Vielleicht seid ihr Surrak Drachenklaue, dem Khan der Temur, schon einmal begegnet. Vielleicht habt ihr sogar gesehen, wie er einem Bären eine verpasst. Doch nicht alle Temur sind angriffslustige Bärenschläger. Sie sind ein äußerst spirituelles Volk. Surrak ist ein Sinnbild des Respekts vor dem, was in der Wildnis lauert, und dem unerschütterlichen Pragmatismus bei der Bewältigung dieser Herausforderungen.

Die Stellung des Khans wird allerdings nicht vererbt, und Surrak wurde nicht in sie hineingeboren. Einst war auch er nur ein junger Krieger der Temur, der sich einen Namen machen wollte. Bis eine Begegnung in der Wildnis sein Schicksal für immer veränderte ...

 


 

 

Am Eingang der dunklen Höhle zögerte der Jüngling. Er zog sich die Fellkapuze tiefer ins Gesicht. Die eisige Luft war hungrig, und der dünne Flaum seines Bartes bot keinen Schutz vor ihrem Biss. Surrak konnte kein Licht im Inneren erkennen, doch stieg ihm ein wilder, stechender Geruch in die Nase. Eine Erinnerung aus grauer Vorzeit brüllte in seinem Geist auf.

 

Aus der Finsternis drang ein Geräusch. Oder war es ein Gedanke? Er war nicht sicher, ob er etwas gehört hatte. Und doch trieb es ihn weiter an. Es spendete keinen Trost. Es sprach von Angst. Doch es wisperte auch von Stärke.

Erbe der Wildnis | Bild von Winona Nelson

Er atmete tief durch und machte einen Schritt vorwärts. Die stickige Luft war erfüllt mit dem Geruch von Tieren. Er bewegte sich im Takt des Pochens, das überall um ihn herum ertönte. Der Herzschlag der Wildnis. Es schien, als sängen viele Stimmen gemeinsam in absonderlicher Harmonie. Das Lied wurde lauter. Es hüllte ihn enger ein als seine Felle.

Das Trommeln verstummte. Ein jähes Licht gleißte auf, und er kniff die Augen zusammen. Die Stimmen schwollen zu einem Schrei an. Dann folgte Stille.

Er öffnete die Augen. Mitten auf dem steinernen Boden brannte irgendwie ein Feuer. Kein Holz nährte seine Flammen. Es flackerte auf, blau und gelbrot. Über ihm spannte sich ein Felsgewölbe. Und darüber strömte, einem Fluss gleich, eine Reihe von Kreaturen. Einige erkannte er: mächtige Elche, weiße Wölfe, gewaltige Bären, selbst einige scheue Nerze. Andere waren Legenden: die uralten Mammuts und die majestätischen Drachen, deren Knochen noch immer als Heringe für die Zelte des Klans dienten. Wieder andere waren wundersame Kreaturen, die nie gelebt hatten. Er hatte keinen Namen für sie. Sie rannten über die Decke, scheinbar lebendig, und ihre hellen Farben schimmerten im Licht des Feuers.

Er sah niemanden. Doch viele Öffnungen führten aus der großen Halle hinaus, und nun setzte auch der sonderbare Gesang wieder ein. Sieh gut hin, Junge, schien er zu sagen, obwohl er keine Worte ausmachen konnte. Sieh dein Schicksal, Erbe der Wildnis.

Er schien den Rhythmus förmlich in sich aufzusaugen. Wie im Traum sank er rücklings auf den steinernen Boden. Über ihm flirrte der gemalte Umzug. Ein großer Bär trat brüllend und auf die Hinterbeine aufgerichtet aus der Decke heraus. Er schwang die schweren Klauen über einer winzig aussehenden menschlichen Gestalt, die einen Augenblick zuvor noch nicht dagewesen war. Der Mensch war unbewaffnet. Beide prallten aufeinander. Dann war nur noch der Mensch übrig. Er hob einen Stab mit zwei Klingen über den Kopf.

Dann war die Vision vorüber. Surraks Lider wurden schwer, und er versank in Dunkelheit.

