In der Stille der Nacht
Was bisher geschah: Der Dank des Konsulats
In dem Versuch, einen Aufstand der Renegaten niederzuschlagen, konfiszierte das Konsulat von Ghirapur alle nicht genehmigten Geräte von den Erfindern der Stadt. Der Zugang zu Energiequellen wurde drastisch eingeschränkt und eine Sperrstunde verhängt.
Yahenni, eine äthergeborene Salonlöwin und Philanthropin, ist dem Tod nur noch Augenblicke entfernt. Mit dem verzweifelten Wunsch, nicht einsam aus der Welt zu scheiden, stolpert Yahenni nach der Sperrstunde durch die verlassenen Straßen und sucht nach dem, was jedem Äthergeborenen zustehen sollte: einer letzten Feier, ehe man stirbt.
I
Ich muss irgendjemanden finden, der bei mir ist, wenn ich sterbe. Ich brauche jemanden, der das, was von meiner Schulter noch übrig ist, zusammenhält. Ich brauche jemanden, der Zeuge wird, wie es mich im einen Augenblick noch gibt und im nächsten dann nicht mehr. Eine liebevolle Stimme, die flüstert: „Du bist sicher. Es ist gut, Yahenni. Lass los, wenn du bereit bist.“ Ich brauche jemanden. Egal wen.
Ich werde jemanden finden, auch wenn es mich umbringt.
Es ist dunkel, und ich bin die Einzige, die unter den Traufen des Bronzeviertels umherstolpert. Die Durchfahrtstraßen sind leer, die Stände geschlossen und verlassen. Es gibt kein Licht, das mir Gesellschaft leistet – nur das, was mein eigener Körper abstrahlt. Keine Erfinder (Notstandsverordnung #89-A), kein Äther (Notstandsverordnung #89-B) – und da bin ich nun und torkele umher wie ein betrunkener Bandaren, vergeblich auf der Suche nach jemandem, der mit mir feiert, während ich sterbe. Zu lange war ich in meinem Penthouse eingesperrt gewesen, und nun da die Notstandsverordnung #89-C in Kraft ist, hätte mich mit Sicherheit auch niemand besucht.
Ich nehme nur ein einziges weiteres Wesen auf der Straße wahr. Ein schrecklich darbender Gremlin liegt unter einem Fahrzeug zu meiner Linken, die Pupillen ob der Dunkelheit der Nacht stark geweitet und der Bauch vor Hunger tief eingesunken. Er folgt mir schon die letzten zwanzig Minuten. Ich schaue weg. Wir beide riechen nach Tod.
Jeder Äthergeborene verdient eine vorletzte Feier, doch zur Zeit gibt es niemanden, der irgendetwas feiern würde.
Ich spüre, wie sich mein linker Handrücken in einer Wolke auseinandertreibenden Äthers auflöst. Diese Freisetzung ist beruhigend und wirkt der Anspannung entgegen. Der Rest meines Körpers sehnt sich danach, das Gleiche zu tun. Es wäre so leicht.
Ich stolpere über ein Stück eines platt gefahrenen Lieferservos. Ein Teil meines Fußes bleibt daran hängen. Ich höre den Gremlin darauf zuhuschen und sich an den kümmerlichen Überresten meiner selbst laben, die nun an der Hülle des Servos haften. Unter den Äthergeborenen gibt es eine häufige Warnung: Gremlins jagen dich zwar nicht, aber sie warten gern und geduldig.
Ich stolpere weiter. Ich habe noch fünfzehn Minuten.
Ich frage mich, was ich wohl war, bevor ich gelebt habe. Habe ich meine Ewigkeiten damit zugebracht, ein ums andere Mal durch die Große Verbindung zu fließen? Habe ich Städten zu Energie verholfen? Habe ich Gremlins genährt? Welche traurige Endlosigkeit erwartet mich wohl, wenn ich sterbe ...
Urplötzlich trifft es mich, wie ein Zug, der in völliger Geräuschlosigkeit auf ein Hinderns prallt.
Ich werde allein sterben.
Meine Panik lässt mich schneller vorantaumeln. Wohin, weiß ich nicht. Wenn ich meine Sinne öffne (die eigenartigerweise nie schärfer waren – Daumen hoch für die Nekrose!), kann ich Menschen wahrnehmen, die sich in ihren Wohnungen verbergen. Jeder von ihnen riecht nach Unbehagen. Weit verteilt und voneinander abgeschnitten. Was einst das beste Vergnügungsviertel Ghirapurs war, ist nun angesichts der stadtweit geltenden Sperrstunde mit Brettern vernagelt, geschlossen und verrammelt. Das einzige Geräusch auf diesen Straßen sind meine Schritte, als ich auf der Suche nach irgendeiner Ansammlung von Menschen umherstolpere. Keine Sperrstunde wird mich von meinem Geburtsrecht abbringen. Ich habe eine letzte Feier verdient und ich werde sie finden – und wenn es mich umbringt.
Ich schaue hinter mich zu dem Gremlin. Er erwidert meinen Blick voller Hunger. Ich gerate in Panik.
Es kommt tatsächlich so. Ich werde allein sterben.
Ich werde allein sterben.
Ich werde allein sterben.
Ich drücke meine noch etwas intaktere Hand gegen ein Gebäude, um mich abzustützen, und gehe schneller. Meine Haut hält mich lose umfangen ... Ich werde von losen Fäden aus Rauch und dahinbröselnder Asche zusammengehalten. Ich halte an und konzentriere meine Sinne. In der Ferne rieche ich den feuchten Filz der Verzweiflung, eine mineraldurchtränkte Entschlossenheit und trotzige Tamarinden ...
Moment! Ich kenne diesen Tamarindenduft!
Ich wanke auf das empathische Aroma zu. Es ist nur ein paar Blocks entfernt.
II
Je älter ich wurde, desto mehr wurde mir nach und nach bewusst, wie viel Zeit genau mir noch bleibt. Ich schätze, es ist der gleiche Sinn, der Wesen mit Organen und Körperöffnungen mitteilt, wann sie essen müssen oder erkältet sind oder ihre Blase zu leeren haben. Als ich einige Wochen alt war, wusste ich, dass mir noch etwa vier Jahre blieben. Als ich ein Jahr alt war, wusste ich, dass es noch ungefähr drei Jahre und ein Monat waren. Und vor einer Weile wusste ich genau, dass es noch zweiundzwanzig Tage waren. Jetzt weiß ich: Mir bleiben noch zwölf Minuten. Ich weiß es und es ist entsetzlich.
Der Duft nach Tamarinden wird stärker. Ich sehe die Mauern des Museums der Erfindungen vor mir. In den letzten Wochen war es von Dutzenden von Bannern des Konsulats übersät gewesen, doch nun ist dort auf der Vorderseite des Gebäudes, wo die Banner herabgerissen wurden, nur noch ein kahler Fleck. An der Stelle der Banner ist ... etwas anderes. Ich bewege mich weiter darauf zu, und in der Dunkelheit mache ich frische Farbe aus, die im Sternenlicht schimmert.
