Neyali sah sich in ihrer Widerstandszelle um und nahm Bestand auf. Sie merkte sich, wessen Schilde angeschlagen oder getrübt und wessen Schwerter angefressen oder rissig waren. Dabei musterte sie auch ihre Verbündeten: Welche von ihnen hinkten, welche konnten ihren dominanten Arm nicht mehr nutzen, wessen Atem rasselte feucht, während sie durch die Ödnis am Rande der Stillen Schmelze zogen.

Illustration von: Bryan Sola

Saheena, eine alte Vulshok mit trotz ihres Alters geradem Rücken, schritt mit starrem Stolz voran, einen Sohn an jeder Seite. Sie hatte nach einem kürzlichen Gefecht nur noch ein Auge. Getrocknetes Blut befleckte immer noch ihren Hals. Elham, die Auriok, die vor Neyali Anführerin gewesen war, stapfte hinter ihnen und schulterte mehr Taschen, als es ihre Pflicht war, damit ihre Kameradinnen und Kameraden sich frei bewegen konnten. Sie hatten kaum noch Reserven, und die, die sie hatten, teilten sie ohne Vorbehalt, egal in welcher Form. Neyali schwor sich, dass sie ihnen so oft Rast ermöglichen würde, wie es nur ging.

Vor nicht allzu langer Zeit war sie noch allein gewesen. Sie war mit ihrem Feuervogel Otharri durch die Ruinen von Mirrex gestreift, auf der Suche nach einem Anzeichen – irgendeinem Anzeichen, egal wie klein oder abwegig –, dass andere das phyrexianische Massaker in ihrem Dorf überlebt hatten. Nun verließen andere sich auf sie. Vertrauten ihr. Neyali fragte sich, ob diese Ehre sich wohl jemals weniger schwer anfühlen würde.

Otharris lauter Ruf riss sie aus ihren düsteren Gedanken.

Als sie den Schrei des Feuervogels vernahmen, nahmen Neyalis Gefährten in perfektem Einklang Position ein und machten sich auf einen Hinterhalt gefasst. Doch nichts geschah. Es gab keinerlei Anzeichen vorrückender Phyrexianer, kein verräterisches Scharren von Klauen auf Stein, kein Zischen von Dampf, der aus einem Goliath entwich. Überhaupt nichts.

Aber Otharri hätte nicht ohne guten Grund riskiert, ihren Standort preiszugeben. Ihr Puls schlug heftig in ihrem Hals, als Neyalis Blick erneut über ihre Truppe schweifte und sie verzweifelt versuchte, zu verstehen, was sie übersehen hatte.

Dann wurde es ihr schlagartig klar.

„Reyana“, flüsterte Neyali.

Neyali stürzte los, bevor irgendein Mitglied ihrer Kohorte antworten konnte, und jagte den rot beleuchteten Korridor entlang zurück. Otharri flog hinter ihr her. Reyana hatte wie immer die Nachhut gebildet, aber nun war sie nirgends zu sehen. Neyali ging in ihrem Kopf alle Möglichkeiten durch. War Reyana von einem der Schrottobersten überfallen worden? Wenn dem so wäre, wären sie alle bereits längst von Phyrexianern umzingelt. Sie hätten nie einfach bei Reyana haltgemacht, unabhängig davon, dass Urabrask allem Anschein nach befohlen hatte, die Mirraner in Frieden zu lassen.

Heißer Dampf zischte aus der Wand zu ihrer Rechten und offenbarte so einen engen Durchgang, der ihr zuvor entgangen war: ein Spalt in der Oberfläche aus Metall, der gerade groß genug für eine menschenähnliche Gestalt war. Durch die Lücke erblickte Neyali eine vertraute Silhouette. Es war Reyana, die sich mit winzigen Schritten rückwärts auf einen Felsvorsprung über einem Ozean orangefarbener glühender Magma zubewegte. Vor ihr stand eine imposante menschenähnliche Gestalt, deren linker Arm durch eine gewaltige Sichel ersetzt worden war. Ihre ursprünglich goldene Haut war fast vollständig von Eisenfalten überzogen. Sie war einst eine Frau gewesen, eine Auriok. Auf dem Boden lagen Reyanas Waffen: vergessen, zurückgelassen. Der Gesichtsausdruck ihrer Kindheitsfreundin hatte Neyali noch nie gesehen. Eine tiefe Verzweiflung, als sei ihr Herz bereits unwiderruflich gebrochen.

„Endlich bist du bereit, perfekt gemacht zu werden“, sagte die Aspiranten mit der tiefen und entfernt vertrauten Stimme einer Frau. Sie griff mit ausgestrecktem Arm nach Reyana: Eine sonderbar sanfte Geste und zu Neyali Überraschung unterdrückte Reyana ein Schluchzen.

Eine weniger impulsive Frau hätte vielleicht auf Verstärkung gewartet oder zumindest darauf, dass sie die Situation besser einschätzen konnte. Aber Neyali war ein Gewohnheitstier, mit allen Vorteilen und Nachteilen, die damit einhergingen. Sie war wie eine Flamme ihrer Feuervögel. Also stürzte sie mit geballten Fäusten nach vorn. Ihre Handschuhe spiegelten das sengende Licht wider. Sie brüllte herausfordernd und Otharri tat es ihr eine Sekunde später gleich. Der Feuervogel schoss mit bebenden, glühenden Flügeln an Neyali vorbei. Er hackte nach dem Gesicht der Aspirantin, sowie sie sich umwandte. Die Phyrexianerin hob ihren Klingenarm, um den Phoenix in zwei Teile zu spalten, und Neyali duckte sich und schlug nach oben. Sie traf den Ort, an dem die filigranen Knochen des Handgelenks sein sollten.