Als er erwachte, war die Höhle kalt und leer. Nur das schwache Licht vom Eingang drang in die Dunkelheit vor. Das Panorama über ihm war düster und leblos. Doch die Vision der vergangenen Nacht stand ihm noch immer deutlich vor Augen. Er raffte seine Felle um sich und trat in den gefrorenen Wald hinaus.

 


 

 

Als Surrak älter wurde, lauschte er dem Nachhall des Gesangs in seinem Inneren und ließ sich von seinem Geist den Weg weisen. Er ging dorthin, wo nie jemand zuvor gewesen war. Er suchte die wildesten Orte auf.

 

Einen Tages, als die verborgene Sonne schon hoch am Himmel stand, stieß er auf Abdrücke von Tatzen. Jeder von ihnen war so breit wie die Hüften des Jungen und tief in den Schnee eingedrückt. Sie verströmten noch immer einen starken Geruch. Die Bestie war in der Nähe.

Surrak blieb stehen und neigte den Kopf, um zu lauschen. Zunächst drang nur das Knirschen des Schnees und der leise Wind an sein Ohr. Er stand reglos da, wie einer der steinernen Wegweiser in den Wäldern. Eiskristalle legten sich ihm auf die Schultern.

Dann hörte er einen rauen, knurrenden Laut. Eine schwere Gestalt brach durch das Eis und schob Äste beiseite. Nicht weit voraus.

Er zog die Handschuhe straffer. Sie waren aus der Haut irgendeiner abzanischen Bestie gefertigt, die vor vielen Jahren seinem Klan zum Opfer gefallen war, und sie reichten ihm bis zu den Oberarmen. Aus den Knöcheln ragten Wolfsklauen hervor. Doch außer seinem Mut und seiner Stärke waren dies seine einzigen Waffen.

Er rief eine Herausforderung. Die Worte waren uralt; ihre Bedeutung war ihm fremd. Die Flüsterer sagten, diese Worte wären einst von Drachen geschrien worden. Surrak wusste nur, dass sie voll von Wut und Macht waren. Dann warf er sich vorwärts.

Bären-Spielstein | Bild von Kev Walker

Der Bär ragte vor Surrak auf. Er stieß seinen eigenen Kriegsschrei in der Sprache seines Volkes aus, während er wild den Kopf schüttelte und das Maul weit aufriss. Er war fast doppelt so groß wie Surrak. Surrak konnte nicht rechtzeitig ausweichen. Eine gewaltige Tatze sauste auf ihn hernieder. Es war, als hätte der Berg selbst zugeschlagen. Er wurde in die Luft geschleudert. Er wurde weggeschleudert und prallte gegen einen Baum. Rippen gaben nach. Die Luft wurde ihm aus den Lungen gequetscht. Er rang nach Atem, halb unter dem Schnee vergraben.

Die Bestie stürmte heran. Der Boden erbebte unter ihren weiten Sprüngen. Surrak kämpfte sich in die Höhe. Zu spät erkannte er, dass er dem Ansturm nicht würde ausweichen können. Stattdessen warf er sich zur Seite, als die monströse Bestie nach vorn sprang, um ihn zwischen ihren Kiefern zermalmen zu wollen. Eine mächtige, klauenbewehrte Hintertatze streifte seinen Kopf. Ein schneidender Schmerz fuhr ihm durch Auge und Stirn. Sein Blick war von einem roten Schleier getrübt.

Nun war es an Surrak, den Kopf zu schütteln, wie es zuvor der Bär getan hatte. Er kam schwankend auf die Füße, einen dicken Baumstumpf im Rücken. Mit einem rauen Handschuh wischte er sich das Blut aus dem Gesicht. Er spürte, wie sich Hautfetzen bewegten. Der Bär wandte sich erneut zum Angriff. Surrak stemmte seine Füße gegen den Stamm.

Der Bär war im Begriff, erneut auf ihn zuzustürmen. Surrak brüllte auf und sprang auf das Tier zu, wobei er sich mit den Füßen kräftig vom Stamm abstieß. Wie eine Axt hieb er dem Bären die behandschuhte Faust ins Gesicht. Betäubt fiel die Kreatur in den Schnee.

