Was bisher geschah: Die Stunde der Ewigkeit

„Die Welt wurde unter der Sohle des mächtigen Gott-Pharaos zermalmt, und eine namenlose Stunde brach an, als das Blut der zweiten Sonne das Land in Rot tränkte. Und so herrschte die Stunde der Vernichtung, und der Gott-Pharao vollendete seinen großen Plan. Und während die Dunkelheit alles verzehrte, hinterließ er nur die Ruinen einer ganz und gar ausgelöschten Stadt.“


Samut rannte.

Hinter ihr folgte eine kleine Gruppe Überlebender. Djeru hielt mit den langsamsten von ihnen Schritt und schützte sie nach hinten.

Entkommt aus der Stadt. Erreicht die Wüste.

Hazorets Befehl brannte während des Laufens in Samuts Verstand. Djeru und sie hatten der Göttin gehorcht, sich von Hazoret getrennt und sich auf den Weg zum Rand der Stadt gemacht. Unterwegs war ihre Zahl angewachsen, als andere Überlebende sich ihnen angeschlossen hatten, um gemeinsam zu kämpfen.

Dann war ihre Zahl wieder ein wenig geschrumpft, als die von den Gottheiten angefachte Zerstörung die Stadt um sie herum zum Einsturz brachte.

Erreicht die Wüste.

Die endlosen Dünen und der alles erstickende Sand waren für die Bewohner Naktamuns schon lange Symbole des Todes und der Gefahr gewesen – und für Samut Mahnmale an Torheit und Verlust. Und dennoch war die Wüste nun ihre einzige Hoffnung aufs Überleben.

Ihr bunt zusammengewürfelter Haufen näherte sich einem Gebäude, das ganz in der Nähe jenes Ortes stand, wo sich bis vor einigen Stunden noch das Hekma erstreckt hatte. Bei dem Bau hatte es sich um die Kaserne für die Wesire Kefnets gehandelt, die dabei halfen, die Barriere zu warten und zu flicken. Bis auf ein paar kleine Schwärme von Heuschrecken, die an einigen der Oberflächen des Gebäudes hingen, wirkte alles völlig verlassen. Samut bedeutete den anderen, hinter einer Mauer Schutz zu suchen. Sie kletterte die rauen Steine hinauf zum Dach, um besser sehen zu können.

Vor ihr erstreckte sich die Wüste Amonkhets, so weit ihr Auge reichte. Winde trieben Sandschleier vor sich her, und die sich kräuselnden Dünen warfen sonderbare Schatten. Samut vermochte nicht zu sagen, ob sie sich des Lichts, des Winds oder eines unbekannten Schreckens wegen bewegten. Sie wusste, dass andere Ruinen unter der Stadt begraben lagen, Orte, an denen sie vermutlich eine Zeit lang Zuflucht finden konnten – doch sie hatte keine Ahnung, was danach kommen sollte.

Hazoret glaubte noch immer, dass der Gott-Pharao gekommen war, um sie vor der Dunkelheit zu retten. Einige aus Samuts Gruppe schienen diesen Glauben zu teilen und riefen den Namen des Gott-Pharaos in ihren Kampfschreien oder flehten ihn in ihren Gebeten wispernd an, das Geschehene richtigzustellen. Doch Samut kannte die Wahrheit.

Schreie erklangen unter ihr. Samut blickte nach unten, wo die Überlebenden allesamt zurück zur Stadt deuteten. Am Himmel erschien eine schwarze Leere und aus ihren unergründlichen Tiefen eine gewaltige, goldene Gestalt. Einen Augenblick lang runzelte Samut verwirrt die Stirn. Dann sah sie die goldenen Hörner des Wesens.

Sämtliches Blut entwich Samuts Gesicht.

Er ist hier.

Einige aus ihrer Gruppe jubelten. Andere begannen, zurück zur Stadt und auf den fernen Gott-Pharao zuzulaufen.

Dann hob der Drache die Klauen, und schwarzes Feuer regnete vom Himmel.

Samut versuchte, den Lärm zu übertönen und die Überlebenden in die sichere Zuflucht hinter sich zu schicken. Sie unterdrückte ihre Verzweiflung, als sie mit ansehen musste, wie ein gleißender Flammenstoß einen jungen Minotaurus versengte, der versuchte, zurück zur Gruppe zu rennen. Sie schoss auf ein Aviormädchen zu, schloss es in die Arme und rannte mit dem Kind zurück in Deckung, wo die anderen warteten. Als alle im Inneren des Gebäudes waren, folgte sie ihnen. Djeru trieb die Leute in der Mitte des Raumes zusammen, abseits der Fenster und Türen. Der schaurige Klang von Feuerstößen, die auf Mauern und andere Gebäude trafen, fuhr Samut bis ins Mark und wurde nur von dem leisen Schluchzen der Kinder durchbrochen.

„Warum ... Warum sollte der Gott-Pharao ... ?“, stammelte ein Nagajunge, der kaum alt genug war, um Schüler zu sein, und starrte mit geweiteten Augen um sich.