Metall zerbarst und regnete auf sie herab. Die Aspirantin – eine ältere Auriok, die ihr entfernt bekannt vorkam und selbst schon vor ihrer Vollendung groß gewesen sein musste – strauchelte, schrie aber nicht auf, sondern stierte Reyana nur an.

„Du wirst keine Furcht mehr kennen, sobald dein weiches Fleisch vollendet wurde.“

Neyali ließ nicht von ihr ab. Sie packte den ruinierten Arm der Aspirantin und wand sich, sodass sie ihr den Ellbogen mit aller Kraft in die Brust rammen konnte. Sie trieb sie beide auf den Abgrund zu und ließ in letzter Sekunde los. Die Phyrexianierin fiel hinab, ohne auch nur einen Schrei von sich zu geben.

„Neyali …“

„Bist du in Ordnung?“ Neyali eilte zu ihrer Freundin zurück und suchte sie nach Verletzungen ab. Eine Schramme reichte den Phyrexianern. Ein einziger Tropfen glitzernden Öls würde bedeuten, dass sie im Wettlauf gegen die Zeit zu ihrem Lager zurückkehren und Reyana ein Heilmittel finden müssten, um die Phyrese aufzuhalten, bevor sie unumkehrbar wurde. „Bist du infiziert? Hatte sie Öl? Zeig her …“

„Neyali …“

Die Vulshok umklammerte Reyanas Kopf mit ihren Händen. „Deine Augen. Lass mich deine Augen sehen.“

„Ich bin in Ordnung. Versprochen.“ Reyana umschloss Neyalis Hände mit ihren eigenen. Plötzlich war sie wieder ihre Freundin, nicht die Hülle, als die sie ihr vorher erschienen war. Ihre ausdrucksreichen Gesichtszüge waren wieder belebt. Sie lächelte, erschöpft aber warm. „Sie hat mir nichts angetan.“

„Warum hast du dich nicht gewehrt? Was ist mit deinen Waffen geschehen?“

Das Licht wich erneut aus ihrem Gesicht.

„Neyali, sie war meine Mutter.“


Der Horst schimmerte im kerzenähnlichen Licht der ruhenden Feuervögel. Ihre Flammen waren gedämpft, während sie sanft sangen und einander Dinge zumurmelten, sodass ihr blaugrünes Licht sich bewegende Schatten warf. Sie hatten weniger Platz, als es Neyali lieb war. Wenn sie könnte, würde sie ihnen etwas Robusteres bauen, das Generationen von Feuervögeln eine Heimat sein könnte. Es wäre nicht so zusammengeschustert, sondern hätte Plattformen und Brutkästen, die nicht nur aus Metallresten bestanden.

Neyali kitzelte Otharri unter seinem gefiederten Kiefer.

„Eines Tages“, versprach sie ihrem Freund. Seine Partnerin schlummerte neben ihnen, ihre Küken an sich gekuschelt. „Wir werden euch auf der Asche von Urabrasks Schmelze einen Horst bauen, in dem eure Küken warm und glücklich aufwachsen werden, und ihre Küken und die Generation, die auf die ihren folgt.“

Otharri schlug als Antwort mit den Flügeln und presste mit ausgestrecktem Hals zufrieden und träge seine Wange in Neyalis Handfläche. Neyali kratzte ihm gehorsam das Gefieder, bevor sie sich umwandte und Reyana dabei zusah, wie sie sich um ihre eigenen Vögel kümmerte. Sie hatten Glück gehabt. Trotz all des Chaos – das immer weiter zunahm, denn es gab Geschichten von Unruhe unter den Priestern und Gerüchte, dass Urabrask etwas Gewaltiges plante –, unter dem der Widerstand in letzter Zeit gelitten hatte, war es für die Feuervögel eine gute Brutsaison gewesen. Alle Weibchen hatten gelegt, was eine Seltenheit war. Wenn auch nur die Hälfte der Eier überlebte, würde das bereits so viel ändern.

„Wie geht es deinen Schützlingen?“, sagte Neyali und bahnte sich einen Weg durch die dösenden Feuervögel an Reyanas Seite.

„Kinderlos“, sagte Reyana mit matter Stimme.

Sie trat beiseite und offenbarte, was ihre groß gewachsene Gestalt bislang verborgen hatte: ein Nest voller zertrümmerter Eier, aus denen phosphoreszierender Dotter quoll. Zum Glück gab es keine Spur vom verlorenen Küken und die Mutter war jung genug, dass sie sich nicht um ihren Nachwuchs scherte, sondern damit beschäftigt war, die Aufmerksamkeit eines Männchens in ihrer Nähe auf sich zu ziehen.

„Was ist geschehen?“, fragte Neyali und verzog das Gesicht. Das Letzte, was sie ihrer Freundin wünschte, war eine weitere Tragödie.

