Was bisher geschah: Die Hand, die alles bewegt

Die Wächter kamen nach Amonkhet, um das finstere Ränkespiel des bösartigen Drachenplaneswalkers Nicol Bolas aufzudecken. Stattdessen fanden sie eine blühende Zivilisation auf der Höhe ihrer Macht vor, über die großmütige Götter wachen. Gideon Jura hatte viele Fragen über diese Welt, doch die Anwesenheit der Götter zog seine Aufmerksamkeit und Neugier am stärksten auf sich.

 


Still ging ich den Pfad entlang und folgte Oketra. Die Göttin glitt leichtfüßig voran über die mit Kalkstein gepflasterte Straße und strahlte in beinahe greifbaren Wellen Ruhe aus. Der unbarmherzige Schein der beiden Sonnen spielte mit den Spitzen ihrer Ohren und brach sich in tanzenden Sprenkeln sanften Lichtes auf ihrem Weg und den glänzenden Gebäuden und triumphierenden Monumenten, aus denen Naktamun bestand.

Die Menschen wandten sich uns zu, während wir vorübergingen, denn sie spürten Oketras Gegenwart wohl, noch ehe sie uns sahen. Staunen erfüllte mich, als sie die Köpfe senkten und ehrfürchtig lächelten, und mein Atem stockte, als die Göttin ebenfalls den Kopf neigte. Der Klang sanft gemurmelter Worte hallte leise und tief wider, sodass nur diejenigen sie verstehen konnten, an die sie gerichtet waren. Es gab weder Unterwürdigkeit noch Furcht in der Menge angesichts einer allmächtigen Präsenz. Sie sprach mit den Menschen und brachte ihnen mit warmem, durchdringendem Blick Ermutigung und Zuversicht.

Ein Kind rannte auf sie zu und legte schüchtern eine Hand auf ihre Robe. Sie hielt inne und beugte sich wie Schilf, um mit einem gewaltigen Finger über das dunkle Haar des Jungen zu streichen. Ich sah zu, wie das Kind etwas murmelte. Sein Gesicht war fast im Stoff vergraben und Sorge oder Furcht legten seine Stirn in Falten. Oketra lächelte strahlend und gütig. Der Junge blickte auf, ihre Blicke trafen sich und die Sorge des Kindes war einem Lächeln und einem entschlossenen Nicken gewichen. Es wandte sich um und rannte zurück zu seinen Freunden. Das aufgeregte Flüstern darüber, was es empfangen hatte, ließ die anderen ihm stürmisch auf die Schultern klopfen und ihm den Kopf tätscheln.

So sollte es sein.

Und dennoch ... In meinem Hinterkopf nagten Chandras Misstrauen und Nissas Neugier an mir. Sie hatten recht damit, vorsichtig zu sein. Diese Welt gehörte Nicol Bolas, und trotz seiner Abwesenheit lag seine Gegenwart über allem hier. Ich warf einen Blick auf die gewaltigen Hörner in der Ferne, die an den Gebäuden in der Nähe vorbei zu sehen waren – eine drohend aufragende Silhouette, die den Horizont verunstaltete. Während ich Oketra folgte, erhaschte ich Gesprächsfetzen und gelegentliche Erwähnungen des Gott-Pharaos. „Möge seine Rückkehr bald bevorstehen, und mögen wir uns als würdig erweisen.“ Der ganzen Stadt wohnte eine Starrheit und Struktur inne, die gleichzeitig beeindruckend und besorgniserregend war – ein Zusammenfluss aus Ruhm und Erreichtem vor einer lauernden Unnatürlichkeit und Beklemmung.

Doch dann waren da die Götter ... Ich schüttelte den Kopf. Meine Gedanken drehen sich im Kreis.

Ich erkannte, dass mein Nachdenken mich meine Schritte hatte verlangsamen lassen, und schaute nach vorn. Dort stand Oketra, die angehalten hatte und zurückblickte. Ich trottete los, um sie einzuholen. Ein ungewohntes Gewicht schlug mir im Laufen gegen die Brust, und meine Hand griff nach der goldenen und blauen Kartusche, die mir um den Hals hing. Der erste Schritt deiner Reise durch die Prüfungen, hatte Oketra mir gesagt.

Wir bogen um eine Ecke, und ich fand mich am Rande eines großen Platzes voller Menschen. Männer und Frauen, Aviore und Schakale, selbst ein paar Naga und Minotauren hatten sich um lange, niedrige Tische versammelt, zwischen denen zahllose Gesalbte umhergingen und große Platten voller Unmengen von Essen umhertrugen. Ich bemerkte, dass all diese Geweihten Kartuschen trugen, die aus drei Segmenten bestanden.

Eine Feier vor der nächsten Prüfung.

Ich schaute zu Oketra auf, und ihre blauen Augen fanden die meinen.

Diese Saat bereitet sich auf die Prüfung des Ehrgeizes vor.“ Oketra blinzelte nicht, doch ihr Starren war trotzdem beruhigend. „Wenn du dich wahrlich den Prüfungen stellen willst, so ist dies der Ort, an dem du beginnst.

Bestätigend neigte ich den Kopf. Oketra lächelte und erwiderte das Nicken, und wir wandten uns zurück zu den Geweihten. Sie hatten Oketra bemerkt, und viele nickten oder knieten ehrfürchtig. Sie lächelten das Lächeln desjenigen, der gerade einen alten Freund wiedergetroffen hatte. Ein junger Mann erhob sich von seinem Sitzplatz, blickte zu ihr auf und grinste dann, als er auf uns zurannte, um dem stummen Ruf der Göttin zu folgen.

„Sei gegrüßt, Kytheon! Ich bin Djeru von der Saat des Tah.“ Der junge Mann schlug mir mit beiden Händen auf die Schultern, blickte mir geradewegs in die Augen, lächelte strahlend und küsste mich auf beide Wangen. Ungeschickt erwiderte ich den Gruß.

„Du kannst mich Gideon nennen. Einigen fällt das leichter.“

Djeru ließ einen Arm sinken und beugte sich verschwörerisch vor. „Aber welches ist der Name in deinem Herzen?“

Ich stockte. „Seit langer Zeit nun ist es Gideon.“

„Und heute Abend?“

Neben mir strahlte Oketras Wärme, und ich runzelte die Stirn. „Da bin ich mir weniger sicher.“

Djeru lachte. „Dann bist du ein Rätsel. Ich mag Rätsel.“

Ich überlasse dich dieser Prüfung, Kytheon.

Ich sah auf, doch Oketra war bereits verschwunden. Djeru schüttelte den Kopf. Sein Lächeln war so breit wie zuvor. „Ich werde mich nie daran gewöhnen, wie Oketra sich bewegt. Ein goldener Wirbel, ein Sonnenstrahl vom Gott-Pharao selbst ... Möge seine Rückkehr bald bevorstehen.“

„Und mögen wir für würdig befunden werden“, antwortete ich einen Herzschlag später, als dass es ein Reflex hätte gewesen sein können. Djeru schien es jedoch nicht zu bemerken, während er mich zu der Feier hinbugsierte.

„Du musst tatsächlich etwas Besonderes sein, wenn Oketra selbst dich zu uns bringt. Und der Zeitpunkt ist gerade richtig! Erst gestern wurde unsere Anzahl um einen verringert.“ Ein leichtes Zucken in Djerus Griff um meinen Arm ließ mich ihm ins Gesicht blicken, doch er offenbarte nichts weiter hinter seinem breiten Grinsen. „Wenn du dich gemeinsam mit uns Bontus Prüfung stellst, kannst du unserer Saat vielleicht helfen, unser Gleichgewicht wiederzufinden.“

Ohne Vorwarnung streckte Djeru ein Bein vor mir aus, eine Hand griff noch immer meinen Arm und mit der anderen schubste er mich. Ich stolperte, drehte mich jedoch instinktiv und zog meinen Arm frei, während ich ihm eine Hand gegen die Brust drückte und ihn zurückstieß. Wir standen da und starrten uns einen Augenblick lang an. Dann hob er eine Hand und winkte mich auffordernd zu sich heran.

Langsam glitt ein Lächeln über mein Gesicht.

