Die Meervolk-Planeswalkerin Kiora kam während der Ereignisse des Theros-Blocks und des Romans Godsend nach Theros. Sie war – und ist – auf einer Queste, die größten Bewohner der Meere vieler Welten zu finden. Kiora hofft, auf ihre Heimatwelt Zendikar zurückzukehren und mithilfe ihrer Verbündeten gegen jene weltenverschlingenden Kreaturen zu kämpfen, die man die Eldrazi nennt. Doch sie wird nicht eher zurückkehren, bis sie eine Waffe gefunden hat, die dieses Kampfes würdig ist.

Kioras Ankunft auf Theros fand während der Stille statt, einer Zeit, als die Götter von Theros auf magische Weise daran gehindert worden waren, sich in die Welt der Sterblichen einzumischen. Sie nutzte diesen Umstand aus und trat zunächst als Avatar der Meeresgöttin Thassa auf, später als die mythische Navigatorin Callaphe. Das örtliche Meeresvolk der Tritonier wartete verzweifelt auf ein Zeichen der Rückkehr seiner Göttin, und viele schenkten Kioras Behauptungen nur zu gern Glauben.

In der Zwischenzeit wollten Elspeth Tirel und Ajani Goldmähne nach Nyx reisen, um den zum Gott aufgestiegenen Planeswalker Xenagos aufzuhalten. Sie bargen Callaphes Schiff, die Monsun, doch sie brauchten einen Navigator. „Callaphe“ traf bald darauf ein, und die drei machten sich auf den Weg zu Kruphix‘ Tempel am Rande der Welt. Wie Callaphe selbst war jedoch auch diese Reise nicht das, was sie zu sein schien. Die Monsun war ein lebendes Wesen, und dieses Geschöpf – und nicht etwa Kiora – kannte den Weg zum Rand der Welt. Kiora hatte jedoch ein anderes Ziel im Sinn und drängte die Monsun, sie stattdessen zur legendären verlorenen Stadt Arixmethes zu bringen – eine Stadt, von der sie wusste, dass sie mitnichten ein Ort, sondern vielmehr ein gewaltiges Lebewesen war, auf dem man eine ganze Stadt erbaut hatte.

Der Roman Godsend folgte dem Weg Elspeths und Ajanis nach Nyx und ließ Kioras Geschichte unerzählt. Als wir Kiora das letzte Mal sahen, kämpfte sie gegen Thassa selbst. Der Ausgang dieses Kampfes war ungewiss – bis jetzt.


Kioras Herz klopfte, als der Bug der Monsun am Rande einer riesigen, in Trümmern liegenden Stadt aufsetzte. Ihrer Oberfläche gelang es recht gut, wie Land auszusehen, wenn man nicht allzu genau hinsah, doch sie war zu dunkel und zu ledrig. Angesichts der schmuckvollen Gebäude, von denen Meerwasser tropfte und die sich wie Seepocken an die gewaltige, leicht gekrümmte Oberfläche klammerten, runzelte Kiora die Stirn. Wie konnte nur irgendwer den großen Kraken Arixmethes für eine Insel halten?

Der Mensch Elspeth fragte etwas über Kruphix‘ Tempel, und der Katzenmann antwortete ihr, doch Kiora hörte nicht zu. Endlich!

„Willkommen in Arixmethes!“, rief sie und sprang vom Schiff auf die weiche, federnde Oberfläche. „Die versunkenen Ruinen! Endlich habe ich ihn gefunden.“

„Ihn?“, fragte Elspeth. Sie hatten es noch immer nicht begriffen. Doch sie und der Leonide Ajani blieben sowieso auf der Monsun.

„Ihr seid nicht Callaphe, oder?“, fragte Ajani.

„Nicht einmal ansatzweise“, erwiderte Kiora und lächelte ihn an.

Der Katzenmann hatte zweifellos die ganze Zeit geahnt, dass sie nicht war, wer sie vorgab zu sein, doch er war dennoch mit ihr an Bord der Monsun gekommen – denn sie hatte etwas, was er wollte. Sie hatten sie benutzt, um nach Nyx zu kommen, und sie sie, um Arixmethes zu erreichen. Nun war sie hier, und sie konnten die Monsun nehmen und sich auf den Weg machen, sich töten zu lassen. Es war wie ein Handel. Jeder bekam, was er wollte.