Ich erkenne das Zeichen der Renegaten: ein umgekehrtes Konsulatssymbol mit ausschweifenden Linien am Boden, als würde dort etwas zerfließen. Sie nennen es den undichten Turm. Ein Symbol der Hoffnung, dass der Äther dazu bestimmt ist, zu den Menschen zurückzukehren.
Auf der anderen Straßenseite bemerke ich eine menschliche Gestalt, die letzte Hand an ihr Graffiti anlegt.
Mein Herz macht einen Sprung – ich kenne diese Person! Das ist Nived, mein liebster Essenslieferant!
Ah, Nived! Was für ein Kerl! Ich habe ihn seit meiner Feier vor der Erfindermesse nicht mehr gesehen! Extravagante Büfetts, intime Mahlzeiten – es gibt nichts, was Nived nicht zubereiten kann. Ich hatte ihn für meine vorletzte Feier gebucht ...
Eine Woge der Traurigkeit spült über mich hinweg. Unter den derzeit herrschenden Umständen hatte ich meine eigene Feier absagen müssen. Ich hatte meine eigene vorletzte Feier absagen müssen.
„Nived!“, flüstere ich hörbar. Nived zuckt zusammen und blickt mich mit geweiteten Augen an. Sein Gesicht ist voller Farbe und ein notdürftig zusammengeflickter Hackmesser-Apparat an seinem Handgelenk befestigt. Ich bin entzückt. Schau sich nur einer meinen Freund den Rebellen an!
Er legt einen Finger an die Lippen. Pst. Ich kann mich später noch freuen. Ich keuche und stolpere näher. Noch sieben Minuten. Meine Beine geben nach, als ich Nived erreiche. Meine Stimme bebt. Das Sprechen fällt mir schwer, doch das hier ist unfassbar wichtig. Das könnte sehr wohl das letzte lebende Geschöpf sein, dem ich begegne, und es ist Zeit, Buße zu tun, solange ich noch kann.
„Yahenni? Bist du das?“, fragt er, während er hastig seine Farbe zusammenrafft. Er kniet sich zu mir auf den Boden.
„Das, was noch von mir übrig ist“, scherze ich halbherzig. „Es freut mich zu sehen, dass du deinen Bürgerpflichten nachkommst.“
„Dein Körper ... Was ...?“
„Ich habe nicht viel Zeit. Nived ... Ich wollte mich entschuldigen, Teuerster.“
„Wofür denn?!“
Die Woge der Qual spült erneut über mich hinweg. Mir bleibt so wenig Zeit. Meine Worte müssen Eindruck hinterlassen. Ich lege die Hand auf Niveds Schulter.
„Es tut mir leid, dass ich ... abgesagt habe ... weniger als einen Tag vor meiner Feier ...“
„... Ist das dein Ernst?“
Mein Körper zittert vor Schwäche und Verdruss. „Ich sterbe! Natürlich ist das mein Ernst!“
„Das ist doch lächerlich ...“
„Ich habe großen Respekt vor Stornierungsbedingungen.“
Mit einem Mal wird unser Aufenthaltsort von einem empathischen Gestank überflutet.
„HALT! KEINE BEWEGUNG!“, ruft eine befehlsgewohnte Stimme hinter einer Ecke hervor.
Wieso habe ich diese Person nicht gespürt?! Ein massiger Vollstrecker des Konsulats („Die Ehrbaren“ – dass ich nicht lache!) biegt um die Ecke des Museums. Sein Blick ist starr auf Nived gerichtet. „Sie sind verhaftet wegen Verunstaltung und Vandalismus!“
Nived will die Biege machen, aber der Vollstrecker wirft ihm ein Gerät an die Schulter. Von oben nähern sich von nahen Schienen vier Kugeln, die einen hellen, blauen Energiefunken abgeben. Nived schreit, zuckt zusammen und fällt zu Boden.
„NIVED!“
Ich spüre, wie mir ein jähes Schluchzen entfährt. Mein Körper – Niveds Körper? – Mein Körper? – wird von einem stechenden Schmerz durchzuckt und mein Kopf füllt sich mit bitterer Angst. Rauch schwebt von den versengten Kleidern meines Freundes fort. Meine Empathie könnte mich umbringen, denke ich abwesend durch den Schleier des Schreckens meines Freundes (oder meines eigenen?).
Ohne meinem Weinen Beachtung zu schenken, geht der Vollstrecker des Konsulats zu Nived hinüber. Meine Sinne erhaschen ihn und seine psychische Witterung. Seine Gegenwart ist, als würde man über einem tiefen Abgrund stehen. Ein plötzliches Bewusstwerden einer großen Abwesenheit. Der Vollstrecker, der über dem Körper meines Freundes aufragt (dem besten Koch in Ghirapur, du Bastard), ist ein ausgetrockneter Brunnen mit einem kaum wahrnehmbaren Geruch nach Sadismus und glänzendem Messing. Ich bin zu schwach zum Weglaufen, und die Furcht meines Freundes überflutet meine Sinne.
Der Messinggeruch wird von dunkler Neugier erwärmt. Ich wünschte, ich könnte mich übergeben. Ich wünschte, ich könnte den Gestank des Herzens dieser Person aus meinem Inneren tilgen und ihn ausspeien.
Ich sehe, wie sich Nived leicht regt und der Vollstrecker das Energiegerät erneut anschaltet.
Alles riecht nach Schrecken und morbider Freude, und ich kann nichts tun.
Nived versucht, sich zu bewegen.
Niemand ist hier, der uns helfen könnte. Wir sind allein.
Der Vollstrecker aktiviert das Gerät. Das helle Leuchten gefährlichen Äthers schlägt einen zuckenden Bogen auf meinen Freund zu. Nived ist völlig reglos.
„Lass ihn in Ruhe“, stoße ich schwach hervor.
Der Vollstrecker rührt sich nicht. Es ist zu dunkel, um etwas zu sehen, doch ich spüre, wie er abschätzig lächelt. Der bewusstlose Körper wird erneut unter Strom gesetzt.
„Aufhören! Du wirst ihn noch umbringen!“
Mit aller Kraft rappele ich mich auf und versuche, auf den Vollstrecker zuzustürmen, doch ich sinke wieder zu Boden. Ich bin meinem eigenen Tod zu nahe. Drei Minuten. Der Vollstrecker wendet sich um und sieht mich an. Ich bin nur eine Handbreit entfernt, rauchend, zerfallend, vergehend.
Der Vollstrecker kniet sich zu mir herunter. Das Leuchten des Äthers, der aus mir entweicht, erhellt die grausamen Linien seines Gesichts von unten und verzerrt sein leeres Lächeln. „Du bist diese ... Yahenni, richtig? Ich habe dein Bild in einem Pressebericht gesehen.“ Ich zittere. „Ich suche nach sechs Personen, die mit den Renegaten sympathisieren. Eine ist die Tochter der Verbrecherin Pia Nalaar.“
In meinem Kopf dreht sich alles. Ich habe diese Tochter kennengelernt ... Chandra hieß sie? Ich habe sie erst vor einigen Wochen gesehen. Was haben sie und Nissa nur getan, um schon nach so kurzer Zeit so viel Aufmerksamkeit des Konsulats auf sich zu ziehen?
