Was bisher geschah: Aus Äther geboren

Von Berichten des Konsulats über eine unruhestiftende Renegatin nach Kaladesh gelockt, fand Chandra zu ihrer großen Überraschung heraus, dass die fragliche Renegatin niemand anders war als ihre eigene Mutter. Ihre Wiedersehensfreude währte jedoch nur kurz, denn Soldaten des Konsulats nahmen Pia Nalaar gefangen. Während Liliana einer anderen Spur folgte, stießen Chandra und Nissa auf eine alte Freundin von Chandras Eltern namens Oviya Pashiri. Gemeinsam begannen sie, nach Pias Gefängniszelle Ausschau zu halten. Durch einen der unzähligen Kontakte Oviyas zu den Renegaten fanden sie heraus, dass sie im Dhund festgehalten wird, einem Geheimgefängnis, das von dem bösartigen Magier Baral geleitet wird – ebenjenem Baral, der Chandra als Kind gejagt und ihren Vater getötet hatte.


Nissa schwirrte der Kopf, als Frau Pashiri sie und Chandra vom Lärm und den Gerüchen auf Yahennis Feier zurück in die Dunkelheit der Straßen führte, wo die überschäumende Aufregung der Erfindermesse zur fröhlichen Geschäftigkeit der Nacht abgeklungen war.

Ghirapur war nicht so schlimm wie Ravnica mit seinen harten Kanten und grauen Straßen. Tatsächlich war die Stadt zweifelsohne auch mit einem Augenmerk auf den Fluss der Magie – des Äthers – durch die Straßen und um die Gebäude herum ausgerichtet worden. Und die Ästhetik dieses Ortes wurde vorrangig von anmutigen Schwüngen und filigranen Linien dominiert – mehr wie die Wälder Zendikars und weniger wie die schroffen Winkel Ravnicas.

Aber dennoch wimmelte es hier von Leuten.

Nissa konnte nichts anderes tun, als sich darum zu mühen, Schritt zu halten – mit den Ereignissen des Tages, mit Chandras geradezu greifbarer Gereiztheit, mit dem gesamten chaotischen Wirrwarr dieser Welt.

„Der Dhund“, sagte Frau Pashiri und schüttelte den Kopf. „Ausgerechnet.“

Chandra knurrte. „Baral! Warum er? Sollte er nicht mittlerweile tot oder ... oder im Ruhestand oder was auch immer sein?“ Sie hielt inne. „Tot wäre mir lieber.“ Sie ging ein paar Schritte weiter. Kleine Flämmchen züngelten ihr um die Finger und wurden erstickt, als sie die Fäuste ballte. „Im Feuer.“

„In einer gerechten Welt wäre er das“, sagte die ältere Frau.

„Nun, wenn ich ihn zu fassen bekomme ...“ Chandra schien sich auf die Zunge zu beißen, wahrscheinlich sogar buchstäblich. „Tut mir leid, Frau Pashiri.“

Nissa runzelte die Stirn. Bis jetzt hatte sie Chandras feurige Wut nur gegen die Eldrazi gerichtet gesehen oder gegen die pervertierten und verderbten Kreaturen auf Innistrad, die ebenso gut Eldrazi hätten sein können. Die Vorstellung, dass sie diesen Zorn auch gegen Menschen richten konnte, war beunruhigend. Wie viel Leid hat er ihr wohl zugefügt?, fragte sie sich.

„Liliana meinte zu mir, ich sollte ihn zur Strecke bringen“, sagte Chandra. „Ihn finden und mich rächen. Ich hätte auf sie hören sollen.“

Nissa wollte die Hand nach ihr ausstrecken und sie ihr auf die Schulter legen, um Chandra durch ihre Berührung ein wenig Trost zu spenden. Doch sie fürchtete sich ... vor was? Schmerz zu verursachen, wie wenn man eine Brandwunde berührte? Oder davor, Chandras Schmerz, der wie ein ausgewachsener Brand zwischen ihnen loderte, noch stärker zu spüren, als sie es ohnehin schon tat?

„Und wo zum Teufel ist Liliana eigentlich? Was ist denn bitte wichtiger, als herauszufinden, wohin meine Mutter verschleppt wurde?“

Lilianas Anspannung war weniger ... hitzig ... gewesen, als sie sich von ihnen getrennte hatte, aber nicht minder greifbar. Es war das erste Mal gewesen, dass Nissa die Nekromagierin in einer anderen Verfassung als unerschütterlicher Ruhe gesehen hatte, und sie vermutete, dass das, was Liliana tat, tatsächlich sehr wichtig war.

Chandra blieb abrupt stehen, stampfte mit dem Fuß auf, woraufhin ein kleines Flämmchen auf dem Kopfsteinpflaster verpuffte, und sagte: „Und wohin gehen wir überhaupt?“

„Wir müssen den Fluss überqueren“, sagte Frau Pashiri.

Chandra legte die Stirn in Falten. „Was ist denn am anderen Ufer? Die alten Kraftwerke?“

„Ja. Und das am schlechtesten gehütete Geheimnis in Ghirapur.“ Sie senkte die Stimme. „Gonti.“

„Was sind denn Gonti?“, fragte Chandra.

Gonti ist ein anderer Äthergeborener. Ich glaube, er hat sein Vermögen durch Schmuggelgeschäfte gemacht – ich hatte früher ein paarmal mit ihm zu tun. Gontis Nachtmarkt ist eine Art Sammelpunkt für Ätherschmuggel und Renegaten-Erfinder.“

Chandra raufte sich die Haare und fachte damit weitere Flammenzungen an, die ihr über Kopf und Hände leckten, ehe sie verrauchten. „Und warum gehen wir dahin? Wo ist meine Mutter?“

„Es tut mir leid, Liebes. Ich folge der besten Spur, die wir haben. Wie ich hörte, liegt der Dhund in den Tunneln unter dem Nachtmarkt.“


Chandra wirkte, als bereite es ihr körperliche Schmerzen, auf ihrem Platz sitzen zu bleiben, als eine kleine Barke sie über den Fluss trug, die von einem jungen Mann gelenkt wurde, der Gleichgültigkeit vortäuschte, während sein Gesicht reges Interesse an jedem von Chandras Worten verriet. Sie führte die aufgestaute Energie in sich ab, indem sie wütend mit dem Fuß wippte. Ihre Hände waren ständig in Bewegung, und sie sah aus, als kaute sie auf ihrer Zunge herum, um zu vermeiden, etwas zu sagen, was sie in Schwierigkeiten hätte bringen können.