Kiora, die brandende Welle | Bild von Tyler Jacobson

Hinter ihnen wirbelten die Wellen, und von tief unter der Oberfläche her drang ein Rauschen.

Nun ... wohl eben doch nicht jeder. Es war wohl besser, sich zu beeilen.

„Wer seid Ihr?“, fragte Ajani.

„Ihr könnt mich Kiora nennen“, sagte sie. Sie machte sich nicht die Mühe, eigens anzumerken, dass sie eine Planeswalkerin war: Das wusste er ganz offensichtlich bereits. Und Elspeth war wohl kaum ein theranischer Name. Sie war also nicht die Einzige gewesen, die ihre Identität verschleiert hatte, wie es schien. „Ich brauchte die Monsun, um Arixmethes zu finden. Ohne Euch hätte ich das nicht geschafft. Viel Glück dabei, nach Nyx zu kommen.“

„Aber wo ist der Rand der Welt?“, fragte Elspeth.

„Fragt das Schiff“, sagte Kiora über die Schulter.

Thassa war ganz nahe. Arixmethes würde warten, und sie brauchte die Trockenläufer nicht länger. Was sie brauchte, waren Verbündete.

Kiora wirkte einen Zauber, um ihre Schwimmkünste zu unterstützen. Ihre Arme wurden mit einem Knirschen länger, als sie in die Wellen hinabtauchte. Das Letzte, was sie sah, ehe das Wasser über ihr zusammenschlug, war das Große Auge – die Meeresgöttin Thassa in einer ihrer vielen Formen –, das aus dem Wasser hervorbrach und seinen furchtbaren Blick erst auf sie und dann auf die beiden Trockenläufer richtete. Elspeth, die Verräterin – so nannte man sie. Kiora hatte nie die genauen Einzelheiten ihres Verbrechens erfahren – man durfte schließlich nicht allzu viele Fragen stellen, wenn man vorgab, eine Göttin zu sein –, doch hoffentlich würde Elspeths Anwesenheit Thassas Zorn lange genug auf sich ziehen, damit Kiora ihre Vorbereitungen treffen konnte.

Thassas Zorn | Bild von Chris Rahn

Sie tauchte steil nach unten, tiefer und tiefer. Ihr gestreckter Leib trieb sie durch das Wasser voran. Es wurde dunkler und kälter und stiller. Der Druck wurde gewaltig und das Wasser, das durch ihre Kiemen strömte, bitterkalt. Sie konnte spüren, wie sich große Schemen um sie herum bewegten, sah jedoch nichts – die Dunkelheit war vollkommen. Gerade, als sie dachte, sie müsste umkehren, stieß ihre flache Hand gegen die kalte und stumme Oberfläche des Meeresgrunds. Sie hielt kopfüber inne und stellte sich einen verwirrenden Wimpernschlag lang vor, sie hinge vom Dach der tiefsten Tiefen herunter, gefährlich über Abertausenden Fußbreit Wasser und der harten, unbarmherzigen Oberfläche des Meeres baumelnd. Sie lächelte und begann, einen Zauber zu wirken.

Sie sandte einen Schub der Macht aus, um nach jenen großen Tieren zu rufen, deren Bewegungen sie überall um sich herum spürte. Dies waren die Kreaturen, die sie bei ihrer Ankunft nicht't vorgefunden hatte: die wahren Kolosse der Meere, die Thassa weit drunten in der Tiefe des Ozeans hielt – wie Viehherden oder Schwärme von Thunfisch. Doch nun hatte sie sie gefunden. Sie war in Thassas geheimen Meeren, und die Göttin selbst war, obgleich sie in der Nähe weilte, abgelenkt. Hört mir zu, sagte Kiora zu den Kraken und Leviathanen. Hört meinen Ruf. Ich bin nicht eure Herrin. Doch ich werde euch befreien.

Sie regten sich in der Tiefe um sie herum, als sie aus ihrem Schlummer erwachten. Flecken von Biolumineszenz wurden flackernd heller und tauchten die trüben Tiefen nach und nach in unheimliches grünes und blaues Licht. Chitinplatten kratzten gegeneinander, Scheren schnappten zu, und lange, schlanke Leiber streckten sich zu voller Länge. Sie hörten zu.

Doch dies? Dies war noch der einfache Teil.