Der Vollstrecker richtet sich zu voller Größe auf und schnaubt: „Ich werde diesem Abschaum hier den Garaus machen, wenn du mir nicht sagst, was du weißt.“ Er tritt gegen Niveds reglosen Körper.
Ich bebe vor Zorn.
Der Vollstrecker tritt erneut nach Nived. „Was bedeutet dir schon ein bewusstloser Renegat, du Schwächling?“
Ich mobilisiere das allerletzte Quäntchen Kraft, das noch in mir steckt, und kämpfe mich hoch. Mein Bein zittert, als ich meinen noch verbleibenden Fuß belaste, und meine rechte Hand juckt vor Wut. Ich blicke dem Vollstrecker in die Augen und flüstere mit meinem letzten Atem:
„Er ist mein Koch.“
Ohne Vorausplanung, ohne genauere Überlegung und ohne der Stimme meines Gewissens in meinem Hinterkopf Beachtung zu schenken, kralle ich die rechte Hand in den Nacken des Vollstreckers und ziehe. Das gleißende Leuchten von Essenz tropft aus seiner Haut und in meine Hand.
Der Vollstrecker schreit auf, und die Ausgelassenheit, die ich verspüre, gleicht von ihrer bloßen Wucht her der Flut seines unbändigen Schmerzes.
Ich kann den Schrei nicht unterdrücken, der mir im Einklang mit dem seinen entfährt. Ich spüre alles, was der Vollstrecker spürt. Er stirbt, und es fühlt sich an, als würde ich sterben, und es tut weh und es ist elend und ich bin gleichzeitig Mörderin und Ermordete.
Durch die Schreie des Vollstreckers hindurch erinnere ich mich der rachsüchtigen Grausamkeit, die er nur Augenblicke zuvor zur Schau getragen hat.
Ich muss das hier ganz zu Ende bringen, wenn ich überleben will.
Nach endlosen sieben Sekunden öffne ich die Hand und der Vollstrecker fällt zu Boden. Sein lebloser Körper liegt nun neben dem bewusstlosen Nived.
Alles an mir kribbelt. Nach dem Schmerz bildet sich in mir eine Blase panischer Beklemmung. Warum hat das eben wehgetan?! Warum habe ich all das gespürt, was dieser widerliche Vollstrecker beim Sterben verspürte? Als ich das erste Mal etwas anderem Essenz entzogen hatte, hatte ich nur Freude am Leben empfunden. Warum also sollte dies nun anders sein?
Die Antwort legt sich bleischwer auf meinen Verstand. Als ich das erste Mal etwas anderem Essenz entzogen hatte, hatte es sich dabei nicht um eine Person gehandelt. Heute jedoch hatte ich eine Person getötet.
... Ich bin eine Mörderin ...
Der Gedanke fühlt sich fremd an. Er wird von dem überschattet, was mit meinem Körper geschieht. Mein Körper fühlt sich seltsam ... übersättigt an. Angenehm vollgestopft. Ich habe zwei Hände. Ich habe zwei Füße. Ich stehe hoch aufgerichtet da und strecke mich. Die Risse sind aufgefüllt und meine Dermis fühlt sich etwas vollständiger an. Die Dringlichkeit in mir hat nachgelassen. Ich bin ... satt? Glaube ich? Ich horche in mir nach der Zeit, die mir noch bleibt.
Ganze zwölf Tage.
Oh.
Ich habe wenige Minuten zu ganzen zwölf Tagen ausgedehnt – zum Preis eines Lebens. Ich tat, was ich tun musste, um zu überleben. Ich habe getötet, um mich selbst zu retten. Oder?
Ein Geräusch holt mich in die Gegenwart zurück. Ich lasse meine Sinne wandern und spüre Menschen, die sich schnell auf uns zubewegen – die Verstärkung des Vollstreckers muss uns gehört haben. Rasch verstaue ich Nived sicher hinter einem verlassenen Marktstand in der Nähe. Hinter der Absperrung gut verborgen springt mein Verstand von Gedanke zu Gedanke.
Was, wenn ich gar nicht sterben muss? Was, wenn das die Lösung ist, die ich so dringend gebraucht habe? Ich muss das jetzt erst einmal so durchziehen. Ich muss ruhig bleiben und ich darf mir keine Sorgen darüber machen und ich muss akzeptieren, dass ich wenigstens die schlechten Menschen töten kann, wenn ich schon um meines Überlebens willen töten muss.
... Aber wenn das die Regeln sind, nach denen ich leben will, dann verdiene auch ich den Tod.
Ein leises Wimmern entfährt mir.
Ich kann mir keine Schwäche erlauben. Nicht jetzt, da ich eine Möglichkeit gefunden habe, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Ich bin es leid, auf diesen furchtbaren Zug zu warten, auf dass er mich mitnehmen möge.
Ich habe noch zwölf Tage! In diesen zwölf Tagen kann ich noch so viel machen!
Doch wenn ich mit diesen zwölf Tagen wirklich etwas anfangen will, muss ich Menschen finden, an deren Seite ich stolz streiten möchte. Wenn ich mit ihnen zusammenarbeite und die schlechten Menschen töte, wäre mein Verbrechen in den Augen meiner Mitgeschöpfe doch gesühnt, oder?
Die Lüge tröstet mich. Mein Ziel ist klar. Ich muss die Renegaten finden. Ich muss die Tochter einer Verbrecherin finden. Ich muss die Elfe mit den endlosen Augen finden.
Es gibt nur eine Person in dieser Stadt, die mehr über ihre Verstecke weiß als ich.
Gonti.
III
Nachdem ich Niveds bewusstlosen Körper zurück in mein Penthouse geschafft habe, dauert es eine volle Stunde, den Vollstreckern aus dem Weg zu gehen, durch Gassen zu schleichen und Treppen hinabzusteigen, um die Privatresidenz des berüchtigten Verbrecherfürsten Gonti zu erreichen. Wir Äthergeborenen sind eitel, weil wir es sein müssen, doch Gontis Eitelkeit kennt keine Grenzen.
Dank meiner bescheidenen Berühmtheit (wenn Sie jemals berühmt werden wollen, so empfehle ich Ihnen, reich zu werden, Ihr Geld jenen mit einer traurigen Geschichte zu spenden und anschließend viel darüber zu reden) werde ich ohne große Umschweife in das Versteck eingelassen. Die Residenz ist im Grunde ein Palast, der von außen als Lagerhaus getarnt ist. Auf meine Bitte hin, mit Gonti sprechen zu dürfen, nicken die Sicherheitsleute an der Tür und willigen ein, mich zu ihm zu führen.
