Angriff auf Neu-Phyrexia | Teil 3: Unvorstellbare Verluste
Der Tunnel ging steil bergab, direkt ins Herz Neu-Phyrexias. Die ihn umschließenden Wände schossen zu schnell vorbei, als dass man sie genauer hätte betrachten können, und verbargen die unsagbaren Schrecken und entsetzlichen Wunder, die diese Welt transformiert hatten.
Elspeth klammerte sich an der Draisine fest, da sie wusste, dass ein einziger Stoß sie alleine in die Tiefen dieser unwirtlichen, erstickenden Dunkelheit schleudern konnte.
Zum ersten Mal wünschte sie sich, dass sie auf einer Draisine mit den anderen Planeswalkern gefahren wäre statt mit den Mirranern. Mit jemandem, der sie ablenken könnte. Stattdessen gab es nur die Talfahrt, die Dunkelheit und die Elfen an den Hebeln der Draisine, die sich ebenso festklammerten wie sie.
Zwischen ihrer Abfahrt und dem Beginn dessen, was sie nur als Absturz betrachten konnte, hatten sie ein wenig Zeit gehabt, sich zu unterhalten. Die beiden Fahrer hatten begierig ihr Wissen über ihre ausgeschlachtete Welt mit der Person geteilt, die ihnen wohl als ihre mögliche Retterin vorgestellt worden war. Oh, wie sehr sie sich wünschte, diesen Titel zu verdienen! Sie kannten Elspeth ebenso wenig wie Elspeth sie. Sie schämte sich, einzugestehen, dass sie für diese Unvertrautheit dankbar war. Es fiel anderen leichter, dich als Helden zu sehen, wenn sie nie Zeuge geworden waren, wie du gescheitert bist.
Sie hatte Mirrodin schon einmal enttäuscht, und dieser zerschlagene Ort war ihre Strafe und der Preis für diesen Fehler. Sie konnte nicht zulassen, dass das Multiversum das gleiche Schicksal erlitt. Sie würde sterben, um dies zu verhindern, wenn es sein musste.
„Wir umfahren das Jäger-Labyrinth und die Chirurgie“, hatten sie gesagt. „Sei froh. Wir ersparen dir Dinge, die du niemals sehen müssen solltest.“
„Das Jäger-Labyrinth …
„Du kennst es vielleicht noch als das Knäuel. Vorinclex transportierte während der großen Transformation die schlimmsten Teile davon als Keimzelle seines neuen Imperiums unter die Oberfläche.“ Der Elf, der geantwortet hatte, wirkte fast wehmütig. Er war wahrscheinlich im Knäuel geboren worden, erinnerte sich an einen freien, lebendigen und wunderschönen Ort und dachte, es könnte wieder so sein.
Kurz darauf hatte ihr Absturz begonnen, und die Fahrer waren zu beschäftigt, um die Landschaft zu erklären, deren Anblick ihr erspart blieb. Elspeth schloss die Augen vor dem rauschenden Fahrtwind und klammerte sich verzweifelt fest – außer dem schwachen metallischen Leuchten des zentralen Steuerapparats der Draisine konnte sie ohnehin nichts erkennen; die Dunkelheit Neu-Phyrexias war allumfassend, und ohne die Gravitationsmagie der Vertiefung bremste nichts ihre Talfahrt.
Dann flachte der Tunnel allmählich ab. Sie öffnete ihre Augen nur einen Spalt und bereute es umgehend.
Der Himmel, wenn man es so nennen konnte, war ein Meer aus aussätzigen Wolken in unaufhörlichem, waberndem Aufruhr, was den Eindruck erweckte, dass sie noch in der Luft von innen verfaulten. Tümpel einer leuchtenden, grünen Flüssigkeit, die sie als Nekrogen erkannte, beherrschten die Landschaft und warfen ein unheimliches grünes Licht. Selbst vor Phyrexia war es tödlich gewesen, und es konnte Unvorsichtige in Untote verwandeln. Inzwischen konnte es außerdem Phyrese auslösen, und sie wollte beides um jeden Preis vermeiden.
Elspeth betrachtete ihre Hand und zuckte zusammen. Im Schein des Nekrogen-Lichts sah sie fahl aus, als würde sie verfaulen. Auch ihre Begleiter sahen ganz bleich aus. Wenn es nach diesem Ort ginge, wären sie bereits tot.
„Hier verfault alles“, sagte einer der Fahrer. Er konzentrierte sich weiterhin darauf, ihre Draisine zum Ende der Strecke zu steuern, wo die anderen bereits warteten. „Wenn man hier zu lange verweilt und die Dämpfe einatmet, verfault man auch.“
„Es ist immer noch besser als die Chirurgie“, sagte die andere mit besorgter Miene. „Wenn man dort den Fontänen zu nahe kommt, beginnt die Phyrese oft schon nur dadurch, dass man die Gischt einatmet. Die Dämpfe töten dich wenigstens, bevor sie dich umwandeln.“
Elspeth löste ihre Hände von der Stange, die sie umklammert hatte, und schüttelte sie, um sie zu lockern. „Das ist schrecklich“, sagte sie.
„Das ist Neu-Phyrexia“, sagte der erste Fahrer. „Es verändert, was es kann, und tötet, was seinem Einfluss nicht erliegt. Und die Überbleibsel werden in sein eigenes Abbild umgewandelt.“
Sie wurden immer noch langsamer und waren jetzt fast zum Stehen gekommen. Die anderen Draisinen waren nicht weit vor ihnen. Deren Passagiere waren zum Teil bereits abgestiegen und sammelten ihre Ausrüstung zusammen. Koths Sprengteam überprüfte mit langen Metallstangen den geschwärzten Boden zwischen den Nekrogen-Tümpeln und fand dadurch einen so sicheren Weg durch diesen Albtraum, wie es unter diesen Umständen möglich war.
„Nicht weit von hier haben wir einen Tunnel, der uns direkt zur Bleichen Basilika führen sollte“, sagte Koth mit ernster, aber nicht grimmiger Stimme.