Wir rangen kurz miteinander und tauschten einen Wirbel von Schlägen aus. Djeru kämpfte mit einer Kraft und Konzentration, die seine frühere lockere Erscheinung Lügen strafte, und bevor ich michs versah, warf er mich auf den Rücken. Das gleiche breite Lächeln kehrte auf sein Gesicht zurück, und ich lachte. Zu oft Mechakolosse und Sandwürmer zerstückelt und nicht genug gute alte Ringkämpfe gehabt.

Djeru hievte mich auf die Füße. „Du bist gut. Aber du könntest besser sein. Komm mit.“

Djeru geleitete mich durch die Feierlichkeiten und deutete auf die gewaltige Auswahl an Speisen. Er zeigte mir die verschiedenen Spiele, die hier gespielt wurden: Mancala, Senet und ein Spiel, das den Namen des Gottes Rhonas trug. Ich sah zu, wie die Geweihten zankten und jubelten, in den Spielen gegeneinander wetteten und gelegentlich freundschaftliche Übungskämpfe austrugen. Es erinnerte mich an Theros, an Zuhause, an meine Jugend. „Ich habe schon lange keine solche Feier mehr gesehen“, sagte ich zu Djeru.

Djeru nickte. „Dies ist in der Tat eine seltene Gelegenheit. Während die anderen Götter uns beinahe unablässig zum Üben für ihre Prüfungen zwingen, verlangt Bontu nur, dass wir ‚uns wappnen‘.“ Er erhaschte meinen Blick. „Doch natürlich besteht das ganze Leben letztlich aus dem Üben und dem Wappnen für die Prüfungen und für die Rückkehr des Gott-Pharaos.“

„Möge seine Rückkehr bald bevorstehen“, murmelte ich.

„Und mögen wir uns als würdig erweisen.“ Djerus Ernsthaftigkeit verflog. „Aber nun komm, mein Freund. Wenn du dich unserer Saat anschließen willst, musst du die anderen kennenlernen!“

Damit führte mich Djeru zu einer kleinen Gruppe, die um einen dieser niedrigen Tische herumsaß, der mit überquellenden Obstplatten vollgestellt war. Namen wurden genannt, schneller, als ich sie mir einprägen konnte – Neit, Dedi, wie sprach diese Minotaurin ihren doch gleich aus? –, und rasch lenkte Djeru die Unterhaltung auf die Ereignisse bei der Prüfung des Zusammenhalts und wie jeder hier am Tisch zu ihrem gemeinsamen Bestehen beigetragen hatte. „Sethas und Basethas Schnelligkeit waren uns von Nutzen, als sie über das Prüfungsgelände flitzten und Oketras Pfeil beschafften, während die anderen aus unserer Saat den Obelisken verteidigten.“ Djeru deutete zu den beiden Schakalen, die nebeneinandersaßen. Es waren ganz ohne Zweifel Zwillinge. Scharfes Grinsen blitzte unter schwarzem Fell auf.

„Wie hat deine Saat bei der Prüfung abgeschlossen?“, fragte mich eine Naga – Kamal – mit zischelnder Zunge.

„Ich ...“ Irgendetwas sagte mir, dass „Gar nicht“ keine Antwort war, die hier gut aufgenommen worden wäre. Ich warf einen Blick auf die sitzenden Geweihten. Alle trugen Kartuschen mit drei Segmenten – einzigartig in ihrem Muster, aber ähnlich in Form und Komplexität.

„Das musst du nicht verraten“, kam Djeru mir zu Hilfe. „Verzeih Kamats Direktheit. Der Erfolg unserer Saat lässt uns manchmal vergessen, dass nicht alle es ohne Verluste durch die Prüfungen schaffen. Ihre Worte schneiden ebenso tief wie ihre Klingen im Kampf.“

„Es sei denn, man ist eine Hydra“, murmelte jemand, und alle brachen in Gelächter aus. Kamat suchte auffällig nach dem Spötter, und spielerisches Schubsen begann.

Ich sah zu Djeru. „Verluste.“

Djeru nickte, noch immer lächelnd. „Viele andere Saaten werden von Prüfung zu Prüfung stark ausgedünnt und mit anderen zusammengelegt. Du bist nicht allein, mein Freund. Aber wir von Tah waren stark und sind von Anfang an eine Einheit geblieben. Außer natürlich derjenigen, die du ersetzt.“ Djeru machte kaum eine Pause, doch ich bemerkte, dass der Rest der Saat nur einen Wimpernschlag lang den Blick abwandte.

„Natürlich freuen wir uns darauf, all unsere gefallenen Brüder erneut zu begrüßen, sobald sie nach der Rückkehr des Gott-Pharaos wieder auferstanden sind“, warf eine Frau ein.

„Möge seine Rückkehr bald bevorstehen, und mögen wir uns als würdig erweisen!“ Die Worte kamen wie ein Brüllen vom Rest der Saat.

„Kesi hat natürlich recht. Aber nun komm! Dieses Lumpenpack ist glücklicherweise nicht alles, was wir zu bieten haben.“ Erneut bugsierte Djeru mich davon, während seine Kameraden uns in gespielter Entrüstung nachriefen, als wir über den Platz schlenderten.

Meine Gedanken rasten auf unserem Gang und versuchten, in all dem einen Sinn zu erkennen. Ich hatte selbst gesehen, wie die Toten auf dieser Welt wieder zum Leben erwachten, doch die Art und Weise, wie Djeru über die Rückkehr der Gefallenen sprach, klang ... anders. Auferstanden, hatte diese Frau gesagt. War das wahr – oder auch nur möglich?

Djeru ließ mich nicht in meinen Gedanken schmoren. Wir näherten uns einer weiteren Gruppe Geweihter, die etwas abseits der Menge stand.

„Das sind Meris, Imi und Hepthys.“ Djeru deutete auf das Dreigestirn. „Und dies ist ... Gideon. Er wird sich unserer Saat für die Prüfung des Ehrgeizes anschließen.“

Die drei nickten ihm grüßend zu, und ein weiteres Mal kam ich nicht umhin, zu bemerken, wie jung alle Mitglieder der Saat wirkten. Meris konnte kaum älter sein als sechzehn – und dennoch kündeten seine Augen von einem lächelnden Geheimnis, alt und weise jenseits seiner äußeren Erscheinung, bittersüß und ein wenig traurig. Imi neben ihm schien zu strahlen. Sie war kaum größer als Meris, und ihr dunkles Haar war in einer Art auf Schulterlänge geschnitten, wie ich sie schon bei so vielen anderen hier gesehen hatte – und dennoch schien dieser Haarschnitt auf einzigartige Weise ihre Schönheit zu betonen. Die beiden standen dicht beieinander, und ihre ineinander verschränkten Hände beantworteten alle Fragen, die die Blicke und das verstohlene Lächeln, die sie einander zuwarfen, noch offen ließen. Hepthys‘ Gesichtsausdruck war etwas schwieriger zu deuten – hauptsächlich deshalb, weil ich nur wenig Erfahrung damit hatte, die Gesichtsausdrücke von Avioren zutreffend zu deuten. Er stand mit betonter Anmut da und hatte die Flügel hinter sich gefaltet.

„Meris ist der Hauptgrund für unseren Erfolg bei der Prüfung des Wissens.“ Djeru machte eine ausladende Geste, doch Meris schüttelte bereits den Kopf.

„Unser Erfolg war nur möglich, weil Djeru und die anderen mir die Zeit und den Raum zum Nachdenken verschafft hatten“, sagte er.

Djeru lächelte und knuffte Meris leicht in die Schulter. „Unsere nächste Prüfung ist die des Ehrgeizes, nicht die der Demut, Meris. Niemand von uns hätte die letzte Illusion so flink und sicher enträtseln können wie du.“

Meris setzte zu einer Erwiderung an, als ein Aufruhr hinter uns unser aller Aufmerksamkeit auf sich zog.

Ich drehte mich um und sah, wie eine Frau mit lautem Gebrüll einen Minotauren über den Kopf hob und ihn dann zu Boden schleuderte. Die dicht um sie gedrängten Geweihten jubelten, wenn auch einige grummelten und Schmuck und Edelsteine an andere übergaben.

„Und das ist Tausret. Eine unserer besten Kriegerinnen.“ Djeru strahlte voll Stolz, als die Frau die Menge umrundete und nach weiteren Herausforderern rief.

