Schieß übers Ziel hinaus
Vorbemerkung: Dies ist der zweite Teil einer zweiteiligen Erzählung. Schaut euch vor dem Weiterlesen also gern Teil 1 an.
Einen kurzen, atemlosen Augenblick lang gab es keinen Boden. Nikos Stiefel sank durch schimmernde Unwirklichkeiten und landete mit einem sachten Pochen auf einer Holzbohle. Es war viel sanfter als bei der ersten Reise Nikos. Kürzer, leichter, vorangetrieben durch den eigenen Schwung in einem winzigen Boot – von einem einsamen Außenposten an einem eisbedeckten Ufer durch die Haut zwischen den Welten zu einem vollkommen anderen Hafen. Die Barke stieß gegen eine hölzerne Säule, und Niko rappelte sich auf, um wieder Tritt zu fassen. Alles war so hell nach dem Einbruch trüben Wetters, das die Kannah auf Bretagard verfolgt hatte. Das weitläufige Netzwerk aus Anlegern erstreckte sich träge über einem spiegelschwarzen See. In keiner Richtung war etwas auszumachen, worauf man einen trockenen Fuß hätte setzen können – außer eben die Anleger selbst, die in dem kühlen Nebel jedoch kaum zu erkennen waren.
Niko fror zwar nicht, atmete jedoch kleine Wölkchen aus. Niko sog Luft durch die Nase ein, wartete auf das eisige Stechen des Winters in der Lunge, wie damals nach der Flucht von Theros in die Lande der Kannah – doch diesmal gab es kein jähes Frösteln. Die Luft war kühl, erfrischend und lebendig. Die perfekte Temperatur für ein Turnier.
Niko schritt über die Anleger voran, welche einander kreuzten und überlagerten wie Gesteinsschichten, die sich über Äonen hinweg gebildet hatten. Auf den Bohlen befanden sich hier und da Schnitzereien aller Arten von Tieren: riesige Bären und Drachen, Wildschweine und Kaninchen, Eichhörnchen, Fische und Wale. Niko umging oder übersprang diese Symbole mit tänzerischer Anmut, belustigt und nicht überrascht, dass die Bewohner Kaldheims ihre Prahlereien und sonstigen Geschichten geradewegs im Boden verewigten.
Niko kniff die Augen zusammen. Eine widerborstige silber-violette Haarsträhne machte es schwer, alles ungestört in sich aufzunehmen. Ein rasches Blinzeln beseitigte sie. Stolz wie ein Palast und stark wie eine Festung stand da eine Halle: Sie wirkte wie ein geschwungenes A oder wie die ineinander verschränkten Finger einer Reihe aus Tänzern. Über ihr spannten sich gewaltige Zweige, die vor Magie pulsierten. Dies war die Spitze des Weltenbaums, lebendiger Zierrat auf dem Gipfel der Reiche. Niko hatte sie schon als Verzierung auf Rüstungen der Kannah als Dreieinigkeit von Sternen oder wie einen dreifachen Diamanten am Himmel hängend gesehen, das einzige Licht in der sternenlosen Weite wogender Farben.
Aus der Nähe jedoch war sie so vieles mehr.
Hünensteine hielten Wache am Fuß der Treppe. Die konzentrischen Einritzungen auf ihnen waren bezaubernd und unlesbar. Niko begann den Aufstieg, jeder Schritt begleitet von einem Aufwallen von Verständnis und Sehnsucht. Niko begriff, warum Kjell so begeistert von diesem Ort erzählt hatte. Die Kannah beschrieben Starnheim als Paradies, die Omensucher als ein Rätsel, das es zu entschlüsseln galt. Niko hatte geglaubt, dies würde Reichtümer und einen ruhigen Rastplatz bedeuten, doch dieser Ort befriedigte ein viel tieferes Verlangen.
Jeder Schritt war wie das letzte Stück eines Weges hinein in vollkommene Sicherheit. Die Wärme, die vom Herzen Starnheims ausging, trug das gleiche Versprechen in sich wie ein Dutzend Hände, die sich einander die Arbeit für ein Festmahl teilten. Musik und Unterhaltungen schwirrten in der Luft, bereit, jeden Augenblick in ein lautes Willkommen umzuschlagen. Blaues und violettes Licht streifte über Nikos braune Haut, und Nikos Kehle schnürte sich zu. Tränen der Erleichterung brachen sich Bahn, und einer Umarmung gleich öffneten sich die Türen der großen Halle. In jenem Augenblick, als Niko die Schwelle überschritt, wurde das, wonach sich jeder Sterbliche auf Bretagard sehnte, offenbar. Es war mehr als die Erleichterung über das Ende einer Reise und mehr als eine Feier: Starnheim war Heimat.
Die besondere Architektur der Halle war das Ergebnis sowohl eines Bauvorgangs als auch eines natürlichen Wachstums – wie eine dramatische Ruine, deren einstige Pracht man wieder instand gesetzt hatte. Manche Gesichter der im Inneren Versammelten glichen Nikos, andere unterschieden sich von ihm. Tätowiert, mit Schmuck versehen, glatt – und wieder andere waren aus reinem Obsidian. Krieger und Dichter, Menschen, Zwerge, Elfen und Riesen, die vor Frost glitzerten oder vor Lava glühten.
