Verbrennen
Diese Geschichte enthält Andeutungen auf Selbstmordgedanken.
Was bisher geschah: Die Revolution beginnt
Die Renegaten Kaladeshs haben sich gegen Tezzerets korruptes Konsulat erhoben. Von Pia und Chandra Nalaar angeführt, vom Verbrechergenie Gonti ausgerüstet, mit Erfindern und Ätherpiraten verbündet und von den Planeswalkern der Wächter unterstützt haben sie den strategisch entscheidenden Ätherknoten Ghirapurs erobert. Nun müssen sie ihn gegen den Gegenangriff des Konsulats halten, bis das Luftschiff Herz von Kiran mit Treibstoff befüllt werden kann.
Der Taktiktisch der Himmelsfürst war ein beindruckendes Schaustück brillanter Ingenieurskunst, meisterhaft gefertigter Verzierungen und der schier unerschöpflichen Geldmittel des Konsulats. Er zeigte in überdeutlicher Klarheit, wie wenig vielsprechend der Kampf zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung verlief.
Auf dem Tisch vor Dovin Baan glitten mechanische Figuren über Straßen, die je nach ihrem Viertel passend eingefärbt waren – hier das Grün von Kujar, dort das Blau von Bomat. Filigrane Puppen in Gestalt von fünf Mechakolossen surrten, machten vorsichtige Schritte und umzingelten auf umständlichen Wegen jene zierliche Spitze, die den Ätherknoten darstellte. Die steilen Strahlen der Morgensonne fielen durch die Bullaugen und warfen tiefe Schatten zwischen die kniehohen Gebäude aus Messing und Blech.
An der Decke hing eine etwa armlange Replik des Kreuzers Himmelsfürst von Beschlägen am Ende einer Ansammlung von Kabeln, Seilzügen und Servos. Aus Reihe um Reihe winziger Bullaugen drang die simulierte Innenbeleuchtung.
Auf einer roten Ecke des Bronzeviertels schaltete eine weitere Figur ihr Licht aus und verschwand in der Karte. Eine dunkle Markierung, deren Form einer Stecknadel glich, glitt die Straße entlang, um den Platz der Figur einzunehmen. Ganz am Rande seiner Wahrnehmung lauschte Baan dem Bericht, der ihm von dem Techniker zu seiner Linken zugeflüstert wurde: „Die Automaten der Verstärkungseinheit 6-3 haben ihren Äther verbraucht. Die Piloten haben die Kanonenläufe unbrauchbar gemacht und ziehen sich zurück.“
Auf der anderen Seite des Kommandodecks war der Oberste Preisrichter Tezzeret – inzwischen vom Konsulat für die Dauer der derzeitigen Krise zum Sondergroßkonsul ernannt – viel zu sehr damit beschäftigt, eine Ordonnanz anzuschreien, um auch nur einen Gedanken an diesen jüngsten Rückschlag verschwenden zu können.
Der Große Konsul schien jeden Tag mehr Zeit damit zu verbringen, in großer Lautstärke auf kurze Entfernung zu kommunizieren. Bedauerlicherweise ließ sich die Wirkung seiner Ausbrüche, die – wie Baan bemerkt hatte – nicht häufiger als einmal in der Stunde vorkamen, nicht bestreiten. Seit dem Ausbruch der Krise arbeitete der Kommandostab über seinem üblichen Effizienzniveau. Jedes seiner Mitglieder glich einer straff gespannten Feder und sie alle bemerkten systemische und situative Fehler bewundernswert schnell und machten sich dann schleunigst auf, diese Angelegenheiten zu bereinigen, noch ehe sie dem Großen Konsul selbst auffielen.
Die Ordonnanz, eine stämmige Zwergin, die einen Arm voll handgeschriebener Berichte trug, blinzelte, als ein Speicheltropfen ihre Wange streifte. „Die Patrouille hat keinen Äther mehr“, wiederholte sie. „Die Renegaten im Knoten haben die Versorgung gekappt und zu irgendeinem Projekt umgeleitet –“
„Der Himmel steh mir bei!“, knurrte Tezzeret. „Wenn ich von dir noch eine weitere Ausrede höre. Nur. Eine. Dann werde ich höchstpersönlich deinen Kopf durch die –“
Baan trat mit scharf auf den Stahlplatten des Decks klackenden Absätzen vor. Dass der Große Konsul das Leben einer Botin bedrohte, als wäre sie irgendeine dahergelaufene Verbrecherin statt einer Staatsdienerin, würde unausweichlich die moralische Autorität des Konsulats bei allen anderen untergraben. Nicht die gesetzlich vorgeschriebene Autorität natürlich, doch das eine wurde oft mit dem anderen verwechselt.
„Das ist der potenzielle Nachteil einer zentralisierten Ätherversorgung.“ Baan bemühte sich, seine Stimmer so neutral wie möglich klingen zu lassen – flach, unbesorgt, vollkommen grau. So kühl und gesichtslos wie die Nebel, die tief unter ihnen vom Vinday aufstiegen.
Tezzeret wandte sich von der Ordonnanz ab und marschierte um den Taktiktisch herum. Der Kommandostab wich ihm aus und hantierte geschäftig mit Reglern und kinetischen Messgeräten.
„Uns wurde zugesichert, dass die Einrichtung ausreichend gut bewacht wird“, fuhr Baan fort. „Konsul Kambal gab an, eine Besetzung durch regierungsfeindliche Elemente sei – ich zitiere – ‚so gut wie ausgeschlos–‘“
Tezzeret funkelte Baan an. Die Haut um seine Lippen zog sich straff, vorzeitig ergrautes Haar ergoss sich ihm über die Schultern und die dunkelroten Tätowierungen auf der Stirn kräuselten sich. Baan hatte die Bedeutung dieser Zeichen noch nicht herausfinden können, obgleich er viele untätige Momente in der letzten Woche mit dem Nachsinnen darüber verbracht hatte. Sie entstammten keiner Tätowierungstradition, die auf Kaladesh bekannt war, und es war unwahrscheinlich, dass Tezzeret sie selbst entworfen hatte. Zwar waren die Kenntnisse in der Ingenieurskunst des Großen Konsuls stets beeindruckend, doch Ästhetik war kaum etwas, womit er sich aufhielt.
Es erschien wie ein Wunder, dass niemand im Kommandostab – oder tatsächlich auch keiner der Konsuln – Tezzerets Herkunft infrage stellte. Tätowierungen unbekannten Ursprungs, die physikalisch unmögliche Belastbarkeit und Leitfähigkeit jenes Metalls, aus dem seine Armprothese bestand, seine bisweilen eigentümliche Aussprache. Diese fraglose Akzeptanz würde zweifellos enden, sobald erst die Kunde von Rashmis Durchbruch öffentlich bekannt wurde. Die Möglichkeiten, die ihr Gerät aufzeigte, würden mit Sicherheit das Vorstellungsvermögen der gesamten Bevölkerung in neue Höhen schrauben. Ganze Bibliotheken voller spekulativer Literatur würden verfasst werden.
„Ich sollte dir die Zunge herausreißen“, herrschte Tezzeret ihn an.
Baan hob langsam eine Augenbraue und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. Er ließ seine Stimme höflich-neugierig klingen. „Ist das so?“
Die Nasenlöcher des Großen Konsuls blähten sich, während er Obszönitäten ausstieß. Bösartig und dies vielleicht sogar in schockierender Weise, aber bar jeglicher kreativen Vorstellungskraft. Nicht, dass es ein lohnenswertes Unterfangen gewesen wäre, hier nähere Unterscheidungen zu treffen, nahm Baan an. Hinter Tezzerets Schulter zuckte ein Mitglied der Brückenmannschaft zusammen und zog den Kopf tiefer zwischen die Schultern.
Als der Große Konsul endlich verstummte, wandte Baan ihm wieder seine Aufmerksamkeit zu. Leise, damit niemand außer ihnen beiden es hören konnte, sagte er: „Ich nehme die Effizient Ihrer Strafpredigten zur Kenntnis, wenn es darum geht, die Mannschaft wach- und folgsam zu halten. Ich hingegen zeige mich eher ... unbeeindruckt.“
Der Zorn verschwand so schnell aus Tezzerets Gesicht, als wäre er nie da gewesen. Seine Augen, kalt und berechnend, verengten sich zu gleißenden Diamantsplittern. Eben noch war Baan der Große Konsul nicht gefährlich erschienen. Nun jedoch war da ein Glimmen in seinen Augen, das den Wunsch ausdrückte, etwas so lange zu verbiegen, bis es knirschte und knackte und sich wand ... um es dann an genau diesem Punkt zu halten, nur um zu sehen, was es wohl tun würde.
Einer seiner Mundwinkel zog sich nach oben, obwohl Baan sich nicht vorstellen konnte, was der Mann gerade derart komisch fand. „Der Ätherknoten muss unter unserer Kontrolle stehen“, sagte der Große Konsul mit seiner gewohnten Sprechstimme. „Wir bezahlen dich, um Schwachstellen zu finden. Mach deine Arbeit. Finde eine Möglichkeit. Setz sie in die Tat um.“
Baan atmete langsam ein. Es war zehn Stunden her, seit er einen Plan ersonnen hatte, doch er war außerstande gewesen, jemanden von Bedeutung dazu zu bringen, ihn sich anzuhören. „Wenn ich dürfte?“, sagte er und gestikulierte in Richtung des Taktiktischs. Der Große Konsul nickte barsch.
Baan trat an den Tisch und hantierte mit der Steuerung. Ein Großteil der mechanischen Stadt verschwand im Tisch, bis nur noch die Gebiete um den Ätherknoten herum zu sehen waren. Die Barrikaden der Renegaten, durch Stecknadeln mit dunklen Köpfen markiert, bildeten eine störende, unregelmäßige Ausbuchtung über den sanft geschwungenen Straßen, Gleisen, Kanälen und Ätherröhren der Stadt. Am Knoten selbst befanden sich eine kleine Ansammlung von Nadeln sowie sechs mechanische Figuren aus glänzendem Messing, von denen jede mit einem farbigen Banner gekennzeichnet war.
Baan deutete auf die Aufstellung der Renegaten um den Knoten herum. „Sie haben einen Großteil ihrer Kräfte am Knoten positioniert. Ein direkter Angriff wäre ... verheerend. Die Erste Renegatin befehligt die Verteidigungsstellungen persönlich.“
Die ausgestreckten Metallklauen des Großen Konsuls schlossen sich klickend zu einer groben Annäherung an eine Faust. „Pia Nalaar.“
„Ja“, bestätigte Baan. Pia Nalaar, Partnerin von Kiran, Mutter von Chandra. Alle drei waren vor zwölf Jahren und sieben Monaten für tot erklärt worden. Es hatte ihn beunruhigt, zwei der drei lebend anzutreffen. Also hatte er sich in die Archive begeben. Doch dort fand er nur die Sterbeurkunden, genau so, wie er sich an sie erinnerte. Ort des Todes: Bunarat. Todesursache: Brandstiftung. Bezeugt durch: Hauptmann Dhiren Baral.
Baan betätigte die Steuereinheit und ein Lichtkegel fiel auf einen Punkt in den Stellungen der Renegaten: jenes schmale Nadelöhr, das den Ätherknoten mit den von ihnen kontrollierten Stadtteilen verband. „Ihr Fokus auf die Verteidigung des Knotens macht den Korridor zu ihren Kameraden recht schutzlos. Ausreichender Druck von beiden Seiten sollte es uns erlauben, den Knoten einzukesseln.“
Tezzeret ragte drohend auf ungleichen Fäusten über dem Tisch auf und funkelte die schwarzen Nadeln an, die die Verteidigung der Renegaten darstellten. „Keine Belagerung, Baan. Mit jeder Minute geht mehr Automaten und Fahrzeugen der Äther aus. Allein die Mechakolosse funktionstüchtig zu halten –“
„Ich sage voraus, dass sie ihre Verteidigung um den Knoten abziehen werden, um diesen Korridor offen zu halten. Der Architekt ihrer Verteidigungsstrategie neigt zu einer gewissen ... zweidimensionalen Denkweise. Ich halte es für wahrscheinlich, dass es sich dabei um den ... um unseren Gast Herrn Jura handelt.“ Tezzeret hob ob dieser Heuchelei eine Braue und spähte zum Kommandostab. Falls irgendjemand Baans Betonung auf dieses Wort bemerkt hatte, so blickte er nicht auf.
„Meinen Nachforschungen zufolge war er ein Befehlshaber in der Infanterie. Man darf bezweifeln, dass er über Erfahrung mit gegnerischen Luftstreitkräften verfügt.“ Er drehte an einem Knopf und eine Reihe schwarzer Nadeln an Straßenkreuzungen fuhr ein Stückchen höher aus der Tischplatte heraus. „Das hier sind bemannte Barrikaden aus wuchernden Pflanzen. Diese wurden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von ihrer elfischen Komplizin Nissa erschaffen.“
Baans lange Finger betätigten die Kontrollen wie ein Konzertsitarist, als er Legionen in Bewegung setzte. „Ihre Verteidigung erstreckt sich weitestgehend entlang dieses äußeren Perimeters – mit einer Reserve im Knoten. Unser Zangenangriff“, die tickenden Figürchen schoben die schwarzen Nadeln an der Engstelle der Position der Renegaten ein Stück nach hinten, „wird diese Reserve herauslocken.“ Die Nadeln, die um den Knoten versammelt waren, glitten davon, um ihre im Rückzug befindlichen Kameraden zu verstärken. „Und nun ...“
Ein Schwarm Miniaturthopter erwachte am Heck der Himmelsfürst schwirrend zum Leben. Sie eierten über den Tisch, um sachte oben auf dem Modell des Ätherknotens aufzusetzen.
Baan nickte und trat von den Reglern und Kontrollhebeln zurück. „Transporter voller Inspektoren. Ich bin einigermaßen zuversichtlich, dass ein Luftangriff hinter Herrn Juras Position ihn unvorbereitet treffen wird. Wir landen auf den oberen Decks und arbeiten uns nach unten vor. Sollten nicht-lethale Ladungen Glimmerbiss und Ätherimpulse die Verteidiger nicht außer Gefecht setzen, so werden Sprengsätze am effektivsten sein. Wenige Renegaten tragen eine vollständige Panzerung, und es besteht kaum die Gefahr, dass Schrapnelle den Knoten selbst beschädigen.“
Tezzeret wandte sich ihm zu, den Kopf leicht schräg und einen abschätzenden Blick in den Augen. „Baan, du überraschst mich. Welch ein ungewöhnlich blutrünstiger Vorschlag. Für deine Verhältnisse.“
„Dieser Vorschlag ist vom richtigen Zeitpunkt seiner Umsetzung und einer großen Beharrlichkeit dabei abhängig“, erwiderte er kühl. „Falls die Renegaten sich weigern, sich zurückzuziehen oder sich zu ergeben, müssen sie beiseite gefegt werden, ehe sie das Feuer auf unsere Inspektoren eröffnen können. Todesfälle sind an dieser Stelle schlicht unvermeidbar. Es ist besser, wenn es sich dabei um militante Renegaten als um unsere eigenen Leute handelt.“
Der Große Konsul lächelte zustimmend. „Kannst du mir versichern, dass das funktioniert?“
Baan runzelte die Stirn. „Natürlich nicht. Ich kann nur Vorhersagen auf der Grundlage meines gegenwärtigen Wissensstandes treffen. Ich rechne mit einer Erfolgsaussicht von 85 %.“
Tezzeret trommelte mit seinen fleischlichen Fingern gegen die Tischkante und stieß sich dann von ihr ab. Er warf einen gleichgültigen Blick auf das Modell des Ätherknotens und die Messingfiguren mit ihren farbigen Fähnchen. „Wie steht es mit deinen Gästen, Baan? Sie verkomplizieren die Dinge.“
„Ich würde schätzen, dass jeder von ihnen etwa zwölf bis dreißig Inspektoren entspricht – abhängig von ihren jeweiligen Fähigkeiten und ihrer Ausbildung. Glücklicherweise hatte ich die Gelegenheit, ihre Schwächen ausloten zu können. Am kritischsten ist ihre Uneinigkeit über die Führung. Gideon und Jace halten sich gleichermaßen für den alleinigen Anführer. Weiterhin hat Herr Beleren –“
„Ich kenne seine Schwächen.“ Tezzeret zeigte für einen kurzen Moment die Zähne, so humorlos wie eine Kobra, die mit der Zunge den Wind schmeckte.
