Tasigur nahm eine Banane aus der Schale neben sich und drehte sie in den Händen. Ein großer, brauner Fleck verunstaltete die gelbe Schale. Angewidert rümpfte er die Nase, presste den Daumen in die Stelle und spürte das Aufplatzen des Fruchtfleischs darunter und das sachte Reißen der weichen Haut. Er blickte sich um und warf das verdorbene Obst auf den nächsten menschlichen Diener, dessen er ansichtig wurde. Dann pflückte er sich eine grüne Traube aus der Schale.

Der Herold redete noch immer und schien nicht müde zu werden, die Heldentaten jener Kriegerin zu preisen, die stolz hinter ihm stand. Der Name dieser angeblichen Heldin lautete Yala, und sie war eine Frau aus irgendeinem entlegenen Landstrich, der im Grunde schon fast zum Revier der Abzan gehörte. Ihrem untersetzten Körperbau nach zu urteilen, hätte sie ebenso gut eine Abzan sein können – und wahrscheinlich war sie bis vor dem letzten Eroberungszug der Sultai auch noch genau das gewesen. Tasigurs Lippe zuckte ob dieses Gedankens vor Ekel.

Tasigur, der goldene Giftzahn | Bild von Chris Rahn

„Und als der Drache sich in den Netzen der Zombies verhedderte“, sprach der Herold, „nahm Yala ihre Armbrust und jagte ihren vergifteten Bolzen tief zwischen die Schuppen des Untiers!“

Tasigur gähnte vernehmlich.

Der Herold trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, während der Gatte der Heldin, der gleich rechts hinter ihr stand, sich beinahe zu einem finsteren Blick verleitet sah. Yala rührte sich nicht. Ihr Gesicht war eine ausdruckslose Maske. Tasigur lächelte, und der Herold stammelte rasch weiter, um baldmöglichst zum Ende zu gelangen, ehe die Aufmerksamkeit des Khans vollends nachließ.

„Der, äh, Drache, durch dessen Adern nun Gift strömte, schlug hart am Boden auf. Die Beine brachen unter ihm weg, und er zermalmte viele Zombies unter seinem schleimigen Bauch. Yala eilte zu seiner Flanke, als er seinen beißenden Odem in dicken, schwarzen Wolken ausstieß. Ohne Zögern rammte sie ihm den Speer in den Leib. Er wand sich und schüttelte sich, warf sie von den Beinen, sein ätzendes Blut sprudelte auf sie herab – doch ihr Stich war gut genug. Die Bestie starb, und die Sultai errangen den Sieg!“

Tasigur brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass der Herold seine Geschichte beendet hatte. Er zwang sich, seiner Umgebung wieder mehr Beachtung zu schenken, und schnickte sich eine weitere Traube in den Mund. Dann winkte er die Heldin der Sultai zu sich heran.

„Yala“, schnurrte er. Er sah, wie sie ein Schaudern unterdrückte, und seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. „Deine Heldentaten ehren die Sultai. Sei dir meiner Dankbarkeit gewiss.“

Yala fiel auf ein Knie und beugte das Haupt. „Ich fühle mich geehrt, mein Khan.“

„Ja, das tust du wohl“, sagte Tasigur. Er wandte seine Aufmerksamkeit bereits wieder dem Obst zu, während er dem Herold bedeutete, sie hinausgeleiten zu lassen. Er zerrte an der Kette, die den Zombie – dessen Schädel einen Teil der Obstschale bildete – an seinen Thron fesselte, um den Untoten dichter zu sich zu ziehen, damit er leichter an etwas herankam, das wie eine sehr saftige Birne aussah.

Ihr süßer Saft tropfte ihm dann auch vom Kinn, während die Heldin der Sultai aus dem Thronsaal geführt wurde.