Doch in jenen wenigen Minuten abseits der Lichter und des Lärms und der Bewohner der Stadt blickte Nissa zu den Sternen und dem wirbelnden, wabernden Blau der Äthersphäre auf und verspürte Ruhe ... nur von der drängenden Sorge gestört, dass Chandra in ihrer Ungeduld und ihrer Wut ihr kleines Boot in Brand stecken könnte. Die stärkste Ätherströmung am Himmel spiegelte den Kurs des Bootes beinahe perfekt wider und Nissa konnte die Eintracht zwischen ihnen spüren – ganz so, als wären Äther und Wasser Gefährten auf einer gemeinsamen Reise.

Insel | Bild von Johannes Voss

Dann dachte sie an Ashaya – ihre Elementargefährtin und ein Splitter der Weltenseele Zendikars – und fragte sich nicht zum ersten Mal, weshalb sie einverstanden gewesen war, von ihrer Heimatwelt Abschied zu nehmen und sich auf den Wahnsinn einzulassen, mit diesen Menschen diese Reise anzutreten. Sicher, sie hatten gemeinsam große Dinge vollbracht, und sie fand, dass sie sehr gut zusammen kämpften. Jeder von ihnen ergänzte die Gruppe um einzigartige Fähigkeiten und half dabei, die Schwächen der jeweils anderen auszugleichen. Es gefiel ihr, ein Teil von etwas zu sein, was größer und besser war als sie selbst. In gewisser Weise war es, als wäre man mit der Seele einer Welt verbunden, zu einem höheren Zweck vereint.

Doch in dem rasenden Kampf gegen die Eldrazi hatte sie wenig Gelegenheit gefunden, die gefühlsmäßigen Beziehungen unter den anderen zu begreifen. Und diese Beziehungen waren zweifellos ... kompliziert. Es war mühsam, ihren eigenen Platz in diesem Geflecht aus Gefühlen zu finden. Alles war so anders als die einfache, wortlose Zwiesprache, die sie mit Ashaya geteilt hatte – so mühelos wie eine Berührung.

Wenn sie Ashaya berührte, floss Energie ... Mana ... nein, Leben zwischen ihnen und vereinte sie – es verflocht Nissa mit der natürlichen Essenz Zendikars. Am nächsten war sie daran durch Jaces wortlose Form der Verständigung gekommen, durch die Unmittelbarkeit seiner Gedanken in ihrem Bewusstsein. In der Hitze des Kampfes an der Seite der anderen Planeswalker, wenn Jace ihre Verständigung erleichterte, konnte sie den Manafluss um sie herum kontrollieren. Sie konnte sich in diesem Fluss verlieren und ganz Teil ihrer gemeinsamen Anstrengungen werden. Chandra und sie hatten in diesen Augenblicken ein mächtiges Band geteilt und sich gemeinsam dem Fluss der Magie durch die Welten geöffnet.

Von Angesicht zu Angesicht jedoch – ob nun mit Chandra oder einem der anderen – war es um so vieles schwerer. Die Menschen erwarteten, ihre täglichen Begegnungen auf einer oberflächlichen Ebene abzuhandeln. Genau wie Jace seine Gedankenmagie nicht für seine alltäglichen Unterhaltungen einsetzte, konnte sie nicht erwarten, die gleiche tiefe Verbundenheit bei einem Frühstück in seinem Refugium aufzubauen. Und wenn Chandra so gereizt und verärgert war, dann fürchtete Nissa, dass es sein würde, als öffnete sich eine Schleuse, um ein Flammenmeer zu entfesseln, wenn sie sich der Pyromagierin öffnete.

Sie seufzte und ließ sich von dem Fluss um sich herum treiben, umfangen vom Äther über und dem Wasser unter ihr. Sie spürte das schlagende Herz Kaladeshs, und alles andere war nicht mehr wichtig.


Nissa versuchte, an dieser Verbindung festzuhalten, als Oviya sie in das Gewühl auf Gontis Nachtmarkt führte, doch jeder Schritt vorbei an Erfindern, die ihre neuesten Entdeckungen anpriesen, und an Schmugglern, die ihre illegalen Äthervorräte zu Sonderpreisen verscherbelten, entriss sie ihr ein Stückchen mehr. Der Lärm drückte ihr auf die Ohren, der Geruch dicht gedrängter Körper drang auf ihre Nase ein und Chandra war ein Schmelzofen aus Gefühlen, der seine eigene kleine Blase aus starker Hitze inmitten der Menschenmassen schuf.

Während Frau Pashiri mit noch einem ihrer Kontakte – einem mürrischen Zwerg, dem ein verdächtig nach einem Biss aussehendes Stück Ohr fehlte – darüber sprach, wie sie wohl Zugang zum Dhund erhalten könnte, streckte Nissa zögernd eine Hand nach Chandras Schulter aus. Sie wollte ... Sie war sich nicht sicher. Sie wollte sie irgendwie trösten. Sie wollte einen Teil ihrer Angst auf sich nehmen und – wenn sie denn nur konnte – jene Last mitschultern, die Chandra solche Mühe hatte zu tragen. Doch Hitze strahlte von Chandras Metallrüstung ab und Nissa zog die Hand zurück, wobei sie sich vorstellte, wie die Schleusentore die Feuersbrunst zurückhielten.

„Chandra“, sagte sie stattdessen. „Auf Ravnica hast du mich gefragt ... Du wolltest, dass ich dir helfe ... Du suchtest nach Ruhe.“

Chandra fuhr mit funkelnden Augen zu ihr herum. „Ich will mich nicht beruhigen“, sagte sie mit verkniffenem Gesicht und rauer Kehle. „Ich will meine Mutter finden.“ Ihr Blick glitt eine Weile über Nissas Gesicht – wonach suchte sie bloß? –, ehe sie sich abwandte. „Du verstehst das einfach nicht“, murmelte sie.

Ich schätze, das tue ich wirklich nicht, dachte Nissa. Sie schloss die Augen und versuchte, den Lärm und den Gestank und all die Farben auszublenden, während sie tief Luft holte.

Interessant, dachte sie. Äther hinterließ verschlungene Spuren in ihrem Bewusstsein, von verirrten Windböen verweht und von Lüftungssystemen mitgetragen. Ich frage mich ...