Brutaler Fausthieb | Bild von Wesley Burt

Ehe der Bär sich wieder aufrappeln konnte, heulte Surrak ein weiteres Mal und warf sich ihm auf den Rücken. Er griff mit einer Hand nach dem kräftigen Nacken und schlug mit der anderen darauf ein. Dabei riss er büschelweise Fell aus, wieder und wieder, während die Bestie ihren Kopf hin und her warf und versuchte, ihn abzuschütteln. Blut spritzte in den Schnee. Schließlich sprang er ab, blutig und keuchend, um seinem Gegner von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten.

Die beiden starrten einander an. Surraks verbleibendes Auge hielt dem Blick des Bären stand und forderte ihn geradezu zu einem erneuten Angriff heraus. Der Kopf des Bären hing tief herab, ein Ohr war zerfetzt, die Zähne durch den brutalen Fausthieb zertrümmert. Endlich senkte er den Blick und wandte sich ab. Er schnaubte, schüttelte sich und trottete von dannen.

Surrak straffte die Schultern und stieß den Schrei des Triumphs hervor, bis sein Gegner nicht mehr zu sehen war. Dann sank er auf die Knie.

 


 

 

Surrak kehrte zum großen Lager im Karakyk-Tal zurück. Die rechte Seite seines Gesichts hing in wunden Fetzen, und auf dem rechten Auge war er blind. Er trug mehrere Büschel Fell bei sich sowie eine Kralle, die beim ersten Ansturm des Bären abgebrochen war, und einige ausgeschlagene Zähne.

 

Schweigend präsentierte er seine Trophäen den Klanältesten. Sie nahmen seine Geschenke an und gewährten Surrak die Rechte und den Titel eines Erwachsenen. Der Zweifach-Flüsterer legte ihm einen Langspeer in die Hände, mit Feuerstein als Spitze und mit gesegneten Bändern umwunden.

Die Heiler wuschen seine Wunden. Die Narben waren tief und knochenbleich auf der windgegerbten Haut, und sein rechtes Auge war trüb wie ein Wintertag. Auf dieser Hälfte seines Gesichts würde kein Haar mehr sprießen. Doch Surrak lächelte. Er trug die Zeichen eines großen Kriegers.

Von jenem Tag an war er es, der die Krieger des Klans auf der Jagd nach Wild und Feinden anführte. Zunächst folgten ihm nur wenige, doch nach jedem Sieg wuchs die Zahl seiner Krieger. Bald schon vereinten nur nur die Drachenklaue und der Jagdrufer mehr Klingen hinter sich.

 


 

 

Der strenge Winter lockerte seinen eisigen Griff – wenn auch nur um ein wenig. Der Frühling kroch zu den hohen Pässen hinauf, und die Familien zerstreuten sich in ihre Jagdgründe. Doch je milder die Witterung wurde, desto mehr wuchs die Dreistigkeit der Feinde des Klans. Surrak erschien diese Jahreszeit schlimmer als in den Jahren zuvor. Überfallkommandos anderer Klane, besonders der verhassten Sultai, suchten regelmäßig die Lager heim und vertrieben das Wild.

 

Die Temur übten heftige Vergeltung. Surrak und seine Sippe verbrachten mehr Zeit mit der Jagd auf zweibeinige Beute als mit dem Beschaffen von Nahrung. Seine Leute wurden müde und litten Hunger. Zu ihrer großen Schande fielen einige hinter der Gruppe zurück, zu schwach, um weiterzugehen.

Die abgerissenen Jäger setzte ihren Marsch fort. Sie bewegten sich zu den unteren Hängen, wo Nahrung womöglich etwas leichter zu finden war. Doch das Land war karg, besudelt von den zahlreichen Füßen, die darüber hinweggestampft waren – und von Dingen, die nicht einmal Füße hatten. Surrak blickte finster drein und trieb seine Gruppe an, den Räubern nachzusetzen.

