Tezzeret den Jungen. „Und was ist aus dem Mann geworden, der hier gelebt hat?“

„Hier hat noch nie jemand gelebt, soweit ich weiß.“

War sein Vater gestorben? Es hätte ihn nicht überrascht. Wenn er nicht gerade andere Schrottsammler beschimpfte, weil sie „sein rechtmäßiges Eigentum stahlen“, oder seinen Sohn anschrie, um Frust abzubauen, sprach er betrunken mit dem Phantom seiner toten Frau – Tezzerets Mutter –, bevor er in einer Lache seines eigenen Erbrochenen das Bewusstsein verlor. Bevor es es besser wusste, wartete der junge Tezzeret, bis sein Vater schlief, bevor er den Tisch abwischte und seinen Vater auf dessen Feldbett legte und zudeckte. Schwachkopf. Er hatte dadurch lediglich die Grausamkeit seines Vaters ihm gegenüber ermöglicht. Erst als Tezzeret älter war, nachdem er von der Macht der Magier erfahren hatte, erkannte er die Rolle, die er in seinem eigenen Leiden gespielt hatte.

„Wie heißt du, Junge?“

„Estel“, stammelte der junge Mann.

„Komm mit.“

Tezzeret versuchte, seinen Arm umzuformen, damit er mit einer gebogenen Kante die Holzbretter vom Eingang abreißen konnte, aber sein Körper ignorierte seinen Befehl. Er grunzte, als ihm klar wurde, dass seine neue Gestalt zwar viele Stärken hatte, aber auch Nachteile. Ich werde mich daran gewöhnen, dachte er, als er die Bretter von der Mauer riss, als wären sie Papierstücke.

Drinnen sah es nicht viel anders aus als in seiner Erinnerung. Zwei Räume, einer eine Küche mit einer flachen Feuerstelle und einem Tisch, der andere wurde als Schlafquartier genutzt. Aus beiden war alles Wertvolle entfernt worden. Das einzig Sichtbare, was auf die Existenz seines Vaters hinwies, waren Klumpen aus verbogenem Metall – alles billige Legierungen –, die auf dem Boden herumlagen, und ein schwerer Mantel, der nach Schimmel und Sägespänen roch.

Aber was war mit dem Unsichtbaren? Tezzeret schob den Tisch beiseite, zählte von der rückwärtigen Wand aus drei Fliesen ab und steckte einen Finger in den Spalt zwischen der dritten und vierten. Darunter befand sich eine kleine Metalltür, verschlossen mit einem schweren Riegel.

Tezzeret riss die Tür aus den Angeln, griff hinein und zog einen kleinen Holzkasten hervor, in dessen Deckel Blumenmuster eingelassen waren. Dies war seiner Mutter Handarbeit, das letzte Überbleibsel des Zeitvertreibs, der ihr inmitten des Elends Trost gespendet hatte. Er erinnerte sich daran, wie er den Kasten auf der Reise hinauf ins Untere Vectis an sich gedrückt hatte, wo er die Leiche seiner Mutter abholte, und wie sein Fingernagel perfekt in die flachen Nuten der Gravur gepasst hatte. Er erinnerte sich an ihr Versprechen, an jenem Morgen mit einem Abendessen zurückzukehren – ein Versprechen, das sie wohl gerne gehalten hätte.

Zeugen erzählten eine vertraute Geschichte. Sie hatte um Almosen gebettelt, als der Wagen eines reichen Gildenmeisters sie überfuhr, ohne anzuhalten. Natürlich blieben die Behörden untätig. Demütigung und Tod gehörten für Bodensatz wie sie zum Alltag. Lange danach und bewaffnet mit seinen Fähigkeiten als Sucher spürte Tezzeret den Mörder seiner Mutter auf, nur um zu erfahren, dass er Jahre zuvor friedlich verstorben war, im Kreise seiner liebenden Familie.

Die Gezeitenleere, deren Klauen aus Lumpen und Elend Träume zu Asche zerfetzen!

„Weißt du, was das hier ist?“, fragte Tezzeret Estel, nachdem er den Kasten geöffnet und den Jungen einen Blick hinein gestattet hatte. In ihr lagen Metallreste in sämtlichen Formen – Klumpen, Späne, unregelmäßige Drähte.