„Keiner der beiden Männer traut Liliana. Sie wiederum hält wenig von Gideon. Ihre Beziehung zu Jace ist etwas schwieriger zu begreifen – eine sonderbare Mischung aus Beschützerinstinkt und Abscheu. Ich vermute, sie könnte es selbst nicht erklären, würde man sie danach fragen.
Abgesehen von der Führung ist die größte Schwäche der Gruppe die Tochter der Ersten Renegatin. Sie lässt sich leicht zu unüberlegtem Handeln hinreißen, wodurch die anderen sie übermäßig zu schützen versuchen. Besonders Gideon und Nissa.“
Der Große Konsul griff nach einem Sprachrohr, das über ihm hing. „Verbindungsoffizier Baral aufs Kommandodeck. Sofort“, brüllte er in das Rohr. Baan hörte die Worte durch die Gänge des Schiffs hallen.
„Dein Plan ist akzeptabel.“ Tezzeret betrachtete seinen künstlichen Arm und fuhr einmal der Länge nach mit dem Finger darüber. Unter seiner Berührung zerfloss das fremdartige Metall wie Wasser. „Ich werde ihn ein wenig verbessern. Die Nalaars haben noch andere Schwächen.“
„Ich bin neugierig“, setzte Baan an. „Was bedeuten die Tätowierungen auf Ihrer Stirn?“
Tezzeret schaute auf, um ihn von oben bis unten zu mustern und wohl zu versuchen, seine perfekt neutrale Haltung zu deuten. „Sie sollen mich an eine Schuld erinnern.“ Einer seiner Mundwinkel zuckte freudlos nach oben. „Ich frage mich da etwas, Baan: Welche Schwächen erkennst du, wenn du mich ansiehst?“
Baan dachte kurz darüber nach. „Ich fände es in dieser Angelegenheit klüger, meine Schlussfolgerungen für mich zu behalten.“
Der Große Konsul bellte ein kurzes, scharfes Lachen. „Du bist recht gescheit.“
Baan vermutete, für Tezzerets Verhältnisse war dies eine Art Kompliment.
Baral schepperte in voller Kampfmontur über das Kommandodeck, den Helm unter den Arm geklemmt. Er blieb vor den beiden stehen und salutierte zackig. „Baral. Wie befohlen.“ Nach einem Augenblick fügte er hinzu: „Großer Konsul.“
„Du hast schon mit den Nalaars zu tun gehabt“, sagte Tezzeret.
Ein gequältes Grinsen breitete sich auf Barals Gesicht aus und verwandelte seine vernarbte Wange in ein Ödland aus Schluchten und Kratern. „Das habe ich.“
„Sie gaben damals zu Protokoll, die gesamte Familie wäre verstorben“, sagte Baan.
Die Augen des Chefinspektors verengten sich. Er warf einen Blick zu Tezzeret, der überraschenderweise und ganz entgegen seines sonstigen Charakters schwieg. Schließlich knurrte Baral: „Das Feuer, das das Mädchen gelegt hatte. Es hat die Sache ... unübersichtlich gemacht. Wir haben die Mutter erst später unter den Überlebenden entdeckt.“
„Ach wirklich?“, sagte Baan ausdruckslos. „Es bereitet mir Sorge, dass dies in den Protokollen nicht erwähnt wird.“
„Papierkram ist Ihre Sache, Minister“, grollte Baral. „Ich verdiene mein Geld mit arbeiten. Würden Sie einen Tag auf den Straßen verbringen –“
„Baral“, unterbrach Tezzeret. „Ich möchte, dass du sie ablenkst.“
Der Blick des Chefinspektors wanderte zwischen den beiden hin und her, während offenkundige Verwirrung ihm die Lippen krümmte. „Großer Konsul?“
„Ärgere die Nalaars. Locke sie vom Ätherknoten weg. Sie und so viele ihrer Freunde wie nur möglich.“
Baral schnaubte amüsiert durch seine entstellte Nase. „Nichts leichter als das. Und dann?“
Tezzeret winkte ab. „Was auch immer du willst.“
Der Chefinspektor hob seine verbleibende Augenbraue. „Was auch immer, ja?“
Der Große Konsul ließ seine Metallklauen aneinanderklicken. „Verräter am Konsulat, Baral. Magier mit einer gewalttätigen Vergangenheit. Wenn sie sich nicht ergeben wollen ...“ Er hob mit gleichgültiger Miene seine Hand aus Fleisch, die Finger flach ausgestreckt.
Baral straffte sich und zwischen seinen Lippen blitzte ein Eckzahn auf. Baan vermochte sich nicht zu entscheiden, ob es ein Lächeln oder Hohn war. „Sicher. Man kann ja gefährliche Magier nicht einfach so frei herumlaufen lassen.“ Er wandte sich zum Gehen.
„Nimm deine Schwadron mit“, sagte Tezzeret. „Und Minister Baan.“
Baral knurrte und setzte sich den Helm so beherzt auf, dass dessen Rand ihm auf die Schulterplatten knallte. „Hangar Sieben, Minister“, kam es hohl darunter hervor. „Wir starten in zehn Minuten.“ Dann stapfte er unter dem lauten Knallen seiner metallbeschlagenen Stiefel auf dem Deck davon.
Baan wandte sich zum Großen Konsul um. „Erklären Sie mir das.“
„Baral ist ein Bluthund“, sagte Tezzeret und blickte zum Tisch zurück. „Du bist seine Leine. Lass ihn beißen, nicht Fangen spielen.“
So weit logisch. Baan verlagerte sein Gewicht auf sein anderes Bein. „Was ist mit meinem Plan?“
„Ich werde seine Ausführung überwachen. Mach dir keine Sorgen“, sagte Tezzeret unheilvoll. „Ich überlasse dir den Ruhm. Erfolg oder Niederlage.“ Der Große Konsul beugte sich über die Modelle auf dem Tisch. Seine Klauen kratzten feine Linien in das polierte Messing.
Mutter ist oben, schätze ich.
Dort sind auch die ganzen anderen wichtigen Leute. Gonti und Kari und Saheeli und vermutlich noch ein paar andere, deren Namen nicht auf -i enden. Sie ist im Moment ganz in ihrer Rolle als Erste Renegatin aufgegangen. Also ist sie gerade nicht meine Mutter. Sie ist eine Ingenieurin, die ein Problem löst. Alle dort oben in der Spitze des Ätherknotens versuchen, herauszufinden, wie sie dem Konsulat in den Hintern treten können.
Ich gähne, denn ich habe schon wieder nicht genug geschlafen. Jede Nacht seit der Machtübernahme träume ich nur von Flammen und Schreien – Albträume, wie ich sie sonst nur im Keralberg-Kloster hatte.
Ich blicke hinaus auf Ghirapur und versuche, die verschwommenen Orte in meinem Kopf den scharf umrissenen vor mir zuzuordnen. Ich bin daheim, aber jemand hat sämtliche Möbel umgestellt.
Ich habe den Wasserturm nicht finden können, auf den ich immer geklettert bin. Ich erinnere mich, dass er das größte Gebäude weit und breit war. Von dort oben haben wir uns die Luftschiffrennen angeschaut – ich und meine Freunde. Die langweiligen offiziellen zur Mittagszeit oder die, die die älteren Kinder des Nachts austrugen, bei denen sie unter schrillem Getöse durch die Straßen rasten, bis die Verkehrswacht des Konsulats auftauchte. Manchmal fegten sie auch über meinen Turm hinweg oder darum herum, und ich musste mich festhalten, als heißer Blitzgeruch an mir vorbeisauste.
Alles ist größer. Die weißen Steinwände und die flachen Dächer, über die ich gerannt bin, sind unter Messing und Türkis und Schnörkeln verschwunden, die in der Mittagssonne schimmern und glitzern.
Der Wind riecht nach einer Fantastillion verschiedener Gerichte und nach Staub und Metall und nach Äther. Auf der anderen Straßenseite, hinter den Barrikaden, plärren die Panharmonika des Konsulats noch immer den „Hochzeitsmarsch der Gremlins“ in doppeltem Tempo als Endlosschleife. Sie haben sie die ganze Nacht durchlaufen lassen, und nachdem der Mond untergegangen war, hatte Nissa zu weinen angefangen und sich die Hände über die Ohren gepresst.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wollte helfen, aber meine Hände gehorchten mir nicht richtig. Sie flatterten einfach nur um sie herum wie Pfauenfedern und bestimmt habe ich wieder etwas Dummes gesagt.
Jace setzte sich zu ihr. Sie sprachen einen Moment und seine Augen blitzten auf. Sie rollte sich in einer riesigen Zimmerpflanze zusammen und wachte erst auf, als die Sonne auf sie fiel.
Ich vermisse Mutter.
Ich hatte sie schon so lange vermisst, aber ich war darüber hinweggekommen. Zwölf Jahre sind eine lange Zeit, völlig am Boden zerstört durch die Gegend zu laufen. Das ist schon irgendwie komisch, da ja wahrscheinlich jeder glaubt, ich wäre schon die ganze Zeit über völlig kaputt, aber für so ungefähr zwei Jahre konnte ich nicht einmal richtig atmen.
Jetzt ist sie wieder da. Irgendwo über mir, nur ein kleines Stück entfernt. Sie ist so beschäftigt mit diesem Krieg ... Ich sehe – höre – sie nur, wenn sie mich zudeckt. Wahrscheinlich glaubt sie, dass ich schlafe, weil es so spät ist, wenn sie mit ihren ganzen Besprechungen fertig ist, aber ich bin immer wach, drehe mein Gesicht im Kissen weg, halte den Atem an und warte darauf, dass sich sich auf die Kante der Liege setzt.
Doch das tut sie nie, und ich kann nicht mehr darüber hinweg sein.
Ich will, dass sie mich so umarmt wie in der Arena. Nur zehn Minuten über irgendwas redet, was nichts mit dem Konsulat zu tun hat, mir ihre Hände auf die viel zu bleichen Wangen legt und mich tadelt, weil ich einen Sonnenbrand bekomme und sie nicht. Ich möchte verschüttetes Öl und Brandlöcher vom Strom auf ihrem Mantel riechen. Ich möchte, dass sie mir die Haare flicht, wie sie es immer getan hat, bevor ich in dem Sommer, in dem es so heiß gewesen war, meinen Kopf mit der Heckenschere bearbeitet hatte. Ich kam aus dem Gebälk geklettert und drehte mich ganz stolz und genoss den Wind auf meinem Nacken und sie fing zu weinen an. Dann holte sie Nani Jalbalas alte Schere und schnitt es gerade und sagte mir, ich würde toll aussehen. Ganz erwachsen.
Ich will ihr erzählen, wie es mir so ergangen ist und was ich aus mir gemacht habe, weil sie nur die Chandra kennt, die immer alles vermasselt.
Das letzte Mal, als sie mich sah, habe ich etwas vermasselt. Ich habe das Konsulat zu uns geführt.
Meinetwegen ist Vater tot.
Ist es das? Gibt sie mir die Schuld? Redet sie deshalb nicht mit mir? An ihrer Stelle würde ich es genauso machen. Ich gebe mir ja auch die Schuld.
Das war es, was das Reinigende Feuer mir gezeigt hat, damals auf Regatha. Als ich zuletzt Albträume hatte. Ich dachte: Ich bin verantwortlich, ich habe es getan, ich habe einen Fehler gemacht und jetzt sind alle tot. Vater. Die Leute aus dem Dorf. Mutter. Deshalb brennt die Kälte nicht mehr. Deshalb hat die Flamme geflüstert: „Dir kann vergeben werden.“ Aber ich habe mir nie vergeben.
Es war sowieso nur ein blödes Feuer. Man konnte nicht mal Nüsse darauf rösten.
Das Deck hinter mir knarzt. Schritte. Ich wische mir über die Augen, denn was, wenn es jemand ist, den ich nicht kenne? Oder schlimmer noch: jemand, den ich kenne.
Was, wenn es Nissa ist?
Ich denke nicht viel an das, was ich auf Ravnica getan habe. Jedes Mal, wenn ich es tue, möchte ich mich zusammenrollen und mir eine Decke über den Kopf ziehen. Sie war immer bloß nett zu mir und ich – Es ist nur so, dass du mich die ganze Zeit über so angestarrt hast. Ich konnte sehen, wie ein kleiner Teil von ihr da gestorben ist.
Meine Wangen und mein Haar entzünden sich. Ich schlage die Flammen aus. Die Schritte nähern sich. Langsamer.
Dann kamen wir hierher, nach Kaladesh, und alles, was ich gemacht habe, war, sie wegen meiner Mutter anzuschreien. Ich habe kein Stück an sie gedacht. Warum ist sie überhaupt gekommen, nachdem ich dafür gesorgt habe, dass sie sich so schlimm –
O Mist. Ich habe sie umarmt, als wir nach Mutter gesucht haben. Zweimal. Ohne darüber nachzudenken, denn wann mache ich das schon? Obwohl ich doch weiß, wie sehr sie zusammenzuckt, wenn jemand sie auch nur im Vorbeigehen streift. Sie muss in Gedanken bestimmt an die Decke gegangen sein. Ich bin so ein –
„Chandra?“ Eine laute, tiefe Stimme, zögernd.
Oh. „He, Gids.“
Er lehnt sich auf das Geländer, nur ein paar Schritte entfernt, auf seine großen, muskulösen Oberarme. In dieser lockeren Haltung sind seine Augen auf einer Höhe mit meinen. „Wie geht es dir?“
Ich schaue auf die Straßen hinaus. Abgesehen von den Panharmonika ist alles still und leer. Hunderttausend Menschen verstecken sich in ihren Häusern und warten, dass der Monsun losbricht. Heißer Wind weht mir die Haare aus der Stirn. „Mir geht‘s gut.“
Ein kleiner Atemzug entfährt ihm, halb Lachen, halb Seufzen. „Chandra, es ... Es geht mich nichts an. Das weiß ich. Es tut mir leid. Du hast viel durchgemacht. Heimzukommen. Zu erfahren, dass deine Mutter am Leben ist ... Das ist etwas Gutes, aber trotzdem etwas, woran man sich erst einmal gewöhnen muss. Dann der Mann, der ... Der Mann, der versucht hat, dich zu ermorden. Und nun tobt ein Bürgerkrieg in deiner Heimat. Das ist mehr, als irgendjemand in zwei Monaten zu verarbeiten haben sollte.“
„Was willst du mir denn damit sagen? Dass ich nicht ganz zurechnungsfähig bin? Ist es das?“ Zittern meine Hände? Meine Hände zittern. Hört verdammt noch mal damit auf.