„Nichts“, sagte Frau Pashiri, als der Zwerg in die Dunkelheit einer Gasse eintauchte. „Jeder vermutet, dass der Dhund irgendwo hier ist. Aber entweder weiß niemand, wie man in ihn hineingelangt, oder sie wollen es mir nicht verraten. Könnte ich doch nur ...“ Ihre Stimme verklang, während sie die Menge musterte.

Nissas Lider hoben sich flatternd. „Ich weiß es“, sagte sie.

Frau Pashiris Augen weiteten sich überrascht, aber Chandra setzte eine düstere Miene auf. „Warum hast du denn nichts gesagt? Verdammt, Nissa! Vielleicht wird sie da unten gefoltert. Oder vielleicht ist sie schon tot.“

„Ich weiß.“ Das tat sie: Sie konnte Chandras Furcht und Sorge beinahe so stark spüren, wie sie einst Zendikar gegen die brutale Anwesenheit der Eldrazi hatte ankämpfen spüren. „Ich verberge nichts vor dir. Ich habe es nur gerade erst herausgefunden. Es hat etwas damit zu tun, wie der Äther durch die Stadt strömt. Wenn ich mich konzentrieren kann ...“

„Ist mir egal“, blaffte Chandra. „Bring uns einfach nur dorthin!“

Wenn ich mich konzentrieren kann“, wiederholte Nissa, „kann ich uns vielleicht hinführen. Vielleicht finde ich mich sogar in den Tunneln zurecht.“

Chandra packte sie an den Schultern und schüttelte sie beinahe – die Hitze ihrer Gereiztheit, die gegen das Schleusentor drängte, war noch beängstigender. „Na dann konzentriere dich!“

„Chandra, Liebes“, sagte Frau Pashiri und legte sanft eine Hand auf Chandras Rücken. „Ich glaube, deine Freundin braucht ein wenig Raum.“

Nissa blinzelte. Deine Freundin? Ich bin nicht ...

Ashaya war ihre Freundin gewesen. Zu Ashaya hatte sie nur die Hand auszustrecken brauchen, um eine Verbindung herzustellen. Vollkommen beiläufig und vollkommen natürlich. Mühelos. Mit Chandra – oder Gideon oder Jace – war nichts mühelos. Nicht einmal eine einfache Berührung wie die eben von Frau Pashiri.

Chandra nahm die Hände weg und trat einen halben Schritt zurück. „Oh, Verzeihung.“ Sie starrte Nissa erwartungsvoll an.

Nissa hielt ihrem Blick stand, und plötzlich brannte sich Chandras gesamter Verdruss und Ärger in sie hinein. Ihr kamen die Tränen, und sie schaute weg. „Ich werde es versuchen.“ Sie drehte sich um, kniff die Augen zu und schob ihre Gefühle beiseite, während sie die Finger an die Schläfen legte.

Die Welt breitete sich plötzlich vor ihr aus, wie eine Karte, die auf einem Tisch entrollt wurde. Äther strömte durch die Welt wie ein riesiges Netz aus Flüssen. Hier schwebte er durch den Himmel, dort tropfte er herab, um die Erde zu küssen, manchmal dem Weg der Ströme folgend und manchmal sich durch die Straßen der Stadt windend. Raffinierter Äther, der einen anderen Geschmack auf ihrer Zunge weckte, floss durch Rohre über und unter den Straßen. Kleine Knoten konzentrierten Äthers formten sich an unterirdischen Orten, wo er nicht so ungehindert dahinströmen konnte.

Durch ein Tunnelsystem jedoch konnte Äther sich durchaus voranbewegen. Nicht stolz wie die Ströme, die hoch droben in der Äthersphäre glitzerten, sondern eher als verirrte Wölkchen und kleine Bäche. Nissa hatte es unter ihren Füßen gespürt: ein feines Kribbeln im Vergleich zu dem Rauschen über ihr und um sie herum. Als sie sich auf diesen Teil des Flusses konzentrierte, begann sie, nach den Punkten zu suchen, an denen Äther in die Gänge hinein- und herausströmte.

„Hier entlang“, sagte sie schließlich und deutete nach links.

Frau Pashiri legte den Kopf schräg. „Woher weißt du ...“

Doch Chandra bewegte sich bereits in die Richtung, in die Nissa deutete. „Zeig es mir“, sagte sie. „Wo entlang?“

Nissa eilte ihr nach und steuerte auf ein kleines Gebäude zu, das an der Wand des höhlenartigen Raumes errichtet worden war, der diesen Teil des Marktes beherbergte. Mit einem Blick über die Schulter versicherte sie sich, dass Frau Pashiri noch hinter ihnen war, und sie bahnten sich einen Weg durch die Menge, bis sie eine Stahltür erreichten.

Chandra drückte die Klinke. „Abgeschlossen“, sagte sie.

Frau Pashiri fing an, in den tiefen Falten ihrer Kleidung zu wühlen. „Ich suche eben rasch mein Werkzeug ...“

Ein Stoß aus weißleuchtendem Feuer sprang von Chandras Hand und umfing die Klinke und vermutlich auch den Schließmechanismus der Tür. Nissa musste die Augen vor dem hellen Blitz schließen und spürte die gewaltige Hitze im Gesicht.

„Du erregst Aufmerksamkeit“, murmelte Frau Pashiri.

Chandra trat gegen die Tür und sie schwang auf. „Sollen sie nur kommen“, knurrte sie.

Als nähme er ihre Einladung an, schlenderte ein Berg von einem Mann zu ihnen herüber, gefolgt von einer noch wuchtigeren Ansammlung aus Metallplatten, Drahtwerk und Zahnrädern. Der Mann schob Chandra beiseite und postierte sich zwischen ihr und der halb geschmolzenen Tür. Entweder hatte er Chandras Feuerstoß nicht gesehen oder er war nicht klug genug, sich davor zu fürchten – Nissa vermutete Letzteres. Oder vielleicht ließ ihn auch sein Pflichtgefühl die eigene Sicherheit vergessen.

„He da“, sagte er. „Wohin meinen Sie, dass Sie da gehen?“

Chandras Haar und ihre beiden Fäuste entflammten, als sie den ernsten Blick des Mannes erwiderte. „In den Dhund“, sagte sie. „Geht es da entlang?“

Nissa sah einen Raum hinter der Tür – vollgestellt, aber ungenutzt – und eine Treppe, die nach unten führte. Sie konnte das Kribbeln des Äthers, der aus den Tunneln aufstieg, beinahe schmecken.