Pflichtbewusste Rückkehr | Bild von Seb McKinnon

Als sich am nächsten Morgen ein Zombie mit einem Tablett voll Essen dem Thron näherte, knurrte Tasigur bereits der Magen. Der Zombie hielt ein paar Schritte entfernt inne und wartete, während ein lebendiger Diener herbeigerufen wurde, um die Nahrung zu begutachten. Tasigur rutschte auf seinem Thron hin und her, ungeduldig und hungrig. Und verärgert, dass es einem einfachen Diener – Abzan-Gesinde, das man bei einem kürzlich erfolgten Raubzug gefangen genommen hatte – vergönnt war, seine Speisen vor ihm zu kosten. Sie dufteten hervorragend.

Der Diener schien entzückt, denn er genoss jeden Bissen mit geschlossenen Augen und einem breiten Lächeln im Gesicht. Zweifellos hatte er noch nie in seinem Leben besser gespeist. Einen Wimpernschlag lang beglückwünschte Tasigur sich selbst: Er war ein gutherziger und großzügiger Herrscher, der all jenen, die ihm dienten, die feineren Freuden des Lebens zuteil werden ließ, selbst wenn ihr Dienst an ihm nicht aus freien Stücken erfolgte.

Dann verschwand sämtliches Entzücken aus dem Gesicht des Dieners. Seine Augen weiteten sich. Er griff sich an die Kehle, und Tasigur beugte sich auf seinem Thron nach vorn.

„Was geht da vor?“, verlangte der Khan zu wissen.

Schwarzer Schaum bildete sich in den Mundwinkeln des Dieners. Er fiel auf die Knie und rang nach Atem.

„Gift!“, rief Tasigur aus und sprang auf die Füße.

Der Diener brach zusammen. Er wand sich und zitterte, ehe er schließlich einen Schrei ausstieß: einen schrillen, langen Ton, der in einem qualvollen Gurgeln erstarb.

Stille senkte sich über den Raum.

Tasigur blickte jedem Diener und Höfling um ihn herum ins Gesicht, suchte nach einem Zeichen von Verrat, einem Anhaltspunkt, wer für diesen Anschlag auf sein Leben verantwortlich war. Leere Gesichter starrten ihn an und erwarteten seine Befehle: gebräunte menschliche Gesichter, die nun bleich vor Schreck waren; die undurchdringlichen Schuppenfratzen der Naga; die hohl dreinblickenden Zombies.

„Khudal“, sagte er. Er ließ sich zurück auf den Thron fallen. „Schafft mir Khudal her.“

Nur Stille erwiderte seinen Befehl.

„Ich brauche Khudal!“, rief er.

Eine Stimme zischte aus den Schatten hinter seinem Thron. „Mein Khan, man zitiert Khudal nicht herbei.“ Shidiqi, seine engste Beraterin, schlängelte sich an seine Seite.

„Bin ich nicht der goldene Giftzahn?“

„Natürlich, mein Khan“, sagte die Naga.

„Ja, ja“, schnaubte Tasigur. „Bring mich auf der Stelle zu ihm!“

Shidiqi winkte in die Schatten hinein und sechs Zombies traten daraus hervor. Je drei von ihnen waren mit goldenen Ketten aneinandergefesselt, die ihnen mitten dort durch die Brustkästen verliefen, wo ihre Herzen hätte sein sollen. Die Zombies bezogen neben dem Thron Aufstellung und hoben ihn auf Shidiqis Befehl hin vom Boden hoch. Der Thron schwankte, was Tasigur zu einem wütenden Fluch hinriss, doch dann geriet er wieder ins Gleichgewicht, als die Zombies der Naga aus dem Audienzsaal folgten.

Tasigur schäumte vor Wut, während sie durch dunkle Gänge voranschritten, die kaum breit genug waren, um sie zu passieren. Jemand hatte versucht, ihn zu töten. Jemand hatte es gewagt.Als ob seine Vorkoster einen solchen Versuch nicht vereiteln würden. Als ob er den Verräter nicht ausfindig machen konnte. Jemand würde für diesen törichten Verrat bezahlen.