Ich spüre den Blick des großen, mitfühlenden Gideons auf meinen Schultern. Seine Stimme wird noch leiser. Über das rasend schnelle Zwischenspiel des „Hochzeitsmarschs der Gremlins“ murmelt er: „Ich will damit sagen, dass du ... Dinge sehr tief empfindest. Das ist etwas, was ich ... Etwas, was toll an dir ist. Wenn du jemanden zum Reden brauchst oder nur mal Dampf ablassen möchtest ... dann bin ich da, ja? Wann auch immer.“
Er ist so verdammt aufrichtig. Das mochte ich an ihm, als wir uns kennenglernt haben. Nachdem ich nicht mehr böse auf ihn war. Eine sehr aufrichtige, alle herumkommandierende, immerzu predigende, nachsichtige, nervige, entzückende Spaßbremse. Mit Muskeln an allen möglichen interessanten Stellen. Und Augen mit einer Million Farben, wie eine Landschaft von ... irgendeinem Maler, der richtig gut Landschaften malen kann. Und Bauchmuskeln, auf denen man Käse reiben könnte, und auf keinen Fall habe ich mir sechs Monate lang vorgestellt, mit den Händen darüberzustreichen. Zumindest nicht mit seinem Wissen.
Es fühlt sich an, als wäre das eine Ewigkeit her. War ich da wirklich erst neunzehn? Also ein Kind? Ich frage mich, wie alt er war. Oder ist. Beides wäre in Ordnung. Ich kann rechnen. Meine Mutter ist Ingenieurin.
Ich gähne erneut, so sehr, dass mir Tränen in die Augen schießen. Ich weiß nicht, warum ich ihn frage: „Gideon, weißt du noch, wie wir uns kennengelernt haben?“ und durch meine Haare hindurch schräg ansehe.
Er schaut rasch auf und öffnet den Mund, doch dann hält er inne und schüttelt den Kopf. „Sehr gut sogar.“
„Ich habe kürzlich daran denken müssen.“
Er schaut auf die Straßen hinaus. „Warum denn?“
„Ich träume wieder.“ Ich wende den Blick ab, in den Wind hinein, und er brennt mir in den Augen.
Er atmet ein und versucht, es ganz beiläufig klingen zu lassen. „Ich verstehe.“ Er hängt komisch über dem Geländer und kratzt sich den Bart. „So wie der Traum, den du schon mal hattest –?“
„Auf Diraden. Ja.“ Diraden, wo die Nächte ewig dauerten und wir in einem Dorf voller Arschgeigen gemeinsam in einem durchhängenden Feldbett hatten schlafen müssen, das nach Schimmel gerochen hatte. Ich war schweißgebadet und keuchend aufgewacht und hatte die Zähne zusammengebissen, damit ich nicht aufschrie, weil ich schon wieder träumte, wie Bunarat brannte. Und seine großen Arme hatten sich um mich geschlossen und mich in dieser furchtbaren Gegenwart anstelle dieser Vergangenheit aus einem Albtraum festgehalten, und er hatte nicht wieder losgelassen, bis mein Zittern vorbei war.
„Es tut mir leid“, sagt er leise auf dem Deck und wird rot. „Das hätte ich nicht tun sollen. Nicht ohne zu fragen. Ich bin aufgewacht und du hast so ... gelitten.“
„Ja, das habe ich.“ Ich knuffe seinen Arm, aber ich lege mich dabei nicht voll ins Zeug. Es ist mehr so ein Stups. Aber immerhin auch nicht bloß ein sachtes Antippen. „Wenn ich nicht einverstanden gewesen wäre, dann kannst du mir aber so was von glauben, dass ich dir das gesagt hätte. Und anschließend hätte ich dich angezündet.“
„Ich habe mich schon gefragt, warum du in letzter Zeit so müde wirkst.“ Er knibbelt ein bisschen abblätternde Farbe vom Geländer. Eine Flocke löst sich und wird vom Wind davongeweht. „Damals hast du mir erzählt, dass du von einem Ort stammst, auf dem Magie – insbesondere Feuermagie – verboten wäre. Dass deine Familie versucht hat, sie zu verbergen. Dass du dafür verantwortlich warst, dass ein Dorf niedergebrannt ist, und für den Tod deiner Eltern.“ Er sucht nach Worten. „Du hast den ... Schatten einer Wahrheit gestanden.“
Mein Bewusstsein bringt alte Gedanken zurück, vernebelt und voller Löcher. Eine dunkle Zelle, von schimmerndem Mondlicht auf Wasser erhellt und von Zaubern, die mich am Wirken meiner eigenen Magie hindern sollten. Du stellst dich den Dingen, die du getan hast, sagte er, und akzeptierst die Last der Verantwortung für deine Taten. Ohne Lügen oder Ausreden. Was hast du getan, dass du diese Geister mit dir herumtragen musst?
Nur einen Augenblick lang bin ich wieder in dieser Zelle. Mir ist übel und ich schäme mich so. Ich frage mich, ob es einen Eimer gibt, in den ich mich übergeben kann, und wenn nicht, wohin ich mich am besten abwende, um seine Schuhe nicht zu treffen.
„Ich kannte dich nicht, Gids. Nicht gut genug. Damals noch nicht. Alles, was ich gesagt habe, war wahr ... Es war nur nicht die ganze Wahrheit. Die wichtigsten Teile habe ich dir erzählt. Das Feuer. Die Schreie und die ... Gerüche und wie es sich angefühlt hat. Dass es alles meine Schuld war. W-wie sie meinetwegen alle sterben mussten.“ Ich räuspere mich, um das Brechen meiner Stimme zu verbergen, das er wahrscheinlich sowieso gehört hat, aber nie etwas sagen würde, weil Gideon einfach so ist. Ich wische mir mit zitternder Hand über die Nase, schniefe und putze alles an meinem Schal ab.
Er seufzt und schiebt seine Hand neben meine auf dem Geländer. Wir berühren uns noch nicht ganz. Es ist nur ein ... Angebot. Ein Teil von mir will es annehmen und sich daran festhalten. „Nun“, sagt er. „Das, was du zugegeben hast, muss wohl ausgereicht haben. Das Reinigende Feuer wollte, dass du deine Verantwortung akzeptierst. Und nicht bis ins Letzte alles beichtest.“ Er macht eine Pause. „Zumindest wurde mir das so gesagt. Ich bin nicht so hindurchgeschritten wie du.“
Ich lächele und greife nach oben, um ihm das Haar zu wuscheln. Ich muss mich dafür auf die Zehenspitzen stellen, und das ist in gepanzerten Stiefeln gar nicht so leicht. „Ein braver Kerl wie du hätte sich darüber keine Sorgen machen müssen.“
Seine Arme spannen sich an. „Ich wünschte, das wäre wahr.“ Er schaut mich an und dreht dann seinen Kopf zur Seite wie ein scheues Hündchen. „Ich bin für Dinge verantwortlich, die ich nicht wiedergutmachen kann.“
Meine Hand wandert langsam unter meine Nase, und ich tue so, als wollte ich mir ein Niesen wegreiben. Meine Finger riechen nach seinem Haar. Wie Kräuter, die hier nicht wachsen. Riecht so der Wind auf Theros?
„Ich habe ein Museum in die Luft gejagt“, platzt es aus mir heraus. WAS?
Er blickt mich mit großen Augen an. „Was?“
Zieh es durch, Chandra. „Nicht mit Absicht! Als wir uns kennenlernten. Auf Kephalai. Weißt du nicht mehr? Das Heiligtum der Sterne. Ich hatte versucht, die Drachenschriftrolle zu stehlen? Deswegen hast du mich verhaftet. Das Gefängnis. Die Schlangenkopfkerle. Diese Nummer?“
Er zuckt zusammen.
Warte, halt, falsche Richtung, hau den Rückwärtsgang rein, argh! „Du hattest recht. Als du meintest, ich würde Unschuldigen Leid zufügen. Ich ... Ich weiß nicht, ob das für die Wachen gilt. Ich traue Wachen nicht. Nicht mehr. Vielleicht habe ich es nie getan. Aber das Heiligtum war voller Leute, und –“
Als die Wände einstürzten, dachte ich an die ganzen Menschen, die ich dort drinnen gesehen hatte. Die Großmütter, die auf eine Vitrine deuteten und meinten, wie sie sich an damals erinnerten und dass es da eine lustige Geschichte gäbe – genau so, wie Frau Pashiri es sagen würde –, und die Kinder verdrehten die Augen, wippten unruhig auf ihren ausgetretenen Schuhen hin und her und suchten nach einem Ort, zu dem sie rennen konnten, irgendwohin, wo es nicht staubig und vergilbt, sondern voller Licht und unvorstellbarer Dinge war. Die Steine prasselten auf sie alle herab. Meine Schuld. Keine Absicht, aber meine Schuld. Noch ein Fehler, bei dem ich alles vermasselt hatte.
Ich glaube, ich habe zu lange nichts gesagt, denn er macht einen Schritt auf mich zu. „Chandra.“ Diesmal legt er seine Hand auf meine. Sie ist warm und trocken und voller Schwielen. „Du hast das nicht gewollt.“
„Aber ich habe es getan, Gids. Weißt du, wenn ich in der Wanne sitze, kommt diese Erinnerung manchmal einfach so wie aus dem Nichts hoch. Ich fahre zusammen und sage: ‚Dumm!‘. So richtig laut. Und dann lasse ich mich unter das Wasser sinken. Und von da dann wird das Bad meist zu einem Dampfbad ...“ Wann habe ich überhaupt das letzte Mal gebadet? Nach den letzten paar Wochen muss ich riechen wie ein Goblin-Schmied. „Ausgerechnet du müsstest doch wissen –“
„Ich weiß.“ Er zieht die Hand weg und fährt sich durchs Haar, um wieder glatt zu streichen, was ich in Unordnung gebracht habe. Ich will es gleich noch mal zerstrubbeln. „Chandra, du hast damals nicht an sie gedacht. Jetzt tust du es. Dass du es jetzt bereust, bedeutet ... Na ja, dass du erwachsen geworden bist. Und dass du zu den Guten gehörst. Im Grunde.“
Ich drehe mich weg und tigere über das Deck. Da drüben an der Treppe steht eine Zierpflanze – Jasmin, der in voller Blüte steht. Ich zupfe ein weißes Blütenblatt ab und zwirbele es zwischen den Fingern. „Es bedeutet, dass ich ein Taugenichts bin, Gids.“
Er holt erneut Luft und gibt ein Ächzen von sich. „Manchmal“, sagt er, „ist das so, ja. Tut mir leid. Aber du ... gibst immer dein Bestes. Das hilft zwar nicht immer, aber es zählt. Es bedeutet, dass du es wiedergutmachen kannst.“
Meine Lippen verziehen sich. Das Blütenblatt rutscht mir aus den Fingern und wird vom Wind davongetragen. „Wie auch immer ... Worauf ich hinauswill, ist, dass das, was auch immer du getan hast, nicht so schlimm sein kann wie alles, was ich getan habe. Und wenn das Reinigende Feuer jemanden wie mich durchlässt, dann hätte jemand wie du – jemand, der krankhaft über alles nachdenkt – keine Schwierigkeiten gehabt, und wenn es das nicht sehen konnte, ist es auf jeden Fall ein dummes Feuer und ich bin froh, dass ich es kaputtgemacht habe.“ Die Worte hören auf, aus mir hervorzuströmen, und ich hole Atem.
Er schaut mich ungläubig an. „Das war es, worauf du hinauswolltest?“
„Vielleicht nicht, als ich angefangen habe zu reden, aber jetzt schon.“ Ich verschränke die Arme vor der Brust und funkele ihn mit gespielt finsterem Blick an. „Fühlst du dich jetzt besser oder nicht?“
Gids blinzelt. Dann lacht er, tief und und aus vollem Hals. „Das tue ich, ja. Danke.“ Er tritt zurück und späht zum Turm hinauf. „Aber ich sollte wieder nach oben. Nachschauen, wie die Verteidigung vorangeht. Wenn du irgendetwas brauchst, dann frag nur. Ja?“
Ich brauche meine Mutter. Ich will neben ihr sitzen, ihre Arme und Schultern und Hüfte gegen meine stoßen spüren, während sie mit einer Hand isst und mit der anderen Gleichungen aufschreibt. Ich will Methi Thepla essen, das sie nur für uns gemacht hat, obwohl sie es immer ein bisschen anbrennen lässt. Ich will den Kopf gegen ihre Schulter legen. Ich will ihre Arme um mich spüren, weil es so lange her ist.
Er ist fünf Schritte weit entfernt, als ich über das Geländer rufe: „Warte! Das ist dumm, aber ich könnte eine – eine Umarmung gebrauchen. Wenn es dir nichts ausmacht. Ich weiß, das ist schräg. Ich habe nur gerade darüber nachgedacht, dass ich kaum Zeit mit meiner Mutter verbracht habe. Nicht einmal einfach nur zehn Minuten, und –“
„Chandra.“
„Du musst das nicht tun. Umarmungen sind ja auch etwas durch und durch Persönliches, oder? Ich meine, du hast mir das Leben gerettet und so, aber das ist keine Umarmung. Jeder würde jeden retten. Das macht man eben so. Vielleicht nicht Lili. Und außerdem habe ich dich auch gerettet. Also zählt das nicht mal –“
„Chandra.“
„Und ich weiß, um eine Umarmung zu bitten, ist nicht normal. Man sollte sie eigentlich anbieten. Es gibt so Momente, wenn ich jemanden ansehe, und dann ist das, als würde da so eine Art Anziehungskraft wirken oder so. Als würde ich es einfach wissen, aber ich weiß es gleichzeitig auch nicht, verstehst du? Tut mir leid. Ich sage das alles ganz falsch und –“
„Chandra.“
Zittere ich schon wieder? Ich balle meine zuckenden Finger zu Fäusten. Was zum Teufel, Chandra! Ich schlucke schwer, fahre mir über die Augen und drehe mich um. Er steht mit ausgebreiteten Armen da und lächelt. Seine Finger winken ein „Na komm schon her, du großes Dummchen“.
Na gut. Jetzt muss ich ganz ruhig bleiben. Langsam zu ihm gehen, als wäre das ja alles gar nicht so schrecklich wichtig – Schwups! Und schon bin ich bei ihm, meine Arme um seine Hüften. Ich bin mir völlig sicher, dass ich nicht zu ihm hinüber gerannt bin. Es soll mir also bloß keiner erzählen, Teleportationsmagie existiere nicht mehr.
Er ist so verdammt groß. Mein Kopf passt unter sein Kinn. Er riecht nach Schweiß und Öl, die Schmutzschicht eines langen Tages, an dem er schwere Sachen geschleppt hat.