„Das ist Privatbesitz“, sagte der Mann scheinbar unbeeindruckt von Chandras feuriger Zurschaustellung. Er hatte zwar Gideons Körperbau, aber nichts von dessen Ausstrahlung oder Humor. Er erinnerte Nissa mehr an die Oger Murasas, und erneut spürte sie ein schmerzliches Sehnen nach ihrem geliebten Zendikar.

„Warum sprechen wir nicht irgendwo anders darüber?“, fragte Frau Pashiri milde, während sie den Mann am Arm nahm und ihn in das kleine Gebäude hineinbugsierte.

Eindeutig fehlte ihm auch Gideons Klugheit – oder Frau Pashiris freundliches Gesicht hatte ihn aus dem Konzept gebracht. Als er den Kopf senkte, um unter der Tür durchzupassen, trat Chandra ihm wohlgezielt in den Rücken und schickte ihn zu Boden. Er schlug hart mit dem Kopf auf und hob ihn auch nicht mehr an. Während Chandra Nissas Hand nahm und sie hineinzog, versuchte der Automat, seinem Herrn zu Hilfe zu kommen. Er war viel zu groß für die Tür, weswegen er sich vorbeugte und die Arme hineinstreckte. Chandra und Frau Pashiri in Richtung der Treppe winkend griff Nissa auf die Magie zu, die durch den Boden unter der Kreatur floss. Ranken brachen durch den Zement und schlangen sich um die Beine der Maschine, während andere vor Nissa nach oben sprossen und dem Apparat die wild umherwedelnden Arme fesselten. Äther zischte aus einem Dutzend winziger Düsen, als die Ranken begannen, den Automaten auseinanderzunehmen.

Nissa folgte den anderen die Treppe hinunter tief unter die Erde und fand sich in der Mitte eines langen Tunnels wieder.

Chandra warf sich der Elfe um den Hals. „Du hast es geschafft!“

Chandras noch immer heiße Rüstung bohrte sich in Nissas Brust, und eine Haarsträhne der Pyromagierin, die noch immer nach Rauch roch, kitzelte ihr die Nase. Und noch eine andere Hitze, das tosende Feuer Chandras grenzenloser Energie, drang auf Nissa ein – der leiseste Hauch einer echten Verbindung. Dann löste sich Chandra von ihr und drehte sich hin und her, um in beide Richtungen des Tunnels zu spähen.

„Wo entlang?“, fragte sie erneut.

„Ich ... habe keine Ahnung“, gestand Nissa.

„Was meinst du? Du hast uns doch schon bis hierher geführt!“

„Wir haben nach den Tunneln unter dem Nachtmarkt gesucht. Ich habe sie gefunden, indem ich dem Ätherfluss unter unseren Füßen gefolgt bin. Hier unten deine Mutter zu finden, ist aber eine vollkommen andere Sache.“

„Folgt mir“, sagte Frau Pashiri und ging nach rechts. „Und schnell! Dieser Automat wird nicht unbemerkt bleiben.“

„Und dann wird er ausgeschlachtet, wie ich den Nachtmarkt so kenne“, sagte Chandra und schenkte Nissa ein schiefes Grinsen.


Erneut schwirrte Nissa der Kopf. Chandras hektischer Bewegungsdrang, angetrieben durch den verzweifelten Wunsch, ihre Mutter zu finden, brachte Nissa völlig außer Atem. Jedes Mal, wenn Frau Pashiri anhielt, um eine Abzweigung zu begutachten, tigerte Chandra auf und ab, während ihre Hände Flammenstöße abgaben, weil sie immerzu die Fäuste ballte. Nissa fragte sich, ob sie sie in ein nutzloses Netzwerk aus Versorgungstunneln für das alte Kraftwerk geführt hatte, denn bislang deutete nichts auf ein Geheimgefängnis hin. Menschen, die wie zwielichtige Renegaten des Nachtmarktes aussahen, hielten sehr beiläufig Wache an einigen der Durchgänge. Sie waren leicht dadurch abzulenken, dass Frau Pashiri ein kleines biotronisches Tier oder einen Servo durch die Tunnel huschen ließ.

„Das kann nicht der richtige Ort sein“, sagte sie. „Es ist zu einfach. Sie sind zu nachlässig für eine hochgerüstete Geheimpolizei.“

Chandra lachte. „Unterschätze nie die menschliche Dummheit.“

„Sie sind auf der Hut“, fügte Frau Pashiri hinzu. „Ihre Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Daher jagen sie jedem kleinen Geräusch in der Dunkelheit nach.“

Beide Erklärungen klangen plausibel, aber Nissa war nicht überzeugt. Sie schloss einen Moment die Augen und holte tief Luft, um zu versuchen, jene Ruhe wiederzufinden, die sie auf dem Fluss gespürt hatte.

Chandra riss sie durch ein Zerren an ihrem Arm wieder zurück ins Hier und Jetzt. „Keine Zeit zum Meditieren“, sagte sie.

Nissa blickte düster drein. „Vielleicht solltest du auch einmal tief durchatmen“, sagte sie so sanft, wie sie nur konnte.

„Vielleicht später.“

„Nur ein Atemzug. Öffne dich dem Fluss der Energien durch die Welt. Spüre ihre Weite.“

„Ich sagte: ‚Später!‘“ Chandra stapfte den Gang hinunter.

Nissa eilte ihr nach, gefolgt von Frau Pashiri.

„Du bist so verschlossen, Chandra. Es ist, als hättest du dich um all deinen Schmerz und all deine Angst zusammengerollt und würdest sie dir fest gegen die Brust pressen.“

Chandras Schmerz und Wut brachen erneut als Flammen hervor. „Natürlich bin ich das!“, rief sie. „Ich kann mich nicht entspannen. Ich kann mich nicht beruhigen. Nicht, solange sie meine Mutter haben!“

„Aber es wird dir besser gelingen, sie zu finden –“

Chandra fuhr zu ihr herum und Feuer loderte gefährlich nahe an Nissas Gesicht. „Sie ist meine Mutter! Zwölf Jahre lang habe ich sie für tot gehalten! Verstehst du das nicht? Hast du überhaupt eine Mutter?“

Nissa blieb unvermittelt stehen. Etwas hatte nach ihrer Brust gegriffen und drückte nun zu, sodass ihr sämtliche Luft aus den Lungen entwich.

Chandras plötzlicher Zorn verebbte, als sie sich der Wirkung ihrer Worte bewusst wurde. „Es tut mir leid ...“

„Hast du je Bala Ged gesehen“, fragte Nissa, „als du auf Zendikar warst?“

Chandra schüttelte den Kopf und blinzelte.