„Der Gott-Pharao ist eine Lüge.“ Samut sprach laut genug, dass jeder im Raum sie hören konnte. „Er ist kein großer Erlöser. Er ist ein Täuscher von einer anderen Welt.“

„Das ... Das kann nicht stimmen. Diese ... Bestie kann nicht unser versprochener Gott-Pharao sein.“ Ein großer, breitschultriger Mann drängte sich vor. Samut erkannte ihn als Masikah von der Ahn-Saat.

„Können deine Augen nicht sehen? Deine Ohren nicht hören? Spürst du nichts in deinem Herzen? Den Tod unserer Götter? Die Zerstörung unserer Stadt? Diesen Zauber aus Höllenfeuer aus den Klauen des Gott-Pharaos selbst?“ Samut sprach mit grimmiger Überzeugung und begegnete unverwandt Masikahs Blick.

Eine Stimme rief: „Wir wurden verraten! Unsere Götter wurden verraten!“ Wütende, zustimmende Rufe erschallten aus der versammelten Menge.

„Die dunklen Gottheiten sind seine Vorboten, nicht seine Feinde.“ Samut legte Masikah einen Arm auf die Schulter. „Wir müssen uns der Wahrheit stellen und um unser Überleben kämpfen.“

Samut wandte sich an die Menge und blickte jedem Überlebenden ins Gesicht. „Ich habe die ausgelöschte Geschichte unseres Volkes entdeckt. Ich habe die Ruinen und die verborgenen Orte im Sand gesehen.“ Während sie sprach, wurde Samuts Stimme sanfter. „Ich hatte gehofft, mich zu irren – dass ich wahnsinnig war, dass die Ketzereien, die ich fand, nicht wahr seien. Doch all meine schlimmsten Befürchtungen haben sich erfüllt.“

Ein Raunen ging durch die Überlebenden. Manche Gesichter wurden hart vor Zorn, während andere sich Samut zuwandten und auf ihre nächsten Worte warteten. Sie öffnete den Mund, als ihr ein scharfer, stechender Schmerz die Brust durchbohrte. Samut krümmte sich und sog Luft durch zusammengepresste Zähne. Als sie aufsah, griffen sich alle anderen ebenfalls mit vor Entsetzen erstarrten Gesichtern an die Brust. Einer der jüngeren Überlebenden übergab sich.

Welcher ist jetzt gefallen?

Samut wählte ihre Worte mit Bedacht.

„Vier unserer Götter sind nun tot. Ja, vier“, rief sie über das Stöhnen und Wehklagen der Überlebenden hinweg. Einige schüttelten den Kopf und weigerten sich, die Wahrheit zu glauben, die Samut gerade ausgesprochen hatte. Andere stierten einfach nur schweigend ins Nichts. Samut ließ nicht locker.

„Ich lebe für den Ruhm meiner Götter. Ich lehne die Lügen des falschen Gott-Pharaos ab. Wir müssen zusammenstehen und das beschützen, was uns gehört. Wir müssen überleben. Wir müssen diesem Täuscher trotzen.“

„Ich stehe zu ihr.“

Samut drehte sich überrascht um, die Brust eng vor Rührung. Djeru, der gerade einen jungen Überlebenden getröstet hatte, stand auf und wandte sich an die Menge. „Samut ist meine älteste Freundin. Ich, mehr als jeder andere, hielt ihre Worte für bösartige Ketzerei, als sie sich zum ersten Mal gegen den Gott-Pharao aussprach. Doch ich habe mehr gesehen, als nötig war, um die Wahrheit zu erkennen.“

Eine beklemmende Stille legte sich über die Gruppe, die von dem Nagajungen durchbrochen wurde.

„Aber was machen wir denn jetzt?“, fragte er und schaute die Umstehenden an.

„Was können wir denn machen?“, klagte eine Stimme in der Menge. Zustimmendes Gemurmel erhob sich.

Eine andere Stimme, klar und kühn, ertönte: „Eine gute Frage. Was können wir gegen finstere Gottheiten ausrichten, die unsere Götter getötet haben, oder gegen einen Drachen, der Feuer vom Himmel regnen lässt?“

Ein paar Überlebende traten beiseite, als Hapatra nach vorn schritt. Samut blickte zu Djeru und dann wieder zu der Wesirin, bevor sie antwortete. „Hazoret bat Djeru und mich, alle zu beschützen, die wir finden konnten, und uns im Sand der Wüste zu verstecken. Zu überleben. Wir trotzen dem Täuscher, indem wir am Leben bleiben.“

Einige Köpfe nickten.

Samut zog ihre Zwillingschepeschs. „Aber ich gehe zurück in die Stadt.“

Sie ging zur Tür und wandte sich dann nochmals zu der Menge im Raum um. „Ich würde niemanden von euch bitten, mich zu begleiten. Zu entkommen und zu überleben, bedeutet, den Wunsch unserer Göttin zu erfüllen, und das wäre ein mutiger Akt des Trotzes gegen den Täuscher.“ Samuts Stimme brach, während sie fortfuhr. „Ich jedoch kann den Tod eines weiteres Gottes nicht ertragen. Obgleich Hazoret wollte, dass wir fliehen, werde ich zurückkehren – denn ich muss versuchen, das zu beschützen, was mich mein ganzes Leben lang beschützt hat.“

Auch Djeru zog seine Waffe. „Ich werde mit dir kommen, Schwester.“ Auch er wandte sich an die Menge. „Wir, die Kinder der Götter, haben niemals den Tod gefürchtet. Ich hätte liebend gern mein Leben für das ruhmreiche Jenseits gegeben. Und nun bin ich stolz, es der Verteidigung der Götter zu opfern.“

Andere Krieger erhoben sich und zogen mit grimmiger Entschlossenheit ihre Klingen und packten ihre Stäbe fester.