Dunkelheit umfing Tasigur, als die Naga ihn zum Gemach des Rakshasa führte. Er hörte das leise Zischen von Shidiqis Beschwörung, die Khudal aus welcher finsteren Ebene auch immer herbeirief, und ein Schauder lief ihm über den Rücken.

Der Rakshasa trat in den schwachen Lichtkreis, der vom Gang draußen ins Zimmer hineinfiel. „Mein Herr.“ Seine Stimme ähnelte einem dumpfen Knurren, das zu seinem Katzenkopf passte.

Rakshasa-Wesir | Bild von Nils Hamm

„Jemand hat versucht, mich zu töten“, platzte es aus Tasigur heraus.

„Ja“, sagte der Dämon. „Ich habe es gesehen.“

„Du hast es gesehen? Dann weißt du, wer das Gift in mein Essen getan hat? Ich verlange, dass du es mir sofort sagst!“

„Ihr verlangt es?“ Der Rakshasa klang amüsiert, und in Tasigur brodelte die Wut.

„Ja!“, brüllte er. „Ich bin der goldene Giftzahn, der Khan der Sultai, und meinen Forderungen ist Folge zu leisten!“

„In der Tat“, sagte der Rakshasa und deutete eine winzige Verbeugung an, die eher Spott denn Demut ausdrückte.

Tasigurs Gesicht glühte. „Sag mir, wer dafür verantwortlich ist.“

„Ich verfüge über das Wissen, das Ihr sucht“, sagte Khudal. „Ich bitte Euch nur um einen winzigen Gefallen als Gegenleistung für meine Dienste, mein Khan.“

„Deine Pflicht ist es, deinem Khan zu dienen. Es ist deine Pflicht, mir dieses Wissen zu geben.“ Tasigur glaubte gesehen zu haben, wie der Rakshasa und Shidiqi einen Blick wechselten, und er senkte die Stimme. „Indes bin ich ein großzügiger Herrscher und belohne jene, die mir treu ergeben sind.“ Selbst wenn ihr Dienst nicht aus freien Stücken erfolgt, dachte er. „Welchen Gefallen erbittest du dir?“

Das Katzenmaul des Rakshasa zuckte – könnte das gar der Hauch eines Grinsens gewesen sein? „Nachdem ich Euch den Verräter genannt habe, mein Khan, bitte ich Euch, ihn ganz nach Eurem Gutdünken zu bestrafen – vorausgesetzt, Ihr lasst ihn am Leben. Ich möchte ihn selbst töten, um mich an seiner Seele zu laben.“

Tasigur zuckte die Schultern. „Ein angemessener Gefallen. Nun nenne mir den Namen des Verräters.“

„Yala, die Ihr gestern vor Eurem Thron geehrt habt, hat dies getan.“

Zorn stieg im Khan hoch, machte ihn sprachlos und ließ ihn erbeben. Dass diese vermeintliche Heldin ihn verriet, nachdem sie seine Gunst erhalten hatte. Dass dieser Herold jemanden derart Bösartiges vor ihn zu bringen wagte. All das war schlicht unfassbar. Er winkte mit beiden Händen in Richtung der Naga, die die Zombies hieß, den Thron zu wenden. Khudal verschwand wieder in den Schatten.

Als die schlurfende Prozession zurück im Thronsaal angekommen war, hatte Tasigur seine Sprache wiedergefunden.

„Schafft Yala her“, bellte er. „Und ihren Mann. Und diesen geschwätzigen Herold.“


Tasigur räkelte sich auf seinem Thron und gab sich den Anschein völliger Unbekümmertheit. Er zupfte an einer Windung seiner aufgewickelten, klingengespickten Peitsche, damit sie sauber zu den anderen passte, die in seiner Rechten ruhten. Dann legte er den linken Arm lässig über die Lehne seines Throns. Zufrieden wandte er den Kopf – peinlich genau darauf achtend, nichts anderes zu bewegen –, um sich an den nächsten menschlichen Diener zu wenden.