„Vielleicht waren es Fiepser“, sagte Reyana mit derselben matten Stimme, während sie die Splitter durchsiebte. „Es würde mich auch nicht wundern, wenn es Ratten waren. Wie auch immer, es spielt keine Rolle. Das Gelege ist tot. Genau wie meine Mutter.“

Neyali schluckte. „Wenn ich das gewusst hätte …“

„Das konntest du nicht. Ich wusste es selbst nicht. Es wurde mir erst klar, als sie mich bat, mich ihr anzuschließen.“

„Ich hätte dich fragen können“, sagte Neyali. Sie wurde die Gewissheit nicht los, dass sie fürchterlich gescheitert war und ein schrecklicher Preis dafür gezahlt werden musste. „Ich hätte denken können, bevor ich handelte. Wir hätten sie vielleicht retten können. Wir hätten vielleicht irgendetwas tun können.“

Ihre Stimme brach beim drittletzten Wort.

„Sie wäre nicht glücklich gewesen“, sagte Reyana und blickte Neyali in die Augen. Ihre Stimme wurde sanft. „Meine Mutter – sie war eine ängstliche Frau. Glas und nicht Stahl. Alles jagte ihr Angst ein. Alles war ein Omen des Todes oder Schlimmeres. Ich konnte es in ihren Augen sehen: wie sehr sie wollte, dass einfach alles aufhörte.“

Reyana schluckte hörbar.

„Ich habe mir immer gewünscht, dass sie einfach sterben würde“, sagte Reyana mit grauenvoller Unnahbarkeit. „Nicht, weil ich ihr Jammern satthatte, oder weil ich es ihr übel nahm, dass sie mich schlug. Ich wollte …“

Neyali starrte ihre Freundin an. „Sie hat dich geschlagen?“

„Nicht aus Bosheit. Ich glaube, sie brauchte einfach ein Ventil. Sie musste den enormen Druck, unter dem sie stand, an irgendetwas auslassen. Er musste nach außen, sonst wäre sie explodiert.“

„Trotzdem war das doch grausam …“

„Ich habe sie geliebt, das verstehst du doch“, sagte Reyana und Neyali hörte einen Vorwurf in diesen leisen Worten mitschwingen. „Das tue ich immer noch. Wie auch immer, ich dachte, es wäre für sie einfacher, wenn sie einfach aufhören würde, in dieser Welt zu existieren. Ich wollte, dass ihre Qualen endeten. Bin ich deswegen eine schlechte Tochter?“

„Nein“, sagte Neyali. Sie schloss und öffnete die Hände, als könne sie die richtigen Worte aus der Luft wringen. „Das bist du nicht. Ich verstehe dich voll und ganz. Die Phyrexianer haben uns so viel genommen. Genau deswegen kämpfen wir. Wir können dafür sorgen, dass das, was deiner Mutter geschah, niemand anderem zustößt.“

Reyana atmete zitternd ein. „Was, wenn Phyrexia recht hat?“

„Das ist nicht komisch“, sagte Neyali.

„Ich weiß, wir behaupten, dass das, was sie tun, eine Sünde ist, ein Verbrechen gegen die Seele. Aber du hättest meine Mutter sehen sollen, Neyali. Sie war gelassen. Sie war sonst nie gelassen. Ich habe sie keinen einzigen Tag in Frieden leben sehen. Selbst im Schlaf murmelte, schluchzte und klagte sie. Die Version, die ich heute vor mir sah – ruhte in sich. Ich glaube …“

Entsetzen ergriff Neyali. Sie wusste, wie der Satz enden würde, und der Gedanke, dass er laut ausgesprochen wurde, dass Reyana diese Worte in den Mund nehmen würde, brachte Neyali fast zum Schreien. Einen fehlbaren Moment lang wünschte sie sich, Reyana wäre doch vom glitzernden Öl infiziert worden, damit sie der phyrexianischen Korruption die Schuld für diesen schauerlichen Ausblick hätte geben können. Denn die Alternative war wesentlich schlimmer: Reyana war von sich aus auf diesen Gedanken gekommen. „Der Frieden“, sagte Neyali sehr behutsam, „den die Phyrexianer spüren, ist kein echter. Er entspringt aus dem Verlust des Selbst. Dieses Ding war nicht deine Mutter. Nicht mehr. Bestenfalls war es eine Marionette. Eine Lüge aus Stahl und Fleisch.“

„Ist das so?“

Neyali nickte.

„Alle ihre Aspiranten sind Köder. Sie sollen betören, und die Verbleibenden überzeugen, dass die Phyrese ihre einzige logische Wahl ist. Sie existieren, um unsere Herzen und Geister zu brechen. Und wenn du mich fragst“, sagte sie mit sanfter Stimme, „hast du die Begegnung sehr würdevoll überstanden. Ich wäre vor Kummer verrückt geworden.“

„Wer sagt, dass ich das nicht bin?“

Neyali klopfte ihrer Freundin auf die rechte Schulter. „Wenn du es bist, hast du Gesellschaft, während wir wild lachend in die Dunkelheit ziehen. Ich habe dir etwas versprochen, als wir uns kennengelernt haben. Ich werde dich nicht im Stich lassen. Egal, was passiert, ich bleibe immer an deiner Seite.“

Erst später, als sie in ihr Feldbett kroch, fiel ihr auf, dass Reyana nicht ihre Hälfte ihres üblichen Ruf-und-Antwort-Rituals erwidert hatte. Während sie unruhig einschlief, fragte sie sich, was das wohl bedeutete.