Auch befanden sich solche unter ihnen, die wie Bauern oder feinsinnige Gelehrte aussahen – jene, deren Mut und List sie zu großen Taten für Ruhm, Liebe oder Gerechtigkeit befähigt hatten. Jede Geschichte trieb auf einem Meer aus dröhnendem Gelächter, dem deftigen Geruch nach gebratenem Fleisch und würzigem Gemüse und dem Knistern glimmender Holzscheite. Mit der Mission im Sinn blickte Niko auf. Über der langen Tafel, dem Festmahl, den verehrten Toten und ihren endlosen Geschichten leuchteten im Blätterdach der Zweige des Weltenbaums helle Wolkenschichten auf. Manche blieben weiß, doch hinter ihnen brauten sich Wolken in einem dunklen Blaugrau zusammen und kündigten einen drohenden Sturm an. Nur Niko schien sie zu bemerken.
„Mehr zu trinken!“, rief ein drahtiger Krieger mit einem flammend roten Bart und rostfarbenen Tätowierungen auf Brust und Armen.
„Sag das deinem Horn, du Trottel“, sagte eine andere Kriegerin in Schuppenrüstung und mit Lachfalten, die sich wie tiefe Furchen durch ihr ledriges Gesicht zogen. Sie drückte Flammenbart ein Trinkhorn so lang wie ihr Arm in die Hand.
„Mjød!“, rief Flammenbart hinein. Augenblicklich füllte sich das Horn und ergoss seinen Inhalt teilweise über Flammenbarts Brust.
„Der erste Schluck Hochzeitsmet. Ein Geschenk der Familie meiner Gattin“, sagte die Frau in der Schuppenrüstung. Ihr Horn füllte sich mit einer goldenen Flüssigkeit, die an Wiesen voller Wildblumen erinnerte, aus denen man Honig machte.
„Drøss!“, sagte ein Omensucher mit einer langen Narbe, die sich wie eine Ortsmarkierung über die Landkarte seines Gesichts zog. Sein Horn lief vor weißem, mit schwarzen Bröckchen durchzogenem Schaum, über.
Flammenbart rülpste. „Was in allen Reichen ist Drøss?“
Landkarte wischte sich genüsslich Schaum aus dem Gesicht. „Aufgeschlagenes Eiweiß aus Dracheneiern mit Kräutern und Harz.“
„Uff!“, fluchte Flammenbart. „Ist es das, woran du gestorben bist?“
Schuppenrüstung verzog das Gesicht. „Wie kannst du nur etwas so derart Widerliches deinen Mund berühren lassen?“
Niko schlüpfte zwischen ihnen hindurch. „Das Gleiche habe ich deine Frau gefragt, als ich sie am Ufer zurückließ.“
Kartengesicht johlte auf, schlug Niko auf den Rücken und streckte sein Horn aus. „Trink, Thura!“
„Verdammt.“ Schuppenrüstung lachte auf, nahm einen heldenhaften Schluck des absonderlichen Schaums, spülte ihn mit ihrem eigenen Getränk herunter und reichte das Horn zurück.
„Wer bist du, Stahlhaar?“, fragte Flammenbart.
Der Haarkünstler, der Nikos schwarze Locken gefärbt hatte, wäre tief getroffen gewesen, hätte er vernommen, wie die spiegelgleichen Farbtöne mit etwas so Grobem wie Stahl verglichen wurden. Niko griff nach einem Horn und dachte an Daheim. Etwas Süßes, Zitrusartiges und Starkes blubberte im Horn, das die Erinnerungen an ein nächtliches Schwimmen in einem sommerlichen See in sich barg.
Niko setzte das Horn an die Lippen, trank jedoch nicht. „Zuerst der größte Name.“
Schuppenrüstung grinste und schob Niko eine Platte Wildschweinbraten hin. „Thura Segelreißerin, sie vom Clan der Beskir.“
Kartengesicht schlürfte erneut an seinem Schaum. „Gæller Atemlos, er, der Omensucher vom Schiff Eisschneider. Ich habe einen ganzen Raubzug der Skelle aufgehalten, um die Familie meines Enkels zu beschützen.“
„Vígniút!“, rief Flammenbart und schlug sich auf die mjødgetränkte Brust. „Vom Clan der Tuskeri
„Neu formieren oder überrannt werden“, sagte Thura. „Krieger und Berserker nach vorn. Magier greifen aus der Ferne an.“
Vígniút schnaubte, und Schaum regnete auf den Tisch. „Räuber, Trolle, Drachen … Wenn du sie nicht anspucken kannst, bist du auch nicht im Kampf.“
Niko zuckte zurück und legte rasch die Hand über die Öffnung des eigenen Horns.
„Du hast keine Manieren, Viggy. Trink mit geschlossenem Mund.“ Atemlos warf dem flammenbärtigen Jungspund ein Tuch zu.
„Segelreißerin
Thura schlug auf den Tisch. „Ha! Seht ihr? Die Geschichtenerzählerin selbst trägt euren Leuten Beskir-Sagen an! Vergorenes Haiblut! Trinkt!“
„Pech für dich! Ich mag das Zeug.“ Atemlos nahm Thura das Horn aus der Hand und genehmigte sich einen großen Schluck. „Aber ich höre mir nicht schon wieder das Lied von deinem Tod an. Ich will etwas Neues hören. Große Namen haben gesprochen, Stahlhaar. Erzähl uns, wie du dir den Ruhm Starnheims verdient hast.“
„Niko Aris von Meletis“, begann Niko. „Und ich bin hier, weil ich mein Ziel nie verfehle.“
Die anderen drei lauschten Nikos Geschichte. Vom mächtigen Orakel, das verfügte, dass Niko unbesiegt bleiben, nie das Ziel verfehlen und nie einen Wettstreit verlieren sollte. Unermüdliche Ertüchtigung brachte den Sieg, und der Sieg brachte Ruhm – und dies alles war bedeutungslos. Was war der Zweck eines Schicksals ohne tieferen Sinn? Beim letzten akroischen Spielen, bei denen die Besten jeder Polis gegeneinander antraten, schleuderte Niko den Wurfspeer, spie dem Schicksal ins Gesicht und verlor mit voller Absicht.