„Wie lange haben wir die Verräterin warten lassen?“

„Drei Stunden, mein Khan.“

„Ausgezeichnet. Und ihr Mann – ist er vorbereitet?“

Shidiqi schlängelte sich näher an die Rückseite des Throns heran und zischte. „Ja, mein Khan.“

„Hervorragend. Bringt sie herein.“

Die großen Türen ganz am anderen Ende des Thronsaals schwangen auf, und ein neuer Herold führte Yala zu ihm. Tasigur lächelte. Er sah, wie ihr Furcht und Ärger übers Gesicht huschten, ungeachtet all ihrer Bemühungen, ihre inneren Regungen zu verbergen. Er konnte kaum an sich halten, still sitzen zu bleiben, als sie dieselbe Haltung einnahm wie am Tag zuvor. Der Herold zog sich zurück.

„Sei erneut willkommen, Heldin der Sultai!“, sagte er freundlich.

Sie verneigte sich tief. „Ich danke Euch, mein Khan.“

„Ich muss mich bei dir entschuldigen“, sagte Tasigur. „Wegen meiner gestrigen Ungeduld, in der ich zu begierig darauf war, diese langwierige Zeremonie zum Abschluss zu bringen, habe ich es versäumt, dir in Anerkennung deines Heldenmuts ein Geschenk zu überreichen.“

„Eure Gunst ist mir Geschenk genug.“

„Oh nein. Niemand soll sagen, der Khan der Sultai würde seinen treuen Dienern vorenthalten, was ihnen gebührt!“ Er winkte wie beiläufig einen Zombie herbei.

Die frische Leiche trat aus den Schatten hervor, in den Händen ein samtenes Kissen. Tasigur musterte Yalas Gesicht und kostete seine gespannte Erwartung voll aus.

Gesandter der Sultai | Bild von Mathias Kollros

Alles Blut wich aus ihrem Gesicht, als sie den Zombie erkannte. Sie fiel auf die Knie. Entsetzt starrte sie die wiederbelebte Leiche ihres Mannes an und formte seinen Namen mit den Lippen, doch kein Laut kam über sie.

„Nein, die Heldin der Sultai muss nicht vor mir knien!“, sagte Tasigur und winkte zwei kräftige Diener herbei. Sie flankierten Yala und zogen sie grob auf die Beine, sodass ihr Gesicht genau vor dem ihres Mannes mit dessen leblosen Augen war. Sie drehte den Kopf zur Seite.

Der Zombie versuchte, sein Kissen mit nur einer Hand zu tragen, doch es entglitt ihm. Eine Halskette fiel klirrend zu Boden.

„Tollpatschiger Trampel!“, blaffte Tasigur. „Heb das auf!“

Der Zombie schlurfte ein paar Schritte voran und hob die Halskette auf. Dann wankte er zurück zu Yala. Ungelenk legte er ihr die Kette um den Hals und streifte dabei mit einer kalten Hand ihre Wange. Sie zuckte zusammen und wollte zurückweichen, doch die Diener hielten sie fest.

„Bitte nimm dies als Zeichen meiner Dankbarkeit für deine heldenhaften Taten“, verkündete Tasigur.

Yala blickte an den toten Augen ihres Mannes vorbei, um den Khan anzufunkeln. Feixend schnippte dieser mit den Fingern.

Yalas Augen weiteten sich und ihr Mund verzerrte sich in die Breite, als sich die Kette um ihren Hals zuzog. Sie riss sich aus dem Griff der Diener los und versuchte vergebens, die Finger unter das Kettchen zu schieben, das ihr die Luft abschnürte .

Tasigur erhob sich. „So siehst du dich doch, nicht wahr? Als eine Heldin. Eine Auserwählte des Volkes, die sich im Schatten der Nacht in den Palast ihres Khans schleicht, um sein Essen zu vergiften.“

Er trat auf den Rücken des Zombies, der ihm auf dem Boden vor dem Thron kauernd als Fußbänkchen diente.

„Wolltest du meinen Thron für dich selbst beanspruchen?“, fragte er. „Yala Drachentöterin, Khanin der Sultai?“

Sie fiel auf die Knie, und Tasigur schnippte erneut. Die Halskette lockerte sich. Yala nahm einen tiefen, gierigen Atemzug, während sie ihr rot angelaufenes Gesicht zu Boden wandte.