Am nächsten Morgen wurde Neyali von einem Vulshok-Jungen – Saheenas ältestem Sohn, der seine Augen und Statur von einem Vater geerbt hatte, der längst verschwunden war – geweckt, der sich räusperte. Sie setzte sich auf, und rieb sich mit ihrer Handfläche das rechte Auge. Entweder holte ihr Alter sie langsam ein oder sie hatte sich zu sehr an die Vorstellung gewöhnt, dass es Leute gab, denen sie vertrauen konnte. Neyali hoffte eindringlich, dass es an Ersterem lag. Selbstgefälligkeit bedeutet Tod.

„Was ist los?“

Der Kummer in der Miene des Jungen vertiefte sich. Er hielt ihr einen Zettel hin.

„Es ist Reyana“, sagte er bedrückt. „Sie ist fort.“


„Fort“ bedeutete ein Zettel auf ihrem Feldbett und daneben ihre zurückgelassenen Sachen. Es war, als wäre sie nur kurz weggegangen. Ihre Vorräte waren gänzlich unberührt. Wäre der Zettel nicht gewesen und wäre Neyali eine zuversichtlichere Person, hätte sie vielleicht glauben können, dass Reyana irgendwo in der Nähe war. Aber Neyali kannte ihre Welt gut genug, um zu wissen, dass sie sich dieser Illusion nicht hingeben durfte.

Sie drehte den Zettel um in der Hoffnung, auf der Rückseite einen Hinweis zu finden.

Triff mich im Verwertungskomplex.

Was wollte Reyana dort?

Neyali fragte sich, ob es wohl eine Falle war. Vielleicht war Reyana entführt und dann gezwungen worden, diesen Zettel zu schreiben, damit ihnen auch Neyali in die Falle ging. Aber dafür müsste es Anzeichen eines Kampfes geben und Belege dafür, dass die Phyrexianer in ihr Lager eingedrungen waren.

Neyali unterdrückte die leise innere Stimme, die flüsterte, vielleicht ist sie freiwillig gegangen.

„Dort herrscht der Goblin, oder?“, fragte Elham, deren weißes Haar durch die weißgoldenen Tupfen in ihrer Haut nur noch strahlender erschien.

„Ich glaube, ja“, sagte Neyali und steckte den Zettel wieder weg. Unruhig überprüfte sie ihre Ausrüstung: ihre Rüstung auf Schwachstellen, ihre Handschuhe auf Rost. Otharri sah ihr von seiner Stange aus zu. Neyali hatte schon einmal einen Blick auf Slobad erhascht, allerdings nur aus der Ferne: Er war ein monströs großer Goblin, dessen Gliedmaßen vor schwarzem Stahl angeschwollen waren.

„Ist er ein Schmelzenleiter?“, fragte Saheenas Jüngster. Was war noch sein Name? Beschämt musste Neyali sich eingestehen, dass sie sich nicht daran erinnerte, auch wegen der Panik, die ihr Herz heftig gegen ihre Rippen schlagen ließ.

„Nein“, sagte Elham. „Er ist für Schrottaufbereitung verantwortlich. Urabrask schickt ihm überholte Phyrexianer, die umfunktioniert werden sollen.“

In der Schmelzofenschicht wurde nichts verschwendet. Was nicht mehr verwendet werden konnte, wurde in seine Einzelteile zerlegt und zu etwas anderem verarbeitet, das wieder von Nutzen sein konnte.

„Was würde er dann von Reyana wollen?“, wollte Neyali wütend wissen.

„Arbeitskraft?“, schlug die Auriok vor. Saheena und ihr Jüngster kamen um die Ecke. Das Blut war fort und ihr Auge verbunden. „Er kann den Komplex nicht alleine am Laufen halten.“

Neyali nickte. Diese Erklärung war einfacher Selbstreflexion. Es war einfacher, seinen Feind zu benennen und dann direkt den Konflikt zu suchen. Sie schlug ihre Faust in ihre offene Handfläche und grinste ihre Mitstreiter breit an.

„Alles klar“, sagte Neyali. „Ich gehe Reyana suchen. Niemand muss mich auf dieser Mission begleiten. Reyana ist meine Freundin und …“

„Sie ist auch für uns ein Teil der Familie“, sagte Elham und schnallte sich ihre Kampfaxt um die Schulter. Ihre Körpersprache ließ keinen Widerspruch zu. Ihre Wade schimmerte vor poliertem Gold; eine einfache Prothese, die gut auf sie abgestimmt und noch besser gefertigt war.

„Es kann sein, dass ich einen Fehler mache.“

„Wir alle haben jemanden verloren“, sagte Saheena knapp. Ihre Söhne wandten ihre Blicke auf und ihre Mienen verdunkelten sich. Jeder in der Gruppe kannte ihre Geschichte: Sie waren die letzten Überlebenden einer riesigen Familie und hatten einst unzählige Tanten und Onkel gehabt. „Wenn wir Glück haben, können wir uns vergewissern, dass Reyana nicht zu ihren Reihen zählt.“


Innerhalb einer Stunde war die Widerstandszelle reisebereit. Die meisten von ihnen brachen gen Osten auf und nahmen einen Großteil ihrer Vorräte und die Feuervögel zu einem benachbarten Lager mit. Nur Otharri verblieb an Neyalis Seite, da er sich nicht von seiner Freundin trennen wollte.