„Ich werde nicht mit euch kommen.“

Hapatra sprach, und jeder drehte sich zu ihr um. „Obgleich sich mein Herz nach der kleinsten Gelegenheit sehnt, den Tod meines Rhonas zu rächen, so weiß ich doch, dass meine Gifte besser eingesetzt sind, den Lebenden den Weg zu ebnen.“ Sie zog ihren Dolch und hielt ihn sich wie zum Salut vor die Brust. Eine kleine Schlange wand sich ihr aus dem Ärmel den Arm hinauf. „Ich bin Rhonas’ zerbrochener Fang, und ich weiß, wo ich zuschlagen muss, um die Untoten und die Ungeheuer aufzuhalten. Ich werde jeden niederstrecken, der unser Volk bedroht, während wir Zuflucht im Sand suchen.“ Hapatra starrte Samut durchdringend an. „Ich lege die Sicherheit unserer Göttin in deine Hände, Samut.“

Samut erwiderte die Geste mit ihren Chepeschs. „Die eigene Stärke zu kennen und die eigenen Wünsche dem Wohlergehen anderer zu opfern, ist nicht einfach. Ich danke dir für deinen Mut.“

Sie wandte sich zu den anderen und hob eine Klinge in die Luft. „Der Rest zu mir! Wir werden unsere letzte Göttin finden und beschützen!“


Samut knirschte mit den Zähnen. Sie sind unaufhaltsam.

Selbst als Djeru zwei von ihnen zurücktrieb, stürmte ein dritter mit gezücktem Speer vor. Samut schrie auf, als Djeru den Speerstoß des von Lazotep bedeckten Minotaurus parierte. Sie huschte vor und schlug mit ihren Chepeschs auf den untoten Krieger ein, um zwei gezackte Wunden auf seiner Brust zu hinterlassen. Die Schläge schienen den Minotaurus nicht im Geringsten zu stören, denn er wirbelte herum und schleuderte Djeru und sie mit einem mächtigen Tritt zurück.

Als Samut sich aufrappelte, bemerkte sie, dass nur noch vier weitere Kämpfer übrig waren: Alle anderen waren dem endlosen Ansturm verewigter Krieger zum Opfer gefallen. Der grausame Witz der versprochenen Stunden nagte an Samuts Gedanken. Die Stunde der Ewigkeit – wenn die würdigen Toten sich zu einem ruhmreichen Nachleben erheben. Samut schnitt eine Grimasse. Wenn „ruhmreiches Nachleben“ bedeutete, alles niederzumetzeln, was einem einst lieb und teuer gewesen war.

Der Minotaurus beschwor eine zornige Flamme herauf, die seine Speerspitze umloderte. Djeru schlurfte näher. „Ich ... Ich habe noch nie zuvor gesehen, wie Untote Zauber wirken“, sagte er.

„Ich habe noch nie gesehen, wie die Leichen unserer getöteten Auserwählten in Lazotep gekleidet wurden, um dann auf die Stadt losgelassen zu werden“, sagte Samut. „Heute geschehen eine Menge Dinge zum ersten Mal.“

Djeru grinste. „Da haben wir ja Glück gehabt.“

„Wenn dies unsere einstigen Auserwählten sind, dann muss das er sein“, sagte Samut. Djeru und Samut traten zurück, als der Minotaurus sich näherte. Er wirbelte seinen Speer mit einer Hand hinter dem Rücken und erzeugte ein schwindelerregendes Lichtspiel. Djeru nickte. Der grausame Auserwählte mit dem Speer konnte nur Neheb der Ehrenhafte sein, ein legendärer Geweihter, der gleichermaßen in Magie und Kampf bewandert war. Er hatte die Prüfungen bestanden, als Djeru und Samut noch Kinder gewesen waren. „Der größte Krieger einer ganzen Generation“, hatten ihre Lehrer ihnen erzählt. „Kämpft wie Neheb“, hatten ihre Ausbilder ihnen geraten.

„Das ist verlorene Liebesmüh“, flüsterte Samut Djeru zu und verlagerte den Griff um ihre Waffen.

Djeru wechselte das Standbein und behielt Neheb im Auge. „Wir können es mit ihm aufnehmen, Schwester.“

„Und dann? Wir können doch nicht ernsthaft alle zurückgekehrten Auserwählten Amonkhets besiegen! Wir sollten die letzte Göttin finden.“

Neheb stieß den Speer vorwärts und schickte Samut eine Flammenwelle entgegen. Samut duckte sich, doch Neheb stürmte bereits vor und holte mit dem Speer gegen Djerus Brust aus. Djeru hob die Klinge, um zu parieren, und der Minotaurus drang weiter auf ihn ein, verkürzte die Entfernung zwischen ihnen und versetzte Djeru einen kräftigen Faustschlag ins Gesicht, der ihn zurücktaumeln ließ. Samut brüllte auf und griff an, die Chepeschs zu einem mächtigen Schlag über dem Kopf erhoben. Neheb konterte mit einem flinken Tritt in ihren Magen. Der Treffer warf sie zurück und ließ sie um Atem ringen. Neheb nutzte dies binnen eines Wimpernschlags aus: Er stürmte auf Djeru los und drohte, den am Boden liegenden Krieger mit seinem Speer zu durchbohren.