„Ätherium“, antwortete Estel, der unter dem Blick des Planeswalkers schrumpfte.

„Diese erbärmliche Menge ist mehr wert als alle Bewohner der Gezeitenleere zusammen, mehr als alles, was du jetzt bist oder in Zukunft sein wirst.“ Tezzeret fing an, einen Zauberspruch zu formen; er murmelte Worte, die er vor langer Zeit als Mitglied der Sucher gelernt hatte. „Sein Wert beruht auf seiner extremen Seltenheit, der Tatsache, dass es sich nicht reproduzieren lässt. Zumindest erzählt man euch das.“ Er ließ seine Hand sinken, und das Ätherium schwebte in der Luft. Er sah zu, wie das flüssige Metall sich zu einem dünnen Quadrat formte. „In der Gezeitenleere braucht man kaum Motivation, um gegeneinander um die Reste zu kämpfen, die man uns lässt. Umso besser für die über uns. So kommen wir ihnen nicht in die Quere.“ Buchstaben erhoben sich aus der Oberfläche des Metalls, aus dem Tezzerets Geist eine Botschaft formte.

Tezzeret nahm das Ätherium, rollte es fest zu einer Röhre zusammen und legte es zurück in den Kasten. Er schaute Estel an und wollte ihm gerade den Kasten in die Hand drücken, als ein Donnergrollen die Luft zerriss, das Geräusch von Stahltüren, die aufgerissen wurden.

Tezzeret eilte nach draußen, wo er einen rechtwinkligen Spalt sah, der vor gleißender Energie knisterte und sich an der Höhlendecke entlangzog. Er wurde durchbrochen von einer Säule weißen Materials, die er zuerst für ein Gebäude hielt, das aus der Stadt über ihnen herunterfiel. Aber bei genauerem Hinsehen erkannte er Kreaturen, die sich über die Oberfläche der Säule bewegten und wie Insekten auf die Straße herunterkrabbelten. Dann wurde ihm klar, was er da sah.

Knochenweißes Material. Die Phyrexianer waren eingetroffen.

„Zu früh“, knurrte Tezzeret. Er packte Estel am Arm und zog ihn in das armselige Haus. Er zwang den Jungen, den Kasten zu nehmen; dann bemerkte er den kleinen Dolch, den dieser am Gürtel befestigt hatte. „Gib mir dein Messer.“

Mit zitternder Hand zog Estel das Messer aus der Scheide. Tezzeret nahm es und beäugte es. Billig gefertigt. Lockerer Griff. Abgestoßene Spitze. Dennoch würde es für Tezzerets Zwecke ausreichen. Ein Anfänger-Zauberspruch machte den Griff des Messers fest, ein weiterer feilte die Klinge, bis sie scharf war und spitz zulief. Eine letzte Verzauberung machte die Waffe beinahe ätherisch, sodass sie ein gut geschmiedetes Schwert durchschlagen konnte.

„Die Zisterne in der Blasebalggasse“, sagte er. „Kennst du sie? Dort führt ein Durchgang zu einem vergessenen Haus im Oberen Vectis.“

„Ja. Von dort aus sehen wir uns die Paraden an.“

Genau wie ich in meiner Jugend. „Geh dorthin. Bleib auf dem Schattenweg, in den engen Gassen.“

„Woher kennst du …"

„Sei still und hör zu. Du musst die Stadt verlassen; an Vorräten nimmst du mit, was du finden kannst. Bleib immer in Bewegung. Wenn dir etwas in die Quere kommt, benutze das hier.“ Tezzeret steckte Estels neu geformtes Messer zurück in seine Scheide. „Schlag dich nach Bant durch.“

„Bant?“

„Folge der Küste nach Norden, immer mit dem Silberwind im Rücken. Er wird dich nach Valeron führen. Geh zum ersten Außenposten, den du siehst, und halte Ausschau nach dem Ritter, der mit den meisten Siegeln dekoriert ist. Bitte um eine Audienz bei Rittergeneral Rafiq und gib ihm den Kasten. Hast du das verstanden?“

Der Junge nickte, aber sein Gesichtsausdruck zeigte Sorge und Verwirrung, die durch die Rufe und Schreie von draußen – ganz zu schweigen vom unmenschlichen Gebrüll – verstärkt wurden. „Was geht hier vor sich? Was waren diese Dinger? Wer bist du?“

„Ich bin der, der dir eine Chance gibt zu überleben“, antwortete er. „Wenn du Rafiq siehst, sag ihm, dich schickt ein Verbündeter von Elspeth Tirel.“

Tezzeret schob Estel weg, und der Junge wandte sich zum Gehen. Aber bevor er hinausging, schaute er zurück, nickte und sagte: „Danke.“

„Vergeudete Worte“, spie Tezzeret, und hinter seinen Augen wallte Hitze auf.