„Nur du bist stärker“, merkte Meris an. Djeru hub an, ihm zu widersprechen, doch Meris unterbrach ihn. „Ehrgeiz, nicht Demut, Djeru.“

Djeru grinste. Meris nickte lässig. „Ja. Du. Und vielleicht Samut.“

Ein Schauer ergriff urplötzlich von der Gruppe Besitz. Djeru stand der Mund offen. Hepthys und Imi wandten den Blick ab, und ihre Körper spannten sich in der Stille an.

„Wir sprechen die Namen derer, die von uns gegangen sind, nicht aus.“ Djeru funkelte Meris an, der – zu meiner Überraschung – das Starren erwiderte.

„Ich werde ihren Namen aussprechen, wenn du es nicht tust. Wenn dieser Geweihte meine Schwester ersetzen soll, dann muss er die Aufgabe kennen, die Samut innehatte.“ Merit richtete seinen Blick auf mich. „Kann er unsere schnellste Läuferin ersetzen? Schneller noch als die Schakalzwillinge? Ist er ein Krieger, der dir an Können und Kraft ebenbürtig ist? Einer, der ganz allein einen Mantikor zur Strecke bringen kann, wie Samut es in der Prüfung der Stärke getan hat, und – ?“

„Wir sprechen. Nicht. Von den Toten.“ Binnen eines Wimpernschlags war Djeru herbei, legte die Hand um Merits Kartusche und zog ihn mit finsterer Miene zu sich heran. Imi, Hepthys und ich traten vor, um einzugreifen, doch Meris hob eine Hand, und die anderen wichen zurück.

Ich wählte meine Worte mit Bedacht. „Ich habe nicht vor, irgendjemanden zu ersetzen, Meris. Das kann ich nicht. Ich kann nur das anbieten, was ich bin. Und Djeru ... Es tut mir leid um deinen Verlust. Wie es scheint, betrauert Merit auf andere Weise ihren Tod und muss –“

„Oketra mag vorgeschlagen haben, dass du dich unserer Saat anschließt, Gideon, aber sie hat dir ganz offenkundig nichts von uns erzählt.“ Djeru hielt seinen misstrauischen Blick fest auf mich gerichtet. Endlich seufzte er und ließ Merit los. „Es tut mir leid, Merit. Mein Ärger überschattete meinen Verstand. Du hast wie so oft recht. Wir sollten Gideon etwas mehr über uns erzählen.“

Merit nickte und schaute mich erneut aus dunkelbrauen Augen an, die in die meinen spähten. „Samut ist nicht tot“, sagte er. „Sie ist verloren. Aber sie hat es selbst entschieden.“

Meine Verwirrung muss mir ins Gesicht geschrieben gestanden haben. „Sie ist eine Abtrünnige“, fügte Djeru hinzu. Die anderen zuckten bei dem Wort zusammen.

„Ah. Ich verstehe“, sagte ich und versuchte zu verbergen, dass ich das ganz und gar nicht tat.

„Es macht mich noch immer krank, es auszusprechen.“ Djeru spie aus, mürrisch und verärgert, und machte einige Schritte von uns weg.

„Wir wissen nicht, wie sie solcherlei Ketzerei verfallen konnte“, sagte Merit leise. „Doch das ist sie. Also wurde sie entfernt. Ihr Verlust hat unsere Saat nicht nur beachtlich geschwächt ... Sie und Djeru waren enge Freunde, schon vor der Zeremonie des Messens, als sie noch Kinder waren.“

Ich sah Merit, Imi und Hepthys an. Ihr seid immer noch Kinder.

„Djeru hat ihren Verlust sehr schwer genommen“, sagte Imi mit sanfter, beruhigender Stimme – wie Honig, der in der Hitze schmolz. „Der Tod wäre besser gewesen – selbst ein ehrloser Tod –, denn Abtrünnige haben keinen Platz im Leben nach dem Tod.“ Sie blickte zu der tief stehenden zweiten Sonne, die gerade neben den großen Hörnerstatuen in der Ferne hing. „Wir sind dieser ruhmreichen Zeit nun schon so nahe. Die Stunden sind beinahe gekommen.“

Eine Erinnerung schlich sich in meine Gedanken. Eine junge Frau, die sich ihren Weg über eine belebte Straße bahnte und schrie, während sie von Kriegern verfolgt wurde. „Die Götter lügen! Die Stunden sind eine Lüge!“

„Dies ... geschah also erst kürzlich?“ Ich schaute zu Imi und dann zu Merit, der knapp nickte. „Ich ... Ich glaube, ich habe sie gesehen.“

Djeru winkte ab. „Genug. Du weißt es jetzt. Reden wir nicht mehr davon.“

Ich wollte widersprechen, als plötzlich alle Geweihten verstummten. Ein langer Schatten fiel auf den Platz, als sich ein gewaltiges Geschöpf auf uns zubewegte, das von allen Seiten von schwarz gekleideten Gestalten flankiert wurde. Die größere Sonne brannte tief am Himmel, und ich blinzelte der dunklen Silhouette entgegen, die vom roten Schein des späten Nachmittags umflort war. Meine Augen nahmen das auf, was nur eine weitere Göttin sein konnte: ein hochgeschossener Menschenkörper, aber mit dem Kopf eines furchteinflößenden Krokodils, dessen lange Schnauze sich zu einem Grinsen verzog. Sie stand da und musterte jeden vor sich. In der Hand trug sie einen mächtigen Stab, und ihre imposante Gestalt war in schwarze Roben gehüllt. Als sie sich näherte, spülte eine göttliche Aura über mich hinweg. Das Gefühl jedoch, das sich in meiner Brust regte, glich nicht der Wärme und Ruhe Oketras, sondern erzeugte ein Aufwallen von Stolz und Macht.

Ich bemerkte, dass keiner der Geweihten den Kopf neigte, wie sie es bei Oketra getan hatten. Stattdessen richteten sich hoch auf und nahmen – stolz und begierig, von ihr bemerkt zu werden – die Schultern zurück. Neben mir sträubte Hepthys die Federn. „Das ist ... ungewöhnlich“, murmelte er. „Kannst du dich erinnern, wann Bontu das letzte Mal durch die Straßen von Naktamun gegangen ist?“

Imi schüttelte den Kopf. „Es muss daran liegen, dass die Stunden nahe sind.“

Ein grollendes Fauchen ertönte, das immer lauter wurde ... und dann wurde mir klar, dass es Bontus Stimme war, die über den Platz hallte.

Die Zeit verrinnt“, rief sie mit rauer Stimme. Alle Blicke waren nun auf sie gerichtet. „Nicht jeder wird die Gelegenheit erhalten, meine Gunst zu erringen. Wer verdient es, meine Prüfung anzutreten?

Die versammelten Geweihten begannen damit, zu lärmen und Beteuerungen ihrer Würdigkeit zu rufen. Bontus Lächeln wurde breiter.

Nur die Starken werden triumphieren. Doch Stärke kann erlernt werden.“ Zusammengekniffene Augen musterten die aufgeregten Geweihten. „Niemand wird stark geboren.

Ich spürte Furchtlosigkeit in mir aufwallen. Ermutigt trat ich vor und rief über den Tumult hinweg: „Nicht einmal die Götter?“

Stimmen wurden von einer Reihe von entsetztem Luftholen erstickt, und Gemurmel wurde laut. Ich spürte, wie sich mir viele Blicke zuwandten, aber ich heftete den meinen weiter auf die dunklen Augen Bontus. Ihr großer Kopf neigte sich, und ihre Augen blinzelten mich an – erst ein Lid, dann das andere. Elfenbeinfarbene Zähne, jeder so lang wie ein Boot, erschienen – und sie lachte. Ein entsetzliches Fauchen, das in meinem Inneren widerhallte.

Wie kühn.

Sie wandte sich an die anderen Geweihten auf dem Platz. „Selbst ich bin größer, als ich es einst war“, krächzte sie. „Denn ich wollte es so.“ Ihre Worte wurden von bewunderndem und zustimmenden Gemurmel beantwortet.

Bontu hob die Hand, und es wurde still auf dem Platz, als sie mit einem Finger auf mich deutete.