Wenn er jetzt noch nicht alle Hoffnung verloren hatte, würde er das wohl nie, vermutete Elspeth.
„Bei dir klingt das so einfach“, sagte Nahiri, während sie von ihrer Draisine hüpfte und ihre Hacken auf dem Boden aufschlugen. Es schien unmöglich, dass sie dem Nekrogen ausweichen könnte, aber sie sprach die Sprache von Metall und Stein; die Sphäre verriet ihr wahrscheinlich gerade alle ihre Geheimnisse. Um Nahiri, die sich, ohne zu zögern, auf Koth zubewegte, musste man sich keine Sorgen machen. „Aber das wird es nicht, oder?“
„Nein“, sagte Koth. „Wenn wir den direkten Weg nehmen, könnte es uns gelingen, dem Großteil der Streitkräfte von Thrissik aus dem Weg zu gehen. Falls wir das nicht schaffen, werden sie versuchen, dich lebend gefangen zu nehmen. Er baut Steinpyramiden, um seinen Zerstörer zu beschwören, und die stärksten Magier sind dafür das beste Baumaterial.“
Nahiri zog eine Augenbraue hoch. Kaya, die dem Nekrogen ausgewichen war, indem sie ihre Unterschenkel purpurfarben durchscheinend destabilisierte, schnaubte. „Ja, ja, wir sind immer die lohnendsten Ziele.“
„Wenigstens sollte das Chaos uns ein wenig Deckung verschaffen.“ Die anderen Planeswalker sahen sie verständnislos an, doch Koth lächelte flüchtig und verschlagen. „Sieben Thane herrschen über die Dross-Gruben, aber unter ihnen herrschte nie Einigkeit. Vier haben sich mit Urabrask zusammengetan. Roxith, Geth, Vraan und Sheoldred widmen ihre Streitkräfte der Rebellion gegen Elesh Norns Phyrexia. Die restlichen drei sind wahrscheinlich damit abgelenkt, sich Territorium einzuverleiben oder Verrat aufzudecken. So haben wir bessere Chancen, unser Ziel zu erreichen. Aber wir müssen jetzt handeln.“
„Wenn dies der beste Augenblick ist, um unbemerkt an unser Ziel zu gelangen, dann nichts wie los“, sagte Kaito und stieg von seiner Draisine. Tyvar war dicht hinter ihm und drehte sein Stück Glimmerleere-Metall zwischen seinen Fingern wie eine Münze, während er Kaya angrinste.
„Mein Freund wird sehr gerne übersehen“, sagte er. „Ein bewundernswerter, wenn auch unverständlicher Wunsch.“
Elspeth legte ihr Marschgepäck ab und schloss sich der Gruppe an. Sie waren alles, was vom Einsatzkommando übrig geblieben war. Sie waren die letzte Hoffnung, die das Multiversum noch hatte, um einer phyrexianischen Apokalypse zu entgehen. Sie mussten siegen.
„Hier“, sagte sie, öffnete ihre Tasche und holte einen Strang gläserner Halo-Fläschchen heraus – einzelne Dosen, die an einem Lederband befestigt und fest verkorkt waren. „Das wird uns eine Weile lang vor dem Nekrogen in der Luft schützen.“
Sie reichte die Fläschchen herum und wartete, bis alle eine erhalten hatten. Dann öffnete sie ihre und stürzte den Inhalt hinunter. Wie immer schmeckte das Halo spritzig und rein, zitrusartig erfrischend und angenehm süß. Sie wischte sich den Mund und sah, dass die anderen es ihr gleichtaten.
Jace schluckte den Rest seines Halos herunter und atmete scharf ein. Die Flasche glitt ihm aus der Hand, bevor er zusammenbrach und auf die Draisine hinter ihm fiel. Die Mirraner um ihn herum schrien entsetzt auf, während Kaya zu ihm eilte, sich neben ihn hockte und nach seinem Puls fühlte.
Einen Moment später sah sie mit wildem Blick auf. „Sein Puls spielt völlig verrückt“, sagte sie. „Elspeth, was hast du getan?“
„Nichts – es sei denn, das Nekrogen hat verhindert, dass etwas anderes passiert.“ Elspeth trat schnell an Kayas Seite. Jace fing an, zu zucken, ohne direkt um sich zu schlagen. Offenbar hatte er aber die Kontrolle über seine Bewegungen verloren. „Lasst mich ihn sehen.“
Melira folgte ihr auf dem Fuße, hielt aber inne, als sie Jace sah. „Das ist keine Phyrese“, sagte sie. „Ich weiß nicht, was das ist.“
„Das Halo kann niemandem schaden“, sagte Elspeth verzweifelt. Sie streckte die Hand nach Jace aus, erstarrte dann und verzog das Gesicht. „Er hat Schmerzen. Gewaltige Schmerzen. Es verbrennt ihn bei lebendigem Leibe. Wenn er solche Schmerzen gehabt hätte, als wir noch weiter oben waren, hätte ich das bemerkt. Das ist etwas Neues. Es hat angefangen, als er zusammenbrach …
„Wir müssen hier weg“, sagte einer der Draisinenfahrer und blickte zu Koth. „Wir haben uns nicht darauf vorbereitet, länger in den Dross-Gruben zu verweilen, als es dauert, euch abzusetzen. Es tut mir leid. Selbst mit dem magischen Saft der Dame müssen wir fort von hier.“
„Dasselbe gilt für uns“, sagte Koth. „Wir können deinen Freund mit den anderen zurückschicken oder ihn tragen, aber wir müssen weiter.“
„Ich werde ihn tragen“, sagte Tyvar. „Wir brauchen ihn, um unseren Plan in die Tat umzusetzen.“
„Er ist nicht der Einzige, der weiß, wie man den Sylex benutzt.“ Nahiri blickte zu Kaya. „Sie weiß auch, wie es geht. Sie können es beide.“
„Ich bin nur die Reserve“, sagte Kaya. „Ich springe nur ein, wenn er handlungsunfähig ist.“
„Das sieht für mich ziemlich handlungsunfähig aus“, sagte Nahiri.