Durch die Blinden Ewigkeiten hindurch griff sie nach der Essenz einer jeden Meereskreatur, die sie je ihr Eigen genannt hatte. Eine nach der anderen zog sie diese Essenzen zu sich heran und manifestierte sie in den Meeren von Theros. Die Anstrengung war gewaltig. Neue Schemen tauchten aus der Dunkelheit auf, und herausfordernd erklang kreischendes Schaben und grollendes Klicken. Die Neuankömmlinge und die einheimischen Wesen umkreisten einander, führten Scheinangriffe durch und stellten einander auf die Probe, um eine Rangordnung auszuhandeln. Gut.

Ihr habt zu lange geschlafen, sandte Kiora ihnen einen Gedanken. Nun seid ihr erwacht. Ihr seid hungrig. Ihr seid mein. Hinauf! Hinauf zum Fressen!

Sie stiegen um sie herum begierig nach oben, ein Wirbelsturm aus Fleisch und Chitin. Sie griff nach dem Rückenkamm einer vorbeiziehenden Schlange mit einem geraden, langen Horn und schmiegte sich für den Weg zur Oberfläche an sie. Es war keines von Thassas Wesen. Nur für den Fall, dass das noch wichtig werden sollte. Es gab nur schlicht keinen Grund, noch mehr ihrer eigenen Kraft aufzuwenden, wo diese wunderbaren Geschöpfe doch so viel davon übrig hatten.

Kiora wusste nicht mehr, wessen Beistand sie erbitten sollte. Viele Jahre hatte sie im Geheimen zu Cosi gebetet, dem Gott der Täuschung des Meervolks auf Zendikar. Sie selbst hatte sich nie als Täuscherin betrachtet oder als treue Anhängerin des Cosi-Kults, doch sie hatte zu ihm gebetet. Und im Stillen hatte sie die frommen Anhänger dieser nutzlosen Galionsfiguren Emeria und Ula verhöhnt. Wie wenig sie doch gewusst hatte! Die Götter waren keine Götter, und Cosi der Täuscher war mit brutaler Ironie als ein Schwindel entlarvt worden – als pervertierte Erinnerung an den Eldrazititanen Kozilek, die durch das wirre Geflüster von Dummköpfen über die Zeiten hinweg weitergetragen worden war. Emeria und Ula stellten sich gleichermaßen als monströs und verlogen heraus. Cosi hingegen hatte zumindest nie vorgegeben, besonders tugendhaft zu sein. Vieleicht war dies der Grund, aus dem sie die Götter nicht mehr fürchtete und im Gegenteil geradewegs Kurs auf eine verärgerte Meeresgottheit genommen hatte. Zu Göttern zu beten, so schlussfolgerte sie, war etwas für jene, die nie gegen einen gekämpft hatten.

Das Meer um sie herum wurde heller, und sie konnte nun endlich die Streitmacht erkennen, die sie um sich geschart hatte: gewaltige Kreaturen von einem Dutzend Welten, die mit der Präzision eines geeinten Schwarms schwammen. Wie eine brodelnde Masse durchbrachen sie die Wasseroberfläche, und Kiora stieß auf dem Rücken ihrer Schlange einen Triumphruf aus. In der Ferne erblickte sie Thassa in tritonischer Gestalt, wie sie an Deck der Monsun stand. Sie schnaubte – obwohl sie das Schiff nicht mehr brauchte und froh war, wenn es Ajani und Elspeth zum Rand der Welt brachte, so sollte sie doch verflucht sein, wenn sie es Thassa überließ.

Gottesjäger-Oktopus | Bild von Tyler Jacobson

Sie brachte einen schwarzen, pockigen Tintenfisch von gewaltigen Ausmaßen dazu, neben dem Schiff aus dem Wasser zu tauchen. Die Monsun bäumte sich auf und schlingerte gereizt beiseite. Arixmethes hatte genug von der Rauferei der niederen Leviathane und tauchte in den Wellen unter. Sei‘s drum. Sie würde ihn schon finden. Doch zunächst musste sie sich um Thassa kümmern.