Auf einer zertrampelten Lichtung endlich schlossen sie zu ihrer Beute auf: eine große Gruppe Plünderer unter dem Banner eines Dreiergespanns des Schlangenvolkes und ein Zug wandelnder Toter. Die Temur spien Flüche aus, als sie die ausgezehrten Gestalten ihrer eigenen Klansgeschwister wiedererkannten, die sie an Hunger und Krankheit verloren hatten.

Die Jäger waren deutlich in der Unterzahl. Doch die Stärke der Temur lag nicht in zahlenmäßiger Überlegenheit. Der Zorn der Wildnis brach aus der Brust der Krieger hervor, und sie fielen über ihre Feinde her. Klauen und Äxte gruben sich in Fleisch. Ihre Feinde wirkten finstere Zauber und spuckten Gift. Obwohl die tapferen Leute aus den Bergen viele erschlugen, erlitten sie immer schwerere Verluste.

Herausforderndes Gebrüll | Bild von Viktor Titov

Surrak hatte den Ansturm angeführt. Nun war er umzingelt. Er stieß mit dem Speer um sich und teilte Fausthiebe aus. Dutzende lagen tot überall zu seinen Füßen. Wunden klafften ihm am Leib. Doch er wollte so viele wie möglich mit sich in den Tod reißen, ehe er sich zu den Ahnen gesellte.

Plötzlich donnerte ein Brüllen über den Kampfeslärm hinweg. Die Erde erbebte. Aus dem nahen Wald brach eine riesige, struppige Gestalt hervor. Der Höhlenbär prallte auf die Reihen der Sultai. Die ausgemergelten Untoten riss er in Stücke, die verblüfften Menschen warf er um wie Kegel. Er haute sich eine Gasse, die geradewegs auf Surrak zuführte. Dann drehte er sich um und begann, eine neue Schneise in seine Gegner zu schlagen.

Surrak lachte, um seinen alten Herausforderer und neuen Verbündeten willkommen zu heißen. Erneut machte er sich ins Kampfgetümmel auf. Seine Gefährten zauderten nur einen kurzen Augenblick, nur um ihre Anstrengungen daraufhin zu verdoppeln. Voll Schrecken und Erstaunen wichen die Sultai zurück. Viele verließ der Mut und sie flohen, um ihre Schlangenherren schutzlos zurückzulassen. Mit einem gewaltigen Aufschrei wie aus einer einzigen Kehle überwältigten die Temur den Rest.

Der Kampf war gewonnen, der Feind geschlagen. Seine Verderbtheit würde diese Berge nicht so bald erneut besudeln. Surrak lehnte sich schwer atmend auf den Schaft seines Speeres. Nun begann er, die Schmerzen zu spüren, die ihm seine vielen Wunden bereiteten.

Hinter sich hörte er ein schweres, knurrendes Stöhnen. Er wandte sich um. Der mächtige Bär lag besiegt am Boden. Voller Qual rollte er den Kopf hin und her. Surrak sah die mit Widerhaken versehenen Schäfte der Pfeile der Sultai aus den Flanken ragen. Schlieren von schwarzem Gift vermischten sich mit dunklem Blut.

Der Bär richtete seinen Blick auf Surrak. Dieser sah das Flehen darin. Er kannte seine Pflicht. Er beugte sich herab, zog einen Handschuh aus und legte die Finger auf die Schnauze des Bären. Er sprach jene uralte Anrufung, die die Gefallenen zu den Ahnen schickte. Dann richtete er sich auf und trieb den Speer durch den Schädel des Tiers.

 


 

 

Der Zweifach-Flüsterer sprach die Worte, die Surrak zum Ersten Vater der Temur machten. Er legte ihm einen Umhang aus Bärenfell um die Schultern, der Pelz des Verteidigers des Klans. Surrak streifte seine neuen Handschuhe über, die aus den gewaltigen Tatzen des Bären gefertigt waren. Er hob die gewaltige Drachenklaue aus dem Besitz der Ahnen über den Kopf. Er und der Bär und der Klan waren eins.

 

Surrak Drachenklaue | Bild von Jaime Jones