„Das war die Heimat der Joraga, meines Volkes. Und als Ulamog aus seinem Kerker ... entkam, war es der erste Ort, der zerstört wurde.“ Sie schluckte. „Staub.“

„Also sind ... deine Eltern ...?“

„Sie sind nicht fort ... Das lehren uns die Ältesten. Die Geister der Generationen, die uns vorangingen, leben unter uns. Ich schätze, sie helfen denen, die den Wiederaufbau wagen wollen ...“ Nissas Stimme versagte. Das letzte Mal, dass sie ihre Mutter gesehen hatte, war lange vor dem Erwachen Ulamogs gewesen. Sie wusste, dass einige der Joraga überlebt hatten. Doch sie hatte nie versucht, ihre Mutter zu finden.

Ehe sie wusste, wie ihr geschah, zog Chandra sie in eine weitere Umarmung und quetschte ihr die Arme an der Seite fest. Sonderbarerweise schien der Druck auf ihrer Brust nachzulassen.


Frau Pashiri stand an einer Wegkreuzung zweier völlig gleich aussehender Tunnel irgendwo tief in dem Labyrinth unter Gontis Nachtmarkt.

„Ich weiß, dass es nicht hier entlang geht“, sagte sie und deutete nach rechts. „Und es ist auch nicht der Weg, auf dem wir gekommen sind.“ Sie deutete mit dem Daumen über die Schulter. „Aber es könnte jeder der anderen beiden sein.“

„Wonach suchen wir denn überhaupt?“, fragte Chandra. „Führt irgendeiner dieser Tunnel irgendwohin?“

„Wenn nicht“, sagte Frau Pashiri, „gäbe es kaum einen Grund, sie zu bewachen. Ich habe herauszufinden versucht, wohin sie führen, indem ich mir gemerkt habe, welche Tunnel wichtig genug sind, um bewacht zu werden. Aber ich glaube, wir laufen einfach nur im Kreis herum am Rand der Anlage entlang. Ich finde keinen Weg in die Mitte.“

Chandra schickte einen Feuerstoß in den Tunnel zur Rechten und schrie: „Nein!“ Das Fauchen der Flammen und ihrer Stimme hallte durch die engen Gänge. „Du hast uns im Kreis geführt, während sie meine Mutter haben?“ Sie wirbelte herum und packte erneut Nissas Schultern. „Nissa! Mach dein Ding. Erspüre den Ätherfluss oder was auch immer. Finde es heraus!“

„Ich werde es versuchen“, sagte Nissa und keuchte unter der Hitze von Chandras Händen. „Es ist ... anders ... von hier unten.“

Chandra trat zurück, um ihr Freiraum zu lassen.

Nissa stand in der Mitte der Kreuzung und versuchte, zu lauschen, zu spüren und sich selbst zu öffnen – für den Hauch der Luft, die sich um sie herum bewegte, für die Erde über und unter sich, für den Fluss des Äthers, für die Leylinien, für die Magie, die alles durchdrang. Doch kein Windhauch regte sich, die nächsten Ätherknoten hingen reglos in der Luft und die Erde weigerte sich, ihre Geheimnisse preiszugeben.

„Rohre“, platzte es aus Chandra heraus. „Sie brauchen raffinierten Äther in ihrem kleinen Geheimversteck oder Gefängnis oder was auch immer da unten ist. Gibt es Rohre?“

„Ja“, sagte Nissa und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf das Gefühl raffinierten Äthers – ein konzentrierter Strom gleich über den Tunneln. „Hier entlang“, sagte sie und deutete in Richtung des Stroms – in den Tunnel zur Linken.

Chandra machte sich in den Tunnel auf. Nissa und Frau Pashiri hatten Mühe, ihr zu folgen, bis sie sie schließlich an der nächsten Kreuzung einholten ... Warte mal.

„Chandra! Zurück!“, rief Nissa. Das Rohr hatte die Richtung geändert und war plötzlich nach rechts abgeknickt, doch es gab keinen Tunnel darunter hinweg. Nur blanke Steinwände.

„Ja“, sagte sie laut. Die Wände der Tunnel waren aus Stein, aber mit den verschlungenen Kurven und Wirbeln verziert, wie sie sämtliche Architektur aufwies, die sie in der Stadt gesehen hatte. Säulen – vermutlich nur zur Zierde und nicht tragend – ragten entlang des Tunnels in regelmäßigen Abständen aus den Wänden wie Reliefs hervor. Aus jeder rankte sich geschwungenes Drahtwerk und verband sie so alle miteinander, um über dem blanken Stein dekorative Bögen zu bilden.

War es Zufall, dass das Rohr ausgerechnet über einem dieser Bögen zur Seite hin abknickte?

„Was?“, fragte Chandra. Sie war zu Nissa und Frau Pashiri zurückgekehrt und trommelte gleichzeitig mit den Fingern und wippte mit den Füßen. Das erzeugte tatsächlich einen recht interessanten Rhythmus, wie Nissa bemerkte – ob Chandra dies nun beabsichtigte oder nicht.

„Könnte sich hier eine Geheimtür befinden?“, fragte Nissa und deutete auf die Wand.

Chandra trat an sie heran und drückte die Handflächen dagegen ... und stolperte nach vorn, um durch den Stein zu verschwinden, als wäre er Wasser. Oder eine Illusion.

Sie streckte den Kopf wieder heraus, was den Anschein erweckte, als wäre an dieser Stelle eine Jagdtrophäe an die Wand gehängt worden.

„Keine Geheimtür“, sagte sie. „Aber auch keine Wand. Kommt schon!“


Das Netzwerk aus Tunneln hatte sich vollkommen verändert. Statt scheinbar verlassener Zugangstunnel bewegten sie sich nun durch saubere, gut gewartete und hell erleuchtete Gänge, die offenbar neueren Ursprungs waren. An den Seiten befanden sich Türen. Die meisten davon standen offen und gaben den Blick auf Räume frei, die wie die Arbeitszimmer von Bürokraten aussahen – auf unheimliche Weise erinnerten sie sie an Jaces Arbeitszimmer voller Papiere auf Ravnica.

Aber wer arbeitete in solchen Räumen hier unten?, fragte sich Nissa.