Thassa trat vom Deck der Monsun und eine riesige Woge ließ das Schiff gen Himmel schießen – mit Ajani und Elspeth darauf, die sich verzweifelt daran festklammerten. Anscheinend hatten sie Thassa davon überzeugt, ihnen zu helfen oder sie zumindest fortzuschicken. Kiora hoffte, dass sie davonkamen. Für Trockenläufer schienen sie in Ordnung zu sein, und soweit sie es beurteilen konnte, war ihr Ziel ein hehres. Sie winkte ihnen kurz zum Abschied zu, als die große Woge sie davontrug und sie am Himmel verschwanden.

Thassa verwandelte sich mitten in der Luft zurück in das Große Auge und glitt über die Wellen auf Kiora zu. Wasser wirbelte um sie herum auf, als sie wieder und wieder die Gestalt wechselte – vom Auge zu einer Wasserhose, dann zu einem Schwarm Möwen und schließlich zu ihrer tritonischen Gestalt, die den Zweizack trug, ihr Erkennungszeichen und zugleich der Sitz ihrer Macht über das Meer. Das würde ... nicht leicht werden.

Das Meer brodelte. Weitere Kraken tauchten auf, folgten Thassas Ruf und eilten aus allen Meeren Theros‘ herbei. In der Ferne durchbrach Arixmethes selbst die Wasseroberfläche. Seine schwarze Masse war gleichsam wunderbar geschmeidig und von schier unfassbarer Größe. Selbst die größten unter den anderen Kraken waren im Vergleich zu ihm nur kleine Fische. Er fuhr wieder hinab, und das Meer erbebte. Er war vollkommen. Und außerdem war er – zumindest für den Augenblick – auf Thassas Seite.

„Arixmethes wird niemals dir gehören!“, rief Thassa.

Kiora lachte.

Thassa, Göttin der Meere | Bild von Jason Chan

Sie rief ihre Titanen zu sich, und Thassa tat es ihr gleich. Thassas Macht über das Meer selbst war bedeutend größer, weshalb Kiora sich darauf konzentrierte, ihr kleines Fleckchen der See ruhig zu halten und die Meeresgöttin zu sich kommen zu lassen. Sie postierte ihre Kraken um sich herum.

Thassa und ihre Begleiter erhoben sich auf einem riesigen Brecher. Thassas Zweizack deutete genau auf Kiora. Eine Flutwelle aus Salzwasser und Fleisch schlug über Kioras Armee zusammen. Die Schlange, auf der Kiora ritt, wand sich und bäumte sich auf, während sie nach einem massigen Oktopus schnappte, der seine kräftigen, schleimigen Tentakel um sie geschlungen hatte. Sie biss gezackte Löcher in den Rumpf des Oktopus, und die gewaltige Kreatur fiel zurück in die Gischt.

In der Ferne, am Rande des Gewirrs sich windender Schlangen, sah Kiora Köpfe aus dem Wasser aufsteigen – erst einige Dutzend, dann Hunderte. Tritonier! Wie waren sie so schnell hierhergekommen?

„Willkommen, meine Kinder!“, dröhnte Thassa mit einer Stimme, die Kiora durch Mark und Bein fuhr. „Werdet Zeugen, wie die Heuchlerin fällt!“

Sie hatte sie hierhergebracht. Sie hatte ihre Macht dazu eingesetzt, sie durchs Meer an diesen Ort zu holen, nur damit sie ihren Kampf gegen Kiora sehen konnten. War dies reiner Hochmut? Oder war es ... einer Notwendigkeit geschuldet?

„Du statuierst ein Exempel an mir?“, rief Kiora und hoffte, dass die Göttin der Meere sie durch die Wellen hindurch hören könnte, wenn schon nicht über sie hinweg. „Was ist los? War ihr Glaube an dich so sehr erschüttert?“

„Ich werde dich zu Staub zermahlen“, sagte Thassa, deren Stimme aus dem Meer selbst emporzusteigen schien.

Brauchte sie ihren Glauben? Hatte Kiora ihr diesen genommen? War es das, worum es hier ging? Wenn Kioras kleine Scharade auf ihrem Weg zu Arixmethes Thassa tatsächlich für den Kampf geschwächt hatte ... Wie köstlich wäre das!

Kioras Schlange schoss durch das Gewimmel massiver Leiber und verschlungener Tentakel nach vorn – nicht auf Thassa zu, sondern auf Arixmethes. Thassa musste sie besiegen, um zu gewinnen. Kiora musste nur ein Bündnis mit diesem Kraken eingehen. Sie hielt sich an ihrer Schlange fest und versuchte, ihre Kraft so einzuteilen, dass sie sowohl ihre Streitmacht stärkte als auch sich selbst schonte, um auf das vorbereitet zu sein, was noch kommen würde.