Ein Lichtblitz blendete alle anwesenden Kämpfer. Samut sprang auf die Füße, um den Eindringling Gideon zwischen Neheb und Djeru stehen zu sehen. Sein goldener Schimmer der Unverwundbarkeit hatte dem feurigen Speer des Minotaurus Einhalt geboten. Um ihn herum stürmten die anderen vier Eindringlinge vor und warfen Zauber auf die Verewigten. Neheb führte Hieb um Hieb gegen Gideon, doch nichts konnte das goldene Licht durchdringen.

Samut nutzte ihre Gelegenheit. Sie spurtete auf den verewigten Minotaurus zu und rammte ihm beide Chepeschs in den Rücken, woraufhin er zu Boden ging. Die Klingen durchdrangen das Lazotep und hinterließen tiefe Risse. Sie zog ihre Waffen aus dem Rücken des Minotaurus heraus und stach erneut zu. Diesmal durchbohrte sie seinen Hals. Neheb – oder vielmehr das Ungeheuer, das einst Neheb gewesen war – zuckte und wand sich kurz, ehe es sich endlich nicht mehr regte.

Man kann sie also töten, dachte Samut. Sie blickte sich um und sah, wie die anderen Eindringlinge sich der verbliebenen Verewigten entledigten. Diejenige mit den spitzen Ohren und den verstörenden grünen Augen – Nissa – half einigen der verletzten Krieger, Wunden und Schnitte zu versorgen.

Djeru stand auf und legte Gideon eine Hand auf die Schulter. „Das ist heute schon das zweite Mal, dass du mich gerettet hast. Beim ersten Mal war ich außer mir vor Wut. Jetzt bin ich dankbar.“

Gideon wollte etwas erwidern, doch Jace schnitt ihm das Wort ab. „Wir verschwenden hier Zeit und Kraft, Gideon. Bolas hat diesen Ort nach seinem Ebenbild erschaffen. Er ist hier im Vorteil. Wir müssen vorsichtig vorgehen. Und je länger wir zögern, desto mehr Zeit wird er haben, sich auf unser Kommen vorzubereiten.“

„Einverstanden“, sagte Liliana. „Ich bin sicher, er weiß bereits, dass wir hier sind.“ Samut fragte sich, warum das Kleid der Frau so vollkommen von Blut durchtränkt war und wie es ihr dennoch gelang, trotzdem elegant und selbstsicher zu wirken.

„Tragen wir den Kampf also zu ihm.“ Gideon ging los, doch Samut ergriff seine Hand.

„Ich sollte mit euch kommen“, sagte sie.

Gideon zögerte. „Das werden wir nicht tun, Samut“, mischte Djeru sich ein. „Wir ziehen uns zurück.“

Samuts Wut loderte auf. „Wie kannst du das sagen, Djeru? Wenn sie vorhaben, den Täuscher zu töten ... den, der für all das verantwortlich ist –“

„Dann werden wir sie unterstützen, indem wir ihnen nicht im Weg herumstehen.“

Samut schäumte, doch Djeru hob eine Hand.

„Du bist eine viel stärkere Kämpferin als ich, Samut.“ Djeru schüttelte den Kopf ob Samuts halb ausgesprochenem Einwand. „Andere betrachten uns vielleicht als ebenbürtig, aber wir beide kennen die Wahrheit. Es gibt nur eines, in dem ich besser bin als du: das Potenzial derer zu erkennen, die um mich herum sind.“

Samut dachte an Djerus Führung ihrer Saat zurück, an sein intuitives Wissen um die Fähigkeiten und Schwächen ihrer Mitglieder, und schwieg.

Djeru fuhr fort: „Eine weise Kriegerin sagte einst: ‚Die eigene Stärke zu kennen und die eigenen Wünsche dem Wohlergehen anderer zu opfern, ist nicht einfach.‘“

Samut verdrehte die Augen. „Glaube ja nicht, dass du mich mit Schmeicheleien umstimmen kannst, Bruder.“

„Die Eindringlinge müssen den Gott-Phara– den Täuscher niederstrecken.“ Djeru blickte zu den großen Hörnern in der Ferne und zu der zweiten Sonne, die auf ihrem Zenit zwischen ihnen ruhte. „Wir müssen unserem Weg folgen. Wir müssen die letzte Göttin Amonkhets finden und sie und die Bewohner dieser Stadt beschützen.“

Samut funkelte Djeru an und seufzte. Sie griff nach seiner Hand und zog ihn in ihre Umarmung. „Ich bin dankbar dafür, dass du wieder bei mir bist, Djeru.“

Sie schaute zu den Eindringlingen, den fünf Fremden, die seltsame Zeichen trugen und fremde Mächte beherrschten. Sie wusste nicht, ob sie an sie oder ihre Fähigkeit glaubte, den Täuscher zur Strecke bringen zu können. Sie blickten einem jeden von ihnen in die Augen, als sie sprach.