Es stand außer Frage, dass sie nun auf dem richtigen Weg waren, und Nissa rechnete damit, jeden Augenblick auf ein Gefängnis voller grimmiger Wärter zu stoßen. Doch es gab kein Zurück. Sie führte sie über jede Kreuzung und folgte dem Weg der Ätherrohre. Bald erreichten sie eine Gabelung, an der ein Rohr aus der Decke kam, sich grazil die Seitenwand des Gangs hinunterwand und in der Tiefe unter ihnen verschwand.

„Es muss ganz in der Nähe sein“, sagte Nissa. „Andere Rohre laufen hier ebenfalls zusammen ... Überall um uns herum, um genau zu sein.“

„Ähm, Nissa?“, machte Chandra.

Nissa schaute auf und erblickte gepanzerte Gestalten, die sich ihnen von allen Seiten näherten. Das blaue Leuchten der Ätherrohre spiegelte sich auf ihrer metallenen Rüstung und ihren gezückten Klingen.

Eine der Gestalten streckte die Hand aus und zog sich eine Maske aus Filigran vom Gesicht. Nissa sah zuerst seine glühenden blauen Augen, wie Fenster in eine lichterfüllte Ewigkeit. Sie waren von vernarbter Haut umgeben, die beinahe so blau wie diese seltsam leuchtenden Augen wirkte.

Chandras Gefühle brachen sich in einer lodernden Feuersbrunst Bahn, die im Tunnel auf den vernarbten Mann zuraste und eine recht gute Vorstellung davon vermittelte, wie er sich diese Narben wohl zugezogen haben mochte. Doch das Feuer verschwand, als es ihn erreichte, und Nissa sah, wie die letzten Flammenzungen in die Hand des Mannes gesogen wurden – wahrscheinlich durch ein ätherbetriebenes Gerät an seinem Arm.

„Nicht dieses Mal, Pyromagierin“, sagte er. Er fasste an die Wand und machte irgendetwas – und gerade, als Chandra auf ihn zustürmen wollte, prallte sie gegen eine Wand, die vor ihr aus dem Boden schoss.

Wir sitzen in der Falle! Nissa hörte ihr eigenes Herz schlagen.

Ähnliche Wände umgaben sie nun von allen Seiten und bildeten eine winzige Kammer, die fest abgeschlossen schien. Auf einer Seite befand sich etwas, was wie eine Tür aussah, einschließlich einer dicken Glasplatte, die – natürlich – in reich verziertes Drahtgeflecht eingefasst war.

Selbst der Tod besitzt hier große Anmut. Der sonderbare Gedanke huschte durch Nissas Verstand.

Chandra hämmerte mit der Faust gegen die Tür und erzeugte einen gelbroten Flammenstoß, der augenblicklich zu blauen Funken verwandelt wurde, die harmlos davonhuschten. Sie presste das Gesicht gegen die Scheibe und rief: „Baral!“

Das ist also Baral, dachte Nissa.

Sie machte überrascht einen Schritt nach hinten, als das Gesicht des Mannes auf der anderen Seite des Fensters erschien. Nissa konnte seine Narben nun besser erkennen. Eine Hälfte seiner Nase, eine Wange und seine Stirn waren von jenem charakteristischen Narbengewebe überzogen, das auf schwere Brandwunden hindeutete. Verachtung breitete sich auf seinem Gesicht aus und verzerrte seinen Mund.

„Pyromagierin.“ Er spie das Wort aus, das durch das dicke Glas kaum zu hören war. „Baan sagte, dass du zurück bist. Ich wollte es nicht glauben. Ich weiß nicht, wie du mir letztes Mal entwischt bist oder wo du dich all die Jahre verkrochen hast, aber das wird nicht noch einmal vorkommen.“

Chandra warf sich erneut gegen die Tür und hämmerte mit beiden flammenumhüllten Fäusten gegen die Tür, erzeugte damit aber nur weitere blaue Funken. Irgendeine Art Gegenzauber, dachte Nissa. „Ich bringe dich um!“, schrie Chandra. „Du Bastard!“

Baral zeigte keine Regung ob ihres Ausbruchs. „Du bist erbärmlich, kleine Nalaar. Eine widerliche Laune der Natur.“

Nissa bezweifelte, dass Baral es merkte, doch sie konnte sehen, wie sehr seine Worte Chandra kränkten und irgendeinen wunden Punkt in ihrer Vergangenheit trafen. Sie trat näher, um Chandra Beistand zu leisten, und erwiderte Barals Funkeln.

„Ich habe dir doch schon als kleines Kind in den Hintern getreten!“, schrie Chandra. „Warte nur, bis du siehst, wozu ich jetzt fähig bin!“

„Brenne nur, so viel du willst. Du stirbst nur umso schneller, sobald du alle Luft verbrannt hast. Und deine Freunde auch.“

Chandra warf einen gehetzten, hilflosen Blick über die Schulter zu Nissa. Ihr Schmerz und ihre Wut waren derart wild, so heiß, dass ein Teil von Nissa zurückweichen wollte, doch sie streckte die Hand aus und legte sie auf Chandras Rücken – genau wie Frau Pashiri es getan hatte.

Eine Verbindung baute sich zwischen ihnen auf und Nissa spürte, wie Chandras Feuer tief in ihrer Seele loderte. Sie zog die Hand weg und machte einen Schritt zurück.

„Ob nun schnell oder langsam“, fuhr Baral fort, „du wirst hier sterben. Ich habe lange hierauf gewartet, Pyromagierin.“ Er wandte sich ab, schob seine Maske zurück an ihren Platz und machte ein paar Schritte zurück in den Gang, aus dem er gekommen war.

„Warte!“, rief Chandra. „Meine Mutter. Lass sie gehen. Dein Groll gilt mir. Nissa, Frau Pashiri – sie kannst du auch gehen lassen. Töte mich – nur mich.“

Baral drehte sich nicht um und seine Stimme war kaum zu hören. „Nein.“

Chandra brüllte, doch alle Worte waren aus ihrem Geist getilgt, und eine Woge aus Feuer erhob sich aus ihrem Leib und schlug gegen die Tür. Wie das Meer, das sich am großen Damm von Seetor brach, erzeugte sie eine brausende Gischt aus blauen Funken, ehe sie zurück in Chandras Richtung brandete.

Nissa duckte sich und warf ihren Umhang über Frau Pashiri, während sie versuchte, die ältere Frau so gut es ging mit ihrem Körper zu schützen. Die Hitze prallte ihr gegen den Rücken und schleuderte sie zu Boden. Einen Wimpernschlag später war es vorbei. Sie rollte sich auf den Rücken, um etwaige Flammen auf ihrem Umhang zu ersticken, und setzte sich dann auf.