Seeschlange des Weiten Meers | Bild von Kieran Yanner

Die Schlange bäumte sich auf und wand sich mal hierhin, mal dorthin. Mal schwamm sie an der Wasseroberfläche entlang wie eine Flussschlange, mal tauchte sie hinab. Ab und an sprang sie sogar ganz aus dem Wasser – alles, um durch die gegnerischen Reihen zu brechen. Und sie brach durch. Thassa hatte alle Kraken von ganz Theros – abzüglich derer, die Kiora ihr abgeluchst hatte. Doch Kiora hatte Titanen von einem Dutzend Welten. Geschöpfe, die Thassa nie gesehen hatte und sich nicht einmal hätte erträumen können. Viele von ihnen waren größer als die größten von Thassas Kindern – außer Arixmethes. Langsam dämmerte es ihr: Sie gewann.

Arixmethes pflügte über das Schlachtfeld und biss Kioras außerweltliche Kraken entzwei oder schlang sie ganz hinunter, während er die Kraken, die sie Thassa geraubt hatte, einfach beiseiteschob. Er war unerbittlich. Und er war mindestens so groß wie Kozilek.

Thassa ritt freihändig auf Arixmethes, den Zweizack erhoben. Mühelos hielt sie sich auf seinem Rücken, während er sich seinen Weg bahnte. Kioras kleine Schlange mit ihrer Länge von einhundert Fuß wirkte winzig vor ihm. Thassa lächelte.

„Nun wirst du lernen“, sagte sie mit derselben verstärkten Stimme wie zuvor, „was es bedeutet, sich mir zu wiedersetzen.“

„Es freut mich, deine Anhänger lehren zu dürfen, wie das geht!“, rief Kiora.

Der Augenblick war gekommen. Kiora streckte die Hand aus und ließ jedes Quäntchen Kraft, das sie aufbringen konnte, in Arixmethes‘ alte, träge Gedanken fließen. Sie spürte, wie die anderen Kraken zu wanken begannen. Ein paar von ihnen liefen auf Thassas Seite über. Das war nicht wichtig. Nichts anderes war mehr wichtig. Nichts außer ihm. Er öffnete sein gewaltiges Maul, das groß genug war, sie und ihre Schlange mit einem Bissen zu verschlingen.

Sie war Thassa nun so nahe wie nie zuvor. Vielleicht gerade einmal einhundert Schritte trennten sie noch, und ob nun durch Magie oder Göttlichkeit oder nur eine allzu lebhafte Fantasie konnte Kiora jede Einzelheit im Gesicht der Göttin erkennen.

Üblicherweise hätte sie nicht versucht, ein Tier demjenigen zu entwenden, der es beherrschte. Das war nicht unbedingt ihre Stärke. Das, was sie hier tat, war nicht wirklich Gedankenmagie. Eher ... Instinktmagie. Und die Instinkte des Meeres kannte sie besser als jeder andere.

Du gehörst nicht mir, dachte sie. Du gehörst nicht Thassa. Du gehörst dir selbst. Und ich brauche deine Hilfe. Wirst du meinem Ruf folgen?

Sein riesiges Maul schloss sich wieder, und einen Moment lang wagte sie es, auf ihn zu hoffen. Komm zu mir, drängte sie ihn. Ich muss dich spüren.

Nichts geschah. Der Kampf um sie herum ebbte ab. Zu viele von Kioras Verbündeten waren getötet oder unter Thassas Befehl gebracht worden. Komm schon.

„Du bedauernswerte Närrin“, donnerte Thassa. „Glaubst du wirklich, du könntest einer Göttin der Meere einen Kraken stehlen?“

Dann begann Kioras eigene Schlange sich unter ihr zu winden und zu einer Seite hin zu schlängeln. Sie sprang über die kämpfenden Tiere hinweg, tauchte mit erstaunlicher Geschwindigkeit ab und wieder auf ...

Genau auf die versammelten Tritonier zu!

„Nein!“, stieß Kiora hervor. Doch die Schlange gehorchte nicht länger ihren Befehlen.