Ich vergrabe mich wie ein kleines Kätzchen in seinen Armen, lege meinen Kopf gegen seine Brust und schließe die Augen. Sein Herz pocht an meinem Ohr. Er umschlingt mich völlig, trotz der Rüstung und allem. Sein Atem kitzelt mich oben auf dem Kopf.
Es ist lange her, dass jemand mich so gehalten hat. Hätte Gids das vor vier Jahren getan, hätte es mich an allen möglichen Stellen gekribbelt, an denen mir das gut gefällt. Jetzt fühlt es sich nur ...
... sicher an.
Ein sachtes Klappern von Porzellan.
Ich öffne ein Auge, luge über einen dicken Bizeps und sehe – O MIST.
Ich will Gideon zurückstoßen, aber er ist so groß, dass stattdessen ich rückwärts stolpere. Ihm klappt die Kinnlade herunter, er macht einen Schritt nach hinten und schaut mich entsetzt an. O nein, Gids, du hast doch gar nichts gemacht ...
„Ich wollte euch nicht stören.“
Nissa stellt einen Teller mit Auberginen-Kartoffel-Curry auf eine der Bänke. Ihr Blick ist gesenkt, und vorsichtige, lange Finger schieben Porzellan über Stahl. In ihrer Armbeuge liegt eine große, perfekt reife Mango. Ihr Zopf weht im Wind.
„Das tust du nicht.“ Ich taste nach dem Geländer, greife zu, halte mich gerade. „Wir unterhalten uns nur und –“
„Dann beachtet mich einfach gar nicht.“ Sie zieht den Stiel der Mango ab – hat sie sie in ihrer Kleidung wachsen lassen? – und legt die Frucht neben den Teller. „Ich habe das hier mitgebracht, falls du hungrig bist.“ Sie richtet sich auf und blickt mich geradeheraus an – ruhig und mit gefalteten Händen. Endlose Jahre zeitlosen Grüns.
ZWINKERN. ATMEN. Vermassele das bloß nicht. Unterhalte dich einfach ganz normal mit ihr.
„Gids kam her, um nachzusehen, wie es mir geht, und wir haben zu reden angefangen, und da war dieses eine Mal, da hat er mich verhaftet, weil ich ein Museum in die Luft gejagt hatte –“ DU VERMASSELST DAS „– aber eigentlich wollte er das gar nicht, und dann waren wir auf einer Welt, wo wir gegen diesen gruseligen Vampir von der Sorte ‚Ich bin aber ein ganz feiner Herr, Gnädigste‘ gekämpft haben, und dann habe ich an meine Mutter gedacht und –“
Sie senkt den Blick, die Lider mit den langen Wimpern schließen sich. „Erzähl mir später davon, wenn du möchtest. Bitte entschuldigt mich.“ Sie dreht sich um, umrahmt von dem Jasminstrauch. All seine Blüten haben sich fest geschlossen, grün und versiegelt.
Wie schaffe ich es nur, immer alles so zu vermasseln? Innistrad explodiert? Alles gut, danke. Mit Nissa reden? Ein menschliches Wrack.
Das kann doch nicht meine Hand sein, die auf ihre Schulter fällt und sie bei dieser Berührung zum Zusammenzucken bringt, denn ich weiß es doch besser, oder? „G-geh nicht“, stammle ich. „Ich meine, du bist sauer. Ich habe dich sauer gemacht.“
„Nein?“, sagt sie, vorsichtig das Wort ausprobierend. „Nein. Es gibt so vieles, was ich nicht ... verstehe. Aber ich bin nicht deinetwegen verärgert. Glaube mir.“
Sie hebt eine Hand und schiebt meine brennenden Finger sachte von ihrer Schulter. Ihre sind kühl und riechen nach den Früchten des Sommers, nach Freudenfeuern bei Sonnenuntergang und nach Regen in der Dämmerung. Oder vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. „Sei unbesorgt.“
„CHANDRA NALAAR!“
Es ist wahrscheinlich echt ziemlich lustig, wie wir beide zusammenfahren.
Ich sollte mich erschrockener darüber zeigen, dass es Nissa erschreckt, als ich beim Herumfahren ihren Arm streife, aber ich bin zu sehr damit beschäftigt, über Ghirapur hinauszuspähen, weil der „Hochzeitsmarsch der Gremlins“ endlich verstummt ist undich diese Stimme kenne.
„Ich weiß, dass du mich hören kannst.“. Ein tiefes Rasseln, verstärkt und blechern, hallt von dem Stein und dem Stahl um uns herum wider.
„Wer ist das?“ Gids. Er schiebt seine Schulter vor mich und blickt finster über die glänzenden Dächer. Seine Peitschenschwerter fahren aus.
Ich versuche, „Baral“ zu sagen, aber meine Kehle ist voller Brackwasser.
„Ich habe mich da etwas gefragt. Hast du deinen Freunden die Geschichte erzählt? Wie du deinen Papi getötet hast? Wie du dafür gesorgt hast, dass Mami für fünf ... lange ... Jahre ... in eine Zelle gesperrt wurde?“
Alles wird weiß. Funken sprühen mir aus den Augen. Es ist mir egal.
„Mami und ich haben uns jeden Tag unterhalten. O ja, das haben wir. Ich habe sie an alles erinnert, was du getan hast. Jeden Tag. Hat sie dir das erzählt?“
Mutter?
„Vielleicht hat sie sich zu sehr geschämt.“
Nein!
„An manchen Tagen hat sie geweint. Als ich ihr erzählt habe, wie deine Flammen Papi verschlungen haben. Wie er schreiend gestorben ist, als seine Haut schwarz wurde und aufplatzte. Wie er im Angesicht des Todes darüber geflucht hat, dass du je geboren wurdest.“
„DAS IST EINE VERDAMMTE LÜGE!“ Es klingt schrill und abgehackt. Die Stimme einer Elfjährigen.
Gideon ruft zum Turm hinauf. Irgendetwas über Späher, Thopter. Ich weiß es nicht. Blitze zucken über meinem Kopf und Staubwolken wallen von den Dächern auf der anderen Straßenseite auf.
Baral lacht. „So viele sind an jenem Tag gestorben, du kleines Monster.“
„Ich bringe ihn um. Ich werde ihn verbrennen.“ Die Worte kommend fauchend durch zusammengepresste Zähne und fallen wie Sterne herab.
„Das ist es, was er will.“ Das Einzige, was ich neben dem Donnern meines Herzens hören kann, ist Nissas Stimme. Warum ist sie noch hier? Warum sollte sie hierbleiben?
„Ich kann das nicht zulassen.“ Meine Hände sind zu Fäusten geballt, lodernd und von Flammen umhüllt. „Halte mich nicht auf. Ich kann nicht zulassen, dass er –“
Aus dem Augenwinkel sehe ich ihre Hände über meinen Armen schweben, ohne mich zu berühren.
„Ich weiß“, sagt sie. „Ich werde dir helfen.“
Gideon rief zu den oberen Decks hinauf: „Alle in Alarmbereitschaft! Das könnte ein Ablenkungsmanöver sein!“ Er blinzelte in die Mittagssonne und nahm das bestätigende Winken zur Kenntnis. Er drehte sich um. „Chandra –“
War fort.
Über das Dröhnen verstärkten Lachens hörte er das Donnern ihrer Stiefel auf den Treppen, das Kreischen von Metall auf Metall, als sie stolperte, weil sie zu schnell um eine Ecke rauschte, und Flüche.
„Du hättest sie aufhalten sollen!“ Er hastete zum Geländer und beugte sich darüber.
Nissa war auf der Treppe, die nach unten führte. Ein Fuß schwebte in der Luft, als sie ob seines Ausrufs anhielt. „Warum?“, fragte sie.
Er ballte die Fäuste. „Das ist ... Sie wird sich noch umbringen. Sie einfach so zu rufen? Er lockt sie direkt in einen Hinterhalt. Sie denkt nicht nach. Sie lässt sich nur von ihren Gefühlen leiten, und wir sollten diejenigen sein, die –“ Sein Magen drehte sich um, von einem Dolch aus Eis getroffen und im freien Fall hängend. Warum war er noch nicht halb die Treppe hinunter?
Nissa legte den Kopf schräg. „Das ist, wer sie ist, Gideon.“
Tief unten schoss ein flackernder, roter Flammenstoß aus dem Knoten und schnürte ihm für die langen Augenblicke, die Chandra in der Luft war, die Kehle zu, weil sein Herz einen solchen Satz nach oben machte. Dann purzelte sie über das angrenzende Dach und rappelte sich auf, noch immer Verwünschungen ausstoßend.
„Jura!“ Eine Stimme von oben, schwach im Wind. „Die Mechakolosse rücken auf unsere Stellungen vor!“
„Ich –“ Er wollte Chandra nachlaufen. Oder?
Er kniff die Augen zusammen, sog langsam die heiße Mittagsluft durch die Nase ein und konzentrierte sich auf die Gerüche von Öl und Rauch. Das blecherne Blöken des Mannes am Lautsprecher verklang. Ein Beben pflanzte sich durch seine Füße fort, als in der Ferne ein dumpfes Donnern ertönte.
Es kommt eine Zeit, mein Junge, hallte Hixus‘ Stimme aus längst vergangenen Tagen in ihm wider, da du dich zwischen jenen entscheiden musst, die du beschützen willst, und jenen, du du beschützen musst.
Er öffnete die Lider, blickte in die endlosen Augen Nissas und atmete durch den Mund aus, um die Luft mühsam in Worte zu pressen, die wie Asche schmeckten. „Pass auf sie auf.“ Sie nickte und verschwand.
Er hastete die Stufen hinauf und versuchte, nicht über die flüchtigen Wimpernschläge nachzudenken, als er eine winzige, wilde, kostbare Sonne fest gegen seine Brust gedrückt hatte.
Barals Stiefel krachten bei seiner Landung knirschend durch die oberste Schicht des Pflasters und die Luft wich ihm aus den Lungen. Binnen Sekunden war er auf den Beinen und rannte weiter. Alles lief genau nach Plan.
Doch er wurde bereits langsamer. Keuchen, Atemzüge wie eine Faustvoll Nadeln, die ihm die Luftröhre hochkamen. Er hatte nie zuvor in Rüstung rennen müssen. Zumindest nicht mehr als ein paar Dutzend Schritte. Gerade genug, um auf Armeslänge an irgendeinen Möchtegernmagier heranzukommen, der dachte, seine Fähigkeiten verliehen ihm einen Reichweitenvorteil.
Er war alt. Schwerfällig. Langsam.
Er hatte das Gefühl in seinem linken Arm nie wiedergewonnen. Oh, er hing stumm an seiner Seite und bewegte sich nach Jahren schmerzhafter Bemühungen wieder gehorsam. Doch er konnte sich nie sicher sein, ob er eine Waffe oder einen Suppenlöffel auch wirklich fest genug hielt. Einmal hatte im Winter sein Ärmel Feuer gefangen, als er zu dicht an der Heizung in den Barracken gestanden hatte. Er hatte nur darüber lachen können, als er auf das bereits zerstörte, verkohlte, stinkende Fleisch gestarrt hatte. Es war einfach zu lustig. Er trug sogar den Helm weniger als vor der Zeit, da das kleine Monster ihm sein halbes Gesicht weggebrannt hatte. Es war nur zu einem weiteren Mittel zur Einschüchterung geworden, etwas, wovor angeklagte Magier zurückzucken konnten.
Sie hatte ihn ruiniert.
Baral schepperte die Gassen entlang – links, rechts, wieder links. Baan hatte ihn diese Reihenfolge auf dem Flug hierher verflucht viel zu oft wiederholen lassen. Um ihn herum waren die Gebäude nicht mehr neu und glänzend, sondern wurden langsam durch den an ihnen nagenden Verfall zu Schutt und Staub. Schweiß sammelte sich in seinem Kragen, heißer Atem ließ die Luft in seinem Helm stickig werden.
Hinter ihm wütete und fluchte das Nalaar-Mädchen. Wüste Obszönitäten hallten die steinernen Gassen entlang.
Er grinste. Sie war größer, als er sie in Erinnerung hatte, doch auf ihren Verstand schien das nicht zuzutreffen. Noch immer schrie sie herum und schlug lieber um sich, wenn es klüger gewesen wäre, einfach zu schweigen. Seit ihrer Heimkehr war sie in eine Falle nach der nächsten getappt. Und deshalb würde er gewinnen.
Deshalb würde er sie vernichten.
Der Ort war Baans Vorschlag gewesen. Ein Labyrinth aus alten, leer stehenden Steingebäuden am Fluss, deren Gärten längst vertrocknet und verweht waren. Nichts Entflammbares weit und breit.
Er bog um eine Ecke, tippte an das filigrane Drahtgeflecht an seinem Helm und brüllte über die Schulter: „All diese Zeit hat deine Muttergelitten. Sie hielt dich für tot.“
Sie kam um die Ecke gerannt, umgeben von einem blutroten, kometenhaften Nimbus. Sie bleckte die Zähne, als sie die Finger auffächerte, ihren Arm ausstreckte und zustieß.
Die Luft zwischen ihnen entzündete sich augenblicklich, ein saugendes Brüllen, gegen dessen Zug er sich stemmen musste. Ein Vorhang aus weißgoldenem Feuer raste auf ihn zu wie der Aradara-Express.
Er hob eine Hand, breitete die Finger unter einer Korona aus eisigem Blau aus und ließ die Flammenwolke mit einem abfälligen Wink vergehen. Einzelne Fünkchen tanzten die Straße entlang, fanden jedoch in dem Staub und in den Steinen keine Nahrung.
„Und was hast du getan, während sie vor sich hin rottete?“, höhnte er. „Dein Leben irgendwo in der Fremde genießen?“ Er duckte sich um die Ecke, während sie stolperte und fluchte und Funken aus ihrem brennenden Haar stoben.
Ein hohes, fröhliches Glucksen wollte ihm aus dem Bauch aufsteigen, als er von ihr wegrannte, doch er schluckte es hinunter. Er hatte dreißig Jahre damit verbracht, die Dinge zu unterdrücken, die nun in ihm aufstiegen.
Die Luft vibrierte vom Surren von Thopterflügeln. Sie waren fast am Zielpunkt. Seine Schwadron würde hinter dem Monster auftauchen, damit die Falle –
Er wirbelte um die nächste Ecke und kam schlitternd zum Stehen.
Die Straße war von einer Mauer aus rotschwarzem Gestrüpp, Dornen mit Widerhaken und wuchernden, smaragdgrünen Blättern blockiert.
Das ... Das war vorher noch nicht hier gewesen.
Er drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um dem Mädchen seinen gepanzerten Stiefel in den Magen zu rammen. Es sackte würgend in sich zusammen.
Er stolperte zurück und hob sein Schwert, während sein Opfer in den Staub kotzte. Die Flammen, in die es gehüllt war, nahmen ein fiebriges Gelb an, als er vorstürmte und die Klinge schwang.
Der gepanzerte Unterarm des Mädchens schnellte hoch, um den Schlag abzufangen. Funken stoben, als Metall über Metall kratzte.
Der linke, von Feuer umgebene Arm der wehrhaften Wildkatze schwang herum ... und verfehlte ihn um Längen.