„Für das, was er meinem Volk, meinen Göttern, meiner Welt angetan hat – tötet ihn. Tötet den großen Zerstörer! Tötet den Drachentäuscher! Tötet Nicol Bolas!“


Samut war nicht an Heimlichkeit gewöhnt ... oder daran, anderen zu folgen.

Nachdem sie die Eindringlinge zurückgelassen hatten, damit diese ihre Schlacht gegen den Drachen planen konnten, hatten Samut, Djeru und ihre kleine Schar ein paar weitere Überlebende eingesammelt. Die umherziehenden Gruppen von Verewigten schienen sich auszudünnen – jedoch nur, weil die lebenden Bewohner der Stadt entweder tot oder entkommen waren oder sich gut genug versteckt hatten, um zu überleben. Die Straßen Naktamuns waren seltsam still. Nur hin und wieder schwirrten die Flügel von Heuschrecken oder die durch den Fluch des Umherirrens erweckten Leichen schlurften und stöhnten.

Vor Samut hatte ein junger Wesir Hazorets die Führung übernommen. Er hatte sich selbst als Haq vorgestellt und Samut und Djeru von dem Kampf zwischen Bontu und Hazoret erzählt, den er mit angesehen hatte – und von Bontus Verrat und der Grausamkeit des Gott-Pharaos. Der Wesir konnte kaum älter als vierzehn sein und hatte seine Stellung gewiss kaum länger als ein oder zwei Jahre inne, und dennoch sprach er mit einer Ruhe und Wortgewalt, die sein junges Alter Lügen straften.

„Nachdem Bontu gefallen war, erweckte die Skarabäen-Gottheit die Verewigten und griff die Stadt an“, hatte Haq gesagt. „Ich hatte von meinem Aussichtspunkt auf Hazorets Tempel aus genug Zeit, um die Flucht anzutreten, doch in dem darauffolgenden Aufruhr verlor ich Hazoret aus den Augen.“

Als Wesir Hazorets schlug sein Herz jedoch im Gleichtakt mit dem der Göttin, und er konnte ihre Gegenwart schwach spüren. Er war ihren Bewegungen gefolgt und hatte versucht, sie zu erreichen, als er von einer umherstreifenden Gruppe von Mumien in einem Lagerhaus in die Enge getrieben worden war. Er hatte sich in einem Fass mit gesalzenem Fisch verborgen, bis Samut vorbeigekommen war.

Jetzt führte der Junge die Gruppe an, und Samut folgte ihm dichtauf. Samut betete stumm, dass sie Hazoret rechtzeitig erreichten, und hielt dann inne. Es erschien ihr seltsam, zu der Gottheit zu beten, die sie zu retten versuchten.

Haq führte die Überlebenden einen Pfad am Fuße eines gewaltigen Monuments entlang und bog dann um eine Ecke. Als der Rest der Gruppe folgte, verschlug es ihnen allen den Atem.

Rhonas’ Körper lag reglos am Boden. Einige der Überlebenden fielen auf die Knie. Andere näherten sich langsam mit ausgestreckten Händen, als wollten sie verzweifelt die Wahrheit vor sich zerstreuen. Doch zitternde Finger trafen auf goldene Schuppen und göttliche Roben. Die Endgültigkeit seines Todes brach wie eine Woge über die Überlebenden herein. Tränen, wütende Rufe und stumme Umarmungen folgten. Djeru näherte sich dem Gott, kniete nieder und legte ihm eine Hand aufs Gesicht.

Erneut brodelte Zorn in Samuts Magen, und sie näherte sich dem gefallenen Leib Rhonas’. Sie kletterte auf seine Brust, während einige der anderen entsetzt den Atem anhielten, und richtete sich auf. „Brüder. Schwestern. Wir trauern. Doch wir werden fortbestehen. Wenn ihr glaubt, dass der Gott-Pharao euch prüft, dann kämpft mit mir, um euch selbst zu beweisen. Wenn ihr glaubt, dass er uns alle verraten hat, dann streitet gemeinsam mit mir für ein Morgen. Wir werden die Stärke verkörpern, die Rhonas uns durch seine Prüfung und seine Unterweisungen gelehrt und geschenkt hat.“

Die Überlebenden gaben Rufe von sich, um ihren Zusammenhalt auszudrücken, und ihre Gesichter wandelten sich von Trauer zu Zorn.

Plötzlich stand Djeru auf und heftete den Blick auf den Horizont. „Samut. Ich glaube, wir sollten eine Zuflucht suchen“, sagte er.

Samut folgte blinzelnd seinem Blick. Aus Richtung des Tores zum Jenseits fegte ein gewaltiger Sandsturm heran. In der Vergangenheit wäre ein solcher Sturm harmlos vom Hekma abgeprallt – doch nun, da die schützende Barriere zerstört war, näherten sich die heulenden Winde und der aufgewirbelte Sand mit bedrohlicher Geschwindigkeit: eine feste Wand aus Staub und Dunkelheit.