Sie konnte nur zusehen, wie die Schlange sich ein Maul voll schreiender Tritonier schnappte und Dutzende auf einmal hinunterschlang.

„Seht ihr?“, donnerte Thassa. „Ihr seid ihr gleich! Mich kann sie nicht verletzen. Also wendet sie sich gegen meine Getreuen!“

Hinter Kiora hatte sich bereits die Hälfte ihrer Kraken gegen sie gewandt, selbst jene von anderen Welten.

Thassa hob ihren Zweizack und schickte eine riesige Woge auf Kiora und ihre Schlange zu, die über sie hereinbrechen und ihre Anhänger „beschützen“ sollte. Die Schlange erhob sich noch einmal aus dem Wasser, als die Welle auf sie zubrandete. Thassa wollte sie noch mehr von ihren eigenen Anhängern fressen lassen, ehe die Welle über ihr zusammenschlug, nur um ihre Behauptung zu untermauern.

Kiora bebte vor Wut. Sie drückte die Hände gegen den breiten Rücken der Schlange und schickte sie fort – zurück in den Äther, aus dem sie gekommen war. Sie sandte ihr einige ihrer Kraken hinterher – jene nämlich, die sich gegen sie gewandt hatten. Der massige Leib unter ihr verschwand in einem Schimmern aus türkisfarbenem Licht, und Kiora fiel wie ein Stein dem Ozean entgegen. Sie machte den Körper lang, um aus einem ungelenken Sturz ein geschmeidiges Eintauchen zu machen.

Ende der Reise | Bild von Chris Rahn

Grauenhafterweise wich das Wasser vor ihr zurück. Thassas Zweizack glühte leicht, als sie das Meer wie zu einer großen Schüssel formte, deren Dimensionen an die einer Arena heranreichten. Die verbleibenden Kraken wurden aus dem wachsenden Strudel hinausgedrückt und umhergewirbelt, während Thassas Anhänger zu Zuschauern wurden, die sich entlang der Rundung einer Wand aus Wasser aufreihten.

„Der Preis des Verrats!“, rief Thassa. Und nun jubelten ihre Anhänger ihr zu.

Kiora fiel. Sie streckte Arme und Beine aus. Nun war es endgültig kein Eintauchen mehr, sondern nur noch ein Sturz. Sie konnte ihre Streitmacht nicht länger spüren. Thassa hatte sie besiegt, vertrieben oder ihr weggenommen. Arixmethes zog sich in die Tiefe zurück. Unter Kiora öffnete sich der Schlund aus Wasser bis zum kahlen und unbarmherzigen Grund des Meeres.

Sie nahm zwar nicht ernsthaft an, dass Thassa sie auf dem Boden aufprallen lassen würde – die Göttin der Meere wollte ganz zweifellos nur ein Spektakel veranstalten –, doch sie ging lieber kein Risiko ein. Sie griff mit ihrer Magie nach dem gerade freigelegten Meeresgrund und tat etwas, was Thassa nicht konnte: Sie zog Wurzeln und Ranken aus dem Boden, die noch nie das Licht der Sonne erblickt hatten – ein Ansturm neuen Wachstums, der schnalzend und knirschend vonstattenging. Sie schloss die Augen, rollte sich zusammen und ließ sich mit hoher Geschwindigkeit in das Kissen aus Grün fallen, um nur wenige Schritte über dem glitischigen Boden kopfüber in einem Gewirr aus Ranken zu landen.

Sie lächelte. Immerhin war sie am Leben. Das war ein guter Anfang.

Brandrodung | Bild von Rob Alexander

Ehe sie sich aus den Ranken befreien konnte, strömte eine Flut zupackender Hände aus Meeresschaum durch ihren kleinen Hain und riss die noch grünen Zweige in Stücke, zerfetzte die Ranken und spülte sie aus dem Gestrüpp. Die Hände aus Wasser warfen sie auf dem Grund des Meeres auf die Knie. Thassas Arena ragte um sie herum auf. Hinter ihr brandete eine Woge über ihren Wald hinweg und ertränkte ihn.