Beinahe hätte er gelacht.
Dann spie sie Galle auf die Straße und senkte die linke Schulter, um sie ihm vor die Brust zu stoßen. Ein leises Schnalzen war zu hören. Sie sog pfeifend Atem ein.
Er stolperte nach hinten in eine wütende Hitze.
Sie hat die Dornen in Brand gesteckt!
Mit seinem toten linken Arm riss er sich den brennenden Umhang von den Schultern und warf ihn auf die Straße.
Er musste irgendwie um sie herumkommen. Sie durfte ihn nicht zurück in das Feuer zwingen.
Das Summen von Thoptern wirbelte Steinchen aus dem alten Pflaster auf. „Hauptmann!“, rief eine Stimme über den Lärm, flach und blechern durch die Verstärkung.
Das Mädchen knirschte mit den Zähnen, während Funken aus seinen Augen sprühten und es versuchte, ihn mit seinem linken Arm zu treffen – aber es schnappte nur mit vor Schmerz glasigen Augen nach Luft. Der Arm baumelte ihm schlaff an der Seite.
So.
Er schwang sein Schwert nach der Korona der rothaarigen Teufelin und versuchte, ihren Arm zu treffen. Sie taumelte viel zu weit zurück. Keine ausgebildete Kämpferin. Nur ein zorniges Kind.
Ein wirbelnder Feuerball erwachte in ihrer linken Hand und ... sie fiel hart auf das Pflaster, vom toten Gewicht ihrer Gliedmaße in den Staub gezogen.
Er wusste, wie sehr ein unbeweglicher Arm das Gleichgewicht störte. O ja, das wusste er sogar sehr genau.
Die flackernden Schatten von Thopterflügeln glitten über ihn hinweg, als er sein Schwert hob. Das Metall war so geschmiedet, dass es Hitze bis zu einem gewissen Grad widerstand, doch das grellweiße Gleißen der Renegatin hatte es bereits zum Glühen gebracht und verkrümmt. Er ließ es auf ihren Hals niederfahren.
Sein Arm wurde aufgehalten und ließ sich nicht bewegen.
Er sah hin – umschlungen von einer flammenden Ranke? –, und mehr als diesen Fehler brauchte sie nicht. Das Feuer, das sie in der Hand hielt, brach auf. Brennende Blütenblätter leckten über seine Rüstung und sengten sich durch sein Visier.
Er blinzelte Rauch weg und lachte hustend. Dem Geruch in seinem Helm nach zu urteilen, hatte er gerade seine andere Augenbraue verloren. Das Mädchen krabbelte auf dem Rücken von ihm weg und keuchte vor Schmerzen, als es seinen tauben Arm hinter sich her zog. Über ihm flogen die Thopter seiner Schwadron heran und zogen dabei Streifen aus weißem Dampf über den blauen Himmel.
In einem Hagel von Schutt sprossen drei Ranken aus der angrenzenden Straße empor. Sie schlangen sich um die Kabine des Haupttransporters und hielten einen der flatternden Flügel fest. Die Maschine geriet ins Trudeln, ihr Antrieb heulte auf und sie raste in ein Gebäude.
Er wandte den Blick von dem Feuerball ab. Das Gebäude stürzte ein und spie dabei eine Woge aus fahlem Staub aus, der sich auf seine Rüstung senkte.
Sein Blick huschte zu den Dächern. Dort!
„Zweihundert Meter südlich!“, rief Baral über den Lärm und deutete auf die Gestalt. „Elfe auf dem Dach!“
Der zweite Thopter wirbelte herum und entfesselte gezackte, gegabelte Blitze. Donnergrollen hallte über der Stadt.
Ein Wall aus schwarzer Erde und Pflanzen erhob sich hinter der Elfe und türmte gewaltige Mengen an Holz und Erde um sie herum auf. Die Blitze vergingen daran. Die Pflanzen schossen nach oben und wurden zu einem vierbeinigen Ungeheuer, das sich schützend über seine Herrin duckte.
Brüllend schnappte die Bestie nach dem Unterstützungsthopter. Die Elfe sprang anmutig auf die Straße und rannte zu dem Nalaar-Mädchen. Es stolperte auf die Beine, rotes Haar von fahlem Staub erstickt, in den Tränen tiefe Linien zogen. Ob aus Schmerz oder Zorn wusste er nicht zu sagen. Es spielte auch keine Rolle.
Diese Falle war nicht richtig zugeschnappt. Wäre die Elfe nicht hier gewesen, hätte er die Situation vielleicht noch retten können, aber – keine Zeit dafür. Er winkte dem letzten Thopter zu und löste seine geschwungene Unterarmklinge, um sie blindlings auf die beiden Frauen zu schleudern.
Der Thopter senkte sich zur Straße und wirbelte einen Sturm aus Staub auf.
Baral legte seinen Greifer an und zielte. Baan beugte sich aus der Kabine, musterte missmutig die Lage und fuhr dann unsicher zurück, als Barals Greifhaken sich am Fahrkorb verfing.
Die Elfe hatte das Mädchen erreicht, das mit bebenden Nasenflügeln auf sie zutaumelte. „Ich kann meinen Arm nicht bewegen, ich kann meinen Arm nicht bewegen!“, keuchte es mit weit aufgerissenen Augen.
„Es ist schon gut“, sagte die Elfe und strich ihm mit den Händen über die Schultern. „Er ist nur ausgerenkt. Lass mich ...“
Der Greifer hakte sich ein und zog ihn hinauf, als das Nalaar-Mädchen einen grellen Schmerzensschrei ausstieß.
Baral schwang sich in die Kabine, als der Pilot abhob. „Ich will, dass ein Mechakoloss auf die Elfe angesetzt wird. Sofort!“, bellte er.
Baans Blick fuhr über ihn hinweg. Er griff nach einer Ersatzklinge und befestigte sie an seinem Unterarm, so beiläufig, als ob er es jeden Tag tat. Wann hatte er das gelernt? „Hauptmann Baral!“, rief Baan über das Dröhnen des Motors. „Wir sind nicht autorisiert, einen –“
„Wir müssen sie zermalmen“, knurrte er. Er krallte sich mit seiner toten Linken an den Griff an der Decke und lehnte sich in den Wind, um hinter sich zu blicken. Der andere Thopter stieg auf und senkte die Nase, als er beschleunigte –
Das Elementar der Elfe machte einen Satz von der Straße und krallte ihn sich vom Himmel.
Er spie dem Feuerball einen Fluch entgegen. Nur verfluchte Erde! „Die Sintflut könnte dieses verdammte Ding wegwaschen –“
„Wir sind ein Ablenkungsmanöver!“, beharrte Baan.
Er trat mit gebleckten Zähnen von der Kante zurück und ragte drohend über dem Minister auf. Baan blickte ihn kühl an. „Sie haben kein Gefühl in Ihrem linken Arm. Ich habe drei Möglichkeiten ausgemacht, um dieses Wissen zu nutzen, Sie völlig bewegungslos zu machen.“
Lange Sekunden funkelten sie einander an.
„Jetzt sind es vier“, sagte Baan.
„Na schön“, schnaubte Baral.
Er tippte dem Piloten auf die Schulter und machte eine kreisende Geste mit der Hand. Während der Thopter eine Kehre flog, griff Baral sich ein Megafon von den Halterungen mit Ausrüstung und postierte sich an der Einstiegsluke.
Das Nalaar-Mädchen funkelte zu ihm herauf und wischte sich im Licht der brennenden Dornenwand über die Augen. Die Elfe stand neben ihm, eine Hand leicht auf die verletzte Schulter gelegt.
„Weiß sie es, kleine Pyromagierin?“, rief er zu ihnen hinunter. „Hast du es ihr erzählt? Von dem Dorf, das deinetwegen niedergebrannt ist? Von den Schreien der Kinder?“
Das Monster kreischte nur auf, hoch und irr und mit loderndem Haar. Ein weißer Flammenstoß schoss nach oben.
Der Thopter konnte ihm nicht rechtzeitig ausweichen.
Baral ertastete und spürte die roten Fäden, die die Flammen zusammenhielten. Seine Finger versenkten sich in das Geflecht und rissen es auseinander. Das Feuer zerstreute sich wirkungslos in alle Winde.
Neben ihm versteifte sich Baan.
Das Mädchen schrie Obszönitäten zu ihnen hinauf, während im Abwärtssog Sternenkonstellationen in seinen Augen kreisten.
Baan riss das Megafon an seinen Mund. „Diese Geräte sind nur für den Außeneinsatz zertifiziert. Eine Fehlfunktion könnte ernsthafte Verletzungen an der Wirbels–“
Sie gestikulierte sehr eindringlich zu ihm hinauf.
„Ich bin nur an der Sicherheit aller Bürger interessiert“, sagte Baan beleidigt.
Baral schlug dem Minister das Megafon aus der Hand. Es trudelte ins Nichts hinaus. „Sie ist abgelenkt. Bring mich irgendwohin, wo ich vom Ätherknoten aus zu sehen bin.“ Er grinste. „Irgendwo, von wo aus wir Mami dazu inspirieren können, sich zu uns zu gesellen.“
Baan hielt seinen prüfenden Blick einen Augenblick auf ihn gerichtet und schaute dann aus der Kabine, als sie sich von der Straße entfernten. „Die nächste Phase der Operation hat begonnen.“
Baral folgte seinem Blick. Hoch über ihnen erhoben sich jene winzigen dunklen Flecken, bei denen es sich um Thopter handelte, von den Decks der Himmelsfürst.
Gideon stieß den alten Mann beiseite und hatte gerade noch genug Zeit, nach oben zu schauen, bevor der gewaltige Stahlfuß auf ihn niederkrachte.
Dunkelheit.
Knirschen. Das Kreischen von Metall auf Metall, Vibrationen durch Stein und Staub.
Tageslicht, von träge abwärts wirbelnden Staubkörnern gedämpft.
Er griff nach oben, packte die zerborstene Kante des Pflasters und zog sich aus dem Loch. Der alte Mann, der am Straßenrand lag, starrte ihn mit offenem Mund an. Gideon grinste ihm zuversichtlich zu und klopfte sich mit einer Hand den Staub aus dem Haar. „Es ist schon gut“, sagte er mit gespielter Fröhlichkeit. „Ich bin unzerstörbar.“ Der Boden bebte, als der Fuß des Mechakolosses erneut herabfuhr. Er würde Nissa für ihre gemeinsamen Übungsstunden damals auf Ravnica danken müssen.
Nissa. Chandra. Wo waren sie?
Keine Zeit dafür. Auf die Füße, Hoplit. Beobachte die Lage. Bleibe in Bewegung. Ergreife die Initiative.
Er rappelte sich auf. Staub fiel von seiner Kleidung ab. Er stolperte über die Kante des Fußabdrucks, den der Mechakoloss im Pflaster hinterlassen hatte. Ein Windstoß trieb ihn vorwärts, als die Maschine in weitem Bogen mit ihrem Hammerarm nach seinem Kopf schlug und dabei einen Kreuzer zerquetschte und diesen die Straße entlangschleuderte. Gestalten auf der behelfsmäßigen Barrikade ein Stück die Straße hinunter duckten sich zu beiden Seiten weg. Der Kreuzer krachte erst unter dem Kreischen zerreißenden Metalls in das Hindernis und hüpfte dann weiter die Straße entlang wie ein zerknüllter Ball aus Messing und Kristall.
Nun, Hoplit, anscheinend stapft gerade ein großer mechanischer Mann die Straße entlang und wirft parkende Fahrzeuge auf die Position der Renegaten vor uns. Vier weitere Giganten sind dort draußen. Drei auf dieser Seite, zwei auf der anderen. Du weißt aber nicht genau, wo. Straßen einer Stadt sind wie Schluchten, und du stehst am Grund von einer. Taktisch gesehen der schlechteste Punkt überhaupt. Wasser und Feuer fließen nach unten.
Was machst du da, Gideon? Es stehen Leben auf dem Spiel, und du stehst hier offen rum wie ein Kind bei seinem ersten Übungskampf.
Zuerst musst du verstehen, was vor sich geht.
Er brauchte einen erhöhten Aussichtspunkt. Es würde zu lange dauern, auf ein Dach zu klettern. Die Frontlinie hätte sich dann schon längst weiterbewegt. Wäre Ajani hier, könnte er –
Konzentriere dich auf das, was möglich ist.
Der Mechakoloss war die Frontlinie und er überragte die Dächer. Gideon sprintete hinter ihm her und achtete genau auf den Takt der bebenden Schritte der Maschine. An einem ihrer Beine befanden sich Leitersprossen, wohl für Wartungsarbeiten oder Inspektionen.
Gideon visierte eine an, stieß sich ab –
– und verfehlte sie –
– und hatte kaum genug Zeit, seine Hände um die nächste darunter zu bekommen, während seine Finger golden gegen das schmerzhafte Ziehen aufleuchteten.
Das Bein des Mechakolosses schwang nach vorn und ließ Gideon in der Luft baumeln, während seine Füße durch den Staub geschleift wurden.
Jace hätte das besser geplant. Chandra hätte das besser geplant.
Unter schwerem Knarzen verlagerte der Mechakoloss sein Gewicht auf dieses Bein. Es beugte sich unter ihm. Gideon hatte kaum Zeit, seine Füße wegzuziehen.
Es war mühsam, zur Hüfte der Maschine hinaufklettern. Er musste ein weiteres Mal innehalten, als das riesige Bein sich unter ihm beugte.
Vier Straßen links von ihm beharkte ein zweiköpfiger Mechakoloss mit Röhren als Armen eine Gruppe von Renegaten mit seinen Wasserwerfern. Eine Welle aus gesichtslosen, gepanzerten Inspekteuren folgte ihm. Schlagstöcke droschen mit kaum verhüllter Begeisterung auf umgeworfene Renegaten ein. Benommene und blutige Körper wurden in Richtung übergroßer Gefangenentransporter geschleift.
Eine Gruppe aus drei Renegaten kletterte über ein Dach, als der Koloss mit den Wasserwerfern vorbeizog. Eilig stellten sie ein röhrenförmiges Gerät an der Kante des Dachs auf. Mit einem dumpfen Aufprall rammte es einen Speer durch den Arm des Dings. Während die Renegaten einen winzigen Augenblick zögerten, hob der Pilot des Mechakolosses den Arm, um den Schaden zu begutachten.
Der Arm barst auf und Wasser spritzte in alle Richtungen. Die Harpuniere huschten davon.
Bei einem Blick auf die in Auflösung begriffenen Linien der Renegaten konnte Gideon nun auch die anderen Mechakolosse sehen – sie waren viel näher, als es ihm lieb gewesen wäre. Auf ihre Panzer prasselte ein beständiger Beschuss aus Explosionen, Blitzen und Flammensäulen ein. Vor Gideons Augen sauste ein Thopter, der auf sichtlich hastige Weise mit dem Blau der Renegaten versehen worden war, an einen der Kolosse heran und rammte dessen Schultermechanismus. Die Arme des Kolosses kamen mitten im Schwung zum Stehen. Vom Thopterpiloten war keine Spur mehr zu sehen.
Ein riesiges Insekt landete auf Gideons Schulter.