Nach steifen Abschieden machte sich der Rest von Neyalis Zelle, der sich nur noch aus den Tapfersten und Störrischsten zusammensetzte, auf den Weg zum Verwertungskomplex. Der Weg dorthin war nicht so gefährlich wie andere: Die Tunnel, die zu diesem Komplex führten, lagen weit abseits der Hauptadern der Schmelzofenschicht und führten direkt an ihren Grenzen entlang. Zwar durchkreuzte er keine der Schmieden, aber er war lang. Das allein brachte das Risiko unerwünschter Begegnungen mit sich.

Aber dazu kam es nicht.

Die Straße blieb ganz und gar leer, was wiederum beunruhigend war.

Fast, als wäre sie mit Absicht geräumt worden. Als würde etwas auf sie warten. Ihre Stimmung wäre vielleicht umgeschlagen, wenn sie unterwegs nicht auf mehrere mirranische Lager gestoßen wären: eins in einem Alkoven, der einst die Ruinen einer Fabrik oder der ausgehöhlte Leib eines überwachsenen Goliaths gewesen sein mochte, mit gewundenen Spitzen schwarzen Stahls, die wie gebrochene Rippen aus ihm hervorstachen; eins am Ende eines Vorsprungs voller ungenutzter Fließbänder und das letzte in einem Friedhof bizarrer, zerbröckelnder Gebilde. In jedem der Lager erfuhren Neyali und ihre Gefährten das Gleiche: Geliebte Personen waren verschwunden, ohne Anzeichen, dass Gewalt angewendet wurde.

Sie ist freiwillig gegangen, meldete sich die leise Stimme erneut. Es fiel Neyali immer schwerer, sie zu ignorieren, bevor sie jedoch ihre Überzeugungen infrage stellen konnte, erreichten sie die Ausläufer des Verwertungskomplexes.

Früher war er vielleicht ein Gefangenenlager gewesen. Verformte Käfige bildeten wacklige Türme. Ihre Gitterstäbe waren verbogen und an einigen Stellen gewölbt, als hätte, was auch immer darin gefangen gewesen war, verzweifelt versucht, zu entkommen. In vielen von ihnen befanden sich zusammengesackte Gestalten: gefangen genommene Mirraner, die auf ihre Salbung mit glitzerndem Öl warteten. Zwischen den Einfriedungen bahnte sich Maschinerie ihren Weg und überwucherte sie in einer Parodie pflanzlichen Lebens. Die Grube direkt in der Mitte des Verwertungskomplexes zog Neyalis Aufmerksamkeit auf sich: eine umgekehrte Stufenpyramide, die von gewaltigen schwarzen Rohren durchzogen war. Auf jeder Ebene befanden sich verschiedenste unbegreifliche Vorrichtungen, deren beweglichen Teile scheinbar keinerlei Zweck erfüllten.

Und Körper, wie Neyali auffiel.

Zahllose phyrexianische Körper, die auf die Knie gezwungen worden waren, bevor man das Metall aus ihnen ausgenommen hatte, sodass nur noch das Fleisch verblieb. Reihe um Reihe dieser Leiber sah sie dort, wie ein stummes Publikum, das gebannt auf die Plattform ganz unten starrte. Auf dem kleinen Stück Metall befand sich eine einzige Gestalt. Neyalis Herz schlug schneller: Es war Reyana, gefesselt und auf dem Bauch liegend.

„Beobachte den Himmel für mich, Liebster“, flüsterte Neyali und küsste Otharri auf die Wange. Mit einem Zucken ihres Arms schickte sie den Feuervogel in die Lüfte. Dann wandte sich Neyali ihren Gefährten zu. „Es ist gut möglich, dass dies eine Falle ist und ich eine Närrin bin, aber Reyana ist meine Freundin. Ich habe uns mein Wort gegeben, dass ich sie nicht im Stich lassen werde. Dieses Versprechen werde ich halten. Aber niemand von euch hat diesen törichten Schwur geleistet. Euch drohen weder Groll noch Tadel, wenn ihr umkehrt. Wenn ihr nun fortgeht, dann tut ihr das in Ehren.“

Die versammelten Mirraner warfen sich Blicke zu, aber niemand sprach, bis Saheena endlich gelangweilt das Wort ergriff:

„Möchtest du noch mehr Zeit verschwenden oder können wir damit anfangen, die Umgebung zu sichern?“

Illustration von: Marta Nael

Sie machten drei ganze Runden um den Verwertungskomplex, bevor Neyali aufgab. Allem Anschein nach war dieser Ort unbewacht. Ihre Luftreinheitsdetektoren ließen keinerlei Zunahme an giftigen Partikeln erkennen, die sie sonst auf verborgene Phyrexianer aufmerksam machte. Dieser Ort war verlassen, mit Ausnahme von Reyana und dem Aufgebot an Leichen.

„Was nun?“, fragte Elham, nachdem sie wieder ihren ursprünglichen Aussichtspunkt erreicht hatten.

Sie starrte verstört zu Reyana herab. Ich weiß es nicht, wollte Neyali sagen, aber das konnte sie nicht. Sie verließen sich auf sie. Sogar Elham sah zu ihr auf und wartete auf ihre Befehle. Diese Frau war eine Heldin und Mentorin gewesen und hatte Neyali vertraut, als sie ihre Führungsrolle abgegeben hatte.

Neyali schluckte schwer.