„Das Schicksal selbst sandte einen Handlanger aus, um mich zu bestrafen und zurückzutreiben, um das Gewebe, das ich aufgetrennt hatte, zu flicken“, sagte Niko.
„Was ist dann geschehen?“, fragte Thura.
„Hast du den Meuchler getötet?“, fragte Vígniút.
„Wir kämpften“, sagte Niko vage. Es war furchteinflößend gewesen. Aussichtslos. Einen Agenten des Schicksals in einen Spiegelsplitter einzusperren, war, als würde ein Kind auf den Zeh eines Erwachsenen trampeln – mehr Überraschung als Strategie. Nikos gesamtes Wesen erstrahlte gleichermaßen, ein Blitzableiter für etwas tief Verborgenes. Nikos Schicksal war eine Lüge. Und mit nichts als einem einzigen Gedanken schien mit einem Mal jeder Ort erreichbar.
Atemlos sah zu, wie Niko das Horn ansetzte, aber nicht trank. „Du hast es den Göttern gegeben, was?“, meinte er. „Messer im Dunklen ändern nichts daran, dass du den Göttern gezeigt hast, wie falsch sie lagen.“
Thura schnitt dem Omensucher mit einer Handbewegung das Wort ab. „Die Götter haben nicht immer recht. Die Schiffe im schwarzen Hafen sprechen da Bände. Sie müssen sich ihren Platz in Starnheim verdienen – so wie jeder andere auch.“
Über Thuras Schulter hinweg erblickte Niko eine riesige, flauschige Katze, deren Pelz die Farbe der Sturmwolken aufwies, die über dem Festmahl hingen. Sie war mindestens doppelt so groß wie die kleine „Gefahr“ gewesen war, und wie Starnheim selbst schimmerten Polarlichter in den Augen und über den Fellspitzen der Katze. Dasselbe Licht, das die Schwingen der Walküren versprühten.
Zudem war dies das erste Geschöpf, das Niko im Heim der Walküren gesehen hatte, bei dem es sich nicht um eine offensichtlich als solche zu erkennende Person handelte. Die Katze schien Niko mit dem gleichen Interesse zu mustern.
„Ich komme sofort zurück“, sagte Niko. „Ich muss ein paar Freunde treffen.“
Niko reichte das mit theranischem Sprudelblau gefüllte Horn an Vígniút weiter. Die Katze trottete davon und Niko folgte ihr, während Vígniút und die anderen von einer fremden Welt kosteten.
Die Katze warf Niko über die Schulter einen Blick zu, zuckte mit einem Ohr und machte sich dann wieder durch die lärmende Menge davon. Sie bog scharf nach links ab und verschwand durch eine Öffnung in der Wand in einen Kriechgang. Niko folgte ihr und erreichte eine ruhige Halle mit einem Steinboden, schwarz wie der See, der von einem stummen Sturm darüber beleuchtet wurde. Etwa eine halbe Meile lang folgte Niko dem grünen und violetten Licht der Katze zu einer weiteren schmalen Öffnung. Der Streit, der dahinter widerhallte, ließ einen wesentlich größeren Raum erahnen.
„
Die Katze wurde langsamer, streckte sich, schlug mit dem flauschigen Schwanz und verschwand durch die Öffnung. Niko verstand sich darauf, wie man auf Theros einen guten Eindruck machte, doch Kjell hatte seither Niko vieles gelehrt, insbesondere auch darüber, wie man auf Kaldheim einen guten Eindruck hinterließ.
Ich trete die Tür ein. Dresche jemandem die Faust ins Gesicht.
Niko schlüpfte in den Saal hinein, richtete sich auf und starrte mit offenem Mund.
Da waren Dutzende von ihnen, die sich wie ein Schwarm Raubvögel auf den Zweigen des Weltenbaums niedergelassen hatten. Gleichförmig hochgewachsen und von imposanter Gestalt trugen die Walküren silberne, goldene sowie aufpolierte schwarze und bronzefarbene Rüstungen aller Art. Schichten aus Pelz und steinerne Amulette an Ketten zeichneten einige aus, wohingegen andere mit Gürteln und Gurten durch die Halle stolzierten, welche mit den erlesensten Metallverzierungen versehen waren, die Niko seit dem Aufbruch aus Theros gesehen hatte. Ihre langen Zöpfe wurden von Manschetten gehalten, die an die Bänder von Schlangen gemahnten, und viele tranken aus ebenso langen Hörnern wie der flammenbärtige Berserker. Jene mit weißen Flügeln erstrahlten in den fahlen Farbtönen der Dämmerung, und ihre schwarzgeflügelten Gegenstücke – wie die Walküre, die Niko eingefangen hatte – gleißten im eigentümlichen Grün und Blau einer langen Winternacht.
Was konnte diesen Göttern nur gefährlich werden?