Samut rief die Überlebenden zusammen und wandte sich um, um sich auf den Weg, den sie gekommen waren, zurückzuziehen. Doch plötzlich griff Haq nach Samuts Hand und deutete vor sie, geradewegs in den Sturm. „Schwester. Hazoret kommt. Und sie ist nicht allein.“

Samut sah den Jungen an und zog dann ihre Chepeschs. „Krieger. Wappnet euch. Haltet euch bereit!“

Die Überlebenden zogen ihre Waffen und bedeckten Münder und Gesichter mit Tüchern. Einige duckten sich schutzsuchend hinter die Mauer des Monuments. Samut, Djeru und Haq blieben stehen und beugten sich vor, als der Sturm über sie hinwegfegte.

Der beißende Sand riss an ihrer Kleidung und ihrer Rüstung. Die drei nahmen die Arme vor die Augen und stemmten sich gegen die peitschenden Winde. Alles versank im Halbdunkel. Der Sand war dicht genug, um einen Großteil des Lichts der Zwillingssonnen zu verschlucken, und das Heulen des Windes übertönte alle anderen Geräusche.

Und dann sah Samut ihn: einen großen Schatten, der sich im Dämmerlicht näherte. Die Silhouette wuchs und nahm klarere Gestalt an. Gleich darauf erklang das Geräusch donnernder Schritte. Und dann brach Hazoret aus den Sandwolken hervor und erneut spürte Samut, wie ihr Herz angesichts der Göttin einen Satz machte.

Ihre Aufregung wurde jedoch sogleich gedämpft, als sie verstand, was sie da sah. Hazoret sah nicht gut aus. Sie hielt ihren Speer in einer Hand, während die andere seltsam schlaff an ihrer Seite herunterbaumelte. Schnitte und Wunden bedeckten ihren goldenen Körper, und der Atem der Göttin ging flach und angestrengt.

„Hazoret! Wir sind deinetwegen hier!“, rief Haq über den Sturm hinweg. Samut sah, wie Hazoret sich umdrehte und in ihre Richtung spähte, während ihr Gesichtsausdruck von Entschlossenheit zu Überraschung wechselte.

Lauft.

Der Befehl hallte machtvoll in Samuts Verstand wider, und sie taumelte mehrere Schritte zurück, ehe sie die Kontrolle über sich zurückerlangte. Hazoret hatte ihre Aufmerksamkeit bereits wieder auf etwas hinter sich gerichtet, und plötzlich erkannte Samut, dass die aufragende Düsternis, die sie für die letzten Ausläufer des Sturms gehalten hatte, in Wahrheit ein noch wesentlich größerer Schatten war.

Der Schwanz eines Skorpions stach durch den Sandschleier, und Hazoret parierte den Schlag und wich zur Seite aus, als die gewaltige Gestalt der Skorpion-Gottheit mit einem Mal in Sicht kam. Sie ist langsam, bemerkte Samut. Schwerfällig. Und kämpft mit einer Hand.

Doch trotz ihrer Verletzungen bewegte sich Hazoret kraftvoll und entschlossen. Die Skorpion-Gottheit drehte sich, um nach ihr zu greifen, doch Hazoret verschwand in einer Wolke aus Feuer und Sand. Die Mandibeln der Skorpion-Gottheit klackerten, und Samut schaute zu, wie sie herumfuhr und zurück in die Düsternis krabbelte, um Hazoret dank irgendeines fremden Instinkts zu folgen.

„Sie wirkt einen Zauber“, sagte Haq. Samut blickte zu einem Punkt am Boden, auf den Haq gedeutet hatte, und sah einen kleinen Ring aus Feuer flackern, der vom Wind angefacht wurde. In der Dunkelheit leuchteten weitere kleine Lichtpunkte auf, während sich das Geräusch titanischer Hiebe fortsetzte.

„Krieger! Zieht euch zurück!“, rief Djeru und wich vor dem flammenden Kreis zurück. Samut und Haq folgten, und die Überlebenden rannten hinter das Monument, an dem sie zuvor vorbeigekommen waren, in Deckung.

Die Luft knisterte vor Energie, und ein riesiger Schaft aus Feuer ragte schlagartig im Sturm empor – gierige Flammenzungen, die vom Wind genährt über den Sand leckten. Die Luft selbst schien zu brennen, als die kreisenden Flammen eine gewaltige, gewellte Säule bildeten, so hoch wie die höchsten Monumente Naktamuns. Die Hitze ließ die entblößte Haut der Überlebenden Blasen schlagen und schien den Sandsturm wegzubrennen, während der wirbelnde Feuerzauber alles in seinem Umkreis verschlang.

Samut hob eine Hand gegen die Hitze und lugte zu den Flammen. Vor dem rotgelben Leuchten zeichnete sich Hazorets Gestalt ab. Sie hielt ihren Speer in ihrer gesunden Hand und deutete damit auf das Inferno, während ihr Arm vor Anstrengung zitterte.

Augenblicke schleppten sich vorbei, und endlich ließ Hazoret den Arm sinken. Die Flammensäule brach in sich zusammen, als die Göttin auf die Knie sank und sich an ihrem Speer festhielt, um nicht ganz umzukippen.

„Sie ... Sie hat sie in der Flammenfalle gefangen“, flüsterte Haq. Und tatsächlich erkannte Samut, als die Feuer langsam verloschen, die Gestalt der Skorpion-Gottheit, die inmitten des Gleißens stand. Ihr Panzer glühte weiß.