Kytheon Iora.

Ein Schauer fuhr mir über den Rücken, als sie meinen Namen sagte. Ihre Hand hing einen Augenblick in der Luft, ehe ihr Finger endlich zu allen Mitgliedern von Djerus Saat glitt und sie jeden von ihnen mit Namen nannte. Als insgesamt zwanzig Namen gerufen worden waren, ließ sie die Hand langsam und betont sinken.

Geweihte der Saat der Tah. Ihr sollt die nächsten sein, die sich meiner Prüfung stellen.

Damit wandte Bontu sich um und ging davon. Ihre Wesire glitten neben ihr in steinerner Stille her.

Ich stieß einen Seufzer aus und bemerkte, dass ich den Atem angehalten hatte. Andere aus Djerus Saat näherten sich und jubelten dankbar und anerkennend. Djeru trat an meine Seite. Ein leises Lächeln huschte ihm übers Gesicht.

„Wie es scheint, hatte Oketra recht damit, dass du dich uns anschließen sollst.“ Damit griff er meine Hand und reckte sie gen Himmel. Um mich herum tanzte der tosende Jubel seiner – meiner – Saatgeschwister über den Platz. Als sie mich zu noch mehr Speis und Trank zerrten, konnte ich nicht vermeiden, das Stirnrunzeln und die neidischen Blicke der anderen Geweihten zu bemerken.

Die Prüfung des Ehrgeizes hat wohl bereits begonnen. Der Gedanke blieb, während der Rest des Abends unter dem seltsamen, unmöglich roten Schein der zweiten Sonne in einem Wirbel aus Schalk, Geschichten und Feierlichkeiten vorbeirauschte.


Wir schliefen kaum. An diesem Morgen geleiteten uns Bontus Wesire beim Aufgehen der größeren Sonne in ihr Monument: eine gewaltige Pyramide, deren Äußeres ein Abbild der Göttin zierte. Ich hatte jedoch wenig Zeit, die Architektur zu bewundern, denn kaum dass wir im Inneren waren, statteten uns die Wesire mit einfachen Waffen aus und führten uns gleich darauf ins Herz des Monuments. Nach einer Reihe verschlungener und verwirrender Gänge betraten wir eine große Kammer, die von einem sonderbaren goldenen Leuchten erhellt wurde, das vom Boden selbst zu kommen schien.

Um die Prüfung zu bestehen, so erklärten die Wesire, mussten wir uns durch das Monument bewegen und die Spitze erklimmen, wo Bontu selbst auf uns warten würde – aber nicht lange. „Bontu hat keine Geduld mit trödelnden Bittstellern“, ließ uns ein Wesir kalt und teilnahmslos wissen. Damit verschwanden die Wesire in dem Gang, durch den wir gekommen waren. Hinter ihnen schloss sich eine Steinwand. Hätte ich nicht gerade gesehen, wie sich die Wand dorthin bewegt hatte, so hätte ich niemals damit gerechnet, dass dort ein Durchgang war.

Wir drehten uns um und blickten uns in der Kammer um. Unser erstes Hindernis erschien hinreichend klar. Ein großes Becken voller Unrat trennte uns von dem Gang, der aus der Kammer hinausführte. Die anderen Geweihten stellten sich zu einer Verteidigungsformation auf, während Djeru und Meris im Raum nach einer Möglichkeit suchten, den widerlichen Schleim zu überqueren. Kurz darauf erspähte Meris eine Kurbel, die in der Mitte des Beckens ein kleines Stück aus der Oberfläche des Unrats hervorlugte.

„Dedi. Sieh dir das an“, sagte Djeru. Ohne zu zögern trat Dedi vor, zog die Sandalen aus und watete in den ekligen Schlamm. Während er sich vorwärtsbewegte, bemerkte Djeru meinen fragenden Blick. „Dedi ist einer der größten von uns. Außerdem gehört er zu den schwächeren unserer Saat“, erklärte er leise. „Dies ist eine einfache Möglichkeit für ihn, sich hervorzutun und seine Würdigkeit zu zeigen.“

Wir sahen zu, wie Dedi sich in Richtung der Mitte vorankämpfte, während der bösartige Unrat ihm inzwischen bis zum Hals reichte. Einige in der Saat grummelten beim Warten ob seiner Langsamkeit, doch dann hatte er die Kurbel erreicht. Langsam hob sich eine Brücke aus geflochtenen Ketten aus der garstigen Masse. Einige Geweihte riefen Dedi ermutigende Worte zu, als er zu uns zurückzuwaten begann, während Djeru uns zu der Brücke führte.

Wir hatten gerade begonnen, sie zu überqueren, als Dedis Schreie die Luft durchschnitten.

Zuerst dachte ich, dass irgendeine Kreatur in dem Schleim ihn angriff, als die dunkle Flüssigkeit zu brodeln begann. Wir rannten über die Brücke auf ihn zu, und zwei Geweihte griffen nach seinen Händen, um ihn hochzuhieven – gerade als einige Wandpaneele aufbrachen und weiterer Unrat in die Kammer strömte. Das Becken füllte sich mit unnatürlicher Geschwindigkeit, und die beiden Geweihten, die sich hingehockt hatten, sprangen auf die Füße und zogen die Hände zurück, als hätten sie sich verbrannt, während rote, bösartige Pusteln an ihren Armen erschienen, wo der Schleim sie berührt hatte. Entsetzt sah ich zu, wie Dedi verzweifelt eine Hand nach uns ausstreckte und Haut und Fleisch von seinem Unterarm abfielen, bis nur noch Knochen zu sehen war. Dedis Schreie veränderten sich, als Schrecken sich mit Schmerz mischte, und dann schoben die anderen mich über die Brücke, als weiterer Schleim in die Kammer quoll, das Becken überflutete und sich durch die Ketten der Brücke fraß. Wir sprangen in den Gang, gerade als die Brücke hinter uns durchtrennt wurde, eine Seite wegbrach und sich mit dem grotesken Schlamm vermischte. Ich rollte mich über die Schwelle, während Dedis Schreie durch das rasche Herabfahren einer dicken Steinwand hinter uns abgeschnitten wurden.

Wie gelähmt stand ich da und starrte auf die Steinwand.

Neunzehn.

Ich wollte nach der Wand greifen, doch Djeru hielt meine Hand fest. „Wir gehen weiter“, sagte er. Der Rest der Saat marschierte bereits durch den engen Gang.

Ich starrte ihn an. „Aber er war noch am Leben –“

„Ehrgeiz zieht sich nicht zurück“, grollte Tausret an der Spitze. „Dein Zögern entehrt ihn.“

„Dedi starb einen ruhmreichen Tod. Wir werden ihm im Leben nach dem Tod für sein Opfer danken.“ Djeru drängte sich an mir vorbei, und binnen weniger Augenblicke war ich der Letzte vor der Tür.

Ein ruhmreicher Tod? Ich knirschte mit den Zähnen. Nichts an Dedis Tod fühlte sich ruhmreich an.

Schweigend gingen wir weiter. Grimmige Gesichter, mürrische Stimmung. Sie haben noch niemanden in einer Prüfung verloren, erinnerte ich mich. Und hier sind wir nun, so kurz nach dem ersten Hindernis ...

Was war es, was die Götter hier prüften? Warum hatte Oketra mich zu dieser Prüfung geführt?


Wir betraten eine weitere breite Kammer mit niedriger Decke. Der Raum war flach und schmucklos – abgesehen von einer absonderlichen dunklen Kreatur, die in seiner Mitte kauerte. „Ein Ammit“, zischte Imi. Alle anderen zogen hastig die Waffen.

„Was ist ein Ammit?“, fragte ich. Djeru blickte mich ungläubig an.

„Ein Seelenfresser. Ein Dämon. Beinahe unmöglich zu töten. Am besten wäre es, wenn es uns gar nicht erst bemerkt –“

Wie aufs Stichwort hob die Kreatur den Kopf und starrte uns an. Aus der Entfernung sah sie aus wie ein gewaltiger Löwe – aber ihr Kopf erinnerte mehr an Schnauze und Schlund eines Krokodils. Auch war sie wenigstens dreimal so groß wie die größten Löwen auf Bant. Runde, rote Augen erglühten in ihrem dicken Schädel, während sie sich aufrichtete.