„Aber …“

„Geh einfach!“, schrie er, worauf Estel zur Tür hinausrannte. Tezzeret stand da, am ganzen Leib zitternd. Ich habe mich noch nicht vollständig von der Transplantation erholt, sagte er sich, während er um Fassung rang. Wenn der Junge stirbt, dann stirbt er eben. Der Tod wäre ohnehin Estels Schicksal gewesen, wenn er in der Gezeitenleere geblieben wäre. Aber wenn er überlebte, wenn er den Rittern von Bant die Nachricht überbringen konnte, dass sie allein eine Möglichkeit besaßen, sich zu verteidigen – eine Legion von Engel-Kriegern, wie sie Neu-Capenna einst gehabt hatte –, dann konnte Alara zu einem Sumpf werden, der die Ausbreitung der Phyrexianer verlangsamte. Damit hätte er mehr Zeit, seine Netzwerke neu aufzubauen, Ressourcen zu sammeln und seine Pläne in die Tat umzusetzen.

Tezzeret legte sich den Mantel seines Vaters um – eine billige Verkleidung, aber gut genug – und schaute dann für einen kurzen Augenblick zurück in das ärmliche Loch, in dem er geboren und aufgewachsen war. Morsches Holz und Gips regneten von der Decke, als sich die Luft mit Geräuschen von Massaker und Chaos füllte. Ein passender Abschied, dachte er, als er die Blinden Ewigkeiten betrat.


Tezzerets Reisen führten ihn auf eine Welt nach der anderen, die transformiert, von den einfallenden Horden der Phyrexianer auseinandergerissen worden war. Säbel, die an eisenverstärkten Panzern zerbrachen, monströse Kiefer, die Knochen zermalmten, und das beinahe allgegenwärtige Wehklagen schienen alle Welten in einer ununterbrochenen Symphonie des Leidens zu einen.

Elesh Norns „großes Werk“ ging schneller voran, als Tezzeret es sich hätte träumen lassen. Aranzhur. Ilcae. Obsidias. Alles Welten mit sicheren Unterschlüpfen, die Baltrice eingerichtet hatte, seine Stellvertreterin im Unendlichen Konsortium. Die Existenz dieser Unterschlüpfe – wie auch die ihre – gehörte zu den wenigen Fetzen spezifischer Kenntnisse, die Beleren hinterlassen hatte, als er Tezzerets Erinnerung in den Sümpfen der Nezumi ausgelöscht hatte. Aber diese Welten waren nicht mehr sicher. Sie waren zu bloßen Erweiterungen Neu-Phyrexias geworden, neue Blüten an Elesh Norns verunreinigtem Weltenbaum. Andere Welten wie Mirrankkar oder Cabralin waren gerade dabei, subsumiert zu werden. Ihre Bewohner würden sich wehren, nur um zu scheitern und mit der Legion der Maschinen eins zu werden.

Tezzeret blieb keine Wahl, er musste weiterziehen. Auf einer weiteren Welt gab es einen Unterschlupf, den er als Zuflucht nutzen konnte, allerdings war dies ein Ort, an den er nur ungern zurückkehren wollte. Aber ihm gingen die Alternativen aus. Zu seiner Erleichterung gab es keinerlei Anzeichen einer Invasion – zumindest einer offenen – inmitten des geschäftigen abendlichen Treibens in den engen Straßen von Towashi. Die Spannung, die noch vor Kurzem angesichts der Aggression der Aufständischen geherrscht hatte, war verflogen, und die Leute führten wieder ihr normales, erbärmliches Leben.

Unwissend. Vieh auf dem Weg zur Schlachtbank.