Jace schnappte nach Luft und setzte sich auf. Bläulich weißes Licht knisternde in der Luft um hin herum, und Kaya wurde durch seine plötzliche Bewegung zur Seite gestoßen. Er wand sich wild und starrte ins Nichts. Dann rappelte er sich auf und sprang von der Draisine, anscheinend entschlossen, in die pechschwarze Landschaft aufzubrechen.
Tyvar fasste ihn am Arm, bevor er in einen Nekrogen-Tümpel treten konnte, sodass er ruckartig zum Stehen kam. „Du hast uns ganz schön erschreckt, mein Freund“, sagte er. „Was ist passiert?“
Jace starrte ihn an, ohne dass er ihn wirklich zu sehen schien. „Das Halo hat mir den Kopf freigemacht, und ich …
Tyvar runzelte die Stirn, ohne seinen Griff zu lockern. „Sie? Wer ist ‚sie‘?“
„Vraska“, sagte Jace. Der Name klang, als wäre er aus ihm herausgezerrt worden, als hätte er nichts anderes sagen können, als ob es das Letzte auf der Welt wäre, was er sagen wollte. „Sie hat es hier herunter geschafft und sie ist allein und hat Angst. Ich würde – ich würde ihren Kummer überall hören.“
Die Draisinenfahrer begaben sich wieder an die Hebel und baten Koth mit einem Blick um die Erlaubnis, abzufahren. Er nickte, und sie betätigten die Hebel. Der einfache Mechanismus beförderte sie aufwärts in die Dunkelheit, fort vom grünen Leuchten des Nekrogens. Jace versuchte erneut, sich aus Tyvars Umklammerung zu lösen.
„Du musst mich loslassen“, sagte er. „Ich muss zu ihr. Sie braucht mich, und sie schafft es nicht, wenn wir ihr nicht helfen.“
„Wir haben eine Mission –“, setzte Koth an.
Jaces Kopf schnellte herum, seine Augen schienen sich zum ersten Mal wieder zu fokussieren. „Vraska braucht mich“, fauchte er und atmete dann tief durch, um sich zu beruhigen. „Ihr könnt ohne mich weiter. Ich helfe ihr, und dann holen wir euch gemeinsam ein. Bitte.“
„Eine geteilte Streitkraft ist gar keine Streitkraft“, sagte Tyvar.
Jace musterte ihn mit geweiteten Augen, als könnte er nicht glauben, dass sein Versuch von Logik nicht funktioniert hatte. Er versuchte erneut, sich von Tyvar loszureißen, diesmal mit mehr Kraft, sodass er sich aus dessen Griff lösen konnte. Er begann, durch die geschwärzte Ödnis zu stapfen, ohne zurückzublicken.
„Wie unbesonnen“, murrte Koth.
„Er liebt sie“, sagte Elspeth. „Er kann nichts anderes hören.“
„Wir dürfen ihn nicht gehen lassen“, sagte Nahiri. Kaya und Kaito blinzelten ihr zu. Sie schüttelte den Kopf. „Er hat den Sylex. Wenn wir den verlieren, ist alles verloren. Dann hätten wir gar nicht erst zu kommen brauchen. Wir hätten zu Hause bleiben, uns um unsere eigenen Welten kümmern und die Überreste Mirrodins dem Untergang überlassen können.“ Die Gruppe folgte Jace und verließ ihren sicheren Weg durch die Dross-Gruben. Ihr Plan war zwar noch nicht vergessen, aber er begann bereits zu bröckeln. Er würde ganz und gar zerfallen, wenn sie ihn nicht bald wieder auf Kurs brachten.
Sie folgten Jace, eine zusammengewürfelte Truppe aus Planeswalkern und Mirranern.
„Das ist eine ganz schlechte Idee“, murrte Kaito. „Ich habe oft schlechte Ideen, aber normalerweise führen sie nicht zum Tod aller um mich herum. Aber Jace hat wohl besondere schlechte Ideen.“
Trotzdem folgte er den anderen, und niemand blickte zurück.
Zunächst schien es so, als hätten sie die verheerte, mit Nekrogen verseuchte Landschaft für sich allein. Dann jedoch erschienen sich bekämpfende Gestalten. Aus ihren Panzern aus geschwärztem Metall quollen wunde, rote Sehnen und freiliegende Knochen hervor. Ihre Gliedmaßen ragten aus allen Oberflächen ihrer Körper – sie waren Waffen wie stumpfe Hackbeile, erschaffen, um mächtige Exoskelette aufzubrechen. Einige von ihnen waren kleiner, etwa so groß wie die Planeswalker, während andere sie überragten, gewaltige Kolosse aus Metall und Eingeweiden.
Die meisten von ihnen spiegelten aus den Dross-Gruben wider; ihre Panzer waren aufgrund ihrer ätzenden Umgebung schwarz und mit Blasen überzogen. Andere hingegen glühten rot, ihre erhitzten metallischen Formen schnitten durch ihre Feinde, während sie unermüdlich weiterkämpften. Urabrasks Rebellion war in vollem Gange.
Beim Anblick der phyrexianischen Streitkräfte wurde Elspeth übel. Sie erkannte den Nachhall bestimmter Gestalten, an deren Seite sie im Krieg um Mirrodin gekämpft hatte: die Arme eines viridischen Elfen, der mächtige Torso eines Loxodons. Andere Aspekte der Gestalten waren ganz und gar neuartig, was sie umso verstörender machte. Jedes Mal, wenn sie glaubte, zu wissen, was sie da sah, fiel ihr etwas auf, das den Anblick ins Fremdartige und Unvertraute verkehrte. Es tat weh, zu genau hinzusehen.
Vorerst schienen die Phyrexianer ihre gesamte Aufmerksamkeit dem Kampf gegeneinander zu widmen. Ihre schweren Füße wühlten die metallene Landschaft auf und stapften durch die Nekrogen-Tümpel, sodass sie überschwappten. Erst als sie einen dieser Kämpfe aus nächster Nähe sah, wurde Elspeth klar, was vor sich ging. Ihre Augen weiteten sich, und sie drehte sich ruckartig zu Jace um.