Frau Pashiri schien unverletzt. Chandra kniete mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern am Boden. All ihr Feuer war verloschen.

Ich bin am Zug, dachte Nissa.

Sie ging an Chandra vorbei und legte die Hand auf die Tür. Luftdicht – das konnte sie sofort spüren. Und die Magie, die Chandras Zauber neutralisierte, war nicht nur auf Feuer ausgelegt. Vielmehr handelte es sich um eine pervertierte Abart eines Gegenzaubers, die in die Tür eingearbeitet war.

Dann also nicht die Tür.

Sie ließ sich auf ein Knie sinken und berührte den Boden, sandte ihre Sinne aus und suchte nach Wurzeln und Ranken, die den Boden durchbrechen konnten. Mit genügend Zeit konnte selbst der kleinste Schössling Zement durchdringen – und mithilfe ihrer führenden Hand würde eine Pflanze diese Tür beinahe sofort aus den Angeln heben können.

„Was ist das für ein Geruch?“, fragte Frau Pashiri.

Chandra tippte ihr auf die Schulter. „Nissa, sieh nur.“

Nissa drehte sich um und folgte Chandras ausgestrecktem Finger zur Decke. Aus einer winzigen Öffnung – einer von vielen, die gleichmäßig über den Raum verteilt waren – drangen winzige Schwaden eines grünen Nebels in den Raum, der rasch nicht mehr zu sehen war, sobald er tiefer sank. Nun konnte sie es auch riechen: beißend und übel, ein vollkommen unnatürlicher, chemischer Gestank. „Gift“, sagte sie. „Er will wohl, dass wir schneller ersticken.“

Chandra ließ sich zurück auf den Boden sinken und zog die Knie an die Brust.

„Es ist schon gut“, sagte Nissa und kehrte auf ihre Position an der Tür zurück. „Ich hole uns hier raus ...“

Doch es gelang nicht. Der Boden war von derselben Dämpfungsmagie durchsetzt wie Tür und Wände. Sie konnte ihre Sinne, ihren Willen, ihren Ruf an die Erde nicht aussenden. Nichts Lebendiges wuchs in ihrer Reichweite.

Die Enge in ihrer Brust kehrte zurück. Es war schlimm genug, wie ein Tier in der Falle eines Jägers gefangen zu sein. Doch nur ein einziges Mal zuvor hatte sie sich derart allein gefühlt, so vollkommen abgeschnitten vom Leben und der Seele der Welt um sie herum: als der Dämon Ob Nixilis die Leylinien auf Zendikar unterbrochen und ihr Ashaya entrissen hatte.

Sie setzte sich hin und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand, um nach Luft zu schnappen, während sie versuchte, ihren rasenden Herzschlag zu beruhigen.

„Das Atmen wird schwerer“, sagte Chandra leise.

Nissa blickte sie an. „Ich weiß nicht, was ich tun soll“, sagte sie.

„Jace hätte einen Plan.“ Chandra versuchte ein Lächeln, doch es erstarb ihr auf den Lippen.

„Dieser ... Baral? Er hat uns eine ganz schöne Falle gestellt. Unsere Zauber zu neutralisieren und auf uns zurückzuwerfen ...“

„Er hat seine Karriere darauf aufgebaut, Leute wie Chandra zu verfolgen“, sagte Frau Pashiri. „Es passt, dass er sein Versteck mit Fallen gespickt hat, um Vergeltungsmaßnahmen seiner Opfer vorzubeugen.“

„Gideon würde wahrscheinlich einfach die Tür einschlagen“, sagte Chandra. „Sie würde wahrscheinlich vor ihm Schaden nehmen.“

Nissa schüttelte den Kopf. „Ich bin völlig abgeschnitten, Chandra. Ich kann nicht einmal die Pflanzen in der Nähe erreichen. Ich kann kein Elementar herbeirufen. Ich weiß nicht, was ich tun soll.“

„Vielleicht taucht Liliana auf und rettet uns. Wie sie es auf Innistrad getan hat.“

Chandra stand die Verzweiflung so offen ins Gesicht geschrieben, dass Nissa sie in den Arm nehmen und an ihre Brust drücken wollte. Selbst wenn das bedeutete, vom Feuer ihres Aufruhrs umfangen zu werden. Selbst wenn es bedeutete, verbrennen zu müssen ...

Natürlich.

„Versuche etwas mit mir“, sagte sie, stand auf und streckte Nissa eine Hand hin.

Chandra nahm ihre Hand, und Nissas Blut wurde heiß. Anstatt die Schleusentore zu schließen, ließ sie das Feuer durch sich hindurchströmen. Sie spürte alles: den Zorn, die Verzweiflung, die aufgewühlten Gefühle, ihre Mutter zu finden und sie wieder zu verlieren ... und einen winzigen Funken Hoffnung. Und sie griff in sich hinein und fand etwas, was sie im Gegenzug anbieten konnte: einen Hauch tiefer Ruhe, eine Offenheit und den Geschmack der Seele dieser Welt. Chandras Augen weiteten sich.

„Lass mich dein Feuer anfachen“, sagte Nissa. „Vielleicht können wir gemeinsam Barals Gegenzauber überlasten.“

Chandras Miene hellte sich auf. „Einen Versuch ist es wert!“, sagte sie. „Diese Verbindung ...“

„Eine konzentrierte Flamme“, sagte Nissa. „Keine weitere große Flammenwelle. Das ist zu gefährlich. Klein, aber so heiß, wie es dir möglich ist, geradewegs auf die Kante der Tür. Vielleicht können wir die Angeln schmelzen.“

„Fangen wir an! Pump mich auf!“

Chandras Aufregung war so greifbar wie der Rest ihrer Gefühle. Nissa holte tief Luft und zog Mana aus der lebenden Erde um sich herum. Zumindest das gelang ihr. Sie konnte ihre Magie zwar nicht nach draußen richten, aber immerhin konnte sie die Magie in diesen Raum hineinziehen.

Ihre Lungen begannen zu brennen. Das Gift.. Sie hustete und lockerte ihren Griff um das Mana, das sie festhielt. „Los“, keuchte sie.

Chandra versuchte einen ähnlichen, erdenden Atemzug, begleitetet von dem unbeholfenen Versuch einer Haltung, die sie wahrscheinlich von den Mönchen auf Regatha gelernt hatte. Meine liebe Chandra, dachte Nissa. Konzentration liegt dir wirklich nicht.