Beinahe wäre Gideon von der Leiter gefallen, ehe er bemerkte, dass das Vieh aus Messing und bunter Seide bestand. „Hallo!“, piepste eine blecherne Frauenstimme. „Du bist ‚Fleischklops‘, ja?“
„Also ...“
„Die ‚Weiße Katze‘ meinte, das wäre nicht dein Codename, aber die ‚Königin der Nacht‘ hat darauf bestanden, dass er es wird.“
Er blickte an dem metallenen Insekt vorbei. Tief unter ihm winkte ihm eine dunkelhäutige Elfe von der Straße aus zu. Sie hatte die Hände vor den Mund gelegt und ein metallener Schmetterling klammerte sich an ihr Handgelenk. Sie deutete darauf und bewegte die Lippen.
„Sprich einfach mit Herrn Wackel“, wiederholte sein Schmetterling knisternd.
„Hallo?“, machte er vorsichtig und winkte zu ihr herunter. Das metallene Insekt wackelte mit den Fühlern.
„Ja, hallo! Nenn mich einfach Schattenklynge. Mit einem Y, wenn es dir nichts ausmacht – danke.“ Gideon klammerte sich gerade an der Hüfte eines gewaltigen Metallmannes fest, doch diese Unterhaltung war schnell zum Surrealsten geworden, was ihm heute widerfahren war. „Da der ‚Manteljunge‘ unterwegs ist, bin ich für die Kommunikation zuständig.“
„Wo ist Liliana?“, fragte er den Schmetterling.
„Die Königin der Nacht“, sagte Schattenklynge ernst und entschlossen.
Drei Straßen rechts von ihm stolperte einer der anderen Mechakolosse. Der lebende Grünholzbaum, der seine Wirbelsäule bildete, schrumpfte zusammen und wurde schwarz. Jäh gesprossene Pilzwucherungen übersäten seine Rinde.
„Schon gut“, sagte er. „Ich habe sie gefunden.“
Die Maschine fiel auf ein Knie und heulte wie ein verwundeter Bär auf, als ihre Rinde verrottete. Haltloses Metall fiel auseinander. Brackige Flüssigkeit lief aus jedem ihrer Gelenke.
In einem Schwung schwarzer Seide erschien Liliana auf einem der Dächer, stellte einen hohen Schnürstiefel auf die Brüstung und hob eine behandschuhte Hand über den Kopf. Sie schnippte mit den Fingern und der Mechakoloss verwandelte sich in einen Haufen Schrott zu ihren Füßen.
Freudiges Gebrüll drang von den Renegaten von der Straße herauf. Sie verneigte sich überschwänglich und warf der Menge Kusshände zu.
„Bloß aus Neugier: Hat Lili– hat die ‚Königin der Nacht‘ alle unsere Codenamen ausgesucht?“
„O ja. Sie war unfassbar hilfreich.“
„Das ist ... toll.“ Der Mechakoloss verlagerte plötzlich sein Gewicht und ächzte, als sich sein Torso drehte. Gideon duckte sich unter einem vorbeigleitenden Rohr hindurch und lehnte sich vor, um zu sehen, was vor ihnen lag.
Der Mechakoloss näherte sich einem weiteren geparkten Fahrzeug und hob den Hammerarm, um es in Richtung der Renegaten zu stoßen, die ein Stück die Straße hinunter standen.
Die Menge, die vor dem Wasserwerfer geflohen war, war nun vor der Barrikade eingekesselt und versuchte, durch das Loch zu fliehen, das der zuvor vom Koloss geschleuderte Kreuzer in sie hineingeschlagen hatte, während die Reihen gesichtsloser Inspektoren des Konsulats sie in die neue Schusslinie drängten.
Ein auf sie gestoßenes Fahrzeug würde sie zerschmettern.
Was hast du vor, dagegen zu unternehmen, Hoplit?
Er musterte die Oberfläche des Mechakolosses. Solides Metall. Keine offensichtlichen Mechanismen oder Schwachpunkte – außer dem Gelenk, mit dem die Beine am Torso befestigt waren. Dort war eine große Lücke zwischen den Panzerplatten, damit die Gliedmaßen sich bewegen konnten. Im Inneren konnte er gewaltige Zahnräder sehen, die sich im ätherblauen Licht ihrer Energieversorgung drehten.
Er blickte auf seinen Sural. Dann wieder zu den sich drehenden Zahnrädern.
Zu dem mechanischen Schmetterling sagte er: „Du solltest Herrn Wackel hier lieber losfliegen lassen.“
„Alles klar“, kam es krächzend aus dem Lautsprecher. Ein paar pfeifende Töne erklangen und das Insekt flatterte davon.
Er schaute zu der Lücke in der Panzerung, holte ein paarmal tief Luft und ließ sich in die Zahnräder fallen. Die Dunkelheit wurde von goldenem Licht überflutet.
Viel zu lange war da Schmerz, Lärm und Bewegung.
Metall kreischte und die Welt stellte sich auf den Kopf.
Er fiel seitlich in die goldene Dunkelheit. Tausende winzige Messer ritzten ihm Beine und Arme, drückten sich ihm in die Wirbelsäule und füllten ihm den Mund mit dem Geschmack von Kupfer.
Sein Kopf prallte gegen eine Wand.
Stille.
Atemzüge hallten in der Dunkelheit.
Dann ... atmete er noch?
Ein Teil der Schwärze lichtete sich. Ein warmes Leuchten stach ihm in die Augen. Chandra ...?
Ein grinsendes Gesicht verdunkelte die Sonne. „Wer ist ein großer Held?“ Schattenklynge-mit-einem-Y.
Sie zog ihn aus einem rauchenden Grab. Die zerschmetterten Überreste meisterhaft gefertigter Zahnräder rollten von ihm herunter, als er aufstand. Sein Brustpanzer, verbogen und durchlöchert, hing noch einen Augenblick an einem Schulterriemen und klapperte dann auf die Straße.
Der Mechakoloss lag ausgestreckt da. Er war mit dem Kopf voran in ein Gebäude gekracht. Das Bein, aus dem Gideon gerade geklettert war, war abgerissen worden. Eine Armee junger Leute und mechanischer Kreaturen kletterte auf dem Wrack herum und zerrte ganze Hände voll nützlicher Materialien aus ihm heraus, die sie untereinander teilten.
„Ich hab sie gefunden, Fräulein Klynge“, rief ein Vedalken-Junge und winkte mit einer sechsfingrigen Hand. Hinter ihm kletterten die Piloten der Kriegsmaschine – eine Gruppe von vier mürrisch dreinblickenden Zwergen in ölverschmierten Konsulatsuniformen – aus einer Luke.
„Ausgezeichnete Arbeit, Fleischklops“, grinste Schattenklynge und klopfte ihm auf eine nackte, zerschundene Schulter. „Wie oft kannst du das machen?“
Gideon schaute über die Straße zu den drei verbleibenden Mechakolossen und dem Himmel voller Schiffe. „Nicht oft genug.“
Liliana rauschte heran, musterte ihn langsam von Kopf bis Fuß und legte geziert eine Hand auf die Hüften. „Ich sehe, du hast dein letztes Hemd verloren.“
Sein Blick richtete sich auf einen Schwarm Konsulatsthopter, der auf den oberen Plattformen des Ätherknotens ankam – schwirrend und kreisend wie ...
Sein nächster Atemzug kam gepresst und mit einem Anflug von Schwindel wie der letzte, den man nimmt, ehe man im Wasser versinkt.
... wie Harpyien über Akros.
„Zurück zum Knoten!“, schrie er und rannte los. „Schnell, schnell!“
Ich bringe ihn um.
Ich stolpere über Steine. Bordsteinkanten. Die Schulter pocht. Der Magen krampft sich zusammen.
Ich strauchele. Reiße mir Knie und Handflächen auf. Hoch mit dir! Los!
Ich komme nicht vom Fleck. Niemals. Bastard.
Die Welt ist ein Tunnel. Dunkel bis auf den kreisenden Thopter. Lachen klingt aus ihm heraus. Worte.
Mami. Papi. Monster. Tot. Leiden. Mord. Monster. Dorf. Feuer. Kinder. Monster.
Ich höre sie nicht mehr. Kann sie nicht zu Gedanken zusammensetzen. Nur Geräusche. Nur noch Zunder.
Keine Tränen mehr. Nur Feuer, kalt und weiß. Reinigend.
Ich werde die Fäulnis aus ihm herausbrennen. Aus dieser ganzen Stadt.
„Chandra, lass mich.“ Nissa. Atemlos hinter mir.
Sie sollte nicht hier sein. Sollte mich nicht so sehen.
Eine gewaltige Wurzel erhebt sich aus dem Boden und und streckt sich hinauf zum Dach. Der Thopter schwebt irgendwo da vorn. Keckernd.
Ich rapple mich auf. Schmutz klebt mir an den brennenden Fingern, meine Stiefel schlurfen auf feuchtem Holz. Zerschundene Finger klammern sich an die Kante des Dachs und hinterlassen blutige Abrücke.
Der Himmel ist endlos und voller Schiffe. Die Straßen stehen in Flammen.
Metallene Riesen stapfen durch das Feuer. Menschenmengen fliehen vor ihnen. Thopter schwirren in Schwärmen wie Mücken um den Ätherknoten herum. Die oberen Decks ragen über uns auf.
Dort ist Mutter.
Die Thopter landen dort. Krachen und Blitze. Rennende Gestalten. Sie fallen.
... Mutter?
„Schau hin. Was. Du. Getan. Hast.“
Baral. Sein verunstaltetes Gesicht, zerteilt von einem schiefen Grinsen. Der abhebende Thopter wirbelt mir Staub in die Augen. „Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn du da gewesen wärst.“ Sonnenlicht spiegelt sich auf der Schneide seiner Klinge. Er richtet sie auf mein Gesicht. „Oder vielleicht wären auch noch mehr von ihnen tot.“
Ich spüre, wie sich mir die Haare auf der Kopfhaut aufrichten. Siedend heißes, eiskaltes Licht überflutet das Dach.
„Du bist immerhin nicht besonders treffsicher. Ist es nicht so, Monster?“
„Verpiss dich“, flüstere ich und jage sein Gesicht in die Luft.
Mein Wall aus weißem Feuer wird vom Wind zu kleinen Scharen von Kerzenflämmchen verwirbelt.
„Wirst du das nicht langsam leid?“ Er senkt eine leuchtende Hand und öffnet das Visier seines Helms. „Selbst Hunde können mehr Kunststückchen.“
Das Dach erbebt. Von einer Seite donnert Nissas Elementar heran, macht einen Satz –
– und fällt in einer kleinen Lawine aus Trümmern, schwarzer Erde, grauer Steine, weißem Holz und grünen Blättern auseinander. Baral schnippt sich mit einer leuchtenden Hand ein Klümpchen Erde von der Schulter. „Das ist Ghirapur. Bring keinen Matsch zu einem Roboterkampf mit.“
Eine Woge aus Metall erhebt sich hinter ihm und strömt über das Dach. Räder aus Messing und Beine aus Stahl, Flammenwerfermündungen und funkensprühende Antennen.
„Finde Ruhe“, murmelt Nissa, ihre Hand nur ein warmer Hauch auf meinen Schultern – hier und gleich wieder fort.
Dann ist sie in der Luft und stößt eine dünne Klinge durch die Augen eines Automaten, rollt sich ab, trifft einen anderen mit einen Ellenbogen, zerquetscht einen dritten mit der Sohle ihres Wanderstiefels, verteilt weiter Hiebe und Stiche. Eine Blüte im Wind aus singendem grünen Stahl mit harten, verlässlichen Muskeln. Als würde sie den Boden nur aus reiner Höflichkeit berühren.
Warte.
Augenblick mal.
Das ist Wahnsinn.
Nissa hat ein Schwert?
Der untere Teil ihres Stabes rollt über das Dach und gegen meine Zehen.
Ich blinzle und Baral ist über mir. Er holt aus.
Links. Rechts. Mist! Feuer! Stolpern. Zurück, zurück!
Grelles Sonnenlicht. Eis schneidet mir in den Arm.
Ein Zurücktaumeln. Ich bin auf den Knien. Eine Pfütze auf dem Dach. Ein silbriges Kräuseln, rote Fraktale explodieren. Ich sehe sein Schwert auf mich herabfahren wie ein Echo.
Wegrollen!
Wind streift mein Ohr.
Ich drücke Macht in die Pfütze hinein und sie zerbirst zu einer Wolke. Seine verschwommene Gestalt schnaubt und stolpert zurück, um sich das Wasser vom Gesicht zu wischen.
Ich weiß, was ich tun muss.
Die Dachplatten verflüssigen sich zu dampfendem Teer. Er brüllt vor Schmerz auf und stößt die Klinge nach vorn durch die Schwaden.
Thopterflügel stottern über mir. Donner kracht. Geht es Nissa gut? Wo ist –?
Ich fahre vor dem plötzlichen Schatten einer Wolke zurück. Stechende Nadeln aus Eis zerkratzen mir die Stirn.
Aus Reflex ein Feuerpfeil zurück in die gleiche Richtung. Ein blauer Impuls löst ihn in Funken auf.
Er humpelt lachend durch den Teer. Die linke Hälfte der Welt löst sich in einen roten Nebel auf. Ich wische danach, aber er geht nicht weg. Nur meine Hand wird davon glitschig.
Seine Klinge ist weiß wegen der Luft um mich herum. Atem hallt aus dem Drahtgeflecht an seinem Helm.
Das Gebäude wackelt unter uns. Er knurrt und taumelt, hält aber nicht an. Weit hinter ihm erhebt sich Vaters Schiff neben dem Ätherknoten. Zerborstene Gerüste und zerrissene Ankertaue trudeln darum herum.
Nicht genug Luft. Kann nicht atmen. Ich stolpere keuchend umher. Kämpfen wir schon seit Stunden? Minuten?
Ich werfe Flammen mit meiner linken Hand. Als er sie auflöst, schlage ich ihn mit meiner rechten Faust in sein blödes Gesicht.
Sein blödes, von Metall bedecktes Gesicht. Ich schreie, als es knirscht.
„Dummes Monster“, murmelt er und tritt nach mir. Fest.
Schmerz explodiert in meinem Bauch.
Ich würge heißen, stinkenden Schleim hoch. Ich habe Mühe, Luft zu holen. Jeder Atemzug ist die reinste Qual. Ich weine nicht, weil ... Scheiß auf diesen Kerl.
Ich muss aufstehen.
Er humpelt zu mir herüber. Seine Stiefel sind schwarz und rauchen. Er stinkt nach Innistrad nach dem Kampf. Nach Bergen von brennendem, grässlichem, verzerrtem Fleisch.
Die Luft kommt nicht. Nissa. Hilf mir.
Er hebt das Schwert.
Ich krieche. Hilf mir. Nissa.
Die Klinge fährt herab. Ich will wegschauen. Ich will mich bewegen.
EIN SCHEPPERN.
Ich öffne ein Lid zu herabregnendem Messing. Ein metallener Vogel, verbeult und schier entzweigehauen, wie es mein Hals nicht ist. Er rollt über das Dach, verstreut dabei die Zahnräder aus seinem Inneren. Sein Pfeifen wird erst zu Seufzern, dann zu Stille.