„Sie kann unmöglich noch am Leben sein“, hauchte Djeru.

Doch die Skorpion-Gottheit machte einen stockenden Schritt auf Hazoret zu und streckte einen Arm aus. Dann noch einen Schritt. Und noch einen.

Und ihr Panzer kühlte sich von Weiß zu Orange ab und dann langsam zu verkohltem Schwarz. Dennoch näherte sie sich weiter und wurde mit jedem Schritt schneller und entschlossener.

Hazoret blickte auf und versuchte, sich aufzurichten, stolperte jedoch und fiel zurück auf die Knie.

Und die Skorpion-Gottheit rannte los.

Das Blitzen des Stachels. Das entsetzliche Geräusch durchstoßenen Fleisches.

Samut starrte wie gelähmt. Hazoret hatte ihren Körper herumgeworfen und blockte den Schlag der Skorpion-Gottheit mit ihrem tauben Arm. Die Skorpion-Gottheit zog den Stachel zurück, und Hazoret schrie vor Schmerz auf. Sie rollte rückwärts unter der zweiten Attacke der Skorpion-Gottheit weg. Samut sah entsetzt zu, wie grünes Sekret aufleuchtete und Hazorets Arm in Richtung ihres Oberkörpers und ihres Herzens hinaufkroch.

Hazorets Speer glühte vor Hitze.

Ein Schlag mit seiner Klinge.

Das Zischen von Fleisch.

Ein kleiner Blutnebel stob in die Luft, als die glühend heiße Klinge den Schnitt kauterisierte.

Hazoret duckte sich keuchend. Blut sickerte aus der Wunde, die ihr Leben gerettet hatte. Vor ihr wurde ihr abgetrennter Arm schwarz, als das Gift das Fleisch zersetzte.

Und wieder näherte sich die Skorpion-Gottheit.

Samut stieß einen wilden Schrei aus und sprintete vor. Schrecken und Zorn und Schmerz und Trauer verbanden sich zu unbändiger Kraft. Sie war sich vage bewusst, dass Haq und die anderen Magier hinter ihr Zauber vorbereiteten. Vor ihr ragte die unfassbar große Gestalt der Skorpion-Gottheit auf. Sie war winzig. Sie war nicht von Bedeutung.

Und es kümmerte sie nicht.

Samuts Instinkte übernahmen die Kontrolle, während sie magische Kraft in ihre Beine leitete. Sie sprang in die Luft und flog mit nach unten gerichteten Chepeschs über Hazoret hinweg auf die finstere Gottheit zu. Sie prallte gegen die Seite der Skorpion-Gottheit, und ihre Klingen durchbohrten ihre Panzerung und blieben dann stecken, sodass sie sich kurzzeitig daran festhalten konnte. Überraschung wurde zu Erkenntnis, als ihr klar wurde, dass die glühende Hitze von Hazorets Zauber die undurchdringliche Schale der Gottheit aufgeweicht haben musste.

Samut lachte – eine Mischung aus Kampfeswut und grenzenloser Freude. Sie gab ihren Klingen einen Stoß und einen Ruck und rutschte den Körper der Gottheit herunter, während die Schwerkraft ihr zusätzliche Geschwindigkeit verlieh. Sie schwang die Füße nach außen und ratschte über die Rippen der Gottheit zu deren Bauch hin. Die Klingen schnitten so scharf durch den erhitzten Panzer wie die Silhouette eines Ibis sich vor einem klaren, blauen Himmel abhob.

Die Skorpion-Gottheit brüllte auf und holte nach ihr aus: eine Insektengottheit, die versuchte, einen insektenartigen Menschen zu erschlagen. Samut jedoch löste ihre Klingen und sprang, nachdem sie sich von der Brust des Skorpions abgestoßen hatte, erneut in die Luft, um ihre Klingen in den Arm der Gottheit zu versenken. Sie schnitt eine dünne Linie durch ihren Panzer, bevor die Gottheit sie abschütteln konnte.

Ein Sandhaufen dämpfte Samuts Landung. Als sie leicht benebelt aufstand, näherte sich ihr ein Minotaurusmagier, dessen Hände vor Macht leuchteten. Er formte den Sand zu einer dichten Masse und drosch auf die Beine der Skorpion-Gottheit ein. Neben ihm schleuderten andere Magier Feuer und Blitze auf die Gottheit.

„Samut! Treibt sie in Richtung Fluss!“ Djerus Ruf erklang über dem Lärm, und Samut erblickte ihn, als er mit zwei anderen Kriegern in Richtung einer Reihe von Obelisken in der Ferne rannte.

Ein Grinsen breitete sich auf Samuts Gesicht aus, als sie Djerus Vorhaben begriff. „Zu mir!“, rief sie, und die verbliebenen Überlebenden stürmten vor, um ihr zu folgen.

Die Sterblichen kämpften gegen die geschwächte Gottheit und drangen mit Hieben und Zaubern auf sie ein. Ein Avior kreischte, als er aus der Luft gepflückt und im Griff der Gottheit zerdrückt wurde. Ein Krieger mit zwei Äxten verschwand unter ihren Füßen und wurde augenblicklich zertreten. Ein Giftstrahl aus dem Schwanz der Gottheit erwischte einige Magier unvorbereitet, und sie brachen in einer Pfütze aus Säure zusammen.