Eine fahlflügelige Walküre mit tiefbrauner Haut erhob die honigsüße Stimme. „Angreifer! Hast du einen kleinen Freund gefunden? Hast du dich verirrst, Liebes? Du solltest zum Festmahl zurückkehren.“
Es dauerte einen Augenblick, bis Niko verstand, dass die Walküre die letzten beiden Sätze nicht mehr an die Katze gerichtet hatte. „Walküre von Starnheim, ich bin Niko Aris …“
„Ja, nur zu! Zurück in die Halle mit dir“, sagte eine andere Walküre.
Niko suchte mit Blicken den Raum nach der dunkelhäutigen Walküre mit dem gelben Haar und den taubengrauen Schwingen ab – sie war schließlich eine Zeugin dessen, was geschehen war –, aber da waren so viele von ihnen.
„Ich gehöre nicht in die Halle. Ich sollte gar nicht hier sein …“
Eine andere Walküre mit dunklen Flügeln, an deren Spitzen ein amethystfarbenes Licht aufblitzte, unterbrach Niko: „Sei tapfer, Kleines. Du bist in Sicherheit. Das versichere ich dir.“
Niko knirschte mit den Zähnen. Diese Wesen waren nicht anders als Klothys oder der Agent oder das Orakel, das das Schicksal als einen Käfig missbrauchte, um andere im Zaum zu halten. Niko wandte sich mit einer Stimme an die Walküren, die für Ansprachen in einem Stadium ausgebildet war. „Ich stamme aus Theros, einem Land, von dem niemand von euch je gehört hat. Mein Name ist Niko Aris, und ich habe einen von euch gefangen genommen, um einen sinnlosen Tod zu verhindern und einen Weg hierher zu finden. Zwei Clans Bretagards haben ihre Kräfte vereint, um euch eine Warnung zu überbringen: Die kosmische Schlange ist hinter euch her. Sie wird eure Halle verwüsten, eure Toten auslöschen und euren See austrocknen. Nichts wird von eurem epischen Heim mehr bleiben als die letzten Futterreste in einem Schweinetrog!“
Eine weitere Walküre mit weißgoldenem Haar und fahler Haut, die einen starken Kontrast zu den schwarzen Wolken bildeten, welche sich in den Zweigen des Weltenbaums auftürmten, legte den Kopf in die Hand. „Aufrüttelnd und doch unmöglich“, sagte sie. „Der Valkmirsee und alles darauf ist unser Fleisch und Blut. Wir können hier nicht überrascht werden.“
„Und dennoch hat mich niemand an der Tür empfangen. Eure Katze hat bessere Manieren“, gab Niko zurück.
Die graue Katze sprang auf die Schulter der blonden Walküre und rieb den Kopf an deren schneefarbener Schwinge.
„Da bist du wohl mit einem neugierigen kleinen Eichhörnchen verwechselt worden, was, Angreifer?“, meinte die blonde Walküre.
Die Katze ließ sich kraulen und ihr Polarlicht schimmerte umso heftiger – dann stellte sie erschrocken die Ohren auf. Sie machte einen Satz, sprang geradewegs zwanzig Schritt in die Höhe, stieß sich von einem Deckenbalken ab und verschwand im Gewirr der Zweige hoch über ihnen. Der offene Bogengang, der den See überblickte, füllte sich mit schwarzen Schwingen.
„Hab ich dich gefunden, sterbliches Ding!“
Niko erkannte die männliche Walküre, kaum dass sie zu sprechen anhob. Avtyr, der verschollene Schnitter, setzte zu einer harten Landung an. Das achatgrüne Leuchten seiner Schwingen glomm auf, vertrieb seinen Schatten und bleichte seine braune Haut. Seine braunen Augen waren beinahe gelb vor Zorn.
All die Walküren sahen dem Schauspiel verwirrt zu. Avtyr wirkte mitgenommen: Seine langen schwarzen Zöpfe glänzten nicht mehr ganz so sehr, und seine Flügel waren zerzaust wie die einer Krähe im Regen. Er schüttelte die Schwingen, zupfte gereizt an den Riemen, die unter der Rüstung eng um seine Rippen geschnürt waren, und stolzierte in die Mitte des Horsts.
Er zeigte mit einem Finger auf Niko. „Dieses sterbliche Geschöpf hat unseren Richtspruch unterbrochen und keine Achtung für die Gesetze gezeigt, nach denen ganz Kaldheim lebt und stirbt. Nicht einmal die Skoti, diese Emporkömmlinge unter den Göttern, besitzen eine solche Unverfrorenheit!“ Avtyr zog sein Schwert zwar nicht, doch er kochte so sehr vor Wut, dass er den Eindruck machte, es jeden Augenblick zu tun. Seine geschwärzte Rüstung glitzerte, als er auf verschiedene Walküren deutete: Einige drängten sich zusammen wie Geschwisterkinder, andere spöttelten bei der Erwähnung ihres Gegenstücks.
„Evot, Tove, werdet ihr diese Kränkung ungesühnt hinnehmen? Wie ist es mit dir, Gisla? Wäre Alsig unter dem Schutz des Friths mitten in einem Kampf von einem Sterblichen angegriffen worden, hättest du sie dann zurückgelassen? Natürlich nicht. Du hättest gekämpft! Diese Vision, von der Niko hier spricht, ist nichts weiter als Fynn Schlangenjäger, der seiner verlorenen Jugend nachjagt. Könntet ihr euch vorstellen, wie dieser Wichtigtuer vor einer Kreatur herumzappelt, deren Leib den Weltenbaum selbst umschlingt? Empörend.“
Avtyr näherte sich mit einem Flügelschlag Niko, und Niko musste sich gegen den Wind stemmen, um nicht umgeweht zu werden.