„Bleib von diesem Kind weg, du Sohn eines Esels!“, donnert Frau Pashiri.
Ich stütze mich auf zitternden, blutigen Armen hoch. Sie ist auf dem Knoten, nur eine Plattform von uns entfernt, und reckt Baral drohend die Faust entgegen. Ajani ist neben ihr, die Axt in Händen, die Ohren flach angelegt und das eine Auge zu einer gewaltigen, schwarzen Kugel geweitet.
Ich kann nur schwachen Rauch ausstoßen, Funken fallen mir von den Augen.
Die Menge im Knoten rennt zu den klaffenden Luken der Herz von Kiran. Halb fertige Geschütze blitzen auf und schicken den Reihen gesichtsloser Inspektoren Funken und Blitze entgegen. Thopter des Konsulats lassen leuchtende Lufttorpedos fallen, die auf breiten Kondensstreifen aus zischendem Gas zum Leben erwachen.
„Schütze!“, brüllt Baral zu seinem Thopter hinauf und wirft eine nutzlose Klinge beiseite. „Erledigen Sie die Biotronikerin!“
Da ist ein Kreischen in meinem Kopf und vielleicht stoße ich es aus, weil er sich zurück zu mir dreht. Ich bin auf den Beinen und alles wird zu grellem Blauweiß, Mondlicht in einem Spiegel, ein wolkenloser Wüstenhimmel und ich sende Ströme blendender Flammen hinauf zu den schwirrenden Flügeln und dem glänzenden Messing –
Barals Hände schließen sich um meine Fäuste.
Alles hört auf. Magie stirbt.
„Schau dir an, was du getan hast“, schreit er mich an. „Sieh hin!“ Um mich herum ist überall Mana, aber ich kann es nicht greifen. Es ist schlüpfrig wie Öl auf Wasser. Ich versuche, es zu fassen zu bekommen, doch seine Hände lassen es mir entwischen. Er versucht, meine Arme zu verdrehen, mich zu brechen. „Selbst dein Papi wusste es. Als ich ihm die Klinge zwischen die Rippen stieß. Ich sah es in seinen Augen, als er verblutete. Wie er sich für dich geschämt hat.“
Gegabeltes, weißes Licht zuckt über den Knoten.
Ajani ist nichts als Wut und holt aus, während Frau Pashiri vom Geländer fortstolpert. Die Thopterblitze prallen von seiner Klinge ab. Einmal. Zweimal.
„Das ist genau das Gesicht“, grinst Baral. Sein Atem riecht nach billigem Fleisch und zu viel gesüßtem Chai, nach Wochen einsamer Mahlzeiten. Meine Arme wehren sich gegen ihn. „Verzweiflung. Genau wie damals in der Arena, Monster. Als meine Klinge an deinem kleinen Hals lag.“
Das dritte Krachen erschüttert die Welt.
Frau Pashiri taumelt und fällt. Rauchfarbene Zöpfe flattern auseinander.
Er lacht. „Gibt es irgendwen , den du nicht auf dem Gewissen hast?“
Irgendwie liegen meine blutigen Hände plötzlich um seine Kehle, finden die Lücken im Metall und drücken zu, so fest ich nur kann. Gesplitterte Nägel und blutige Daumen graben sich in die geschwollene Masse. Ich glaube, ich schreie. Meine Kehle ist wund.
Er schmettert mir die behandschuhten Hände gegen die Schläfen – immer und immer wieder –, und ich stürze in einen Tunnel, an dessen Ende nur Funken sind.
Als ich etwas anderes als meinen Herzschlag höre, donnert eine blecherne Stimme: „... verhaftet wegen Verschwörung, Verrat und tätlichen Angriffs. Gehen Sie auf die Knie und legen Sie die Hände hinter den Kopf.“
Baral kichert und spuckt in den erstarrenden Teer. Er hat Mühe, einzuatmen.
Über mir ist ein Luftschiff des Konsulats. Ein Dutzend Kanonen sind auf mich gerichtet.
Ich habe es vermasselt. Schon wieder. Alles brennt.
„Chandra.“ Nissa ist neben mir, auf ihre Klinge gestützt. Sie blutet und ist versengt, ihr Zopf halb aufgelöst. Pulsierende, leuchtende Splitter heißen Metalls zischen in den ungebändigten Locken. Jade fließt ihr aus den Augen, als sie mich ansieht. Zitternde Finger streifen über die klaffende Wunde an meinem Kopf.
„Du musst jetzt gehen“, sage ich rau und rappele mich auf.
Ich bin kein Monster.
Aber ich könnte eines sein.
Ich raffe die Luft um mich herum zusammen, setze sie in Brand und drücke zu. Zwischen meinen Händen entzünden sich Funken wie gleißende, goldene Fischwärme. Sie erschauern wie wild und werden weiß wie Arsen. So habe ich es schon tausende Male zuvor getan.
Baral schiebt sich den verbeulten Helm vom Kopf. Er scheppert über das Dach. Baral lächelt. „Ich habe deinen Papi getötet, Renegatin“, sagt er. „Ich habe dein Tantchen getötet.“
Der Wind frischt auf. Mehr Luft. Mehr Hitze. Ich halte sie fest. Drücke, bis sie sich nicht mehr bewegen kann. Bis aller Atem fort ist. Ich knirsche mit den Zähnen. Mein Licht hat nun die Farbe von Eis und wirft scharfe blaue Schatten.
„Und jetzt werde ich dich töten.“ Er zieht einen Dolch aus der Scheide an seiner Schärpe. Ein einfacher Dolch, mit alten Flecken und einem verkohlten Griff. „Und das Beste daran – das Allerbeste daran – ist, dass du nichts dagegen tun kannst.“
Es ist so leicht. Ich hätte schon früher daran denken sollen. Wir hatten es in Barals Falle versucht, aber da war ich zu wütend gewesen. Jetzt ist alles klar. Überdeutlich, einfach und verzweifelt klar.
„Es gibt etwas, was ich tun kann“, sage ich ihm.
Ich kann es wiedergutmachen. Für Frau Pashiri. Für Vater. Für Mutter. Für die alten Frauen und die kleinen Kinder, die ich im Heiligtum der Sterne getötet habe. Für ein Leben voller Fehlschläge. Für all die schrecklichen Dinge, die ich getan habe. Für all die Leute, die ich enttäuscht habe. Die Luft zwischen meinen Händen ist voller Sterne, tanzend und sengend heiß. Lichtstrahlen huschen kratzend durch mein Blickfeld.
„...etwas, was ich immer tun kann ...“
Ich kann Baral vernichten. Die Schiffe und die Mechakolosse. Tezzeret und das Konsulat. Ich könnte ganz Ghirapur auslöschen, wenn ich wollte. Es ist so leicht. Ich muss es nur erst aufstauen und dann entfesseln. Ich muss nur loslassen.
Denn jetzt spielt es doch ohnehin keine Rolle mehr, oder? Alles ist ruiniert.
Lass los.
Schließ die Augen.
Lass es geschehen.
Lass es vorbei sein.
Es spielt keine Rolle.
Ich schließe meine schmerzenden Augen vor Kaladesh und flüstere: „Ich kann brennen.“
Arme von hinten. Der Duft nach Blumen und ein sanfter Wind an meinem Ohr. „Aber nicht allein.“
Nissa?
„Ich werde dir wehtun. Lass mich los.“
Ihre Arme drücken fester zu. „Nein.“
„Ich kann das nicht mehr. Lass mich los.“ Meine Sterne brennen die Tränen fort, doch meine Stimme ist hoch und wankend. Die Worte stolpern übereinander, als ich zu zittern beginne. Ich falle auseinander. „Bitte lass mich einfach gehen.“
„Das kann ich nicht. Wenn du uns so verlassen willst, dann wirst du mich mitnehmen müssen.“
„Das ist nicht –“ Ich kann jetzt nichts sagen. Da ist nur Licht und ihre Stimme.
„Geh nicht“, sagt sie.
Frau Pashiri zuckt und stürzt, die Zöpfe ineinander verknotet, den Blick auf mich geheftet, mich anflehend, in Sicherheit zu laufen. Vater krümmt sich zusammen, die Hände über dem roten Loch in seinem Magen verkrampft, sein Blick auf mich gerichtet, mich anflehend, in Sicherheit zu laufen. Tot. Meinetwegen.
„Verlass mich nicht“, sagt Nissa sanft. „Du wirst geliebt.“
Der tosende Wind zwischen meinen Händen reißt mir einen See aus den Augen. Funken, Glut, schwappendes Salzwasser.
Ich höre auf, weiter Energie hineinzuzwängen. Ich lasse das Quetschen sein. Die Sterne hüpfen und zittern zwischen meinen Händen. Das Licht flackert. Silberblaue Funken schwirren umher wie wütende Fliegen und zischen wie Öl in einer Pfanne.
Etwas stimmt nicht.
Das Feuer ist seltsam. Es wird noch immer heißer und fällt in sich zusammen. Es brennt von allein. Es brennt von selbst, ohne dass ich etwas tue. Ich blinzle und Lichtfetzen zerreißen die kurze Finsternis.
Es wächst noch immer.
Ich lasse die Hitze frei – vorsichtig, langsam –, aber sie schnappt nach mir, begierig, aus jener Falle zu entkommen, die ich für sie gebaut habe. Ein Zünglein einer unfassbar heißen Flamme leckt zwischen meinen Fingern hervor. Ich erhasche es gerade noch und lege meine Hände fester um das tobende blaue Licht. Baral schnappt nach Luft. Irgendwo in der Nähe beben und knirschen einstürzende Gebäude.
„Ich schaffe es nicht“, sage ich. Mein Herz hämmert mir gegen die angeknacksten Rippen. „Da stimmt etwas nicht. Es wird nicht weniger.“
„Chandra“, sagt sie. „Erinnere dich daran, wie es sich anfühlt zu schwimmen. Du hast mir auf Ravnica davon erzählt. Beschreib es mir noch einmal. Erzähl mir, wie es sich anfühlt zu schweben. Nur Blau und Luft über dir. Alles ist kühl und still ...?“
Ich schließe die Augen und bin zehn Jahre alt. Die Luft ist schwül und stickig. Zu heiß zum Schlafen. Mutter und Vater liegen gemeinsam im Gras, atmen langsam und berühren sich trotz der Sommerhitze im Schlaf. Ich schleiche mich davon und krieche die moosigen Steine hinunter. Ich lasse mich rückwärts ins Wasser gleiten und es kriecht mir in die struppigen Haare, kühl auf meiner verschwitzten Kopfhaut. Es schnürt mir die Kehle zu.
„Da ... Da war dieser Steinbruch, zu dem wir immer gegangen sind. Er war überwuchert. Ganz grün. Nachts ging ich hinaus und ließ mich treiben. Die Sterne spiegelten sich im Wasser. Weiß und blau und gelbrot. Flecken von Grün und zartem Rot, wie Geister in weiter Ferne. Die sanften Wellen hallten von den Felsen wider. Der Klang meines Atems kehrte dort zu mir zurück und wurde leiser und leiser. Als würde alles von mir abfallen. Wenn ich still genug dalag, war es, als ... Als wäre ich in ihrer Mitte. Als würde ich inmitten der Sterne schweben.“
„Da ist eine Laterne auf dem Wasser – zwischen den Sternen. Sie ist das Hellste, was man sehen kann. Kannst du dir das vorstellen?“
Eine rein weiße Fackel, die ruhig und reglos brennt und verzerrte Winkel aus Eislicht auf die schattenverhangenen Felsen wirft. „Ja.“
„Die Flamme wird kleiner“, wispert Nissa wie Wind durch Laub. „Es ist Nacht. Es ist Zeit, dass Lichter, die für die Erde bestimmt sind, verlöschen. Dass nur noch Geister und Sterne dir Licht spenden. Das Wasser schlägt sanft gegen dich. Es ist kalt auf deiner Stirn. Das Licht verglimmt.“
Das wilde Gleißen hinter meinen Lidern wird schwächer. Ich treibe mit geschlossenen Augen dahin. Wenn ich atme, rieche ich den feinen Duft von Kiefern und Nachtblumen aus ihrem Haar. Ich wanke. Ein tanzendes Licht auf stillem Wasser. Warme Arme über meinem Bauch halten mich und lassen mich nicht davontreiben.
„Du bist ein Licht im Wasser“, sagt Nissa, während sie mich hin und her wiegt und meine Schultern wie träge Wogen rollen lässt. „Aber nur ein kleines. Eine winzige Flamme, die in der Nacht flackert. Spürst du es? Du treibst. Ein kostbares Licht auf endlosen Wassern. Und die Sterne warten auf dich.“
Das Licht flackert und erlischt.
Baral fluchte, als das Nalaar-Mädchen in die Arme der Elfe fiel. Eines seiner Augen war blutunterlaufen und vor Erschöpfung eingefallen, das andere mit getrocknetem Blut von der Schwertwunde verklebt, die er ihm auf der Stirn versetzt hatte. Seine Wangen waren sonnenverbrannt und tränenüberströmt.
„Ich kann nicht aufstehen“, sagte es mit dünner und vom Schreien heiserer Stimme. „Meine Beine ... Es ist wie auf Zendikar.“
„Dann werde ich dich tragen“, sagte die Elfe.
Er hatte sie beinahe gehabt. Reize ein Monster, bis es vor Wut und Schmerz rast, und es wird sich mit Sicherheit selbst das eigene Bein abbeißen. Er hatte Hunderte von Magiern dazu gebracht, in den Zellen des Dhunds zu zerbrechen, dort in der vergessenen Dunkelheit, wo niemand einzuschreiten wusste.
„Na schön.“ Er humpelte auf sie zu und schonte dabei das Bein, das sie versengt hatte. Manchmal musste man sich eben die Hände schmutzig machen. Wie der Vater, so die Tochter. Er verstärkte den Griff um die fleckige alte Klinge. „Alles, was du hast, ist Feuer. Was willst du denn tun, wenn du schon nicht brennen willst?“, spottete er. „Mich noch mal schlagen?“
Ein Baum rammte von links in ihn hinein.
Auf seiner Brust knackten die metallen Streifen und irgendetwas splitterte.
Er blinzelte Sterne weg. Das Atmen wurde ihm zu einer schmerzhaften Mühsal.
Er lag zusammengekauert an der Brüstung des Daches. Auf der anderen Seite hielt die Elfe nun das schlaffe Mädchen in den Armen. Über ihnen ragte ihr neu erschaffenes elementares Untier auf und schüttelte Blut von einer Wurzelfaust von der Größe eines Thopters. Dann schüttelte es sich überall und die Blätter auf seinem Rücken fauchten wie ein wütender Tiger.
„Geh“, sagte die Elfe kalt und wandte sich ab.
Hinter ihnen senkte sich das Brüllen des Thopters dem Boden entgegen.
Stiefel scharten sich um seinen Kopf.
Baans Stimme erklang über dem Surren der Flügel, präzise und teilnahmslos. „Mehrere gebrochene Rippen und ein Haarriss des Schlüsselbeins. Leichte Gehirnerschütterung. Verletzungen der Luftröhre und des Kehlkopfes. Verbrennungen zweiten Grades an Rücken, Gesicht und Füßen. Verbrennungen dritten Grades am linken Bein. Inspektoren, eine Trage bitte.“ Ein Chor kehliger Bestätigungen, als Barals Schwadron sich schleunigst daranmachte, die Anweisung zu erfüllen.