„Fesselt ihre Hände und zeigt mir ihren Rücken“, flüsterte Tasigur. Die Diener an ihrer Seite gehorchten. Er ließ die Windungen seiner Peitsche aus seiner Hand gleiten. Die silbernen Klingen an ihren vielen Enden klirrten auf dem Steinboden.

„Nein, mein Khan“, sagte Yala, noch immer um Atem ringend. „Ich bin dem goldenen Giftzahn treu ergeben!“

Die Peitsche knallte, und Yala schrie auf, als die Klingen Seide und Haut durchtrennten, um ihr purpurne Striemen auf den Rücken zu zeichnen. Er ließ die silbernen Klauen über den Wunden baumeln und labte sich an ihrem Leid. „Khudal will sie lebend“, zügelte er sich stumm. Er durfte sich nicht an allzu vielen Schlägen erfreuen.

Nach dem vierten Hieb konnte sie nicht mehr schreien. Seufzend rollte er die Peitsche zusammen und legte sie auf den Thron. Die Diener zogen Yala auf die Beine und hielten sie in Reichweite des Khans fest.

Tasigur schloss die Augen und sammelte sich einen Wimpernschlag. Dann leuchteten seine Hände von innen heraus purpurn. Grinsend grub er die Finger in Yalas Kopf und durchwühlte ihre Gedanken.

Tasigurs Grausamkeit | Bild von Chris Rahn

So viel köstlicher Schmerz und Schrecken, so viel Furcht, so viel brennender Hass. Er befeuerte den Hass, auf den er stieß, noch weiter und suchte nach Erinnerungen an ihren Verrat. Sein Lächeln erstarb. Yala erinnerte sich daran, den Abend bei einer Feier mit Freunden verbracht zu haben, in den Armen ihres Mannes eingeschlafen zu sein und den Morgen mit einem Lächeln voller wohlverdientem Stolz begonnen zu haben. Nirgends fand er einen Hinweis darauf, dass sie Gift in sein Essen getan hatte.

Mit einem verärgerten, verächtlichen Schnauben drückte er zu und löschte den kümmerlichen Rest ihrer Lebenskraft einfach aus.

Jedes Licht verlosch und tauchte den Saal in tiefes Dunkel. Chaos brach aus, als Diener versuchten, die Fackeln zu finden und erneut zu entzünden. Und Tasigur hörte ein Flüstern im Ohr.

„Du hast geschworen, dass ich mich an ihrer Seele laben würde“, sagte Khudal.

Tasigur ballte die Fäuste. „Du hast mich belogen“, stieß er hervor.

„Du hast mich dessen beraubt, was mir zugestanden hätte.“

Eine Fackel erwachte zum Leben, und Tasigur wandte sich um, um dem Rakshasa ins Gesicht zu blicken. „Du hast gelogen! Yala war nicht die Giftmischerin!“

„Nein“, sagte Khudal. „Es war mein Gift.“

Rakshasas Verachtung | Bild von Seb McKinnon

„Deines? Du wolltest mich töten?“

„Hätte ich dich töten wollen, mein junger Prinz, dann wärst du auch tot.“

„Aber du ... das Gift ...“

„Ich wollte Yala töten, und nun ist sie tot.“

„Du hast mich belogen!“, sagte Tasigur erneut. Seine Stimme wurde lauter, während immer mehr Fackeln die Dunkelheit zurücktrieben.