Auf unserem Weg komme ich nicht umhin, den unermesslichen Reichtum dieses Ortes zu bestaunen. Normalerweise würde ich so etwas als kitschig bezeichnen, doch ehrlich gesagt verdient dieser Grad, so völlig überzogen mit Geld um sich zu werfen, meinen Respekt. Gontis Residenz ist ein Wunder an gestohlener Opulenz, flirrendem Filigran und unrechtmäßig erworbenem Zierrat. Ich betrete eine große Eingangshalle, an deren Ende sich ein Konferenztisch befindet, und zwischen mir und ihm liegt ein gewaltiger Raum voller flauschiger Teppiche und luxuriöser Sofas. Auf den Sofas fläzen sich neue Renegaten neben alten Vertretern der Verbrechersyndikate. Sie schlürfen Tee und tauschen Geheimnisse aus, während ihre Blicke mich auf meinem Weg durch die Halle verfolgen. Ein Automat serviert Essen und sorgt dafür, dass die Gäste sich wohlfühlen. Es gibt kaum einen besseren Ort, um eine Sperrstunde zu verbringen.
Ich werde an den verstreuten Schurken und Tunichtguten vorbei und durch eine glitzernde Doppeltür hindurchgeführt. Dieser Raum ist so gestrichen, dass er wie ein ländliches Idyll wirkt: Laubbehangene Bäume und verspielte Bäche zieren ein Deckengemälde, das die Große Verbindung zeigt. Entlang der Wände sind prunkvolle Pferche mit einem kleinen Streichelzoo voller Tierkonstrukte. Ein mechanischer Fuchs und ein Hirsch aus Drahtgeflecht stolzieren adrett über dicke Läufer in der Nähe. Igitt. Ich verabscheue Inneneinrichtungen, die absichtlich exzentrisch gestaltet sind. So sehr man es auch versucht: Langweiliger Geschmack lässt sich nie kaschieren. Hinter der nächsten Tür probt ein schillernder Akrobat Posen, während er von der Decke hängt, und dahinter befindet sich ein ewig langer Apothekerschrank voller erlesener Ätherduftwässer. In den Fluren stehen Vitrinen um Vitrinen mit schimmernden Geräten, auf denen keinerlei Siegel auf eine Massenproduktion hindeutet. Alles ist geheim, alles ist gestohlen und alles ist sicher vor der gierigen Hand des Konsulats.
Am Ende dieses verschwenderischen Labyrinths ist eine milchige Glastür. Die Sicherheitsleute treten beiseite und bedeuten mir, hindurchzugehen. Das tue ich und eine Dampfwolke hüllt mich ein. Ich begreife, dass ich vor einem großen, tiefen Becken mit warmem Wasser stehe: ein Bad, das nach Jasminaroma duftet. Die Wände bestehen aus behauenem Kupfer, und mein Spiegelbild wird durch mein eigenes Leuchten verwaschen und unzählige Male vervielfacht – und durch das Leuchten des Äthergeborenen, der vor mir im Wasser sitzt.
Gonti ist untergetaucht, das Gesicht mit einer goldenen Maske bedeckt. In der Mitte seiner Brust befindet sich ein eigenartiger Metallklumpen.
Seltsam. Ich glaube nicht, dass ich das sehen sollte.
Meine Gedanken rasen, als Gonti eine Woge empathischer Überraschung ausstößt und sich rasch erhebt. Bäder sind unter unseresgleichen nichts gänzlich Unbekanntes ... doch eines, das hauchdünn mit dem Leuchten gestohlenen Äthers überzogen ist, ist es durchaus. Ich frage mich, wie es wohl ist, sich nach einem langen Arbeitstag in einer Wanne zu entspannen, die mit der gleichen Substanz gefüllt ist, aus der man selbst besteht. Es muss dem wundervollen, flüchtigen Rausch gleichen, den auch ein Hauch von Ätherduftwasser erzeugt ... nur für den ganzen Körper. Kein Wunder, dass Gonti reich bleibt. Man braucht definitiv eine Menge Geld von vielen Verbrechersyndikaten, um diese Marotte zu pflegen.
Während ich vor mich hin grübele, zieht Gonti sich einen entzückend flauschig wirkenden Bademantel über.
Ich stelle mir vor, wie schnell Unterhaltungen zwischen gesunden Äthergeborenen auf organische Wesen wirken müssen. Ein umgehendes empathisches Verständnis führt zu einem Gespräch, das sich weniger darum dreht, was jemand empfindet, und mehr darum, warum dem so ist. Man verschwendet kaum Zeit und die Sprache ist nicht sonderlich poetisch. Poesie ist etwas für Leute, die erklären müssen, was sie nicht auszudrücken vermögen.
Gonti streicht den Bademantel glatt und neigt den Kopf.
„Sie riechen nach Schuld. Es stinkt.“
Verflucht. Ich dachte, ich hätte das gut verborgen. Na schön. Dann packen wir mal die Karten auf den Tisch, schätze ich. „Das Konsulat hat mich an meine Grenzen geführt, mein Teuerster, und dies ist das Ergebnis.“
Gonti führt mich in etwas, was wie eine private Version des Raumes aus flauschigen Teppichen und Sofas wirkt, durch den ich am Anfang hineingekommen bin. Ich versuche, ihn so zu deuten, wie er meinen eigenen Gefühlszustand zu lesen versucht. Er bemerkt meine Aura aus Neugier und fragt sich, ob es sich lohnt, nachzuhaken. Einen Wimpernschlag später spüre ich, wie Gonti sich für Gleichgültigkeit entscheidet. „Wenn Sie nach Schutz suchen, kann ich Ihnen nicht helfen. Ich habe schon genug Banalitäten und Ärgernisse, die mir die Zeit stehlen.“
„Ich suche nach etwas, was uns beiden helfen würde“, sage ich und strahle Ernsthaftigkeit aus.
Das findet Gonti faszinierend. Er durchquert den Raum zu einem großen Sofa vor einer wunderschönen Statue. Das Kunstwerk, das auf einem Podest hinter ihm steht, scheint aus dem Himmel selbst gemacht zu sein. Ich will nicht wissen, wie wertvoll es wohl sein mag. Er setzt sich galant auf das Sofa vor dem beeindruckenden Stück.
Oberflächlich wirkt Gontis Geruch ungeduldig und etwas verärgert, doch darunter lauert ein leichter Hauch von Verzweiflung. Bittere Beklemmung. Der Geruch endet auf einer Note aus Grauen.
Auch sein Zug trifft wohl bald ein. Ich frage mich, wie diese brandneue Herz funktioniert.
Ich strahle zaghafte Zuvorkommenheit aus. Die Schärfe spitzbübischen Korianders.
„Sie suchen nach Rebellion?“, fragt Gonti.