Ganz egal. Tezzeret ging es um den Unterschlupf, wo er sich ausruhen und die Materialien an sich nehmen wollte, die Baltrice dort versteckt hatte. Leider erwiesen sich die verschlungenen Gitter-Ebenen, die die Unterstadt von Towashi ausmachten, als ebenso gewaltige Barriere für seine Atempause wie eine phyrexianische Horde.

„Wo ist es nur?“, murmelte er, als er einmal mehr aus einer Gasse zurück auf die Straße trat. Tezzeret zog sich die Kapuze seines Umhangs tiefer ins Gesicht und hielt den Blick nach unten gerichtet. Alles wurde überwacht. Er war seit Langem in den meisten Teilen Kamigawas unerwünscht, und er hatte keinen Zweifel daran, dass seine Feinde nach seinem letzten Abstecher auf die Welt ihre Jagd nach ihm wieder aufgenommen hatten.

Er ging weiter, bis er sich in Drachenbrunnen wiederfand, einem der niedrigsten Viertel der Unterstadt, auf ewig abgeschirmt vom Sonnenlicht durch eine Matrix aus Brücken für jene, die in den Wolkenkratzern von Towashi arbeiteten und wohnten. Ein logischer Ort für den Unterschlupf. Außer Sicht. Begraben. Vergessen von allen außer den Motorradbanden der Unterstadt, die sich mit Kleinkriminialität über Wasser halten. Ein Ort, den Tezzeret gewählt hätte – vielleicht ein Ort, den er gewählt hatte, an den er sich aber nicht mehr erinnern konnte. Er legte seine Hand auf den Stützpfeiler einer Brücke und murmelte einen rhabdomagischen Zauberspruch, der seinen Geist durch das Metall schickte auf der Suche nach einem Durchgang mit dem magischen Zeichen des Konsortiums.

„Du bist es … “, hörte er jemanden sagen, einen Sekundenbruchteil bevor er von einer elektrischen Woge überwältigt wurde. Plötzlich fühlte sich Tezzeret der Schwerkraft hilflos ausgeliefert, und sein Körpergewicht warf ihn um wie eine Statue, die aus dem Gleichgewicht gerät. Er musste seine ganze Stärke aufbringen, um nach hinten zu greifen, wo er fühlte, wie eine Klinge durch den schäbigen Stoff des Mantels seines Vaters gedrungen war, hinein in das weiche Ätherium in der Mitte seines Rückens. Ein Glückstreffer – oder vielmehr ein Unglückstreffer. Dann erstrahlte helles Licht in der Dunkelheit; es leuchtete von einer schwebenden Überwachungsdrohne, deren Kanone von einem kürzlich abgefeuerten Schuss noch immer rauchte, auf ihn herab. Ein Nezumi trat in sein Blickfeld, seiner Statur nach zu urteilen jung, anders als die meisten seiner Brüder mit grau geflecktem, weißem Fell.

„Wo ist sie?“

Tezzeret stöhnte und versuchte, auf eine andere Welt zu wandern. Aber sein Geist war zu zerrüttet, als dass er hätte entkommen oder Zaubersprüche wirken können. Er griff wieder nach hinten, und dieses Mal tippten seine Fingerspitzen gegen den Schaft der Klinge.

„Tamiyo“, fuhr der Nezumi fort. „Sag mir, wo sie ist.“ Er hob einen Kontrollstab, mit dem er die Drohne nach unten lenkte. „Ist sie … tot?“ Mit einem Klicken lud die Kanone nach, fest auf Tezzerets Kopf gerichtet. „Los, sag es mir!“

Illustration von: Simon Dominic

„Was bedeutet sie dir, Rattenwelpe?“, sagte Tezzeret mit einem trockenen Grunzen. „Bist du ihr Beschützer? Ihr Held, der heranfliegt, um sie aus der Dunkelheit zu retten?“

„Sie ist meine Mutter.“ Mutter. Natürlich. Tamiyos „Familie“, von der sie ständig schwadroniert hatte. Wenn sie dabei war, war es nie ruhig – ihr dämliches Gesinge, eine kaputte Spieluhr, die in einer endlosen Schleife feststeckte. Genku, Liebes, ich werde zurückkommen und dich holen. Hiroku, Liebes, wir werden uns wiedersehen. Rumiyo, Liebes, wir werden uns umarmen. Nashi, Liebes, nicht von meinem Blut, doch fest in meinem Herzen … Ja, Nashi. Das war sein Name. „Ich habe dich einmal sterben sehen, weil du mein Dorf niedergebrannt hast“, sagte er mit zitterndem Arm, die Finger auf den Knöpfen des Kontrollstabs. „Sag mir, wo sie ist, sonst stirbst du erneut.“