„Dieses kleine Wiesel hat mich gezwungen, mit einem Vedrune um meine Freiheit zu feilschen, anstatt sich mir selbst zu stellen! Das ist nicht nur eine Einmischung, sondern eine feige, hinterlistige …“
Eine weitere Walküre ließ sich auf taubengrauen Schwingen, die blau wie der Wintermond schimmerten, von den Zweigen herab. Gelbes Haar umrahmte ein braunes Gesicht mit ernsten, grauen Augen. „Avtyr“, sagte das Geschöpf und streckte die Hand nach ihm aus. „Bist du verletzt? Was ist mit deinen Schwingen geschehen?“
Niko erkannte das Wesen. Die andere Walküre vom Schlachtfeld. Ihre Anwesenheit schien Avtyrs Zorn zu mildern.
„Auf den Wegen durch den Kosmos …“ Avtyr suchte nach einem passenden Ausdruck. „Dort herrscht zu reges Treiben. Hätte ich einen Sterblichen bei mir gehabt, hätte ich ihn unter Umständen verloren. Warum hast du mich dort zurückgelassen, Rytva?“
Rytva wandte sich zu den anderen um. „Ich sagte euch doch, dass etwas nicht stimmt. Seht euch nur die Wolken an. Sie brodeln vor der Gewalt der unteren Reiche!“
„Deine Reise hat dir das angetan und nicht ich?“, fragte Niko unschuldig.
„Du hättest gar nicht die Kraft dazu“, sagte Avtyr über Rytvas Schulter. „Das kleine Kunststückchen eines Kindes. Mehr nicht.“
Niko musste alle Walküren überzeugen, und zwar schnell. Es gab eine besonders exaltierte Geste der Ehrlichkeit in Akros: Man zog sein Xiphoi, berührte mit der Schwertspitze den eigenen Bauch und hielt das Heft dem verärgerten Gegenüber hin.
Anstatt alle Anwesenden durch das Ziehen einer Waffe zu beunruhigen, enthüllte Niko ihre Geheimnisse. „Wenn etwas den Spiegel splittern lässt oder zerschmettert, ist man frei. Je mehr Fallen meiner Aufmerksamkeit bedürfen, desto kürzer kann ich sie aufrechterhalten, und falls ich eine vergesse – denn ich muss mich nicht immer nur auf eine einzelne konzentrieren –, dann verfliegt die Magie von selbst. Das dauert höchstens ein paar Stunden. Ich war nie eine Gefahr für dich.“
Die anderen Walküren blickten zu Avtyr, dessen Anschuldigungen und Erlebnisse Niko eher zu helfen statt zu schaden schienen. Avtyr schnaubte – besiegt, doch unwillig, klein beizugeben. Er murmelte eine Reihe von Flüchen, die Niko nicht verstehen konnte, und schwebte mit Rytva am Arm aus dem Hort.
Dann erstarrte er.
Rytva berührte seinen Arm und blickte entsetzt zum Himmel. „Bei unser aller Mutter
Hoch über ihnen, jenseits der zarten Stille der Wolken, brodelte die sanfte Weite aus Zwielicht unter irgendeiner Art von unheimlichem Befall. Als würde man sie durch dünnes Eis betrachten, erschienen Bruchstücke anderer Reiche, wurden schärfer und verblassten wieder – ganz so, als drückten Dutzende Doomskars an den Ränder Starnheims. Land und Himmel trafen mit rechtwinkliger Schwerkräften aufeinander, und es waren Seen aus Feuer zu sehen, die aufwärts strömten. Ein langer Sturz hinab auf zerborstene, von Moos und Algen bewachsene Felsen, und ein vertrautes Land unter einem fremden Himmel.
Dieses letzte Bild schwoll an, kräuselte sich und zerriss. Zuerst sah es aus wie ein eitriger Einstich, ein gerinnender Faden schwarzen Blutes, der in die Wirklichkeit sickerte, doch das Rinnsal spannte sich an und kringelte sich um sich selbst. Der Rumpf wurde dicker, die Haut teilte sich, löste sich vom Leib und schwebte zum Valkmir hinab wie fallendes Laub aus reinstem Schillern – jeder einzelne Fetzen so groß wie ein Dorf. Was als konturloser Klumpen begann, wand sich in der Luft, spannte sich an und bäumte sich kräftig voller Schuppen und Stacheln auf. Die Kreatur verfestigte sich zu einem gewaltigen, gepanzerten Aal, der aus den Nahstellen des Kosmos selbst geboren worden war.
Und dann war da das Geräusch.
Das Maul öffnete sich. Der Unterkiefer renkte sich aus. Gifttriefende Zähne wie hoch aufragende Stacheln glänzten vor dem blausüchtigen Fleisch des Schlunds. Der Schrei, der aus ihm drang, zerriss den Himmel, eine gequälte Kakophonie aus kreischendem Metall, entwurzelten Städten, ganzen Welten, die zu Steinstaub zermahlen wurden.
Niko presste die Hände auf die Ohren. Sie wurden taub vor Furcht.
„Koma“, hauchte Avtyr. „Die Kosmosschlange.“
Wenn ein Omenpfad zwischen den Welten eine Öffnung war, so war dieser Spalt eine klaffende Wunde. Lichtbögen aus magischer Energie jagten darüber hinweg und knisterten wie die Säure eines Parasiten, um die zarte Haut der Welt zu schwächen. Niko blickte auf der Suche nach Ordnung und Führung zu den Walküren, doch da gab es keines von beidem. Sie waren ebenso verängstigt wie Niko.