„Ich gehe allein hinab.“

Das überraschte Elham. „Das ist leichtsinnig.“

„Das ist strategisch klug“, widersprach Neyali. „Falls wir etwas übersehen haben und das wirklich eine Falle ist, werde ich die Aufmerksamkeit auf mich ziehen, sodass ihr Zeit habt, um zu reagieren.“

„Was, wenn sich herausstellt, dass wir zahlenmäßig unterlegen sind?“

„Dann flieht ihr.“

Neyali …“

„Das sind meine Befehle“, sagte Neyali. Sie hoffte, dass die anderen nur die Autorität ihrer Stimme vernahmen und nicht ihr Zittern. Sie wusste, was ihr riskanter Plan ihr einbringen könnte. Vollendung. Neyali fragte sich oft, wie viel der ursprünglichen Person noch verblieb, nachdem die Phyrese ihren Lauf genommen hatte. Ob genug Verstand übrig blieb, um bis in alle Ewigkeiten im Inneren zu schreien, angesichts dessen, wozu der Körper gezwungen wurde.

Und ob auch sie schreien würde.

„Du brauchst eine Ehrengarde“, knurrte Saheena unfügsam wie Eisen und trat an ihre rechte Seite.

„Na gut“, blaffte Neyali. „Drei von euch. Mir zur Seite. Der Rest. Auf eure Posten.“

Die Mirraner salutierten und verteilten sich, mit Ausnahme der Vulshok-Matriarchin und ihrer zwei Söhne, die im roten Licht so quälend jung aussahen. In enger Formation folgten sie ihr zur Grube hinunter: Saheena bildete die Vorhut, während ihre Söhne Neyali flankierten.

Genau wie ihre Reise zum Verwertungskomplex verlief auch ihre Expedition zu Reyana ohne Zwischenfälle. Die toten Phyrexianer blieben reglos wie Statuen, obwohl Neyali mit jedem Moment überzeugter davon wurde, dass sie sich als heulender Pulk verstümmelten Fleisches auf ihre Vierergruppe stürzen würden. Aber nichts dergleichen geschah.

Sie traten auf die Plattform. Diese wankte unter ihrem Gewicht, jedoch nicht so sehr, dass es sie beunruhigte. Reyana reagierte nicht. Sie blieb einfach von ihnen abgewandt liegen. Ihr Atem war flach und unstet.

„Reyana“, flüsterte Neyali, sowie sie sich neben ihrer Freundin hingekniet hatte.

Behutsam drehte sie Reyana auf ihren Rücken. Obwohl sie sich nicht regte, war die Auriok wach: Ihre Augen waren geöffnet, jedoch starrten sie in die Ferne. Ihre Miene war vom selben Elend erfüllt, die Neyali am Abend vor dem plötzlichen Verschwinden ihrer Freundin gesehen hatte.

„Reyana“, wiederholte Neyali, als sei der Name ihre Freundin ein Zauberspruch. „Ich bin’s. Wir holen dich hier heraus.“

Die Auriok blinzelte einmal. Ihre Lider waren lang und schwarz wie Öl. Ihr Blick fokussierte sich. Der Kummer in ihrem Gesicht vertiefte sich. „Es tut mir leid, Neyali. Ich war einfach nur so erschöpft.“

Illustration von: Josh Hass

Neyali schüttelte den Kopf.

„Du musst dich nicht entschuldigen. Wir sind eine Familie …“, sagte Neyali, die dieses Gefühl mit gerührter Stimme nun zum ersten Mal in Worte fasste. Ihr Blick fiel auf die Ketten, die um Reyanas Handgelenke und Arme lagen. Sie waren eigentümlicher Machart. Schlanker als jene, die die Phyrexianer meist verwendeten und weniger wie oxidierte Sehnen; schöner. „Und Familien halten zusammen.“

„Es tut mir leid“, sagte Reyana erneut, anstatt zu antworten. Ihre Finger glitten über Neyalis und tasteten nach ihren Unterarmen. Ihre Bewegungen hatten etwas Nachdenkliches, als würde sie ihre Freundin oder eher eine Entscheidung, für die sie stand, beurteilen. „Wirklich.“

Eine Brise ging durch die Luft. Ein orangeroter Glanz reiste Reyanas Arme über ihre Fesseln empor und erreichte Neyalis Knöchel. Diese zuckte instinktiv zurück. Einen Sekundenbruchteil später verdunkelte sich das Licht und verdichtete sich zu verschlungenen Ketten, die mit einem dumpfen Geräusch zu Boden fielen. Reyana, die nun nicht mehr gefesselt war, setzte sich gelassen auf und blinzelte ihre Gefährtinnen und Gefährten an, als wären sie Fremde.

„Ich wusste es“, knurrte die Matriarchin. „Verräterin.

„Was haben sie dir versprochen, Reyana?“ Neyali heulte auf, wutentbrannt, dass ihre Ängste – diese leise Stimme, die ihr immer wieder zugeflüstert hatte, dass sie freiwillig gegangen war – sich bestätigt hatten. Neyali sah sich panisch um. Es war zu spät für sie zu fliehen, aber die vier konnten dem Rest ihrer Gruppe immer noch Zeit verschaffen. Sie musste den anderen nur ein Signal geben, damit sie nicht auf den Gedanken überstürzter Heldentaten kamen. Ihr Blick wanderte zum rauchverhüllten Himmel. Otharri war nirgends zu sehen.

Hatten sie ihn gefangen?