Doch ein Gleißen wie ein Dolch erschien in Chandras Hand, klein und kontrolliert. Nissa begann, ihr Mana zu Chandra hin zu leiten, und die Klinge wurde heller und heißer, bis sie blendend weiß war. Grinsend richtete Chandra sie auf ihr Gefängnis und versuchte, sie in den Türrahmen zu drücken.

Blaue Funken flogen wie die eines Schweißers zu Chandra zurück, und sie sah aus, als spannte sie jeden Muskel an, um das Feuer am Lodern zu halten und es in die Türdichtung hineinzutreiben.

Einen Augenblick lang schien es, als hätte sie Erfolg. Chandras Arm bewegte sich nach vorn ... doch dann gleißte ein blauweißes Licht mit einem Knall wie von einer Peitsche auf und Chandra stolperte zurück in Nissas Arme, während die letzten Flammen in ihrer Hand davonstoben.

„Verdammt!“, rief sie. „Verdammt sollst du sein, Baral! Verdammtes Konsulat! Verdammtes Kaladesh! Warum zum Teufel bin ich nur hierher zurückgekehrt? Verdammt, verdammt, verdammt!“ Jedes Wort wurde von einem Faustschlag und einem Wirbel blauer Funken gegen die Tür begleitet.

Sie drehte sich um und ließ sich zurück auf den Boden sinken. Die gesamte Wut in ihrem Gesicht zerfloss zu Traurigkeit.

„Wie konnte das alles nur so schiefgehen?“, klagte sie.

„Warum bist du hierhergekommen?“, fragte Nissa. „Was hast du gehofft, hier zu finden?“

„Schmerz. Ich weiß es nicht. Liliana meinte ... Ich weiß es nicht.“ Einen Augenblick lang kaute sie sich auf der Unterlippe herum. „Warum hast du dich denn den Wächtern angeschlossen, Nissa?“

„Was?“

„Du bist doch so eng mit Zendikar verbunden, oder? Warum bist du dann fortgegangen? Warum bist du mit uns Menschen mitgekommen und schlägst dich mit diesem ganzen Mist von uns herum?“

„Gemeinsam sind wir stärker“, sagte Nissa. „Wir können diese Stärke nutzen, um anderen Welten zu helfen, so wie wir Zendikar geholfen haben. Ich möchte keine andere Welt so leiden sehen wie Zendikar.“

„Gemeinsam stärker. Das ist es doch, was Liliana gesagt hat, oder? Nein, ich glaube nicht.“

„Was meinst du?“

Chandras Blick ruhte auf Frau Pashiri, die sich an die gegenüberliegende Wand gelehnt hatte und versuchte, ihre Kräfte zu schonen. „Wir sind Planeswalker, oder? Und das bedeutet, dass es leicht ist, sich einsam zu fühlen ... Abgeschnitten, wie du vorhin sagtest. Es wird immer dazu führen, dass wir unsere Familien zurücklassen. All diejenigen, die wir lieben. Ich habe meine Mutter und Frau Pashiri gefunden, aber ich glaube nicht, dass ich jemals für immer auf Kaladesh bleiben könnte. Wir sind Planeswalker – und die Wächter sorgen dafür, dass wir uns nicht mehr allein fühlen.“

Nissa blinzelte. „Dass wir ein Teil von etwas sind, was größer ist als wir selbst ...“

„Nein. Nur ein Teil von irgendetwas. Zusammen. Eine Familie zu haben, ganz gleich, auf welcher Welt wir uns befinden.“ Sie lächelte schwach. „Freunde zu haben.“

Nissa versuchte, sich daran zu erinnern, wen sie zuletzt als Freund betrachtet hatte. Nicht Ashaya, die Seele Zendikars, sondern eine Person.

Mazik? Damals, bevor ich Zendikar überhaupt verlassen habe. Bevor –

Chandra war wieder auf den Beinen und ihr Gesicht war dicht vor ihrem. „Es geht nicht nur darum, das Multiversum zu retten. Es geht darum, einander zu retten. Einander zu helfen. So wie du hierhergekommen bist ... Meinetwegen. Um mir dabei zu helfen, meine Mutter zu finden.“

„So etwas war mir bislang fremd ...“

Chandra legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Das bedeutet mir viel, Nissa, Danke.“

Noch während Nissa nach einer passenden Erwiderung suchte, ging Chandra an ihr vorbei und kniete sich neben Frau Pashiri.

„Wie geht es dir?“

„Es geht schon, Kindchen.“

„So sieht es aber nicht aus.“ Sie blickte mit vor Sorge gerunzelter Stirn zu Nissa auf. „Du solltest gehen.“

„Was?“

„Wir sind Planeswalker. Du solltest einfach weggehen.“

„Was wird aus dir?“

Chandra lächelte, als ihr Tränen in die Augen stiegen und sie den Kopf schüttelte. „Ich werde hier bei Frau Pashiri bleiben. Ich glaube, das würde Mutter gefallen.“

„Unsinn, Kindchen“, sagte Frau Pashiri. „Wenn ihr irgendeine Möglichkeit habt, hier zu verschwinden, dann solltet ihr beide gehen – selbst ohne mich.“

„Nein, ich kann dich hier nicht allein sterben lassen.“

Frau Pashiri nahm Chandras Hände. „Geh, Chandra. Geh. Ich habe ein langes, glückliches Leben geführt. Ich habe meinen Partner vor Jahren begraben. Ich bin bereit.“

Chandra schüttelte weiter den Kopf. Ohne Frau Pashiris Hand loszulassen, setzte sie sich neben sie.

„Chandra, du solltest deine Mutter finden“, sagte Nissa. „Sie retten. Ich werde hier bei Frau Pashiri bleiben.“

Chandra lächelte und schüttelte den Kopf. „Du bist eine gute Freundin, Nissa.“

Das ergibt alles keinen Sinn, dachte Nissa. Wir sind Planeswalker. Wir sind ein Teil der Wächter. Wir haben geschworen, das Multiversum zu beschützen – wir können so viel Gutes für so viele Menschen tun.

Doch ich will einfach nur hierbleiben.

Sie setzte sich neben Chandra und Frau Pashiri.

Bei meiner ... Freundin.


Kaladesh-Storyarchiv
Planeswalker-Profil: Chandra Nalaar
Planeswalker-Profil: Nissa Revane
Weltbeschreibung: Kaladesh