„Oh, natürlich habe ich das!“

„Nur um diese eine Frau zu töten?“

„Du bist wie ein bockiges Kind, Tasigur“, sagte der Rakshasa. „Sieh dich doch nur an, mit deinem Wutausbruch und deinem nutzlosen Zorn. Und warum? Du hast, was du wolltest – ein Opfer, das du schlagen und töten kannst. Doch ich wollte ihre Seele, und die hast du mir verwehrt. Diesen Fehler wirst du noch lange bereuen.“

„Nein. Du bist es, der einen Fehler begangen hat“, sagte Tasigur. Er hob die Stimme, auf dass jeder im Raum ihn hören möge. „Deine Lügen und dein Gift haben deine Untreue zutage gebracht. Ergreift den Verräter!“

Niemand rührte sich. Der Rakshasa schnaubte. „Du bist ein Kind und ein Narr. Die Menschen herrschen nur über die Sultai, weil die Rakshasa und die Naga es zulassen. Und deine Dreistigkeit wird dieser Nachsicht ein Ende setzen.“

Die klingengespickte Peitsche schnellte aus Tasigurs Hand nach vorn und zischte dort durch die Luft, wo der Rakshasa eben noch gestanden hatte.

Khudals Stimme schien aus den Schatten zu kommen und in jede Ecke des Raumes zu kriechen. „Und so fallen die Sultai.“

Tasigur spürte, wie der Rakshasa verschwand. Der Raum schien etwas heller, die Luft weniger drückend. Er rollte die Peitsche zusammen und setzte sich auf den Thron. „Shidiqi!“, rief er.

Die Naga zischte im Dunkel hinter ihm. Mit einem Mal kribbelte ihm vor Furcht der Nacken. War er nur von Verrätern umgeben?

„Shidiqi, komm hierher und verneige dich vor mir!“

„Und so fallen die Sultai“, gab die Naga zurück. Und dann war auch sie fort.

Wille der Naga | Bild von Wayne Reynolds


Von Unbehagen ergriffen rutschte Tasigur auf seinem Thron umher und griff geistesabwesend nach einem Stück Obst, doch kein schalenschädliger Zombie stand mehr zu seiner Linken bereit. Alle Zombies waren fort. Ohne die Naga und ihre Nekromantie konnte niemand sie beherrschen. Einige von ihnen waren einfach davongeschlurft. Einige waren wild geworden und hatten nach jedem lebenden Menschen geschlagen und geschnappt, bis die Soldaten sie schließlich unschädlich machten. Und manche hatten an ihren Ketten gezerrt, bis ihre verfaulenden Leiber zerfielen und vergingen.

Er räusperte sich. Das Geräusch hallte viel lauter als beabsichtigt durch den beinahe leeren Saal. Die Hälfte der Palastwachen war fort, entweder bei den jüngsten Überfällen der Abzan getötet – ungeheuerlich, dass sie es wagten, so weit in das Gebiet der Sultai vorzudringen! – oder desertiert, da sie Tasigurs Zorn nicht mehr fürchteten.

Und so fallen die Sultai.Die Worte hallten in seinem Kopf wider, seit Khudal und die Naga ihn verlassen hatten. Die vergangenen Monate waren ein einziges, langsames Abgleiten in die Erfüllung dieser Prophezeiung gewesen. Die Abzan und die Jeskai führten regelmäßige Raubzüge durch, stahlen Waren der Sultai, nahmen Klansmitglieder gefangen oder befreiten ihre eigenen Leute, die zuvor von den Sultai gefangen genommen worden waren – damals, als die Sultai noch stark gewesen waren. Das Volk litt Hunger – Ich leide Hunger!, dachte Tasigur –, und mit jedem neuen Angriff wurden mehr und mehr Soldaten fahnenflüchtig und mehr und mehr Bürger der Sultai hießen die Ankunft feindlicher Truppen willkommen.

Als Tasigurs grummelnder Magen sein Missfallen dem hallenden Saal kundtat, trat ein junger Diener an seine Seite. Er trug ein Tablett mit Essen in der Hand. Tasigur hob einen Teller an und führte ihn dicht vor sein Gesicht. Er musterte die kargen Bissen nach irgendetwas, was ihm falsch erscheinen mochte. Die Naga schmiedeten Ränke gegen ihn, da war er sicher, und es bestand kein Zweifel, dass sie früher oder später einen Weg finden würden, ihr Gift in sein Essen zu schmuggeln. Er konnte keine Diener mehr entbehren, die sein Essen für ihn vorkosteten. Daher spießte er ein Stück Fleisch von unergründlicher Herkunft auf sein Messer und schnüffelte daran, ehe er es vorsichtig mit der Zungenspitze berührte. Es roch und schmeckte zwar nicht gut, schien allerdings nicht vergiftet zu sein, und sein Magen knurrte erneut erwartungsvoll. Seufzend steckte er es in den Mund. Lieber an Gift als des Hungers sterben, dachte er.