Djeru fluchte und begann dann sogleich, Befehle für einen behelfsmäßigen Plan zu erteilen. Der Grund für seine Eile wurde mehr als deutlich, als das Ammit mit einer für eine Kreatur seiner Größe beachtlichen Geschwindigkeit auf uns zustürmte. Wir stoben auseinander und schossen Pfeile ab, als der Rest der Saat durch den Raum zu spurten begann.

Anstatt uns dem Untier zu stellen, rannten wir in Gruppen zu zweit oder zu dritt zur anderen Seite, wobei einige versuchten, das Ammit abzulenken und zu verwirren, während die anderen weiter vorpreschten. Merit und Imi schafften es vorbei, während das Ammit Neit und Tausret durch die Kammer jagte. Zwei Bogenschützen zogen dann die Aufmerksamkeit des Ammit lange genug auf sich, um diesen beiden einen beherzten Sprint zum Gang auf der anderen Seite – dem einzigen sichtbaren Ausgang – zu ermöglichen. Das Ammit rannte von Gruppe zu Gruppe, unschlüssig, wen es nun jagen sollte, und verwirrt von dem Chaos.

Mit einem Nicken begannen Djeru und ich unseren eigenen Sprint durch den Raum. Wir hatten das andere Ende beinahe erreicht, als ein grausames Geräusch meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Eine Zweiergruppe war in eine Ecke gedrängt worden, und mit einem kräftigen Biss hatte das Ammit eine Geweihte zwischen seine Kiefer bekommen. Ihre Schreie hallten in der Kammer wider, gefolgt vom nassen Geräusch von Blut, das gegen Stein spritzte. Ihre Begleiterin huschte davon und ließ ihre Freundin zurück.

Ich rannte zurück und auf sie zu, ohne Djerus Rufen hinter mir Beachtung zu schenken. Ein weiterer Schrei erklang und riss dann ab, als das Ammit zubiss, und der Übelkeit erregende Geruch nach Blut und Eingeweiden breitete sich in der Kammer aus.

Achtzehn.

Andere preschten an mir vorbei, während das Ammit mit seiner Beute beschäftigt und scheinbar völlig zufrieden damit war, die anderen fliehen zu lassen. Mit einem Schrei stürmte ich vor. Mein Sural entfaltete sich und hieb nach dem Dämon. Zu meiner Überraschung schnitten die Klingen nicht in sein Fleisch, sondern prallten wirkungslos an seiner dicken Haut ab und hinterließen kaum mehr als geschwollene rote Striemen. Das Untier drehte sich um und brüllte mich an. Blut und Geifer spritzten aus seinem geöffneten Maul. Es schlug mit einer gewaltigen Tatze nach mir und streifte meine Brust. Ich prallte rückwärts gegen eine Wand. Ich rappelte mich auf und blinzelte das Flimmern vor meinen Augen weg, während das tiefe Grollen des Ammit mir im Schädel dröhnte.

Goldene Wellen von Licht tanzten über meinen Körper, als ich meine Magie fokussierte – und keinen Augenblick zu früh. Das Ammit griff blitzschnell an, seine Kiefer waren nur ein Flirren. Ich riss die Arme hoch, und seine Zähne prallten dagegen. Goldenes Licht sprühte Funken, als es ihm nicht gelang, meinen Schild zu durchdringen. Ich nahm einen sicheren Stand ein und zog – in der Absicht, das Untier gegen die Wand zu schleudern.

Es rührte sich nicht.

Ich stemmte mich mit all meiner Kraft dagegen, doch das Ammit hielt stand und begann sogar, an Boden zu gewinnen. Meine Füße rutschten über den Stein, unfähig, Halt zu finden, während das Ammit mich zurückdrängte, die Kiefer mit unbarmherzigem Biss um meinen Arm geschlossen. Meine Haut schimmerte golden und schützte mich davor, von seinen Zähnen durchbohrt zu werden, doch ich konnte mich nicht aus seiner Umklammerung befreien.

Panik sickerte in die Ränder meiner Gedanken, und ich suchte fieberhaft nach einem Plan. Ich konnte es nicht überwältigen. Sicher, es konnte meinen Schild nicht durchdringen, aber ich hatte auch gesehen, wie es jemandem mit nur zwei Happen verschlungen hatte. Mein Sural wiederum konnte seine Haut nicht durchdringen. Mir gingen die Möglichkeiten aus. Erneut rutschten meine Füße über den Boden, und das Ammit neigte den Kopf, ehe es mich gegen die Wand schleuderte. Das Geräusch berstenden Steins hallte in meiner Wirbelsäule wider und presste mir, als das Ammit meinen Körper ein weiteres Mal auf den Stein krachen ließ, die Luft aus den Lungen. Alles drehte sich um mich, mir wurde schwindelig und ich knirschte mit den Zähnen. Wenn ich mich nicht irgendwie anders aus seinem Griff befreien konnte ...

Ein lautes Kreischen hallte durch die Kammer, und eine Windbö prallte gegen das Ammit. Das Untier ließ mich los – mehr aus Überraschung als aufgrund einer Verletzung –, und ich rollte mich zurück. Als ich auf die Füße sprang, fuhr ein weiterer Windstoß an mir vorbei. Hepthys, der als Letzter den Raum durchquert hatte, ging mit erhobenen Händen auf uns zu und murmelte eine weitere Formel.

„Lauf! Sofort!“ Hepthys warf mir einen stechenden Blick zu, während er eine weitere Salve schneidender Winde entfesselte. Das Ammit brüllte trotzig auf.

„Du kannst nicht allein mit diesem Ding fertigwerden –“ Mein Widerspruch wurde von dem dunklen Schemen des Ammit unterbrochen, das an mir vorbei auf Hepthys zustürmte. Der Avior breitete die Flügel aus, schwang sich in die Luft und wich so dem Ammit nur knapp aus, als es an ihm vorbeirannte.

„Lauf, du Narr!“ Hepthys‘ Flügel schlugen wild, als er höher flog, und ich drehte mich um, um zum Gang am anderen Ende der Kammer zu sprinten – vorbei an dem Ammit, das sich gerade zu einem neuen Angriff umdrehte.

Eine Reihe von Plänen blitzte in meinem Verstand auf. Wenn der Gang zu eng für das Ammit ist, könnte Hepthys sich uns einfach anschließen, wenn wir uns zur nächsten Herausforderung aufmachen. Und wenn nicht, könnte ich zurückbleiben und –

Ein Krächzen und das Geräusch von Zähnen, die Fleisch zerfetzten, schnitten den Gedanken ab.

Ich drehte mich um und sah das Ammit aus einer ungeahnten Höhe fallen. Sein mächtiger Sprung war gerade hoch genug gewesen, um sich einen von Hepthys‘ Flügeln zu schnappen. Seine Zähne bissen durch Knochen und Sehnen, und es landete mit einem dumpfen Aufprall am Boden, der diesen erbeben ließ. Es verschlang seine gefiederte Beute mit zwei raschen Bissen. Ein Blutschwall ergoss sich von oben herab, als Hepthys einen Augenblick in der Luft hing und dann langsam zu Boden trudelte. Das Ammit näherte sich vorsichtig und begutachtete seine Beute.

Siebzehn.

Meine Füße trugen mich wie von selbst vorwärts, während meine Gedanken ungläubig stillstanden. Kaum bemerkte ich, dass ich es hinüber und in den Gang selbst geschafft hatte, bis ich beinahe gegen Djeru prallte, der mit etwa der Hälfte der Saat im Halbdunkel stand und vorausspähte.