„Du schirmst uns vor ihnen ab“, sagte sie.
„Wenn sie uns ansehen, sehen sie gar nichts“, sagte er. „Es ist kein Schild. Es ist eine Veränderung ihrer ganzen Umgebung.“ Die Anstrengung war seiner Stimme anzuhören. „Dies ist der schnellste Weg, um zu Vraska zu gelangen. Sie fürchtet sich so sehr, und sie ist ganz allein.“
Ein gewaltiges, grauenhaftes Bauwerk ragte aus den verfaulenden Nebelwolken hervor, so geschwärzt und verwest wie alles in seiner Umgebung. Es war von den grauenhaften „Flügeln“ eines Brustkorbs überdacht, der zu groß war, um je einem lebenden Wesen gehört zu haben. Kaya gab ein leises Geräusch des Ekels von sich. Koth gab ein lauteres Geräusch des Entsetzens von sich. Kaito blickte mit hochgezogenen Augenbrauen zu ihnen.
„Sheoldreds Kolosseum“, sagte Koth. „Sie lässt sie dort zu ihrer Unterhaltung gegeneinander kämpfen.“
„‚Sie‘?“, fragte Kaito ausdruckslos.
„Phyrexianer. Champions oder jene, die ihr Missfallen erregt haben, es spielt keine Rolle. Sie werden hineingeschickt, und die meisten kommen nicht wieder heraus. Manchmal bringt sie unsere Leute dorthin, wenn sie lebend gefangen wurden und als der ‚Gaben‘ Phyrexias unwürdig erachtet werden.“ Koth schüttelte den Kopf. Er sah von Augenblick zu Augenblick angewiderter aus. „Niemand verlässt das Kolosseum lebend und unverändert. Ich bin entkommen. Größtenteils. Ein Teil von mir wird dort weiterkämpfen, bis ich sterbe.“
„Vraska“, sagte Jace und fing wieder an zu rennen, dicht gefolgt von Nahiri und Kaya – Nahiri folgte dem Sylex, und Kaya folgte Nahiri.
„Wenn seine Illusionen ihm folgen, werden die Streitkräfte Neu-Phyrexias uns bald bemerken“, sagte Tyvar. Ausnahmsweise klang er nervös. In stillschweigendem Einverständnis liefen er und die anderen Jace hinterher. Die Tore des Kolosseums waren nicht verriegelt, aber so schmal, dass die Gruppe einer nach dem anderen eintreten musste. Jace machte den Anfang, dicht gefolgt von Nahiri und Kaya.
Die anderen schafften es gar nicht erst hinein, bevor sie Nahiri fluchen hörten und das verräterische Geräusch von Metall vernahmen, das aus dem Boden gerissen wurde. Ein eindeutiges Zeichen, dass die Lithomagierin sich für einen Kampf wappnete. Sie warfen sich Blicke zu und eilten weiter, während sie ihre Waffen bereit machten.
Kaito griff nach Elspeths Arm, bevor sie eintreten konnte. „Wir können das nicht tun“, sagte er. „Jace ist unser Freund, aber das ist Wahnsinn. Wir müssen den Sylex bergen und dann weiter.“
Elspeth sah ihn so besonnen an, wie sie konnte. „Was bringt es, überhaupt zu kämpfen, wenn wir nicht einmal bereit sind, unsere eigenen Leute zu retten?“, fragte sie.
Mit bekümmerter Miene ließ er von ihr ab.
Elspeth wandte sich dem Eingang zu und betrat Sheoldreds Kolosseum.
Der Innenraum war eine gewaltige, ausgehöhlte Schüssel, umgeben von hohen Rängen mit Sitzbänken, die so steil waren, dass übereifrige Zuschauer herabstürzen konnten, wenn sie nicht aufpassten. Ein mit Löchern übersäter Boden aus schwarzem Metall erstreckte sich durch die Mitte der Schüssel. In der Mitte und an den Rändern war ein Becken mit blubberndem Nekrogen zu sehen. Es war eine Grube der Schrecken.
Und in der Schüssel stand Vraska, die aus einem Dutzend schrecklichen Wunden stark blutete. Die Gorgo umklammerte ihre Taille mit einer Hand. Zwischen ihren Fingern sickerte Blut hervor, während sie versuchte, lebenswichtige Teile ihrer selbst im Inneren zu halten. Die schlangenartigen Ranken auf ihrem Kopf hingen schlaff herunter, und ein Ring aus Phyrexianern schloss sich um sie, über die versteinerten Körper ihrer Artgenossen steigend.
Dies waren nicht die einzigen Leichen, die auf dem Boden lagen: Ein ganzes Dutzend Mirraner war bereits abgeschlachtet worden. Elspeth konnte sich den Gedanken nicht verkneifen, dass sie wenigstens gestorben waren, ohne vollendet worden zu sein; es war ein sauberer und schneller Tod gewesen.
Jace lief direkt auf Vraska zu. Er vertraute darauf, dass seine Illusionen ihn schützen würden. Die Phyrexianer sahen ihn immer noch nicht, aber das würde sich irgendwann ändern. Wie Geister über ein Schlachtfeld zu schreiten war eine Sache. Sich zwischen ein Raubtier und seine Beute zu stellen war etwas ganz anderes. Kaito hob sein Schwert, und Elspeth zog ihres. Tyvar zog das Sechseck schwarzen Metalls aus seinem Gürtel und ließ es in seinen Fingern kreisen. Seine Haut nahm eine neue Gestalt an, während er sich dessen ureigene Eigenschaften borgte.
Koth seufzte, seine Schultern sackten zusammen. „Wir tun es also“, sagte er, bevor er grimmig rief: „Für Mirrodin!“ Damit stürzte er sich in den Kampf. Seine steinerne Rüstung glühte weiß, als er sie aktivierte. Er griff sich im Laufen eine Pike, die einem Gefallenen gehört hatte. Die Hitze breitete sich durch den Metallschaft der Waffe aus, bis er einen überhitzten Stab in den Händen hielt.