Der Kreis schließt sich. Tezzeret blickte auf und starrte dem Jungen in die Augen. „Dann tu es.“

Nashis Hand zitterte. „Ich schwöre …

„Tu es! Worauf wartest du noch, du Feigling?!“ In Tezzeret brach ein Damm. Einmal mehr griff er hinter sich; er spürte, wie seine Finger länger wurden und sich um die Klinge schlossen, die in seinem Rücken steckte. Er riss die Klinge heraus und warf sie auf Nashis Drohne, die er damit so weit aus dem Gleichgewicht brachte, dass die Kanone ihr Ziel deutlich verfehlte. Schatten tanzten. Nashi wollte davonlaufen, aber Tezzeret war schneller und packte ihn am Kragen seiner Lederjacke, an dem er ihn zu Boden zog. „Du erbärmlicher Schwächling!“ Tezzeret, wieder in Vollbesitz seiner Kräfte, hob Nashi mit einem Arm hoch und schleuderte ihn gegen den Brückenpfeiler. „Das Schicksal hat dir Rache gegeben, und du hast sie verschwendet! Die meisten bekommen diese Gelegenheit nicht einmal!“ Tezzeret hob Nashi erneut hoch und drückte ihn gegen die Wand. Der Junge war übel zugerichtet, rote Flecken in seinem Fell wie Blut im Schnee. „In diesem Leben nimmt man sich, was man verdient! Andere versuchen, einen aufzuhalten, also hält man sie zuerst auf! Man tötet sie zuerst!“

Um Tezzeret herum brach das Brummen von Motoren aus. Er drehte sich um, als Licht von mehr als einem Dutzend Motorräder, die einen Halbkreis um ihn bildeten, den Bereich durchflutete. Kein Ausweg.

„Lass ihn los“, befahl die Anführerin, ein weiblicher Nezumi auf einem Motorrad, das einem Drachen nachempfunden war.

„Das hier geht euch nichts an.“

„Doch, das tut es – er ist einer von uns“, antwortete die Anführerin. „Du bist in der Unterzahl. Lass ihn los, sonst wirst du es büßen.“

Tezzeret ließ Nashi vor sich zu Boden fallen. Noch mehr Drohungen. Ständig Drohungen, die eine Reaktion seinerseits erforderten. Nun denn. Seine Antwort würde Metall sein, brutal und präzise. Um des Hasses willen. Mit diesem Gedanken ließ er seine Magie in alle Richtungen ausströmen – in die Brücken, die das eiserne Firmament über seinem Kopf überspannten, in den Boden, wo tief unter ihm Erzvorkommen schlummerten. Vielleicht bemerkte die Anführerin, dass etwas nicht stimmte, denn sie befahl drei ihrer Gefolgsleute, von ihren Motorrädern abzusteigen und sich ihm zu nähern.

Zu spät. Tezzeret zuckte, und die kurzen Klingen in den Händen der Gefolgsleute bewegten sich von selbst; sie spießten ihre Träger auf und zerrten sie weg vom Licht. Der Rest der Nezumi stieg wieder auf ihre Motorräder und ließ die Motoren aufheulen, bereit zum Angriff. Wieder war die Anstrengung vergebens. Jedes einzelne ihrer mechanischen Rösser war herausragende Arbeit, ein wahres Artefakt, glänzend und mächtig und aus Metall. Er hob seine Hand vor sein Gesicht, mit der Handfläche nach oben, und krümmte langsam seine Finger.

Als Sekunden später die Motorräder zu zittern begannen, erkannte die Bande, was vor sich ging. Einige versuchten abzuspringen und stellten fest, dass das Metall an ihrem Körper – Waffen, Schnallen und Zierat an ihrer Kleidung – mit ihren Motorrädern verschmolzen war und sie daran kettete. Sie konnten nichts tun, als Tezzeret schlagartig die Finger zur Faust ballte, die Motorräder in die Luft hob und sie dann mit einem grauenhaften Krachen zusammenschlug. Er blickte auf die Masse aus Metall und Fleisch und drehte sie mithilfe seiner Magie im schwachen Licht von Nashis zu Boden gefallener Drohe. Kreischen in unglaublichem Schmerz. Gebrochene Gliedmaßen, aufgespießt von Chromstreben, die in der Dunkelheit wie Geschmeide funkelten.