„Ich suche nach den Menschen Chandra und Pia Nalaar.“
Manche Äthergeborene sind begnadete Lügner. Ich spüre, wie Gonti seine Aura mit einem Nebel grasiger Ambivalenz überflutet, um ein Erkennen seiner an der Oberfläche liegenden Gefühle zu unterbinden. Er traut mir nicht. Ich antworte mit einer Brise aus Kameradschaft und Veilchen. „Wir helfen einander, wenn wir ihnen helfen. Und abgesehen davon ...“
Ich beuge mich vor und spreche leise genug, damit die Sicherheitsleute vor der Tür mich nicht hören können.
„Wenn Sie mir sagen, wo sie sich verstecken, werde ich das Geheimnis Ihres künstlichen Herzens für mich behalten. Sie wollen doch sicher nicht, dass das Konsulat es beschlagnahmt.“
Die grasige Ambivalenz zerstiebt zu alarmiertem, beißendem Pfeffer und einer leisen Enttäuschung über törichte Sicherheitsleute.
Ich strahle überwältigendes Vertrauen mit einem Unterton von Neid darin aus. Gonti antwortet mit einem Nicken und einer nach Dhal duftenden Selbstzufriedenheit.
Dieser Neid, den ich zeige, kann Aufschluss über mein Geheimnis geben. Ich spüre nun, wie Gonti zu berechnen versucht, wie viel meiner Dermis ich im Vergleich zu damals, als er mich in zum letzten Mal in einem Pressebericht gesehen hat, noch habe. Er stößt eine plötzliche Überraschung aus, als er erkennt, wozu ich imstande bin.
„Essenzsauger sind selten“, sagt er. „Ich habe bislang nur zwei von ihnen getroffen. Wie haben Sie es erkannt?“
„Von allein. Nicht alle von uns haben so viel Glück, ihre eigenen Herzen bauen zu können.“
Es ist mir egal, ob er meine Lüge spüren kann. Ich war vier Wochen alt. Eine zwergische Freundin hatte eine Hyäne auf eine Feier mitgebracht ... Ich habe das Tier gestreichelt und es ist einfach passiert. (Es war ein Unfall. Wirklich. Depala hat das verstanden und mir vergeben.).
„Kommen Sie zur Sache, Yahenni. Wie fühlt es sich an, wenn Sie es tun?“
Die Frage lässt mich zögern. Nach dem Zwischenfall mit dem Vollstrecker erkenne ich, dass Depalas Haustier eine Anomalie war. Es ist etwas vollkommen anderes, einen Menschen zu töten. Zum einen kann ich seinen Tod spüren. Doch es fühlt sich andererseits auch so an, als würde ich einem vielversprechenden jungen Talent jemanden vorstellen, der sein Leben verändern wird. Es fühlt sich an, als würden meine Freunde stundenlang unter den Sternen tanzen. Es fühlt sich an, als würde mein Geschäftspartner einen Handel abschließen. Es fühlt sich an wie von sattem Rosenduft schwangere Begeisterung und der dankbare Zimthauch eines jungen Forschers, dem ich ein dringend benötigtes Stipendium zukommen lasse. Es fühlt sich an wie der Blitz, der zwei künftige Geliebte trifft, die einander über einen Raum voller Menschen hinweg ansehen.
Es fühlt sich wie all dies an ... und ebenso wie unvergleichliches Leid. Der Schock meiner eigenen Geburt. Depalas Schrei, als ich versehentlich ihr geliebtes Haustier töte. Mein Unternehmen, das in einer Nacht mehr Geld verliert, als die meisten Leute ihr ganzes Leben lang besitzen werden. Das empathische Erleben der Depression eines Nachbarn durch die gemeinsame Wand unserer Häuser hindurch. Die Trauer darüber, jung zu sein und nicht zu verstehen, warum Farhal, Vedi, Dhriti, Najm und einfach alle Mitglieder meiner Familie aus Äthergeborenen starben und starben und starben ...
Die zwei Sekunden meines ziellosen Sinnierens werden von einem spöttischen Auflachen unterbrochen. „Kein Wunder, dass Sie nach Schuld riechen“, tadelt Gonti.
„Mein Seelenleben hat Sie nicht zu interessieren.“
Ich werde von einem Klaps entzückten Amüsements getroffen. Honig und Cashewnüsse – wie wunderlich er mich doch findet.
„Sollte Ihnen erneut der Sinn nach dem Töten stehen, könnten Sie unserer Stadt dienlich sein. Durch die Sperrstunde und die Beschränkungen der Ätherversorgung sind meine Auftraggeber ganz enorm am weiteren Betreiben ihrer Geschäfte gehindert. Wir sind selbstverständlich weiterhin innovativ, aber es bleibt eine Tatsache, dass die Ausgangssperre und die Konfiszierung unseres persönlichen Besitzes wie ein Fluch auf unserer Stadt lastet. Ghirapur braucht ein gemeinsames Aufbegehren der Renegaten. Ich werde Ihnen sagen, wo sich Nalaar befindet, und Sie werden sie und ihre Renegaten warnen, dass ich das Konsulat zu ihrem Versteck sende.“
Ich setze mich gerade hin. „Warum?!“
Ich werde von dominantem und beleidigtem Adlerholzgeruch getroffen. „Sie müssen zum Handeln gezwungen werden. Warnen Sie sie, um sie dazu zu bringen, sich gegen das Konsulat zu wenden. Greifen sie zuerst an, müssen weniger meiner eigenen Kämpfer sterben.“
Ich weiche mit gedämpftem Gehorsam zurück. Man wird kein Verbrecherfürst, indem man schlecht im Verhandeln ist.
„Sie finden die jüngere Nalaar und ihre Verbündeten in einer Zuflucht im Statuengarten. Sagen Sie ihnen, dass sie in Gefahr sind. Machen Sie ihnen Angst, damit sie handeln. Sie sind nun ein Ungeheuer. Es sollte Ihnen also zur zweiten Natur geworden sein, Leuten Angst zu machen. Versuchen Sie bitte, sie nicht auszusaugen, Yahenni!“
Unsere Unterhaltung hat kaum zwei Minuten gedauert.
IV
Am folgenden Tag laufe ich zielstrebig zum Statuengarten, um Nalaars Versteck zu finden. Es mag leichter sein, sich bei Tageslicht zu bewegen, als des nachts umherzuschleichen, doch die allgegenwärtige Präsenz des Konsulats ist noch immer beklemmend. Niemand schlendert mehr einfach nur durch die Straßen, und die Geschwindigkeit des täglichen Lebens wirkt noch gehetzter als zuvor. Die Reise von meinem Penthouse zum Statuengarten ist hektisch und wortlos. Wenn Chandra und Nissa (und ihre Gefährten) genug getan haben, um das Konsulat zu verärgern, muss es sich lohnen, ihnen zu helfen. Ich kann meine restlichen Tage ebenso gut damit verbringen, anderen eine Hilfe zu sein.