Die anderen ließen nicht lange auf sich warten. Nahiris Klingen wirbelten um sie herum und stimmten ein Lied des Todes an, als sie zwei der verbleibenden Phyrexianer niederstreckten, bevor sie sich auch nur umdrehen konnten. Kaya machte Anstalten, vorzurücken, aber Nahiri wandte sich mit glühenden Augen zu ihr um.
„Nein“, blaffte sie. „Wenn dieser Narr sich umbringen lassen will, sind wir auf dich angewiesen. Wenn ihr beide draufgeht, sind wir erledigt. Bleib zurück.“
Kaya hatte noch nie zuvor vor Nahiri Angst gehabt. Sie blickte ihr in die Augen, und ihr stellten sich die Nackenhaare auf. Ein plötzliches Grauen überkam sie. Sie machte einen Schritt zurück und sah zu, wie die anderen sich auf die Phyrexianer stürzten.
Die Phyrexianer ließen, durch die Planeswalkern abgelenkt, von Vraska ab. Jace, der weiter zielstrebig auf die Gorgo zurannte, konnten sie jedoch noch immer nicht sehen. Kaito hob sein Schwert, um einen Schlag einer gepanzerten Kreatur zu parieren. Himoto stieß eine piepende Warnung aus, und er strauchelte durch die Kraft des Aufpralls. Plötzlich war Tyvar an seiner Seite und warf sich zwischen Kaito und den nächsten Schwerthieb der Kreatur. Er ächzte, als dieser auf seinen eigenen, mit Metallplatten bedeckten Rücken prallte.
Der Schlag kratzte nicht einmal an der Oberfläche. Mit einem wilden Grinsen schwang er seine Waffe nach der Bestie. Hinter ihm legte Kaito den Kopf schief. Die Schicht glitzernden phyrexianischen Öls, die der Schlag auf Tyvars transformierter Haut hinterlassen hatte, perlte ab und bildete eine Kugel, die in der Luft über Tyvars Kopf schwebte.
Koth schlug mit seinen überhitzten Fäusten auf die Phyrexianer ein. Dabei zielte er auf die Schwachstellen ihrer Rüstung, die Gelenke und Öffnungen, und wich ihren Waffen aus. Einer der Phyrexianer – ein schreckliches Wesen in Gestalt eines metallenen Hummers, der aus einem Dutzend oder mehr kleineren menschenähnlichen Leichen zu einer einzigen Form zusammengeschweißt worden war – heulte auf und versuchte, ihn mit einer heimtückischen, halb krebsartigen Schere aufzuspießen. Koth konnte den Schlag abfangen, kurz bevor die Spitze seine Rüstung durchbohrt hätte, und hielt sich die Schere mühsam vom Leib.
Ein Streich von Elspeths Schwert, der eine golden glänzende Spur hinterließ, schlug sie entzwei. Koth grinste, als sie erneut zuschlug und die Bestie enthauptete. Dann drehte er sich um und schleuderte die Schere auf den nächsten Kämpfer, dessen Hals sie durchbohrte. Er blinzelte einmal, mit einem fast schon komischen Ausdruck der Überraschung, und brach dann leblos und schlaff zusammen.
Die Kugel aus Öl, die Kaito erzeugt hatte, beschleunigte plötzlich und spritzte in die Augen des nächsten Phyrexianers. Die gewaltige Gestalt taumelte rückwärts, kurzzeitig geblendet. Diese Gelegenheit ließ sich Tyvar nicht entgehen und brachte sie mit einem Schlag zu Fall. Er versetzte dem fallenden Körper einen Tritt und wandte sich wieder Kaito zu.
„Gut gezielt!“
„Ich schummle“, sagte Kaito mit einem Schulterzucken.
Während all dessen schritt Nahiri in einer Wolke surrenden Metalls als Grauen erregende Quelle endloser Zerstörung voran. Die verbleibenden Phyrexianer waren ihr in keinster Weise gewachsen, geschweige denn der Stärke der versammelten Planeswalker. Der letzte von ihnen fiel, und ihre Klingen kehrten in eine neutrale Position in der Luft um sie herum zurück. Als Jace Vraska endlich erreichte, trat sie einen Schritt zurück, von ihm weg, und hob abweisend ihre freie Hand.
Er blieb stehen und starrte sie schockiert an. Seine Augen glühten immer noch schwach blau von der Anstrengung, sich vor Phyrexia zu verbergen. „Vraska?“, sagte er, ohne die Verletztheit in seiner Stimme zu verschleiern. „Vraska, Elspeth ist bei uns. Wir haben Halo. Wir haben Melira. Sie kann Phyrese heilen. Wir können deine Wunden behandeln. Es ist nicht so schlimm, wie du denkst …
„Nein“, sagte Vraska. Ihre normalerweise so feste Stimme klang hohl und ausgebrannt. „Nein, Jace, nein. Es tut mir so leid, dass ich dich hergerufen habe. Das war nicht meine Absicht. Wir hatten diese Verbindung, und du – du hättest das nicht hören sollen.“
Jace blinzelte und machte einen Schritt auf sie zu. „Was? Nein. Es war richtig, dass du mich gerufen hast, und jetzt bist du in Sicherheit, du bist sicher, wir haben dich gerettet –“
„Nein!“ Alle Stärke, die Vraska fehlte, kehrte für eine einzelne, energische Silbe zurück. Sie strauchelte, sackte zusammen und sah ihn an. Sie wirkte irgendwie kleiner, als sie sein sollte, irgendwie …
Jace starrte sie mit blankem Entsetzen an. Melira biss sich auf die Lippe.
„Ich kann es von hier aus spüren“, sagte sie ruhig. „Dass sie noch so sehr sie selbst ist …
Nahiri machte einen Schritt nach vorne. Ihre Klingen folgten ihr. „Wir können dir ein sauberes Ende bereiten“, sagte sie ohne jegliche Gefühle in ihrer Stimme. „Wir können dafür sorgen, dass du als du selbst stirbst.“
„Wenn du sie anrührst, bringe ich dich um“, fauchte Jace und riss seine Augen lange genug von Vraska los, um Nahiri wütend anzufunkeln.