Gefälschtes Geschmeide. Ein Fluch, getarnt als Schatz. Nein, wahre Macht lag in keinem dieser Dinge – weder im Aufmarsch von Armeen noch im Sammeln von Waffen. Sie lag im Überleben, im Gedeihen, im Überdauern aller, die ihm je nach dem Leben getrachtet hatten. Mit einem Bruchteil seiner Willenskraft schleuderte Tezzeret die Masse aus zerquetschem Metall und Fleisch in die Dunkelheit, wo sie gegen eine ferne Wand prallte.

Dann war alles still. Er schaute nach unten, wo Nashi lag, zusammengekauert, und wiegte den Kopf des Jungen in seiner Hand. Nashi legte seine Finger um Tezzerets Handgelenk, und das halb geronnene Blut auf seinen Handflächen hinterließ eine schwarze und zähe Spur auf Tezzerets Nachtstahlhaut.

„Deine Mutter ist noch am Leben.“

„Am Leben?“, keuchte Nashi, und ein winziger Hauch eines Lächelns huschte über sein Gesicht.

Tezzeret nickte. „Sie wird dich schon bald holen kommen.“ Er lehnte sich näher zu ihm. „Und wenn sie das tut, wirst du dir wünschen, ich hätte sie getötet.“ Er legte Nashis Kopf sanft auf den Boden, stand auf und ging weg.


Der Unterschlupf lag hinter einer falschen Mauer in einer Spielhalle, hell und lärmend, in der Menschen aus den unteren Schichten der Gesellschaft Kamigawas ihr Geld in Maschinen versenkten, die ihnen Reichtümer versprachen, aber wenig mehr als blinkende Lichter und klimpernde Geräusche gaben. Das hätte Tezzeret nicht überraschen sollen. Baltrice hatte schon immer einen Hang zu derlei Frivolitäten gehabt.

Im Unterschlupf fand er genau das, wonach er suchte. Einen privaten Ort, an dem er sich ausruhen konnte. Strategien schmieden. In sich gehen. Die Vorräte kamen ihm ebenfalls gelegen: eine neue leichte Rüstung, die er im Bereich von Wirbelsäule und Hals magisch verstärkte; mehrere Währungen von vielen verschiedenen Welten; eine der sehr wenigen Manaklingen, die sich nicht in Besitz der Kirche der Inkarnierten Seele befand; und zu guter Letzt ein kleiner Kristall, der in Händen gehalten ein Muster aus Lichtpunkten an die Wand projizierte, eine esoterische Telemetrie, die eine längst gelöschte Erinnerung zurückbrachte.

Tezzeret weltenwanderte von Kamigawa auf eine Welt, die so verlassen war, dass selbst er ihren Namen nicht kannte. Nach der Reise – dem Zucken eines vernachlässigten Muskels, der noch immer die Prägung durch endlose Übung bewahrte – stand er inmitten eines Meeres aus Sand. In der Ferne erhob sich ein flacher Hügel aus nahtlosem Metall, aus dessen Spitze ein einzelner stachelbewehrter Turm ragte. Einst war dies sein Turm gewesen, die Basis, von der aus er die Geschicke anderer Welten als schattenhafter Anführer des Unendlichen Konsortiums gelenkt hatte.

„Schlau, Beleren, mir das vorzuenthalten“, dachte Tezzeret bei sich. „Aber jetzt nicht mehr.“

Als Tezzeret losmarschierte, dachte er an den Kampf, der auf anderen Welten tobte – Beleren und seine Mitstreiter gegen Elesh Norn. Dieser würde bald zu Ende gehen, die Phase erreichen, in der die beiden Gegner ihre letzten Salven aufeinander abfeuern würden. Das war schon immer der wichtigste Teil des Spiels gewesen – einer, bei dem er gerne aussetzen würde. Am Ende würde einer der beiden siegreich sein, aber geschwächt. Dann – und erst dann – würde er zur Tat schreiten.

Bis dahin wartete eine Menge Wiederaufbau auf ihn.