„Vor uns liegen Pendel mit Klingen“, sagte Djeru, und zum ersten Mal nahm ich das seltsam schwirrende Geräusch wahr. Der Gang war dunkel, und es schien keine Lichtquelle zu geben, doch mithilfe des Leuchtens aus dem vorherigen Raum hinter uns konnte ich das Schwirren von etwas ausmachen, was in regelmäßigen Abständen hin und her sauste. Djeru schüttelte den Kopf. „Der Gang wird enger, und bald kann nur noch einer von uns hindurchgehen. Die ersten paar haben es bereits geschafft, doch die Klingen werden mit jedem, der sie überwindet, schneller.“

„Djeru. Hepthys ist gefallen. Wir müssen –“

Djeru griff nach meinem Arm und schnitt mir das Wort ab. „Was stimmt denn nicht mir dir?“ Zorn breitete sich in seinem Gesicht aus, und die Maske des ruhigen Anführers zersplitterte. „Du hast deine gesamte Saat in vorherigen Prüfungen verloren, und dennoch behandelst du jeden Tod wie eine Tragödie. Deine Fassade aus Heldentum und Rettungsmut macht nichts weiter, als das Opfer unserer Saatgeschwister herabzusetzen und zu entehren.“

Wie betäubt verstummte ich. Ich warf einen Blick zu den anderen Geweihten, doch die Schatten im Gang verbargen ihre Gesichter.

Djeru stieß mich weg und rief eine Reihe von Namen: Mitglieder seiner Saat, die vortreten sollten. Einen nach dem anderen schickte er durch den Gang. Ich erkannte, dass er die Läufer ihrer Geschwindigkeit wegen durch die Klingen spurten ließ. Kein Zögern, keine Fragen, kein Grund zum Überlegen von ihm oder denen, die er aufrief: Er kannte die Fähigkeiten eines jeden auswendig.

Ich holte tief Luft und versuchte, mich zu sammeln.

Du bist ein Fremder auf dieser Welt, Gideon. Die Dinge hier sind anders. Der Tod ist anders. Ich schüttelte den Kopf. Richte nicht über sie.

Stattdessen spielte sich das Bild des fallenden Hepthys im Rhythmus der schwingenden Klingen wieder und wieder vor meinem inneren Auge ab.

Ich sah zu, wie die Geweihten an den Klingen vorbeirannten. Bald waren nur noch Djeru, die Schakalzwillinge Setha und Basetha und ich übrig. Wir standen schweigend da. Das einzige Geräusch im Gang war das irrsinnig schnelle Sirren der Klingen.

... das einzige Geräusch. Plötzlich bemerkte ich, dass die Geräusche des Ammit aufgehört hatten. Ich wirbelte herum. Die Kammer hinter mir erschien bis auf ein paar Blutflecken am Boden leer.

Auch Djeru bemerkte es. „Wir müssen weitergehen. Sofort.“ Er nickte mir zu – just als das Ammit um die Ecke bog, sich in den Gang presste und brüllend auf uns zustürmte. Es war gerade so groß, dass seine Schultern gegen die Steinwände schabten, doch mit Mühe gelang es ihm, sich mit schnappenden Kiefern hinter uns hineinzuquetschen.

Auf einen Befehl von Djeru rannte Basetha den Gang entlang, gefolgt von ihrem Bruder. Sie schafften eine gewisse Strecke – und dann brach der feuchte, metallische Geruch nach Blut über uns herein, als eine verirrte, wider den Takt der anderen laufenden Klinge Setha in einen schwarzroten Schmierfleck verwandelte.

Sechzehn.

Basetha rannte weiter – ob nun durch Mut, Missachtung oder reine Willenskraft – und gesellte sich zu den anderen am anderen Ende des Ganges. Doch nun schwangen die Klingen in rasender Geschwindigkeit. Djeru zog sein Khopeshschwert und duckte sich, um sich dem schnell näher kommenden Ammit zu stellen. Ich holte tief Atem, ließ goldenes Licht über meinen Körper wandern und trat in die Klingen.

Die erste prallte auf mich, zerbarst und schleuderte mich gegen die Wand. Steinsplitter und Überreste der Klinge flogen in alle Richtungen davon. Djeru duckte sich und drehte sich um, um mich einen Wimpernschlag lang anzusehen, und sprintete mir dann den Korridor entlang nach, die schnappenden Kiefer des Ammit dicht hinter ihm. Als wir die andere Seite erreicht hatten, fühlte sich mein ganzer Körper wie eine einzige Prellung an, und Djeru blutete aus einer Reihe von Wunden, die ihm die umherfliegenden Splitter der zerbrochenen Klingen zugefügt hatten. Der Rest der Saat hatte sich klugerweise bereits von uns wegbewegt und in den angrenzenden Raum begeben.

Ich fiel auf die Knie, doch Djeru war neben mir und zog mich hoch und davon. Als wir auf die Mitte der Kammer zurannten, sprach Djeru unter schweren Atemzügen.

„Ich habe noch nie jemanden so etwas tun sehen – ganz gleich ob Krieger oder Magier.“ Misstrauisch betrachtete er mich.

„Es ist Fluch und Segen zugleich.“ Dunkle Erinnerungen begannen, an mir zu nagen. Djeru schüttelte den Kopf.

„Du bist noch immer ein Rätsel. Aber ich bin mir nicht mehr sicher, ob es mir gefällt“, sagte er.

Ich wollte etwas erwidern, aber Meris erklärte bereits dem Rest der Saat, was er in diesem Raum entdeckt hatte.

„... vier von uns müssen auf diesen Säulen stehen, um die Haupttür zu öffnen.“ Merit deutete auf die vier Steinpodeste um uns herum. Dann schüttelte er den Kopf. „Aber ich vermute auch, dass dadurch etwas ... Unangenehmes ... freigelassen wird. Und ich schätze, dass die vier auf diesen Podesten stehen bleiben müssen, um die Tür offen zu halten.“

„Das Ammit kommt und wird es wohl durch den Gang schaffen, nachdem Gideon ... ähm ... die Klingenfalle ausgeschaltet hat.“ Djeru blickte mich an und dann zurück zu dem Grollen und Kratzen des herannahenden Ammit.

Es gab nur einen kurzen Augenblick des Zauderns, dann gingen vier Geweihte auf die Podeste zu. Doch Djeru griff nach der Hand von einem von ihnen. „Masika. Ich möchte, dass du den Platz mit Tausret tauschst.“

Die beiden Angesprochenen blickten einander an und willigten danach zögernd ein. Tausret gesellte sich zu uns, während Masika auf die Podeste zuging.

„Warum hast du das getan?“, fragte ich.

Djeru blickte grimmig. „Tausret ist eine der stärksten unter uns. Ich weiß nicht, was vor uns liegt, aber wir können eher auf Masika als auf Tausret verzichten.“

„Lass mich zurückbleiben.“ Ich sah zu den vieren hin. „Ich könnte –“

„Wo ist denn dein Ehrgeiz?“ Djeru spie die Worte förmlich aus. „Würdest du dein Leben wegwerfen, um den Kampf für drei zu verlängern, und den Rest deiner Saat zurücklassen, der darauf zählt, dass du so weit wie möglich kommst?“ Djeru blickte mich mit wachsendem Ärger an, der sich mit Abscheu zu vermischen begann. „Wir alle kennen den Preis der Prüfungen, die Grenzen und die Möglichkeiten unserer Fähigkeiten, die Stärken und die Schwächen unserer Brüder und Schwestern. Wir klettern dem besten Stand im Leben nach dem Tod entgegen. Und wir brauchen dich in den Herausforderungen, die noch vor uns liegen.“

Djeru wandte sich an die vier, die bereit waren, die Podeste zu betreten. „Brüder, Schwester. Wir sehen euch im Leben nach dem Tod.“

Die vier blickten einander an und stiegen dann wie eins auf ihre Podeste. Diese begannen sofort, im Boden zu versinken, und ein gewaltiges Tor am anderen Ende des Raumes öffnete sich. Gleichzeitig jedoch glitten weitere, massive Steinwände auf und gaben den Blick auf die Schatten und Gestalten entsetzlicher Bestien frei, die sich beim Geräusch des knirschenden Steins regten. Hinter uns sah ich die schnappenden Kiefer des Ammit aus dem Gang ragen. Steinsplitter flogen davon, als es sich weiter und weiter hindurchquetschte.

Der Rest von uns rannte auf den Ausgang zu. Als wir die dahinter liegende Kammer betraten, drehten wir uns gerade noch rechtzeitig um, um zu sehen, wie die vier mit gezogenen Waffen von den Podesten stiegen. Sofort begann sich das gewaltige Steintor zu schließen und meine flüchtige, törichte Hoffnung zunichte zu machen, dass sie es vielleicht doch noch zu uns herüberschaffen würden. Wir sahen zu, wie sie verschwanden, als das Ammit auf sie zuraste und die schattenhaften Gestalten anderer Untiere am Rand des Raumes entlangpirschten.