Nahiri blieb stehen und sah ihn leidenschaftslos an. Jace wandte sich wieder Vraska zu.
„Bitte“, flehte er. „Wir können es doch wenigstens versuchen. Wir können …
„Ihr müsst fliehen“, sagte Vraska. „Ihr alle. Flieht jetzt, solange noch die Chance besteht, dass das hier so abläuft, wie wir geplant hatten. Wir wussten, dass es zu Verlusten kommen könnte. Wir wussten, dass es zu Verlusten kommen würde. Lauf! Lauf, Jace Beleren, und schau nicht zurück. Bitte. Ich liebe dich. Lass nicht zu, dass meine Liebe dein Untergang wird. Geh. Rette das Multiversum und lebe. Das würde mich glücklich machen.“
„Ich werde nicht von deiner Seite weichen“, sagte Jace.
„Der Rest von uns schon“, sagte Kaito. „Jace, du kannst bei Vraska bleiben, wenn das dein Wunsch ist. Du darfst deine eigenen Entscheidungen treffen. Aber nicht, wenn es um den Sylex geht.“
Nahiri schnippte mit den Fingern. Ihre Klingen schnellten nach vorne und durchtrennten die Riemen von Jaces Beutel, bevor er reagieren konnte. Kaya schnappte ihn sich, bevor er zu Boden fallen konnte, und drückte ihn an ihre Brust, während sie wieder zurückwich.
„Ihr gebt sie einfach auf?“ Jace blickte hoffnungslos von Gesicht zu Gesicht, von jahrelangen Mitstreitern bis hin zu fast völlig Fremden. „Elspeth, du bist als Leuchtfeuer der Hoffnung hierhergekommen …“
„Und zwar für alle“, sagte Elspeth. „Phyrexia lässt einen nicht mehr los.“
„Jace, bitte“, sagte Vraska. „Meine Reise ist vorbei. Lass mir das hier.“ Sie hielt inne. Ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen. „Ich hatte immer gedacht, ich würde alleine sterben.“
„Du stirbst nicht alleine“, blaffte Jace und wandte sich ihr wieder zu. „Du stirbst überhaupt nicht.“
„Doch, das tue ich“, sagte Vraska.
Die beiden schienen nicht zu bemerken, dass die anderen Planeswalker, darunter Kaya, die den Sylex festhielt, aus dem Kolosseum geflohen waren und sie zurückgelassen hatten. Sie waren in ihrer eigenen Welt verloren.
Dann näherte sich Jace Vraska, und diesmal wich sie nicht zurück, nicht einmal, als er nach ihren blutbeschmierten Händen griff und sie in seine nahm.
„Schließe deine Augen“, sagte er.
Vraska gehorchte.
Die Gruppe zwängte sich einer nach dem anderen durch den engen Ausgang und trat in die schwarze, verfaulende Landschaft außerhalb des Kolosseums, während Vraska und Jace zurückblieben.
Die Gruppe trat mitten in einen Krieg.
Der Kampf im Inneren des Kolosseums war alles andere als leise gewesen. Sie hatten getötet und geschrien und einander Warnungen zugerufen, ohne daran zu denken, dass man sie hören könnte. Da Jace zurückgeblieben war, verbarg sie nichts mehr vor den Kämpfenden auf dem Schlachtfeld, von denen die meisten nicht mehr über die ganze Ebene verstreut waren, sondern sich vor dem Kolosseum versammelt hatten. Sie hatten Reihen gebildet, in der alles von mehrbeinigen Wesen menschlicher Größe bis hin zu gewaltigen Konstrukten aus Sehnen und Knochen vertreten war.
Die Planeswalker und Mirraner starrten sie an. Sie hatten einen Großteil ihrer Energie im Kampf um Vraska verbraucht. Durch Tyvars Metallpanzer waren inzwischen Flecken normaler Haut zu sehen, und die Klingen wirbelten etwas langsamer um Nahiri.
Sie konnten nicht zurückgehen, ohne in eine Sackgasse zu geraten. Sie konnten nicht vorwärts, ohne sich durch das gesamte Schlachtfeld zu kämpfen.
Elspeth griff nach Koths Hand und drückte sie fest. Sie versuchte, sich damit zu trösten, dass sie alles in ihrer Macht Stehende unternommen hatten. Vielleicht würden sie hier scheitern, vielleicht würden sie hier fallen, aber zumindest hatten sie es versucht.
„Für Mirrodin?“, fragte sie und nahm damit hin, dass es zu einem Kampf kommen würde.
Der Hüne nickte. „Für Mirrodin!“, brüllte er, und sie stürmten vor wie eine Welle, die dazu verdammt war, an den Felsen zu brechen in einem Kampf bis auf den Tod.
„Du kannst deine Augen jetzt wieder öffnen“, sagte Jace.
Vraska blinzelte und sah sich um. Das Kolosseum war fort. Stattdessen befanden sie sich auf einer sonnendurchfluteten Prachtstraße Ravnicas. Der Himmel über ihnen war wunderschön und wolkenlos, wie es nur selten der Fall war. Sie blickte erschrocken zu Jace zurück und blinzelte erneut. Alle Spuren des Kampfes waren fort, genauso wie alle Anzeichen, dass ein Kampf bevorstand. Stattdessen trug er Kleidung für einen Nachmittagsspaziergang, sein Haar beinahe gezähmt, und bot ihr seine Hand.
„Vielleicht kann ich dich nicht vor Phyrexia retten, aber ich kann zumindest noch einen letzten Tag mit dir verbringen“, sagte er. „Das ist für dich.“
„Jace“, sagte sie, und ihre Stimme überschlug sich zu einem Lachen, als er ihre Hand nahm und sie in die Arme schloss. Alles war wunderbar, und nichts lag im Argen.