„Das sollte unmöglich sein!“, murmelte Rytva.
„Jemand muss sie freigelassen haben – sie geschickt haben –, aber wer sollte uns schon angreifen? Warum?“, stammelte Avtyr.
Rytva schluckte. „Wir … Wir müssen sie bekämpfen. Wir können nicht zulassen, dass sie den Leuten Schaden zufügt.“
„Wir müssen fliehen“, sagte Avtyr.
Die Schlange wand sich ruckartig peitschend, und der schwarze See geriet in Aufruhr. Wolken türmten sich auf, und die Schlange schnappte bei jedem Hauch einer Bewegung zu: Das Geräusch ihrer aufeinanderprallenden Kiefer klang, als spaltete ein Blitz einen Felsen.
„Wenn die Wege zwischen den Welten instabil sind? Auf keinen Fall. Ich werde unser Zuhause – unser Blut! – nicht aufgeben. Nicht kampflos!“, rief Rytva.
Eine wilde, überspannte Erinnerung an die pelzige Rattenfängerin namens Gefahr stahl sich in Nikos Gedanken – wie die Katze Nikos Spiegeln nachgejagt war, wohin auch immer Niko sie geworfen hatte. „Wenn wir nicht kämpfen können und nicht fliehen können, dann müssen wir sie weglocken“, sagte Niko. „Dicht an sie heranfliegen, von rechts oder von links, und sie dazu bringen, dass sie euch so jagt, wie Katzen Spielzeug nachjagen.“
„Und was, wenn wir nicht vor dem Ding davonfliegen können?“, fragte Avtyr.
„Spiegel. Sicher. Zu klein, um sie zu erkennen. Tiere folgen allem, was lebendig aussieht, oder? Wir lenken seine Aufmerksamkeit, als würden wir an Zügeln ziehen, und bugsieren es durch eines dieser Löcher wieder hinaus.“
Rytva und Avtyr wechselten einen Blick und sahen dann zu der Kreatur hinauf. „Was ist mit den Toten?“, fragte Rytva.
„Können sie fliegen?“, fragte Niko. „Falls nicht, dann sollen sie drinnen bleiben. Wenn dieses Ding abgelenkt wird, ist der Plan gescheitert.“
Rytva sprach sanft zu Avtyr. „Du siehst, was ich in ihnen sehe, Liebes. Sei nicht starrsinnig.“
Avtyr schluckte. „Es sollte auf dem Pfad verschwinden, auf dem es hergekommen ist. Ich werde nicht riskieren, es an einen zufälligen, arglosen Ort zu schicken.“
„So sei es“, sagte Niko. „Wenn wir ihm folgen können, finden wir vielleicht heraus, wer es geschickt hat.“
Mit grimmiger Entschlossenheit folgte Avtyr Rytva. Die beiden Walküren zogen die Hörner von den Gürteln und stießen hinein, um ihresgleichen aus der endlosen Halle herbeizurufen. Sie trugen Speere, Schwerter, Schilde, Kriegshämmer und Äxte zusammen, rückten ein letztes Mal ihre Rüstungen zurecht und nahmen Aufstellung.
Niko nahm erst einen Arm quer über die Brust, dann den anderen und dehnte die Schultern, um sie aufzulockern. Niko versuchte, sich der Angst gewahr zu werden, ohne sich in ihr zu verlieren – auf dieselbe Weise, wie während der letzten Augenblicke der Dunkelheit vor dem Eintreten in grelles Sonnenlicht und eine lärmende Arena voller Fremder, die Nikos Namen riefen. Sich bewegende Ziele von einer sich bewegenden Plattform treffen – das war Teil ihrer Ertüchtigungen gewesen, doch dies hier
Dieser Ort bedeutete so vieles für so viele. Für Thura, für Atemlos, für den jungen Berserker. Für Kjell. Sie alle verdienten es, am Ende ihrer Zeit heimzukehren. Niko wollte sie wiedersehen.
Niko, athletisch und erfahren, wippte auf den Ballen und mühte sich, den Adrenalinrausch in eine beständige Ressource für den kommenden Marathon zu lenken.
Vierzig Walküren schwangen sich in mehreren Wellen zum Himmel auf – einschließlich Rytva, die Niko trug. Nikos Magen zog sich zusammen, als der Anleger zu einer schmalen Linie zwischen der Halle und dem endlosen schwarzen See schrumpfte. Eine dünne, zerbrechliche Verteidigung.
Der Himmel warf Blasen, als andere Reiche sich nach wie vor streckten und sich der Domäne der Walküren entgegendrückten. Visionen urtümlicher Wälder und der verkohlten Überreste von Dörfern kamen zu allen Seiten auf, um dann binnen eines Wimpernschlags zu zerstieben. Rytva und Niko lösten sich von der Hauptgruppe und machten sich auf den Weg zu dem Ungeheuer.
Rytva gewann an Höhe, um zu verhindern, in Komas Sog vom Kurs abzukommen, während die Schlange über den Himmel schwamm. Avtyr schlug mit den Schwingen. Grünes Licht schoss durch schwarze Federn, und er flog voraus, um Aufwinde zu finden, auf denen sie zum Kopf der Schlange reiten konnten.
„Bereit?“, rief Rytva.
Nikos Mund war vor Angst knochentrocken geworden und verhinderte eine Antwort. Niko ließ stattdessen die Waffe sprechen. Muskelerinnerung sprang dort ein, wo bewusste Gedanken geflohen waren.