Wir alle standen da und holten einen Augenblick Atem.

Und dann drehten wir uns um und gingen weiter vorwärts.

Zwölf.


Stunden später hatten wir endlich die oberste Stufe der Pyramide erreicht. Die Kammer war die größte und imposanteste von allen. Jede ihrer Oberflächen war vergoldet, und sie war von zahllosen bronzenen Kohlebecken erhellt. Bontu selbst saß von ihren Wesiren umsorgt auf einem Thron und blickte von einer Reihe von Stufen aus, die zu ihr hinaufführten, auf uns herab. Hinter ihr glänzten drei große Türen, die mit Metall versiegelt und der seltsamen Schrift Amonkhets verziert waren, im flackernden Feuerschein. Ein klares Wasserbecken nahe des Eingangs trennte uns von Bontu – eine schauerliche Erinnerung an die erste Herausforderung in der Prüfung.

Wir waren nun zu neunt. So viele Kammern, jede darauf ausgelegt, dass wir mehr von uns zurücklassen mussten. Durch einige stürmten wir einfach hindurch und gelangten unversehrt am anderen Ende an. Öfter jedoch prallten wir auf Widerstand und opferten dem Raum trotz unserer Bemühungen und Fähigkeiten eines oder mehrere Leben. Als wir vor Bontu standen, waren wir alles andere als siegreich. Meris würgte mit roten Augen und blutete aus Bisswunden an seinen Armen. Im letzten Raum waren fleischfressende Skarabäen von den Wänden gefallen und hatten Imi verschlungen, die gestolpert war, als wir eine unfassbar hohe Wand am Ende der Kammer hinaufgeklettert waren. Als Meris sie zu sich ziehen wollte, war ihr Arm abgefallen.

Djeru hatte ihn hinauszerren müssen.

„Ihr habt mich warten lassen“, zischelte Bontu missvergnügt.

Die Seufzer der Erleichterung, dass wir es geschafft hatten, verstummten, als wir uns in der leeren Kammer umsahen. Waffenständer und ein klares Wasserbecken. Bei näherer Betrachtung bemerkte ich dunkle, geschmeidige Schatten unter der Oberfläche. „Wasserschlangen“, sagte Kamat, der mein Blick nicht entgangen war. „Giftig.“

Ich stellte nun auch fest, dass sich in dem Becken unter der Wasseroberfläche eine Brücke zwischen unserer Seite und der Plattform, auf der Bontu saß, erstreckte. Dort, wo der Übergang auf unserer Seite hätte beginnen sollen, war jedoch nur eine Waage zu sehen. Nach einer langen, bedeutungsschweren Pause ergriff Djeru das Wort. „Haben wir Eure Prüfung bestanden, o große Bontu? Was müssen wir noch tun, um Eure Gunst zu erringen?“

Die große Echse blinzelte mit ihren doppelten Lidern und deutete auf die Waagschalen. „Nur jene, die meinen Tribut zahlen, mögen herübergehen.“

„Worin besteht dieser Tribut?“, fragte ich.

Lange, elfenbeinfarbene Zähne. „Ein Herz.“

„Für alle von uns?“, fragte Djeru. „Wir können –“

„Für jeden.“

Ich schluckte. Die Mitglieder der Saat starrten einander an. Ich sah, wie Hände Waffen entgegenzuckten.

„Sicherlich haben wir genug verloren, um uns Euch zu beweisen, Bontu“, sagte ich.

Mächtige Augen verengten sich. „Die Stunden rücken näher. Eure Zahl ist zu groß. Zahlt den Tribut oder geht unter.

Wie gelähmt starrte ich Bontu an. Unsere Zahl ist zu groß?

Ein erschreckter Schrei erklang. Ich drehte mich entsetzt um und sah einen Geweihten mit Neits Dolch im Rücken fallen.

Nach ein paar blutigen Hackbewegungen stürmte Neit auf die Waage zu, blutverschmierte Hände an die Brust gedrückt, um etwas darin zu bergen. Kamat kroch vor, holte mit dem Schwanz aus und Neit fiel. Basetha schoss nach vorn, als Kamat und Neit miteinander rangen, las die fallen gelassene Beute auf und klatschte sie auf die Waagschalen. Die glitzernde Brücke hob sich, um sie über das von Schlangen wimmelnde Wasser zu lassen. Ich sah zu, wie sie zu Bontus Füßen kniete und ihr die Wesire nach einem Kopfnicken der Göttin eine Kartusche aushändigten.

Der Raum roch nach nasser Erde, schwül und unangenehm.

Ein Pfeil flog auf mich zu und prallte von meiner Haut ab, auf der sich erneut goldenes Licht ausbreitete. Ich drehte mich gerade noch rechtzeitig um, um Tarik zusammenbrechen und seinen Bogen fallen lassen zu sehen, als Nassor ihm den Schädel einschlug. Der Knüppel des Minotaurus zermalmte knirschend den Knochen. Als Nassor ein Messer aus dem Gürtel zog, um seine Beute einzuheimsen, erhob sich Neit mit einem glitschigen Nagaherzen in den Händen.

All dies geschah schweigend. Keine Schreie, keine Befehlsrufe, nur das gelegentliche Klirren von Metall auf Metall oder das Geräusch einer Klinge, die in Fleisch schnitt. Jeder Kampf endete, kaum dass er begonnen hatte – es brauchte nur ein oder zwei abgetauschte Hiebe, denn jeder Kämpfer kannte all die Kniffe seines Gegners.

Ich stand wie angewurzelt inmitten des Wahnsinns, während gelegentlich goldenes Licht auf meiner Haut aufleuchtete.

Plötzlich durchrissen Worte die Stille. Djeru und Meris standen einander gegenüber, die Hände an den Waffen, die Ruhe in einem Sturm.

„Ich werde dich nicht töten“, sagte Meris. „Du bist mein Bruder.“ Er lachte. „Als könnte ich das ...“

Djeru blickte sich um. „Ich kann dich nicht vor den anderen beschützen.“

Meris lächelte traurig. „Die Antwort ist ganz offensichtlich.“

Djeru ließ die Hand von der Waffe sinken, ging auf Meris zu und umarmte den Jungen. „Ich werde es schmerzlos machen, Bruder.“

Meris erwiderte die Umarmung. „Halte im Paradies nach mir Ausschau.“

Die anderen Zusammenstöße ebbten ab, als Sieger aus ihnen hervorgingen. Bald ruhten alle Blicke auf dem Paar. Djeru löste sich aus der Umarmung, blickte Meris in die Augen und lächelte.

Dann stieß er ihn ins Wasser.

Sofort stürzten sich dich dunklen Schemen der giftigen Schlangen auf Meris. Als er auftauchte, rannte Djeru auf ihn zu und drückte ihn unter Wasser.

„Nein!“, rief ich und stürmte vor. Zwei Geweihte griffen mit roten, blutigen Händen nach meinen Armen und versuchten, mich aufzuhalten. Ich zog sie vorwärts, mühte mich, zu Djeru zu kommen – und dann wich alle Kraft aus meinen Gliedmaßen. Ich sah auf, und mein Blick traf das unendliche Starren Bentus, deren gespaltene Pupillen auf mich gerichtet waren.

Sieh zu, Kytheon Iora. Besänftige dein Urteil und lerne.

Ich erschlaffte im Griff der beiden Geweihten und sah hilflos zu, wie Djeru seinen Bruder ertränkte. Ich bemerkte, dass er etwas murmelte, während Meris um sich schlug.

„Ruhe, Bruder, in der Kühle des Wassers, in der ewigen Ruhe des Todes. Du bist weit gekommen, und ich tue dies nun, um deinen Körper ganz zu bewahren, unverletzt und unbefleckt, nur für kurze Zeit von dem Gift und dem Gewicht des Wassers in deinen Lungen gelähmt. Mögen die Stunden bald anbrechen, und möge der Gott-Pharao zurückkehren, um uns alle ins Jenseits zu führen.“

Djerus Stimme brach, als er seine Worte beendet hatte und Meris Gegenwehr erschlaffte. Ich fiel auf die Knie, und die Geweihten zu beiden Seiten ließen mich frei, um ihre teuer erkauften Herzen einzusammeln.