Nein. Unmöglich. Phyrexia würde Otharri nur tot in die Klauen bekommen und das nur nach einem Kampf, der die ganze Schmelzofenschicht erschüttern würde. Für die Mirraner waren Phoenixe aus gutem Grund ein Symbol der Hoffnung und für die Phyrexianer ein Omen des Todes. Er war noch irgendwo im Dunst, da war Neyali sich sicher. Flieg weit weg, beschwor sie den Feuervogel. Flieh. Bring die anderen in Sicherheit. Lass dich nicht erwischen.

„Frieden!“, kreischte Reyana und erhob sich wankend. Sie weinte, während sie sprach, jedes Wort war ein Schluchzen. „Wir sind nicht alle wie du. Ich möchte nicht in Angst sterben“, Neyali. Ich möchte kein Leben, wie meine Mutter es führte. Ich möchte, dass alles aufhört. Verstehst du das nicht? Ich möchte, dass das hier aufhört. Ich möchte den perfekten Frieden, der meiner Mutter beschert wurde. Slobad – er hat mir Frieden versprochen. Dass ich mit den Leuten, die ich liebe, nach denen ich mich sehne und die ich vermisse, wiedervereint werde.“

„Und das wirst du auch“, sagte eine neue Stimme hinter Neyali. Eine Stimme, die erstaunlich gewöhnlich klang, gemessen an ihrem Ursprung.

Sie wirbelte herum und sah Slobad am Rand der Grube stehen. Neyali hatte ihn einmal zuvor aus der Ferne gesehen und hatte damals nicht viel über ihn nachgedacht: Er war nur ein weiterer phyrexianischer Schrecken in einer Armee von Millionen. Jetzt war sie ihm nah genug, dass sich ihr seine ganze Schrecklichkeit offenbarte. Sein kleiner Goblinkörper war in einem riesigen Flickwerk aus Drähten und Metallplatten eingefasst. An einer Schulter prangte ein Achselstück mit einem Triptychon schreiender Goblinköpfe und Neyali konnte sehen, wo Slobads Gliedmaßen abgeschoren und am Gelenk amputiert worden waren, um sie an das Exoskelett seines golemartigen phyrexianischen Körpers zu löten.

Illustration von: Chris Seaman

„Wir sind nicht eure Feinde“, sagte er. Die Welt dort draußen ist hart und kalt und sie nimmt einem alles. Freunde, Familie. Aber hier? Hier sind wir sicher. Wir sind eine Familie. Hier sind alle versammelt, die wir lieben, seht ihr nicht?“

Slobad blickte zuerst auf seine gewaltige Hand und dann auf das Quartett vor ihm hinab.

„Du bist Neyali.“

Ihre Gefährtinnen und Gefährten zogen ihre Waffen nahmen Kampfstellung ein. Lieber Tod als Vollendung, dachte Neyali. „Ich habe keine Angst vor dir.“

„Warum solltest du auch? Hier gibt es keine Grausamkeit, seht ihr nicht? Wir wollen niemandem von euch wehtun. Wir euch nur mit jenen wiedervereinen, die ihr liebtet“, sagte Slobad ruhig. „Die Mirraner vertrauen dir als Anführerin. Warum führst du sie nicht zurück zu jenen, die sie lieben?“

„Vater?“, wimmerte einer der jungen Vulshoks. Sein Speer fiel klappernd zu Boden.

Ein Aspirant stand neben Slobad: ein Vulshok, gehörnt und fast vollständig in Stahl gehüllt.

„Lasst euch nicht ablenken“, warnte sie ihre Verbündeten. „Zaudert nicht.“

„Ich habe ein Angebot für euch. Ihr vier“, sagte Slobad. „Gegen die restlichen Mirraner, die sich hier versteckt halten.“

Neyali wurde das Herz schwer.

Slobad wusste es.

„Wir stehen zu dir, egal, wie du dich entscheidest“, sagte Saheena leise. „Wenn du uns befiehlst, an deiner Seite zu sterben, dann tun wir das. Bis zum bitteren Ende, Neyali.“ In ihrer ruhigen Stimme war ein hauchdünnes Zittern zu vernehmen und Neyali fragte sich, ob sie ihrem Partner, den sie für Tod gehalten hatte und der in seiner ausgehöhlten Form nun über ihnen stand, den gleichen Schwur geleistet hatte. „Wir stehen bis zum bitteren Ende zu dir.“

Neyali blickte zu Reyana zurück. Sie war auf ihren Knien, hatte die Hände zum Gebet verschränkt und wippte vor und zurück. Sie weinte: Tränen und nicht Öl, und das war schlimmer, als wenn Reyana vollendet worden wäre. Reyana hatte sich dazu entschieden. Sie hatte sich entschieden, als Köder zu fungieren.

Und die törichte Neyali war geradewegs in die Falle getappt, obwohl alle ihre Instinkte Alarm geschlagen hatten. Aber sie konnte die Lage noch retten.

„Warum sollten wir dir vertrauen?“, fragte Neyali. „Woher weiß ich, dass du uns nicht einfach trotzdem alle zugrunde richtest? Urabrask hat seine Befehle erteilt. Solltest du nicht Besseres zu tun haben, als uns Leid anzutun?“

„Leid? Ich will euch doch kein Leid antun, seht ihr nicht? Kein Leid. Ich will euch nur helfen.“

Neyali schluckte schwer und blickte zu jenen, die sie in den Untergang geführt hatte.