Dunkelazurnes Licht strahlte von dem Stück flüssigen Silbers ab, das Niko zu einem Wurfspeer mit einem gekrümmten Ende geformt hatte. Niko zwang sich, sich auf einen guten Griff zu konzentrieren. Niko richtete den Schaft auf den Schädel der Schlange. Das erste Ziel.
Das war genug für die Walküren. Rytva und Avtyr trugen Niko gemeinsam und stießen hinab. Kaum hatte Niko die Beine für den Fall angewinkelt, war Niko bereits in der Luft und der sich windende Leib der Schlange in Reichweite. Niko rollte sich ab und nutzte den Schwung gegen den Wind, um geduckt zu landen und ein Gefühl dafür zu bekommen, wie Koma sich bewegte. Niko kroch über Schuppen, dick wie Felsen an manchen Stellen und glatt wie Eis an anderen. Jede hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit Fynns Schild. Niko rutschte die letzten paar Schritt am Hals hinab und stieß den Speer zwischen die Schuppen an Komas Schädel.
Zähneknirschend ließ Niko Macht den Wurfspeer entlang strömen und formte einen Anker: Drei Zinken fuhren aus dem Schaft und gruben sich tiefer in den Hals der Bestie. Es stank nach verbranntem Metall und Säure. Niko hakte die Füße zu beiden Seiten der Wunde unter einer Schuppe ein und hoffte, dass die Stiefel die schlimmsten Verbrennungen verhindern würden.
Niko hob die linke Hand und Avtyr, weit links, blies in sein Horn. Eine Schwadron aus fünf Walküren stieß vor, heulte Kriegsschreie und strahlte Sturmlicht aus. Sie schlugen ihre Schwerter gegen ihre Schilde und forderten Koma heraus, sie zu verfolgen.
Koma schluckte den Köder und flog dem Licht und dem Donner nach. Sie öffnete das Maul, um nach der nächsten Walküre zu schnappen. Die Walküren stoben in alle Richtungen auseinander, und gerade als Komas Zähne sich um die langsamste schlossen, schleuderte Niko einen Spiegel. Die Walküre schien in Tausende von Glasscherben zu zerbersten, während ihr wahrer Körper – in dem noch immer umherwirbelnden Splitter gefangen – sicher aus Komas Reichweite segelte. Die Kiefer der Schlange schlossen sich um nichts als Wolken.
Als die Falle aufsprang, entstieg die Walküre dem Glas, als plumpste sie mitten am Himmel durch eine Falltür. Sie schlug mit den Schwingen, richtete sich neu aus und schloss sich außerhalb von Komas Blickwinkel wieder ihrer Einheit an.
„Es klappt!“, rief Rytva weit rechts von Niko.
Niko ließ den Blick auf der Suche nach einem Muster über den Himmel schweifen und bedeutete der nächsten Gruppe Walküren, sich bereitzuhalten. Ein weiterer Pfad öffnete sich. Blitze zuckten darüber hinweg, doch er hatte sich noch nicht vollständig gebildet. Niko hob die Hand und Rytva stieß in ihr Horn. Walküren schwärmten zu Komas rechter Seite, stießen Beleidigungen und Schmähungen aus und wedelten mit den Waffen, ohne jemals zuzustoßen. In dem Wimpernschlag, in dem Komas Augen verletzt würden, würde der Plan scheitern.
Die Schlange machte einen Satz und griff die Walküren an. Niko warf Spiegelfallen, um die Beute des Ungeheuers verschwinden zu lassen. Jedes Mal, wenn die Walküren aus Komas Sichtfeld verschwanden, beschwor Niko einen weiteren Spiegel herbei und ließ den ersten zerspringen. Koma flog weiter, und Nikos aufgesparte Spiegel schwebten in der Nähe, während Niko nach dem richtigen Omenpfad suchte.
Koma riss den Kopf nach oben und kreischte. Niko spürte, wie die Welt sich neigte, und verlor um ein Haar das Gleichgewicht. Koma musste den Speer wie ein Jucken gespürt haben. Niko ließ sich auf die Knie fallen und verlagerte das Gewicht nach vorn, um den ersten Wurfspeer vergehen zu lassen. Niko grub behandschuhte Finger unter zwei von Komas Schuppen und zerrte daran, hob sie mit den Unterarmen an und trieb zwei dickere, kürzere Speere in das weiche Fleisch darunter. Koma heulte auf, warf den Kopf hin und her und wirbelte in der Luft herum.
Nikos gesamter Körper klammerte sich an Komas Schuppen, selbst als das ätzende Blut der Schlange auf Nikos Rüstung tropfte und zischte. Kannah-Rüstung. Bretagard-Rüstung. Ohne Erwartungen an eine Gegenleistung verschenkt, denn auf wen auch immer man im Schnee traf: Es was entweder ein Feind oder Familie. Es gab nichts dazwischen.
Niko richtete sich auf, die Knie fest gegen Komas Leib gepresst, die zwei Speere weiter tief in die Schlange versenkt. Spiegel kreisten, als sich weitere Omenpfade öffneten und Geröll, Sturmwind oder Wüstenstaub ausstießen. Keiner von ihnen war der richtige. Er hatte sich schon zuvor geöffnet: Wo war er nur? Welcher war es?