Die Illusion war so allumfassend, dass sie fast vorgeben konnte, daran zu glauben. Sie schlenderten durch die Straßen Ravnicas und besuchten Gildenhallen und große Museen. Vraska legte ihren Kopf auf seine Schulter und träumte von der Zukunft, die sie zusammen hätten haben können, wenn das Multiversum es besser mit ihnen gemeint hätte.
Sie umklammerte seine Hand in dieser Version ihrer perfekten Welt – ihrer gemeinsamen perfekten Welt. „Danke“, flüsterte sie. „Es ist wundervoll.“
„Ich liebe dich“, sagte er.
Vraska verzog das Gesicht. „Es wird Zeit für dich zu gehen. Sonst tue ich dir noch etwas an, wenn Phyrexia meinen Verstand erreicht. Bitte. Im Namen dessen, was hätte sein können: Tue das für mich.“
„Nein, ich werde nicht von deiner Seite weichen. Zumindest deinen Verstand kann ich hier drinnen retten. Wir können zusammenbleiben, an einem Ort, den Phyrexia nicht erreichen kann …“ Der Himmel über ihnen begann, sich zu verdunkeln. „Oh, Jace“, sagte sie, seinen Namen hauchend. „Nimm es nicht so schwer. Du bist es gewohnt, der Held zu sein, der die Antwort findet, aber manchmal gibt es keine. Wenn du nur ein wenig schneller gewesen wärst …
Wenn es Elspeth und Kaya nur schneller von der Oberfläche herunter geschafft hätten – wenn er nicht auf sie gewartet hätte – wenn er nicht zugelassen hätte, dass Nahiri ihn im Lager der Mirraner in eine Diskussion verwickelte.
Wenn.
„Es ist noch nicht zu spät“, sagte er.
„Doch, das ist es.“ Sie berührte seine Wange. „Es ist auch in dir. Du bist schon verloren.“
„Wie bitte?“
„Hier in den Dross-Gruben liegt das Öl, das die Infektion verbreitet, in der Luft über den Nekrogen-Tümpeln. Du hättest weglaufen sollen, mein tapferer, dummer Junge.“ Sie schüttelte den Kopf. „Du bis genauso dem Untergang geweiht wie ich.“
„Ich habe Halo genommen, bevor wir dich gefunden haben. Ich habe noch Zeit. Wir haben noch Zeit.“
Jace seufzte und schmiegte sich näher an sie. Vraska drückte sich an ihn, und ihre Lippen fanden einander, ein letzter Kuss im Schatten des bevorstehenden Endes.
Er schmeckte die Lügen auf ihren Lippen im selben Augenblick, als etwas in seine rechte Handfläche stach. Es brannte wie Eis, und die Illusion, die er mit so großer Mühe aufgebaut hatte, zerbarst um sie herum, sodass sie sich unter dem verheerten Himmel Phyrexias wiederfanden. Jace versuchte, sich aus der Umklammerung zu lösen. Vraska hielt ihn fest, ihre Hände immer noch verschlungen, und lächelte so süß, wie es nur ging.
„Für Phyrexias Ruhm“, schnurrte sie.
Ihr war ein langer, sich krümmender Schwanz mit Widerhaken am Ende gewachsen, wie der eines Skorpions. Dieser hatte ihn getroffen und ihm eine gehörige Dosis glitzernden Öls verabreicht. Sie lachte mit blitzenden Augen und richtete ihren Gorgonenblick zum ersten Mal gegen ihn. Jace hob seinen brennenden Arm, um sein Gesicht zu bedecken, drehte sich um und floh vor der Phyrexianerin, die ihn besser kannte als irgendjemand sonst.
Ihr Gelächter folgte ihm, bis er plötzlich direkt in Tyvars metallene Seite rannte. Der Elf zog sich gerade durch den Eingang zurück, gefolgt von den anderen, auf der Flucht vor einem herannahenden Aufmarsch der phyrexianischen Streitkräfte.
Vraska lachte noch immer. Sie würden hier sterben. Alle.
Nahiri ließ Luft durch ihre Zähne zischen, während sie mit ihrem Schwert nach einer gewaltigen Bestie schlug. „Wir sind erledigt“, brüllte sie. Der Verband an ihrem Nacken hatte sich irgendwann im Laufe des Kampfes gelöst und flatterte hin und her, wenn sie sich bewegte. Sie griff danach und riss ihn ab, sodass der merkwürdige, knochige Auswuchs an ihrer Wirbelsäule für alle zu sehen war. Dies schien ihr jedoch gleichgültig zu sein, als sie herumwirbelte und sich an die anderen wandte.
„Wir können hier nicht gewinnen“, sagte sie. „Die Mission kann nur weitergehen, wenn wir weiterziehen. Also zieht ihr jetzt weiter. Haltet euch fest.“
Ihre Magie brach hervor wie eine brennende Flut, während sie tief genug schöpfte, dass die Luft vor Hitze zu tanzen schien. Nahiris Macht schien unerschöpflich und unnachgiebig. Eine nach der anderen fielen die Klingen träge zu Boden, die sie so sorgfältig aus den Elementen der Schicht gefertigt hatte, während das Schwert in ihrer Hand immer heller loderte. Das Kolosseum um sie herum verformte sich und ächzte, unfähig, ihrem unerbittlichen Ruf zu widerstehen.
Der knöcherne Auswuchs an ihrer Wirbelsäule griff weiter um sich, als würde ihre grauenvolle Transformation dadurch beschleunigt, dass sie so viel Kraft aus Phyrexia herausriss. In ihrer Haut bildeten sich Risse, sodass tiefe Venen zu sehen waren, in denen statt Blut etwas lodernd Rotes floss.
Sie sah Jace über das zerbrochene Schlachtfeld hinweg in die Augen. Ihre eigenen waren nun ganz und gar schwarz, wie erloschene Kohlen. „Lass nicht zu, dass das umsonst war“, sagte sie. „Bring es zu Ende.“
Sie schwang ihr Schwert wie eine Gestalt aus einer Legende; in jenem Augenblick hatte sie die Macht, die Welt zu spalten. Und dann tat sie mit einem gewaltigen und entsetzlichen Schlag genau das, und alles wurde dunkel.