„Dann lass diese drei gehen, wenn du wirklich dazu stehst.“

„Einverstanden.“

„Neyali …“

Geht“, sagte Neyali. „Bevor er es sich anders überlegt.“

Sie spürte, wie die Vulshok-Älteste sich anspannte und ihre Söhne erzitterten: Der eine verkniff sich ein Wimmern, der andere unterdrückte seine Frustration. Dann nickte Saheena kaum merklich. Die drei marschierten an Neyali vorbei. Slobad hielt sein Wort und er und seine Lakaien unternahmen nichts. Sie sahen nur mit ihren schmelzenhellen Augen zu.


Slobad war ihr wohl gnädig gestimmt, entschied Neyali, denn sie wurde in einen Käfig geführt, der weiter über dem Ort lag, an dem Reyana das glitzernde Öl empfangen würde. Von dort aus konnte Neyali sich beinahe vormachen, dass ihre Freundin eine Fremde war, eine Verräterin, mit der sie nichts gemein hatte. Wenigstens sind die anderen aus meiner Gruppe in Sicherheit, dachte sich Neyali und klammerte sich an diesen Gedanken, wie an eine Rettungsleine. Wenigstens ist Otharri in Sicherheit.

Daran würde sie sich festhalten, solange es ihr möglich war. Mit etwas Glück würde sie das lange genug lähmen, dass eine Widerstandskämpferin sie niederstrecken konnte, wenn die Zeit gekommen war.

Neyali war überrascht, dass nicht ein Priester, sondern Slobad selbst Reyanas Transformation auf den Weg brachte. Es hatte etwas Zärtliches, wie der Goblin Neyalis Freundin gebot, auf die Knie zu gehen, und etwas Anmutiges, wie sie zu Boden sank, mit nach oben gerichtetem, bronzenem Gesicht, als würde sie einen Segen entgegennehmen.

Neyali wandte ihre Augen ab; sie konnte den Anblick nicht ertragen.

Wenigstens sind die anderen aus meiner Gruppe in Sicherheit, dachte Neyali erneut. Wenigstens ist Otharri in Sicherheit.

Dann hörte sie ein sanftes Klicken: Klauen, die auf den Gitterstäben über ihrem Kopf zur Ruhe kamen. Der Feuervogel stieß ein paar leise Noten als Begrüßung aus und stupste sie durch die Gitterstäbe mit seinem Schnabel an.

„Was tust du hier?“, flüsterte Neyali, ohne jedoch ihre Erleichterung unterdrücken zu können. „Du musst hier fort.“

Der Feuervogel sah sie mit einem ungläubigen Auge an und atmete tief ein.

„Ich bin nur eine Person. Ich bin es nicht wert. Du …“

Neyali lachte ungewollt panisch auf, angesichts ihrer eigenen Scheinheiligkeit. All dies war nur wegen einer Person geschehen. Sie hatte alles aufs Spiel gesetzt, um Reyana zu retten, im Glauben, dass ein einziges Leben tatsächlich so viel wert sein konnte.

Otharri atmete aus.

Die schweflige Luft wandelte sich von dreckigem Orange zu einem strahlenden Weißblau, während die Flammen des Feuervogels die Gitterstäbe schmelzen ließen. Asche, die immer noch golden schimmerte, wurde von der Brise davongetragen. Er schwirrte von einem Käfig zum anderen und wiederholte diesen Vorgang immer und immer wieder, während ein Alarm im Verwertungskomplex ertönte. Otharri ließ einen trotzigen Kampfappell ertönen.

Und Neyali antwortete mit ihrem eigenen befreiten Ruf.

„Dies …“, donnerte sie. Magie sprang von ihr zu jedem Mirraner, den Otharri befreit hatte, ein Teppich aus Feuer, das an ihrer Haut haften blieb. Neyali blickte herab zu Slobad, der mit seinem Vorschlaghammer in den Händen wartete. „ist nicht der Ort, an dem wir sterben.“

Wenn sie schnell genug über die emporragenden Käfiggebilde flohen, würden sie die Phyrexianer nie einholen. Die wenigen, die versuchten, die Käfige zu erklimmen, wurden von Otharris Feuer auf Distanz gehalten. Neyali hielt inmitten des Chaos nach Reyana Ausschau und erblickte sie schließlich hinter sich. Sie sah zum Getöse hoch. Trotz allem streckte Neyali eine Hand nach ihr aus. Es war ein letzter Versuch.

Reyana wandte sich ab.

Das war es dann wohl. Neyali schluckte. Was hätte sie nur für etwas Zeit gegeben, um mit Reyana reden zu können, Zeit, um darauf zu bestehen, dass es keinen Grund gab, aufzugeben, und dass Reyana kämpfen musste. Aber sie hatte beide ihre Entscheidung getroffen. Sie gingen nun getrennte Wege. Neyali salutierte ihrer ehemaligen Freundin. In der Ferne konnte sie hören, wie die Mitglieder ihrer Widerstandszelle – und zwar nicht nur jene, die Neyalis Himmelfahrtskommando gefolgt waren, sondern alle – in den Verwertungskomplex einfielen, um ihre Flucht zu decken. Später würde sie Zeit zum Trauern haben.

Jetzt musste sie ihre Leute von dort wegführen.

Illustration von: Lie Setiawan