Der Statuengarten ist ein gewaltiges Arboretum in der Nähe des Aradara-Bahnhofs. Zwei Dutzend riesiger Statuen aus anmutig geschwungenem Metall säumen die Straße. Eine jede stellt einen der berühmtesten Erfinder Ghirapurs dar. Die Tradition, Erfinder untersterblich werden zu lassen, begann mit den Aradaras: der Mutter und dem Sohn, die das Prinzip des äthergetriebenen Zugs perfektioniert hatten. Hier als Statue verewigt zu werden, ist die höchste Ehre, die einem Erfinder zuteil werden kann. Die Aradaras erschufen ihren Zug kurz nach dem Ätherumschwung, und die Statuen derer, die den Verfeinerungsprozess des Äthers überhaupt erst entdeckt hatten, stehen dicht im Garten hinter ihnen. Ich bin seltsam angerührt, als ich zusehe, wie die Sonne schwach durch die dünnen Wolken auf die Gesichter jener Menschen scheint, die für die Erschaffung meines eigenes Volkes verantwortlich sind.
Es ist seltsam: Je mehr ich mich dem Zeitpunkt meines Todes nähere, desto schärfer sind meine Sinne. Dieses Auf und Ab von Gefühlen gleicht einem Gang durch ein Museum. Die Kunstwerke sind ordentlich arrangiert und schon von Weitem zu erkennen. Ich nutze meine Sinne, um zu versuchen, das Versteck meiner Freunde aufzuspüren. Hoch droben in einer gewaltigen Statue eines Vedalken-Erfinders fühle ich einen schwachen Anflug von Ungewissheit und Besorgnis. Das müssen sie sein.
Ich schlendere auf die Staue zu und beginne, eine Leiter an ihrer Rückseite hinaufzuklettern. Dieses Ding ist riesig. Ich frage mich, warum ich nie so etwas Gewaltiges gebaut habe, als ich noch eine Angestellte war.
Ein Klirren. Ich erstarre. Ein umfunktionierter Sicherheitsautomat patrouilliert durch den Garten auf die Bahnstation zu. Dieses dumme, gefühllose Stück Altmetall hat mich zu Tode erschreckt. Ich bin mir recht sicher, dass die Maschine mich nicht bemerkt hat, und klettere weiter nach oben.
Beim Aufstieg blicke ich prüfend in mein Inneres. Noch elf Tage. Wie viel Zeit erhalte ich wohl mit jedem Leben dazu, das ich stehle? Ist es sicher, nur das Konsulat ins Visier zu nehmen? Werde ich genug Zeit haben, Gutes zu tun, wenn erst einmal alles vorüber ist?
Ein unerträglicher Schmerz durchzuckt meinen Körper. Seine Wucht lässt mich beinahe die Hände hochreißen, aber ich bin so kurz vor der Luke in der Nähe der Spitze. Ich höre etwas über mir:
„Irgendetwas ohne Gehirn kommt die Leiter hinauf.“
Wie rüde.
Die Stimme gehört zu jemandem, der sich nach Regen und Stein und einer Menge unbeantworteter Fragen anfühlt. „So etwas ist mir noch nie untergekommen ... Ich glaube, dieses Etwas kennt euch beide?“ Die Person klingt männlich und befindet sich in der Kammer oben, wo sie mit jemandem spricht, den ich nicht sehen kann. Der Schmerz dessen, was auch immer mit mir geschieht, hindert mich am Weiterklettern.
„Jetzt mach schon die Luke auf, verflucht!“ Eine weibliche Stimme. Sind das ... Ringelblumen?
Der neugierige Regen-auf-Stein-Mann fährt fort: „Wer auch immer es ist, er wurde von einem Verbrecherfürsten hergeschickt.“
„Ich glaube, es wäre am besten, wenn wir uns anhören, was er zu sagen hat.“ Ich kenne diesen Geruch! Orangenblütenöl! Das ist Nissa!
„Nissa! Ich bin es, Yahenni!“, rufe ich durch den Schmerz dessen, was der Regen-auf-Stein-Mann mit mir anstellt.
Über mir höre ich Fußgetrappel. Der Schmerz in meinem Körper verschwindet, und ich höre wieder den Mann, der nach Regen riecht. „Chandra, lass sie hinein.“
„Yahenni!“, ruft Chandra, während sie die Luke öffnet und mich hindurchzieht. Die Kammer in der Spitze der Staue ist erstaunlich geräumig. In der einen Ecke sind fünf Pritschen angebracht, und am Boden liegt ein Haufen Kissen als behelfsmäßige Sitzgelegenheit. Ein Sack voller Ausrüstung, auf dem ein Holzstab thront, liegt in einer anderen Ecke.
Ein Fremder in einem noch fremdartigeren Mantel mustert mich, als ich hineinklettere. Sein Verstand schwirrt vor Neugier. Ich beschließe sofort, dass er offenkundig ein Schnüffler mit ausgezeichnetem Geschmack in Sachen Kleidung ist.
Ich winke kurz. „Hallo, Nissa. Hallo, Chandra.“
Die Elfe lächelt. Sie ist genauso verstörend schön, wie ich sie in Erinnerung habe. Chandra steht in der Nähe und winkt zurück. „He, Yahenni. Danke für die schöne Feier neulich.“
„Ich bin froh, dass Sie da waren. Wie ich hörte, haben Sie Ihre Mutter gefunden.“
„Ja, wir konnten sie befreien. Sie trifft sich gerade mit einigen anderen Renegaten.“
Ich schüttle den Kopf. „Eine Schande, dass sie sich mit diesem Kerl Tezzeret anlegen musste. Er ist grässlich.“
„Er ist ein Trottel“, speit Chandra aus.
„Sie können ruhig vor mir fluchen, Teuerste. Ich schwöre, ich werde es Ihrer Mutter nicht verraten.“ Chandra lächelt.
Hinter ihr sehe ich zwei weitere Menschen. Eine Frau in einem dunklen Kleid sitzt entspannt, aber gereizt auf einem Stuhl. (Ist das Fell am Saum dieses Halsbands? Wie barbarisch. Wer tut denn so was?) Ein massiger Muskelprotz mit einem prächtigen Backenbart späht durch ein Loch in der Wand nach draußen.
„Das ist Yahenni. Wir können ihr vertrauen“, stellt mich Chandra der Gruppe vor. Ich hebe den Kopf in dankbarem Stolz. „Yahenni, dieser Mann dort ist Jace, die Frau ist Nissa, die andere Frau ist Liliana und der Mann dort in der Ecke ist Gideon.“
„Seltsame Freunde haben Sie hier“, scherze ich.
„Wenn du die hier schon komisch findest, dann solltest du erst mal die Riesenkatze sehen“, sagt Chandra.
„... Katze?“
„Sie steht gerade mit Frau Pashiri für unsere Lebensmittelrationen an“, sagt Nissa.
„Ich verstehe.“
Das tue ich nicht.
„Wir haben keine Zeit“, lenke ich ab. „Sie alle müssen sofort verschwinden. Das Konsulat wird hier einfallen, wenn Sie sich nicht aus dem Staub machen.“
Die Energie des Raumes füllt sich mit Aufmerksamkeit. Die vier Menschen und die einzelne Elfe tauschen kurze Blicke aus. Sie mögen zwar wachsam sein, doch ihr Geruch birgt keine Spur von Furcht. Nur das Gefühl, sich wappnen zu müssen.