Niko, Rytva und Avtyr riefen Befehle, und Koma flog dorthin, wohin sie die Schlange lenkten. Nur noch zwei Schwadronen von Walküren waren übrig. Nikos Arme fühlten sich bleiern an, Lungen und Oberkörper brannten. Niko durfte jetzt dennoch nicht aufgeben. Wenn nicht für die Walküren und Starnheim, dann für alle Bewohner Kaldheims, die unter seinem Licht und der Verheißung von Heimat lebten.
Koma rollte sich nach links, und Niko wurde durch die Fliehkraft in die Hocke gedrückt. Aus dem Augenwinkel sah Niko, wie sich ein weiterer Omenpfad gleich über dem Valkmir auftat.
„Niko!“, rief Avtyr. Auch er hatte ihn gesehen. Wenn Koma diesen Ort nicht vernichtete, so würden es unter Umständen diese Portale am Ende tun.
Nikos Augen tränten von dem unerbittlichen Wind. Ein Blinzeln verschaffte Linderung. Dann sah Niko ein Portal wie kein anderes: keine glitzernden Wasserfälle oder moosbewachsene Berge, sondern sich auftürmende Wolken, die vor Feuer leuchteten, und ein Haufen Leiber in einer tosenden Schlacht wie das Ende der Welt.
Ohne Sicherheit oder Gewissheit traf Niko eine Wahl.
„DORT!“, rief Niko und hob die linke Faust. „SCHNELL!“
Avtyr stieß ins Horn, und die letzte Schwadron Walküren setzte sich mit Kampfgebrüll und gleißendem Licht in Bewegung, um die Schlange hinter sich herzulocken.
Als Niko auf den Boden zuraste, zwischen den Anleger und das blutschwarze Wasser, begann sich das Loch in der Welt zu schließen. Niko konnte kaum die Arme heben. Hätte Niko nun einen Spiegel geworfen, hätte dieser sein Ziel gewiss verfehlt. Beinahe lächelte Niko. Das machte die Entscheidung leichter. Niko brüllte und leitete jedes Quäntchen Magie, jeden Hauch von Stärke in die beiden Ankersporne in Komas Schädel. Die Speere wurden länger, und Koma spürte es.
Die letzte Walküre flog aus dem Weg, als Koma den Kopf zurückriss und die Nadeln abzuschütteln versuchte, die sich tiefer in ihr Fleisch gruben. Koma fuhr zurück, um sich aufzurichten, und stieß mit dem Gesicht gegen den Rand des Lochs. Der Anleger zerbarst in einem Hagel aus Bohlen und zerfetzter Metallstreifen. Niko wurde abgeworfen. Die verwirrte Schlange schlüpfte durch den Riss zwischen den Reichen.
Komas Masse und Schwung trugen sie den Rest des Weges durch das Loch. Die schwarzen Wasser des Valkmirs schwappten nach ihr hinein und zischten über den Flecken ihres Säurebluts, als Koma aus der Welt hinausfiel.
Niko richtete sich auf Hände und Knie auf, um davonzukriechen, doch der geborstene Anleger brach unter Nikos Gewicht zusammen. Niko taumelte in das Loch. Im letzten Augenblick griff Niko nach einem Säulenstück und klammerte sich mit ausgebrannten Armen und erschöpften Beinen daran fest. Das Holz über Niko knirschte. Niko keuchte. Schwitzte. Zitterte. Silbriges Haar klebte in Nikos Gesicht, und die entsetzlichen Schreie der kosmischen Schlange dröhnten noch in Nikos Ohren.
Niko hatte sich übernommen. Niko war jenseits jeder Angst. Jenseits jeder Kühnheit. Dies war genau das Ziel, das Niko anvisiert hatte, und Niko verfehlte nie das Ziel.
Erschöpft und ausgelaugt wandte Niko den Blick zum Licht von Starnheim, zum kurzen Weg zum Ende aller Reisen, zur Hoffnung auf Heimat von ganz Kaldheim
Und ließ los.
Ob es nun der Wind oder die schwindende Magie war: Niko fühlte sich kälter. Herzzerreißende Panik nagte an den Rändern von Starnheims Ruhe. Niko hob eine Hand zum Licht. Jeder Muskel brannte, als Niko nach einem Spiegel griff.
Avtyrs Hand legte sich um Nikos Handgelenk.
Das Licht seiner Schwingen war so sanft wie Glühwürmchen und seine brauen Augen leuchteten seltsam grau.
„Hast du lange genug zugesehen, Schnitter?“, murmelte Niko.
Avtyr blickte Niko auf die gleiche Weise an wie Orhaft: voller Hoffnung und Misstrauen, wobei die Hoffnung zu überwiegen schien.
„Dein Schicksal ist noch nicht entschieden“, antwortete er.
Ein keuchendes Lachen entrang sich Nikos Lippen. „Schicksal bedeutet nur, dass jemand anders dir sagt, wer du zu sein hast.“ Niko richtete sich an der Seite der Walküre auf, während die beiden in Richtung der großen Schlacht stürzten.
Avtyr schlug mit den Schwingen, straffte sich und raste auf den Pfad zwischen den Welten zu. Ein silberner Wurfspeer materialisierte sich in Nikos freier Hand – spiegelhell und mit einem dunkelazurnen Schweif aus Licht –, als ein Schwarm Walküren ihnen folgte. Aus goldenem und grünem, purpurnem und orangefarbenem, silbernem, scharlachrotem und blauem Leuchten spannte sich ein neuer Regenbogen, geboren aus einer dunkleren Welt.
An diesem Winterhimmel wurde aus dem Fallen ein Flug.