Djeru zog keuchend Meris‘ Leichnam aus dem Wasser. „Die Würdigen streben nach Größe“, murmelte er. „Überlegenheit wird im Leben nach dem Tod belohnt werden.“ Mit zusammengebissenen Zähnen versenkte er sein Messer in Meris.

Während er schnitt, gingen die anderen Sieger auf die Waage zu und legten einer nach dem anderen ihren Tribut in die goldene Schale. Djeru war der Letzte, der hinüberging, Meris‘ Herz tropfend in den Händen. Er überquerte die Brücke mit hoch erhobenem Haupt und versuchte, das leise Zittern seiner Finger zu verbergen. Die Brücke versank still im Wasser, als er Bontu erreichte und sich niederkniete, um seine Kartusche zu erhalten.

Wut brodelte in mir auf. Nicht auf Djeru oder die anderen – auf Bontu und auch Oketra. Ich stand da, die Hände zu Fäusten geballt.

„Was soll ich aus all dem lernen?“, brüllte ich durch die Kammer. Meine Stimme hallte von den kalten Steinstufen wider. Schatten flackerten, als die Flammen in den Kohlebecken zischten. Alle Augen wandten sich zu mir.

„Ist es das, was ich sehen sollte? Dass du das Dahinschlachten der Unschuldigen forderst? Welchem Zweck dienen diese Tode? Welche Verhöhnung von Glaube und Göttlichkeit ist dieser Irrsinn?“

Ich schenkte dem Widerspruch der Wesire Bontus keine Beachtung und sprang ins Wasser. Als ich zur Plattform hinüberschwamm, umschwärmten mich die Schlangen, doch meine Haut blitzte und sie zuckten mit abgebrochenen Giftzähnen zurück. Ich zog mich aus dem Wasser und funkelte die Göttin an.

Bontus Wesire traten vor. Sie erhoben die Arme in verteidigender Haltung, und Magie tanzte über ihre Fingerspitzen. Doch Bontu hob eine Hand. Sie blickte mich an ihrem Maul entlang an. Ihre Gestalt ragte über mir auf. Ich schenkte den erschrockenen und empörten Blicken der Überlebenden der Saat keine Beachtung.

Du hast deinen Tribut nicht entrichtet“, krächzte Bontu.

„Hier.“ Ich klopfte mir mit der Faust gegen die Brust. „Komm und hol’s dir.“

Ein langes Schweigen.

Bontu lachte zischelnd, ein keuchendes Geräusch, das zu einem donnernden Brausen anwuchs.

Noch immer so tollkühn.

Sie stand auf.

Und doch so unwissend, was unsere Welt anbelangt..“

Ich stockte. Bontu weiß, dass ich nicht von Amonkhet stamme? ... Natürlich. Sie ist eine Göttin. Doch vielleicht bedeutet das, dass sie weiß, dass auch Bolas –

„Du sprichst die Worte eines Ketzers“, sagte Djeru. Seine Stimme zitterte vor Wut und Qual. „Du stellst unseren Glauben und unsere Lebensweise infrage – du bist nicht besser als Samut.“

Er ist kein Ketzer“, zischte Bontu, „denn er muss seinen Glauben erst noch finden.

Ich erschauderte.

Du hast dich meiner Prüfung gestellt, um Antworten zu finden, Kytheon Iora. Doch du hast vergessen, die richtigen Fragen zu stellen.

Bontus Gestalt ragte vor ihrem Thron über uns auf.

Du hast mehr von uns gesehen und von dem, was wir fordern.“ Ein weiteres zischendes Lachen entwich zwischen ihren Zähnen. „Nur das Beste. Wahren Ehrgeiz. Und dennoch sehe ich statt Verständnis nur Verurteilung in deinem Herzen.

Das langsame, reptilienhafte Blinzeln ihrer Augen. Das Gefühl, dass auch sie geradewegs in mich hineinblickte. Ich rang um Worte und wandte mich stattdessen an die Geweihten.

„Wie könnt ihr alle keine Zweifel haben? Zweifel am Sinn dieser zahllosen Tode? Zweifel an der Verheißung eures Gott-Pharaos? Was, wenn er nicht der ist, der er zu sein verspricht? Was, wenn –“

„Genug Ketzereien!“ Djeru schnitt mir das Wort ab und zog sein Khopesh. Die anderen Geweihten kamen näher, aber erneut ließ Bontus Stimme uns innehalten.

Wie einfältig.

Sie deutete mit einem Finger auf mich, und ich spürte, wie mir die Luft aus den Lungen wich. Ich rang nach Atem, als ihre Worte mich durchbohrten.

Du suchst nur nach dem, was deinem Sinn für Gerechtigkeit entspricht. Dein Ehrgeiz endet bei der Abbitte für die Überheblichkeit deiner Vergangenheit.

Sie schnaubte.

Oberflächlich und eigennützig.

Ich schaute zu den anderen Geweihten und fand nur harte Blicke und anklagende Augen. Ich stand da, wie erstarrt und unfähig zu atmen, und Bontus Stimme erklang allein in meinem Kopf, damit nur ich sie hörte.

Solch eine lange Suche nach Glauben, Kytheon Iora, und dennoch weißt du noch immer nichts darüber. Natürlich haben sie Zweifel. Zweifel ist ein notwendiger Schatten im Licht des Glaubens, Kytheon. Je stärker der Glaube, desto tiefer ist der Schatten der Ungewissheit. Und dennoch treibt sie ihr Ehrgeiz dazu an, heller zu strahlen und nach Höherem zu streben – unzufrieden mit selbstzufriedener Göttlichkeit. Wann wirst du dasselbe über dich selbst sagen können?

Ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln.

Sie sind mein, und ich bin des Gott-Pharaos.

„Möge seine Rückkehr bald bevorstehen, und mögen wir uns als würdig erweisen!“, riefen Geweihte und Wesire wie mit einer Stimme.

Bontu wandte sich von mir ab, und ich fiel auf die Knie, als die Luft zurück in meine Lungen strömte.

Verlasse meinen Tempel.

Die Macht des Befehls schwang in meinem tiefsten Inneren wider, und ich fand mich ungehindert dem Ausgang entgegenlaufend. Die anderen machten mir Platz, um mich vorbeizulassen. Ich ging durch das niedrigste Tor hinter Bontus Thron, und alles schwebte wie in einem Nebel vorbei, bis ich wieder draußen und in den roten Schein der zweiten Sonne getaucht war. Ich sah zum Himmel. Sie schien ihrer endgültigen Position zwischen den Hörnern näher als je zuvor.

Und ich habe mich umso weiter von jedem Verständnis entfernt. Von einem Verständnis dieser Welt. Von einem Verständnis meiner selbst.

Von allem.

Das Geräusch schlurfender Schritte lenkte meine Aufmerksamkeit auf sich. Ein Strom Gesalbter verließ ebenfalls Bontus Tempel – eine Prozession der Toten, die nun in weißes Leinen gehüllt waren. Langsam dämmerte die Erkenntnis in mir.

Die Gesalbten waren die Überreste der im Kampf gefallenen Geweihten. Die fehlenden Gliedmaßen. Die stille Dienstbarkeit. Die verkümmerten Kartuschen, die sie trugen.

Ist ihr Leben nach dem Tod ein Geschenk oder Sklaverei?

Sind die Götter gut oder verderbte Erweiterungen Nicol Bolas‘? Ist die Bösartigkeit der Prüfungen nur eine dunkle Verkehrung einer gerechten Welt? Oder ist der Tod wahrlich das höchste Ziel auf dieser Welt, auf der alles im Untod endet?

Über mir bewegte sich die rote Sonne unausweichlich auf Bolas‘ Ankunft und Rückkehr zu. Die Rückkehr des Gott-Pharaos. Das Mantra ging mir nicht mehr aus dem Kopf.

Möge seine Rückkehr bald bevorstehen, und mögen wir uns als würdig erweisen.

Meine Finger ballten sich zu Fäusten. Ich riss mir die Kartusche vom Hals und warf sie in den Staub vor mir.

Würdig, ihn niederzustrecken.


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