Baan ging neben seinem Kopf in die Hocke und achtete peinlich darauf, dass seine Schuhe nicht blutig wurden. „Genau deshalb bestehe ich auf die korrekte Einhaltung von Sicherheitsmaßnahmen. Wäre diese Brüstung hier nicht gewesen ...“
„Halten Sie den Mund!“ Baral schnaubte und stieß einen flachen, hilflosen Atemzug aus seiner schmerzenden Brust.
Baans Augen verengten sich und er atmete scharf ein. „Hauptmann Baral“, sagte er scharf. „Ihren Berichten von vor zwölf Jahren zufolge starben Fräulein Nalaar und ihre Eltern bei einem Brand, der durch eine Brandstiftung seitens Fräulein Nalaar ausgelöst wurde. Ihren Aussagen vom heutigen Tage nach – die ich mit gewissenhaftester Sorgfalt aufgezeichnet habe – haben Sie Kiran Nalaars Leben selbst ein Ende gesetzt, Pia Nalaar ohne Verhandlung in ein Gefängnis verbracht und anschließend versucht, die Hinrichtung ihrer Tochter in eine Art ... Spektakel für die Arena zu verwandeln.“
„Die Nalaars waren Ätherschmuggler. Das Mädchen hat eine Gießerei zerstört.“
„Verbrechen, derentwegen man sie vor ein Gericht stellen und gerecht hätte bestrafen sollen. Nichts davon ist jedoch ein Kapitalverbrechen.“
„Verdammt, Baan! Sie ist eine Pyromagierin!“
„Sie ist eine Bürgerin“.
„Ein Monster!“, schnappte er und die Worte raubten ihm den Atem. „Alle Magier sind Monster“, flüsterte er gen Himmel.
Baan seufzte und legte die Fingerspitzen aneinander, die Unterarme quer über den Knien. Sein Gesicht war ernst und voller Übelkeit erregendem Mitleid. „Leitender Inspektor Dhiren Baral, ich beschuldige Sie des Mordes – wahrscheinlich in mehreren Fällen, die alle erst noch aufgedeckt werden müssen – und des versuchten Mordes in einem Falle. Ich beschuldige Sie der unrechtmäßigen Gefangennahme in einem Fall und – vermutlich auch hier – weiteren Fällen, die bislang noch nicht entdeckt wurden. Weiterhin beschuldige ich Sie der Fälschung öffentlicher Aufzeichnungen in mehreren Fällen, mit der ausdrücklichen Absicht, Ihre Verbrechen zu verschleiern.
Sie sind eine Schande für Ihre Uniform und ein verstörendes Zerrbild jener Ideale, die das Konsulat verkörpert. Obgleich ich Ihre Vergehen für mehr als empörend halte, sieht das Gesetz vor, dass selbst Sie von einem ordentlichen Gericht abgeurteilt werden müssen. Ich weise Sie darauf hin, dass alles, was Sie von nun an sagen, als Beweismittel in die offiziellen Berichte aufgenommen werden wird.“
„Sie entkommen“, krächzte Baral. „Die Elfe und die Pyromagierin. Sie müssen sie erledigen.“
Baan neigte den Kopf. „Falsch. Unsere Mission ist abgeschlossen und war erfolgreich. Der Ätherknoten wurde zurückerobert. Unsere verbleibenden Einheiten werden sich nun neu formieren, um ihn gegen den wahrscheinlichen Fall eines Gegenangriffs zu verteidigen. Werden Sie sich jetzt abführen lassen oder haben sie vor, sich auf ein weiteres Handgemenge mit dem Gebüsch einzulassen?“
Die Luft strömte aus ihm heraus. Das war es also gewesen. Er legte sich zurück und schaute zu den sich auftürmenden Wolken hinauf. „Ich werde das nicht vergessen, Baan.“
„Ausgezeichnet. Ich wiederhole mich nur sehr ungern.“
Gideon kniete sich hin, den Rücken ihr zugewandt. „Klettere hinauf.“
„Du musst das nicht tun.“ Ihre Stimme war schwächer, als er sie je gehört hatte, dumpf und leblos.
„Das ist schon in Ordnung, Chandra. Breite Schultern, weißt du? Jede Menge Platz.“ Er hoffte, es klang so fröhlich, wie es klingen sollte.
Ihr Gewicht verteilte sich auf seinem Rücken. Er atmete schnell und leise ein, als ihre Knie und Ellenbogen gegen die wunden Stellen dort drückten. Er schob die Unterarme unter ihre bloßen Knie, als dünne Arme sich um seine Schultern schlossen. Jede ihre Fingerspitzen war verbrannt, Handflächen und Knöchel mit fleckigen Bandagen umwickelt. Die Unterarme unter seinem Kinn waren voller hässlicher Schnitte von herumfliegendem Stahl und Glas.
„Fertig?“, fragte er.
„Klar“, murmelte sie.
„Und hoch mit dir“, keuchte er und rappelte sich auf. Sie wog nicht viel. Nicht wirklich. Er war ... müde. Ihre pochende Fieberhitze fühlte sich gut auf den roten Prellungen unter seinem Hemd an.
Er trug sie die Flure des verlassenen Wohnhauses entlang. Bröckelnde, vom Schimmel feuchte Wände waren von wilden Konstellationen ätherblauer Lichtkapseln übersät.
Die Herz von Kiran hatte die Flüchtlinge aus dem Ätherknoten ins Bronzeviertel, einem Gebiet der Renegaten, in Sicherheit gebracht. Nun hing sie über einer breiten Straße zwischen hohen und baufälligen Stahlwerkstätten. Fahrzeuge und Züge fuhren unter ihr entlang, während an Geschirren hängende Schweißer Teile der beschädigten Panzerung austauschten. Ein beständiges, blechernes Dröhnen behelfsmäßiger Flakgeschütze im Hintergrund vertrieb die Luftschiffe des Konsulats. Immerhin war es nicht mehr der „Hochzeitsmarsch der Goblins“.
Eine Gruppe Renegaten hatte sich in der Halle vor ihnen versammelt und flüsterte untereinander.
„... alles ging schief, als die Tochter ...“
„... ich weiß nicht, ob die Dinge nicht anders gelaufen wären ...“
„... hat die Erste Renegatin nicht schon genug gelitten?“
„... ich habe gehört, sie hat alles vom Knoten aus mit angesehen ...“
Bei ihrem Eintreten blickten sie auf und verstummten unter seinem funkelnden Blick. Chandra vergrub das Gesicht zwischen seinen Schultern. Ihre Arme drückten fest zu. Flache, warme Atemzüge streiften ihm über den Rücken.
Sie wandten sich zur Treppe und ließen die Gruppe zurück. Auf halbem Weg nach unten zog sie eine Hand weg und fuhr mit einer Leichtigkeit und einer Sanftheit über seine Schultern, bei der sich ihm die vielen Härchen auf seinen Armen aufstellten. „Hast du die überall? Die Prellungen, meine ich? Die siehst aus, als wärst du eine Treppe voller Faustschläge runtergefallen.“
Er lachte kurz auf, sowohl um ihretwillen als auch um seiner selbst. Der Klang hallte einsam die Treppe auf und ab. „Ich fürchte schon.“
„Ich dachte, du bist unzerstörbar.“
„Ich musste mir etwas Außergewöhnliches einfallen lassen. Aber ich bin hier. Also bin ich technisch gesehen immer noch nicht ... äh, kaputtbar.“ Er wandte sich zur nächsten Tür, hinter der sich so etwas wie ein Lazarett befand.
„Ich glaube nicht, dass das ein Wort ist.“
„Ich bin mir sicher, Jace kennt mindestens sechs Wörterbücher auswendig. Sobald Hauptmann Zev ihn zurückbringt, werden wir ihn fragen.“ Er nickte dem Renegaten zu, der die Tür vor ihnen bewachte und nun für sie öffnete.
Frau Pashiri lag in einem durchhängenden Bett. Sie hatte die Hände vor dem Bauch zusammengekrampft, die Augen geschlossen. Sie wirkte bleich und ausgezehrt, aber sie atmete. Ajani saß neben ihr. Eine seiner gewaltigen Tatzen bedeckte ihre beiden Hände. Er hielt den Kopf konzentriert gesenkt. Eine schwache Aura silbernen Lichts umgab sie beide. Kraft floss pulsierend von ihm zu ihr.
Chandra erschauderte bei dem Anblick. „Ich ... Ich kann das nicht tun“, flüsterte sie. „Bring mich zurück, Gids.“
Ajanis Licht wurde schwächer. Er blickte auf und musterte sie, während er ruhig durch die Nase einatmete. „Du bist sehr krank, Chandra“, sagte er.
„Was? Ich fühle mich nicht –“
„Das wirst du. Schon sehr bald. Der Schaden ist kaum wahrnehmbar, aber großflächig. Und schwer. Du und Nissa, ihr braucht beide Behandlung. Gideon, bringst du sie später her?“
Er nickte. Chandra öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder wortlos und wandte den Blick ab. Nissa hatte sie durch die halbe Stadt zum Bronzeviertel getragen. Sie war die meiste Zeit über gerannt, schweigend und auf der Hut vor Inspektoren des Konsulats. Nachdem sie sie Gideon übergeben hatte, war die Elfe zu einem Flecken sonnenbeschienenen Grases getaumelt und in einen erschöpften Schlaf gefallen.
Ajani stand auf und deutete auf den Stuhl. „Bitte setz dich. Sie hat vorhin nach dir gefragt.“
Gideon ließ sich vor dem Stuhl auf ein Knie fallen und sie glitt darauf. Ihre Hand zitterte in der Luft über Frau Pashiris Händen. „Ist sie ...?“
„Großmutter wird wieder gesund werden. Es wird eine Weile dauern. Solange ich in der Nähe bin, wird sie keiner erschlagen.“ Ajani machte eine Pause und musterte sie. „Das war nicht deine Schuld, Chandra.“
Sie schaute zur Wand. „Ich ... Das weiß ich.“
„Vielleicht“, sagte er. „Es bleibt zu hoffen, dass du das tust. Aber du musst es trotzdem hören.“
Ihre Hand berührte die Frau Pashiris. „Möchtest du, dass wir gehen?“, fragte Gideon.
Chandras Finger schlossen sich um die der alten Frau. „Sie ist heute meinetwegen beinahe gestorben. Schon wieder. Ich bin nicht einmal zwei Monate zu Hause und habe sie schon zweimal fast getötet.“ Tränen stiegen ihr in die Augen und pulsierten im Schlag ihres Herzens. „An dem Tag, als ich weggelaufen bin, hat sie mich gedeckt. Habe ich das jemals erzählt? Ich durfte mich an dem Ort verstecken, an dem sie gearbeitet hat. Sie hat Baral und seine Leute abgelenkt. Und ich habe sie nicht einmal gefragt, was damals passiert ist, seit ich zurückgekommen bin. Ich meine ... Haben sie sie auch ins Gefängnis geworfen wie Mutter?“
„Nein“, knurrte Ajani. „Sie war frei. Als deine Mutter entlassen wurde, haben sie –“
„Aber ich habe nie danach gefragt!“, schnaubte sie und hieb sich mit der Faust aufs Knie. Sie kämpfte sich schwankend auf die Beine, machte einen Schritt auf die Tür zu und brach zusammen. Ajani fing sie mit einem Arm auf. „Verdammt!“, sagte sie durch zusammengebissene Zähne. „Ich kann nicht einmal ... Ich will nur ... Ich will nur weg. Ich sollte nicht hier sein. Ich verdiene es nicht –“
Am anderen Ende des Flurs wurde eine Tür zugeschlagen. Sie schaute auf und schnappte nach Luft.
Frau Nalaar lief zügig auf sie zu, den stechenden Blick fest auf sie geheftet. Fetzen von altem, feuchten Papier flatterten hinter ihr auf, von Rauchsträhnen durchsetztes Haar wehte ihr nach wie ein Banner.
Gideon schlüpfte neben Chandra und ließ sie seinen Unterarm packen. „Ich habe sie“, murmelte er Ajani zu. Der Leonide nickte und zog sich zurück.
„Ich habe es vermasselt“, flüsterte sie. „Das tue ich immer. Sie ist böse auf mich und das zu Recht. Ich bin furchtbar, Gideon. Ich weiß gar nicht, warum du mich überhaupt festhältst.“
Drei ungerechte, ungewisse, unverzeihliche Worte erklangen in Gideons Verstand. Worte, die nicht mehr zurückgenommen werden konnten, sobald sie erst einmal ausgesprochen waren.
„Sprich mit ihr“, sagte er stattdessen.
Chandra richtete sich so gerade auf, wie sie konnte. Mit einer zitternden Hand klammerte sie sich an seinen Unterarm, um sich abzustützen. Sie blickte nicht auf, sondern sah nur zu, wie die Füße näher kamen.
„Kind“, sagte Frau Nalaar mit einer hohen Stimme so gespannt wie eine Leiersaite.
„Mutter, ich –“
Frau Nalaar riss sie in eine wilde Umarmung, die sie zurückstolpern ließ. „Ich will dich nicht noch einmal verlieren.“ Ihre Stimme war heiser und bebend geworden. Ein leiser, klagender Ton entfuhr Chandra.
Sie zog sich zurück und blickte Chandra in die Augen, legte dunkle Hände auf sonnenverbrannte Wangen und drückte ihre Stirn gegen die ihrer Tochter, als Tränen über die alten Trauerfalten liefen, die sich in ihr Gesicht gegraben hatten. „Verstehst du mich? Ich will nicht. Ich würde daran zerbrechen. Ich liebe dich.“
Chandras Augen füllten sich mit Tränen. „Wenn du zu weinen anfängst, muss ich auch weinen“, sagte sie schluchzend mit zitternden Mundwinkeln.
Gideon schloss die Tür hinter sich, drückte sich die Handballen in die eigenen, stechenden Augen und warf einen Blick zu Ajani. „Frau Pashiri wird wieder gesund?“
Er war nie gut darin gewesen, den Gesichtsausdruck von Leoniden zu deuten, doch es schien ihm, als würde der andere Mann lächeln. „Das zu hören, verspricht bessere Heilung als jede Magie.“
„Aber sie ist bewusstlos.“
Ajanis Schwanz wedelte waagerecht in einer ausweichenden Geste. „Oft hört man im Schlaf wahre Dinge.“
Das Trappeln von Stiefeln donnerte über den Gang: eine Gruppe von Renegaten in behelfsmäßigen Uniformen, die miteinander über Prüflisten, Geschütze und Stellungen stritten. Gideon und Ajani tauschten einen schiefen Blick und danach ein kaum wahrnehmbares Schulterzucken aus, um sich dann mit verschränkten Armen und breiten Schultern, die jeden Zugang versperrten, vor die Tür zu stellen.
Der Zwerg an vorderster Stelle hatte den gequälten Gesichtsausdruck eines Schreibers. „Wir müssen sofort mit der Ersten Renegatin sprechen“, sagte der Mann grummelig. „Es ist dring–“
Gideon brachte ihn mit einer Handbewegung und einem Kopfschütteln zum Schweigen. „Nur zehn Minuten.“
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