„Wenn sie kommen, sollten wir uns kampfbereit machen“, sagt Nissa entschlossen.
„Zunächst sollten wir entscheiden, ob wir einen Kampf wollen“, fügt Jace hinzu.
„Tezzeret könnte bei ihnen sein“, sagt die Frau in dem dunklen Kleid grimmig.
„Es ist nicht die Art von Kampf, den man gewinnen kann“, sage ich mit Nachdruck.
Der Geruch der Gruppe teilt sich sofort. Entschlossener Kreuzkümmel. Ein innerliches, genervtes Aufseufzen. Eine beklommene, aber zuversichtliche verwesende Leiche (Moment. Was?!).
„Warum hat ein Verbrecherfürst Sie zu uns geschickt?“, fragt mich der Mann namens Jace.
Woher weiß er davon? „Gonti ist der Einzige in der Stadt, der mehr Verstecke kennt als ich. Daher ging ich zu ihm, um Ihren Aufenthaltsort zu erfahren. Ich möchte mich der Sache der Renegaten anschließen, und ich wusste, dass dies möglich ist, wenn ich Sie alle finde.“
Die Spannung der Gruppe weicht nicht. Wir werden das anders machen müssen.
„Mein Penthouse ist sicher. Es gibt genug Sicherheitsvorkehrungen, dass Sie alle unerkannt bleiben können. Ich bringe Sie noch heute Nacht dorthin, und Sie können dort Ihr weiteres Vorgehen besprechen. Weder Gonti noch das Konsulat werden wissen, dass Sie mich begleitet haben.“
„Wir können Yahenni vertrauen“, sagt Nissa mit fester Stimme.
Die anderen schauen einander rasch an. Gideon nickt und der Rest beginnt, die Sachen zusammenzupacken. Die Frau im dunklen Kleid erhebt sich geschmeidig und mustert mich.
„Hat Ihr Penthouse mehr als fünf Zimmer?“, fragt sie. Die Frau riecht nach feuchtem Humus und einem bewundernswert gesunden Selbstbewusstsein.
„Teuerste, ich würde nirgendwo mit weniger als sieben schlafen“, erwidere ich. Sie nickt anerkennend und streckt eine Hand aus.
„Erfreut, Sie kennenzulernen, Yahenni“, sagt sie.
Ich schüttle ihr die Hand. „Ich freue mich, Ihnen zu Diensten zu sein, Teuerste.“
Empathisch beobachte ich das Gebiet um die Statue herum.
„Ich werde als Erste die Leiter heruntersteigen“, sage ich. „Folgen Sie mir.“
Ich öffne die Luke und klettere die Leiter hinunter. Ich spüre, wie die anderen mir folgen.
Der Wind bauscht meinen Mantel. Während meinem schlimmen Unwohlsein gestern (vor dem Saugen der Essenz) hatte ich ihn als meine Kleidung zum Sterben ausgewählt. Ich spüre, wie das frisch gestohlene Leben durch mein Sein fließt und meine Stimmung wehmütig wird. Mir wird von bittersüßem Vergnügen warm. Nun kann ich diesen Mantel doch noch weiter tragen.
Es ist ein langer Weg nach unten. Das Statuengarten ist still. Die Vögel, die hier für gewöhnlich nisten, sind fort, ebenso wie die Menschenmengen, die sonst auf diesen Straßen flanieren.
Im Schatten dieser Erfinder hier ist es schaurig. Auf meinem Weg die Leiter hinab sehe ich die Umrisse der Statue des großen äthergeborenen Erfinders Rajul in der Ferne. Er entwickelte eine der ersten medizinischen Technologien für nicht-organische Wesen. Rajul ist nach wie vor eine Inspiration. Es hat mich stets getröstet, ihn unter den bedeutendsten Namen unserer Zeit zu wissen. Ich bin dankbar, dass meine Art in jener Stadt, die uns hervorgebracht hat, nie als Außenseiter behandelt wurde. Die große, hoch aufragende Statue Rajuls ist eine kühne Bestätigung dafür, dass wir hierhergehören. Er tat nur, was auch jeder andere Erfinder hier getan hat ... und das, als er zwei Jahre alt war.
Ich bin nur wenige Körperlängen vom Boden entfernt und spüre, wie die anderen über mir miteinander sprechen und die Leiter weiter hinuntersteigen, aber meine anderen Sinne werden von einem plötzlichen Dröhnen in der Ferne abgelenkt, das mich schwindeln lässt. Ich greife fester nach der Leiter und schaue mich um, woher das Geräusch kommt.
Meine Wehmut verwandelt sich in Furcht.
Das Aufheulen eines Motors kommt schnell näher. Ich sehe einen einzelnen Kreuzer des Konsulats um die Ecke des Gartens auf unsere Statue zu beschleunigen. Ich verkrampfe mich alarmiert. Das Fahrzeug verlässt die Hauptstraße und pflügt durch den Garten. Was tut es da?! Die Sperrstunde hat noch nicht begonnen! Wir sind in Sicherheit!
Es sei denn, Gonti hat den Vollstreckern bereits einen Tipp gegeben. Und dann wären wir wahrlich in Schwierigkeiten. Die Geschwindigkeit und die Richtung des Kreuzers machen schmerzhaft klar, dass Gonti keineswegs auf irgendetwas wartet. Das Konsulat kommt geradewegs zur Leiter.
Ich kann nie im Leben vor einem Kreuzer des Konsulats davonlaufen, auch wenn ich den Boden erreiche.
Und wenn wir zurück nach oben klettern, sitzen wir in der Statue in der Falle.
Ich habe keine Zeit, Fragen der Moral abzuwägen.
Das Fahrzeug fährt auf die Leiter der Statue zu. (Hat dieser Vollstrecker vor, uns zu rammen?!).
Ich drehe meinen gesamten Körper herum, strecke die Füße aus und meine Linke greift nach der Sprosse. (Was um alles in der Welt treibe ich da?)
Das ist eine schlechte Idee. (Das ist die schlechteste Idee überhaupt – ich habe noch nie in meinem Leben etwas auch nur annähernd Athletisches getan.)
Ich strecke die Hand aus und spüre ein unvertrautes Ziehen in der Handfläche. (Ich werde spüren, wie er stirbt. Ich werde spüren, wie er stirbt, aber ich habe keine andere Wahl.)
Und ich springe.
Und ich lande auf der Haube des Fahrzeugs.
Einige Sekunden der Qual.
Einige Sekunden der Ekstase.
Sein Schmerz ist mein und meine Euphorie ist mein und es fühlt sich an, als würde ich ertrinken.
Es erfordert beachtliche Anstrengung, doch diesmal schreie ich nicht auf.
Das Fahrzeug schlingert von der Statue fort, als der Vollstrecker im Inneren tot über dem Lenkrad zusammenbricht.