Kaum hatte er den ersten Bissen verschlungen, stürzte ein Herold – wiederum ein neuer – in den Saal. „Drache!“, rief er, und eine Woge des Entsetzens brach über den Raum herein.

„Hier?“, fragte Tasigur und stellte sich auf sein hölzernes Fußbänkchen.

Wie als Antwort erhob sich draußen eine Vielzahl von Stimmen – Warnrufe, Todesschreie, wilde Schreckenslaute –, gefolgt von den Schwaden eines fauligen, beißenden Gestanks.

Belagerung des Palastes | Bild von Slawomir Maniak

„Schließt die Türen!“, rief Tasigur. „Bringt mich in die inneren Gemächer!“ Diener eilten herbei, um seinem Befehl Folge zu leisten, während eine Handvoll Soldaten in der Nähe der großen Türen Stellung bezog, zur Verteidigung ihres Khans bereit, falls ihm der Drache zu nahe kommen sollte. Sechs Diener – stark genug, seinen Thron anzuheben, doch anderer Verletzungen wegen nicht kampfestüchtig – schleppten sich herbei, um Tasigur durch den Hinterausgang in seine Privatgemächer innerhalb des großen Palastes der Sultai zu tragen.

Und dort kauerte sich der Khan furchtsam zusammen, bis die Geräusche erstarben.


Tasigur stand am Ufer des Marang. Vor diesem Tag hatten seine Füße den Boden kein einziges Mal auch nur berührt, und nun sanken sie in den kalten Schlamm des Flusses, der ihm zwischen den Zehen hervorquoll.

Truppen bildeten einen Halbkreis um ihn. Am anderen Ufer stand der erste Drache, den Tasigur je gesehen hatte, der größer war, als er es je hätte erahnen können – der Urahn der gesamten Brut Silumgars. Staunen und Schrecken erfüllten ihn zu gleichen Teilen und bescherten ihm einen heftigen Schwindel.

„Großer Drachenfürst Silumgar!“, rief er. Seine Stimme schien ihm hier im Wald klein und schwach, über dem Rauschen des Flusses gewiss kaum zu vernehmen. Er war nicht einmal sicher, ob der Drache ihn überhaupt hören konnte.

Silumgar, der driftende Tod | Bild von Steven Belledin

„Ich bringe Euch ein Geschenk!“, sagte er dennoch und winkte hinter sich.

Sechs seiner Soldaten traten vor. Sie trugen seinen Thron, den er verwirkt hatte. Der Jadesitz war mit Gold und Edelsteinen beladen – ein Vermögen weit jenseits dessen, was ein einfacher Soldat sich auszumalen vermochte. Tasigur hoffte verzweifelt, dass es genug sein würde.

Der Drache nahm Witterung auf und reckte den Hals hoch über das Wasser. Dann bäumte er sich auf und breitete die Schwingen aus. Er duckte sich zum Sprung und schwang sich in die Luft.

Tasigur spürte den Tod auf sich herniederfahren und das Licht der Sonne verdunkeln. Er fiel auf die Knie und presste seine Hände in den Schlamm. Der Tod, der Tod aller Dinge, das Ende der Sultai, das Ende der Welt – all das war in diesem glorreichen, geschuppten Gott vereint. Er wagte es nicht, den Kopf zu heben, und sah zu, wie seine Hände langsam vom Schlamm verschlungen wurden.


Weitere Geschichten aus dem Magic-Multiversum findet ihr auf der „Uncharted Realms“-Seite.