Sie stand auf. Ihre Arme und Beine waren von grauem, klebrigem Schlamm bedeckt. Das Wasser hinter ihr bildete eine glatte Wand und raste so schnell dahin, dass sie nicht hindurchzusehen vermochte. Um sie herum erhoben sich flache Felsen wie die Zähne einer mächtigen Schlange, obwohl sie ziemlich sicher war, dass sie das nicht waren. Thassas Arena war zu einem Amphitheater geworden. Thassa glitt an der gegenüberliegenden Wand auf einer makellosen Welle herab. Die Tritonier scharten sich als Ansammlung stummer, missbilligender Gesichter um ihre Göttin, die aus der Wand aus Wasser aufragte.

„Du hast mein Volk in die Irre geführt“, sagte Thassa. Ihre Stimme hallte vom Meeresboden wider. „Du hast mir meine Kinder gestohlen. Du hast den Namen meiner Anhängerin Callaphe beschmutzt und Elspeth, der Verräterin, bei ihrer Aufgabe geholfen.“

Genau wie du!, dachte Kiora, machte sich aber nicht die Mühe, den Gedanken laut auszusprechen. Ihre Streitmacht war fort. Arixmethes war in die Tiefe zurückgelehrt. Sie war so voller Hoffnung gewesen. Doch nun war der Kampf vorüber.

Sie machte einen Satz auf die Wand aus rauschendem Wasser zu und hoffte, lange genug zu entkommen, um diese Welt zu verlassen.

Thassa warf ihren Zweizack. Er sauste mit erstaunlicher Geschwindigkeit durch die Luft und schrumpfte, während er auf sie zuhielt. Kiora schlug einen Haken in der Luft, doch der Zweizack folgte ihren Bewegungen. Er prallte gegen sie und schleuderte sie gegen einen der Felsen, die den Meeresgrund bedeckten. Seine Zacken passten genau um ihren Hals. Sie lehnte benommen am Felsen, das korallenartige Material des Zweizacks schrammte ihr gegen die Kehle.

Zweizack der Thassa | Bild von Yeong-Hao Han

„Wie erbärmlich“, sagte Thassa, während ihre Füße auf einem Teppich sauberen Wassers aufsetzten, der sich vor ihr über dem Schlick ausbreitete.

Kiora schloss die Hände um den Stab des Zweizacks und zog. Doch er steckte fest. Sie rang nach Atem und wand sich. Dann erschlaffte sie. Sie begann, Mana für einen letzten, verzweifelten Zauber anzusammeln, und versuchte, Thassa zum Weiterreden zu bewegen.

„Du hast recht“, keuchte sie. Sie hörte, wie ihre eigene Stimme über den Meeresgrund zu den versammelten Tritoniern getragen wurde. „Ich war töricht zu glauben, ich könne dich besiegen.“

"Oh, wie freundlich von dir, das zu sagen!“, lachte Thassa. Sie schritt auf Kiora zu, während sich der Teppich aus Wasser weiter vor ihr ausbreitete, damit ihre göttlichen Füße nie den schleimigen Meeresgrund berühren mussten. „Eine einfache Tritonierin ist gewillt, einzugestehen, dass es unklug war, die Göttin der Meere zu ärgern, die über jeden Ozean unter Nyx herrscht!“

„Es gibt mehr Ozeane, als du kennst“, sagte Kiora. Thassa runzelte die Stirn, und eine Geste von ihr trieb den Zweizack tiefer in den Felsen. Kiora rang nach Atem und verstummte.

Thassa war Kiora nun ganz nahe. Sie lehnte sich zu ihr herab und sprach nur zu ihr – mit einer Stimme, die so kalt und freudlos war wie eine Eisscholle.

„Was soll das bedeuten?“, fragte sie.

„Ddd...“, sagte Kiora. Ihr Blick verschwamm. „Dddddd...“

Thassa bewegte abwesend eine Hand, und der Griff des Zweizacks um Kioras Kehle lockerte sich. Kioras Hände schlossen sich noch immer fest um seinen Stab.

„Danke“, flüsterte Kiora.

„Wofür?“, fragte Thassa. „Eine Lektion in Demut?“

Kioras stummer, verzweifelter Zauber erreichte seinen Höhepunkt.

„Für den Zweizack“, zischte sie und glitt hinüber in die Leere, Thassas Waffe noch immer fest in den Händen. Das Letzte, was sie hörte, ehe sie zwischen die Welten schlüpfte, war der gequälte Aufschrei einer wütenden Göttin.

Im Raum jenseits des Raumes umklammerte Kiora ihre gestohlene Trophäe und lachte.