Staub erfüllte die Luft, geschwärzt durch Nekrogen und hell durch eine unwirkliche Strahlung. Nach und nach legte er sich.
Elspeth setzte sich hustend auf, schob ein großes Trümmerteil von ihrem Körper und begann dann, panisch auf Händen und Füßen nach den anderen zu suchen. Der Aufprall ihres Körpers auf dem Boden aus Porzellan hatte ihren Beutel zerschmettert, und sie musste mit den Tränen kämpfen, als sie sah, dass ihr kostbares verbliebenes Halo auf den Boden sickerte und sich zu einem regenbogenfarbenen Dunst verflüchtigte.
Obwohl es ihnen bislang wenig genutzt hatte. Sie waren dabei, zu verlieren. Sie würden alle hier sterben – wenn sie Glück hatten. Wenn sie Pech hatten, würden sie zu schrecklichen neuen Werkzeugen in Phyrexias Arsenal werden und Zerstörung über die Welten tragen.
Nein. Nein, so durfte sie nicht denken. Sie rappelte sich auf, sah sich um und stellte erleichtert fest, dass auch Koth sich gerade aus den Trümmern erhob. Er blickte mit leicht geöffnetem Mund nach oben. „Was für eine unfassbare Närrin“, hauchte er.
„Was ist?“, fragte Elspeth.
Er zeigte nach oben. „Sieh nur.“
Sie blickte hoch. Im silbrigen Himmel klaffte ein gewaltiges Loch, dunkel und mit gezacktem Rand, als hätte ihn jemand durchschlagen.
„Sie hat das gesamte Kolosseum in die Bleiche Basilika befördert“, sagte er. „Unglaublich.“
Die anderen kämpften sich nun ebenfalls aus den Trümmern frei. Tyvar half Kaito auf die Beine, und Kaya kümmerte sich um Jace. Elspeth war erleichtert, dass der Beutel mit dem Sylex nicht das gleiche Schicksal ereilt hatte wie ihrer; er schien immer noch intakt zu sein.
Von Nahiri fehlte jede Spur.
Über ihnen ergossen sich Phyrexianer aus dem Loch und begannen fast umgehend, gegeneinander zu kämpfen. Sie fielen nicht, sondern hingen an der silbernen Oberfläche des Himmels, als würden sie die Schwerkraft zugunsten des Gemetzels ignorieren. Weitere Phyrexianer erklommen die Wände. Diese waren in schimmerndem Silber und Weiß gepanzert, was sie als Untertanen der Bleichen Basilika kennzeichnete.
Elspeth sah sich um und schnappte nach Luft. Die anderen folgten ihrem Blick. In der Ferne hob sich die gleißende, geflügelte Gestalt Atraxas hell vom künstlichen Horizont ab. Sie kämpfte gegen die geschwärzten Eindringlinge in die Domäne ihrer Herrin.
„Wir müssen hier weg“, sagte Koth. „Diese Schlacht wird Elesh Norns Streitkräfte eine Zeit lang ablenken, aber nicht ewig.“
„Und ich habe auch nicht mehr ewig“, sagte Jace. Er hob seinen Arm, dessen Haut wegen Vraskas Gift Blasen schlug und verbrannt war. Mehrere Risse offenbarten eigentümlich glänzendes Gewebe, dessen feuchter Schein nichts mit Blut zu tun hatte. „Das Halo in meinem Körper verzögert die Wirkung, aber es kann sie nicht aufhalten.“
„Melira“, sagte Elspeth.
Die zierliche Mirranerin schüttelte den Kopf. „Er würde dadurch handlungsunfähig, und wir könnten ihn unmöglich zurück an die Oberfläche schaffen“, sagte sie. „Ich kann es hier nicht tun.“
Jace schien das nicht zu überraschen. „Kaya, gib mir den Sylex zurück. Da ich offenbar nicht überleben werde, kann ich genauso gut die Detonation auslösen.“
„Wenn du glaubst, du könntest mich damit überzeugen, hast du den Verstand verloren“, sagte Kaya und drückte den Beutel schützend an sich.
„Wir können das unterwegs erörtern“, sagte Koth. „Der Altar ist nicht weit von hier. Eure Freundin, die Lithomagierin, hat uns unserem Ziel erheblich näher gebracht. Lasst uns dafür sorgen, dass sie sich nicht umsonst geopfert hat.“
„Ich kann nicht fassen, dass ich in einer Welt lebe, in der Nahiri mich gerettet hat“, sagte Jace. Er blickte auf seinen Arm und verzog den Mund. „Aber so wie es aussieht, muss ich das auch nicht mehr.“
Sie brachen auf und suchten sich einen Weg über den mit Trümmern übersäten Pfad in Richtung des hoch aufragenden Altars von Elesh Norn.
Jace flüsterte weiter auf Kaya ein, um sie davon zu überzeugen, ihm den Beutel zu geben, bis sie ihn ihm schließlich mit angewiderter Miene in die Hände drückte und zur Vorhut der Gruppe eilte. Ihr Körper leuchtete dabei purpurfarben auf, immer wenn sie geisterhaft durch größere Trümmerstücke glitt. Jace stützte den Beutel an seiner Hüfte ab und sah weder zufrieden noch unzufrieden aus; die gleichzeitigen Schläge von Vraskas Ende und seiner eigenen düsteren Zukunft schienen etwas in ihm zerbrochen zu haben, und die Verzweiflung in seinen Augen brach wiederum Elspeth das Herz. Sie konnte ihn nicht lange ansehen.
Sie hatten zwei Gefährten verloren – drei, wenn sie Jace schon mitzählte – sowie ihren gesamten Halo-Vorrat. Sie waren im Herzen Neu-Phyrexias gefangen, ohne einen klaren Ausweg.
Wie viel hatten sie wirklich noch zu verlieren?
Unter dem lodernden Himmel der Bleichen Basilika und dem korrupten Licht Atraxas zogen sie weiter.