Ich krümme mich zusammen und rolle mich von dem Gefährt herunter.
Einen Augenblick ... Bin ich am Leben? Ich bin am Leben. Ich bin am Leben und habe zwei Menschen an einem Tag getötet, und was sollen denn die Leute von mir halten –
Oh.
Nun habe ich noch zweiundzwanzig Tage zu leben.
Erstaunlich. Abscheulich. Ich weiß nicht mehr so recht, wer ich eigentlich bin.
„Yahenni! Was ist passiert? Geht es dir gut?“, ruft eine weibliche Ringelblumenstimme in der Nähe. Sie alle müssen den Boden erreicht haben. Ich drehe mich um und sehe drei Menschen und eine Elfe, die mich etwas schockiert und besorgt anschauen, während die Frau im violetten Kleid es irgendwie schafft, trotzt ihrer hohen Schuhe die Leiter höchst anmutig hinabzusteigen.
Das Fahrzeug liegt verbeult am Fuß der anderen Statue. Der Vollstrecker, den ich getötet habe, hängt reglos und erbärmlich aus der Seite heraus. Meine Hände beginnen zu zittern, und ich begreife in einem kleinen Winkel meines Bewusstseins, dass meine Begleiter von dem, was ich gerade getan habe, nicht im Mindesten beunruhigt sein können. Das ist noch gar nichts. Sie haben Schlimmeres gesehen.
Ich möchte schreien.
Ich möchte schluchzen.
Ich möchte nach Hause.
„Keine Panik. Mir geht es gut.“ Meine Stimme bricht, als ich antworte.
Die anderen entspannen sich, als sie sich umsehen und sich rasch neu konzentrieren.
Chandra nickt, dreht sich um und geht zielstrebig los.
Nissa blickt von ihr zu mir und eilt dann herbei, um mir aufzuhelfen.
Sie schaut in die Richtung, in die Chandra gegangen ist. „Ich glaube nicht, dass Chandra wirklich weiß, wohin sie geht. Sie ist einfach losgelaufen.“
Ich richte mich auf. Schüttle meinen Mantel aus.
„Gideon, kannst du bitte Chandra zurückrufen?“, fragt Nissa mit gewohnter Sanftheit.
Er formt mit den Händen einen Trichter und ruft: „CHANDRA, FALSCHE RICHTUNG!“
Der Rotschopf in der Ferne hält an und dreht sich zurück zu uns. Ich sehe zu, wie Nissa kurz die Augen schließt und in die entgegengesetzte Richtung deutet.
„Sage Chandra, dass Yahennis Haus in dieser Richtung liegt, und lasse Jace Ajani, Pia und Frau Pashiri mitteilen, wo wir sind“, weist sie ihn beiläufig an. Gideon nickt und geht zu den anderen hinüber.
Ich bin allein mit Nissa.
Sie hilft mir mit Leichtigkeit auf und blickt mich beunruhigt an. „Sind Sie verletzt?“
„Körperlich nicht.“
Emotional? Ich fühle mich unwiderruflich zerstört. Nissa blickt mich mit zartem Mitgefühl an ... doch unter ihrer Sorge glüht ein Funken Überraschung. Ich spüre, wie sie ihn unbewusst austritt. Hatte sie unter der Ebene ihrer eigenen Wahrnehmung etwa nicht damit gerechnet, dass es mich mitnimmt, jemanden zu töten?
Ihre Stirn legt sich mit ehrlicher, kupferner Sorge in Falten.
„Sagen Sie mir, was ich tun kann, um Ihnen zu helfen.“
Ich will mit den Achseln zucken, doch stattdessen stehe ich nur unglücklich und schweigend da. Dieser Funke, den ich gespürt habe, ist tot, ausgelöscht von einer Flut von Nissas eigener Empathie. Die Elfe bewegt sich auf mich zu, die Schultern mitleidig gesenkt. „Yahenni, Sie haben genug gelitten.“
Sie schließt die Augen.
Ich spüre einen fernen, klanglosen Gesang. Ein Strom aus Energie wird zart irgendwo unter mir angehoben – tut Nissa das? – und irgendwo in die Nähe meiner Schulter geleitet. Ich spüre einen ermutigenden Strom des Lebens meiner eigenen Stadt in mich hineingleiten, tröstend und angenehm. Er heilt mich nicht, doch er hilft. Eine Erinnerung daran, dass ich Teil eines viel kleineren Ganzen bin.
„Ich habe heute zwei Menschen getötet, Nissa. Ich hatte keine Wahl. Sie beide wollten mich zuerst töten. Ich –“ Meine Stimme bricht. „Ich will niemandem mehr Essenz entziehen. Wenn ich es tue, dann spüre ich ... alles.“
Die warme Energie, die von der Elfe in meine Schulter strömt, fühlt sich wunderbar an. Ich unterdrücke ein Schluchzen.
„Sie müssen so wenig von mir halten“, sage ich mehr zu mir als zu ihr. „Wie können Sie es nur ertragen, ins Haus einer Mörderin zu gehen, um sich dort zu verstecken?“
„Sie sind meine Freundin“, sagt sie sanft. Es ist kaum wahrnehmbar, doch ihre Stimmung pickt um das Wort herum wie ein Vogel um ein Samenkorn. Prüfend. Berührend, entscheidend, einen Entschluss fassend.
Gnädiges Orangenblütenöl erfüllt den Raum zwischen uns. Ich halte inne, um seine Bedeutung zu ergründen und zu spüren, was Nissa zu sagen versucht.
... Auch sie hat Fehler gemacht.
Ich blicke zu den vier Menschen, die auf uns zukommen. Es sind gute Menschen. Vielleicht bereuen auch sie etwas.
Die sanfte Energie wärmt mir noch immer die Schulter. Ihre Güte erlaubt es einem Gedanken, in meinem Bewusstsein zu erblühen, und ich verstehe ihn überdeutlich. Diese Leute sind wie ich.
Zweifellos werde ich gezwungen sein, erneut zu töten, ebenso wie sie gezwungen sein werden, anderen Leid zuzufügen. Doch diese Leute, diese Renegaten ... Letztendlich helfen sie mehr, als dass sie schaden. Unser Leid ist unvermeidlich, doch genau wie diese Fremden besitze ich erhebliche Macht, in der Welt mehr Gutes zu erschaffen als Böses. Und wenn ich danach handle, wird es sich dann nicht atemberaubend anfühlen?
Ich denke an meinen zukünftigen Tod.
Ich habe noch zweiundzwanzig Tage zu leben.
In zweiundzwanzig Tagen kann ich so vieles tun. Welch ein wundervoll langes Leben.
Nissas Gegenwart ist wie ein Baldachin aus Orangenblüten.
„Danke, Nissa.“
„Gern geschehen, Yahenni.“
Ich drehe mich zu den anderen und winke sie herüber, während der süße Fluss aus Energie sich wieder im Land unter mir verliert. „Zu mir geht es hier entlang.“
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