Doch die Sterblichen gewannen an Boden, und ihre Hiebe fügten dem geschmolzenen Panzer Delle um Delle zu. Es gelang ihnen, den Skorpion in Richtung der Ansammlung von Obelisken zu treiben. Er tobte vor Wut und schlug nach den Kämpfenden, die ihm mit Zaubern, Pfeilen und Speeren zusetzten. Hinter ihm stand Djeru mit einigen anderen bereit, hinter einem halb umgestürzten Obelisken versteckt. So nahe, dachte Samut und beobachtete den Kampf. Der Skorpion-Gottheit jedoch gelang es, gerade außerhalb der Reichweite von Djerus Falle die Stellung zu halten.

„Wir müssen sie zurücktreiben! Nur noch ein bisschen weiter!“, rief Samut.

Hinter sich hörte Samut eine laute, klare Stimme.

„Dunkle Gottheit! Für Rhonas! Ich werde dich zur Strecke bringen!“

Sie drehte sich um und der Anblick raubte ihr den Atem.

Eine einzelne Khenra stand dort und hob Rhonas’ Stab in die Luft, die Waffe magisch neu geschmiedet. Ihre Hände glühten vor goldener Macht – ein letzter Überrest der Kraft des Gottes, die durch ihren Körper pulsierte –, und sie rannte mit über dem Kopf erhobenen Stab vorwärts. Samut und die anderen Überlebenden sprangen aus dem Weg, um die Khenra passieren zu lassen. Mit einen lauten Brüllen holte die Khenra mit dem Stab nach der Skorpion-Gottheit aus.

Diese hob die Arme, um den Stoß abzuwehren, doch die Wucht des Aufpralls schleuderte sie zurück. Splitter ihres Panzers fielen von ihren Armen ab und zerbarsten.

In diesem Augenblick rannten Djeru und seine Gruppe los. Sie hatten ein Seil zwischen sich gespannt, das den Skorpion auf die Obelisken zustolpern ließ, deren Spitzen für die gewaltige Gottheit plötzlich zu einem Meer aus Dolchen wurden.

Doch Samut konnte sehen, in welchem Winkel der Skorpion fallen würde, und die Obelisken würden ihn nicht treffen.

Ohne ein Wort stürmte sie erneut vor und sprang von magischer Macht angetrieben auf die fallende Gottheit, um sie nach rechts zu schubsen, gerade genug, dass ein markerschütterndes Bersten über das Schlachtfeld hallte, als ein Obelisk die Brust der Skorpion-Gottheit durchbohrte.

Die versammelten Überlebenden brachen in wilden Jubel aus, doch Samut betrachtete die Gottheit weiterhin mit grimmigem Misstrauen. Diese zuckte und krallte sich matt an den Obelisken, der aus ihrer Brust ragte, hörte aber nicht auf, sich zu bewegen. Welche Macht auch immer sie belebte, sie zerrte noch immer an ihrem zerbrochenen Leib und befahl ihrem Schwanz, schwach um sich zu schlagen.

Ich danke euch, meine Kinder.

Hazoret humpelte auf die Skorpion-Gottheit zu. Sie nutzte ihren Stab als Gehstock, und der junge Haq ging an ihrer Seite. Die Überlebenden rannten geschlossen auf Hazoret zu, doch sie schüttelte den Kopf.

Ihr alle habt bereits mehr getan, als ich zu hoffen gewagt hatte. Mehr als jeder andere Sterbliche. Doch diese Aufgabe muss ich selbst zu Ende bringen.

Samut, Djeru und die anderen traten zurück, als sich Hazoret der Skorpion-Gottheit näherte, die noch immer schwach zuckte. Hazoret blickte auf die gewaltige Bestie herab, und Tränen glänzten auf ihrem Gesicht.

Du hast meine Brüder und Schwestern getötet. Doch ich weiß, dass es nicht deine Natur oder dein Wille war. Ruhe jetzt, Bruder. Mögen meine Feuer dich von dieser Gestalt und diesen dunklen Fesseln entbinden.

Und damit durchbohrte Hazoret die Skorpion-Gottheit mit ihrem zweigezackten Speer genau dort, wo der Obelisk aus ihrem Panzer ragte. Hitze strahlte von ihr ab, und schwarzer Rauch quoll aus der Skorpion-Gottheit, als sie von innen heraus verbrannte, bis ihr Panzer in sich zusammenfiel und sie zu Glut und Asche wurde.

Schließlich zog Hazoret ihren Speer zurück und stieß ihn in den Boden. Die Göttin blickte sich um, bis sie Samut entdeckte, und kniete sich dann vor die Sterbliche. Samut stand wie gelähmt da. Hazoret streckte eine gewaltige Hand aus, und Samut hob ihre eigenen Hände, um nach Hazorets Finger zu greifen und die Wärme und das heilende Glühen der Göttin vor ihr zu spüren.

In der Arena hast du mir gesagt, Samut, dass du glaubst, ich wäre nicht, was ich gezwungen bin zu sein – dass ich meine Kinder schützen würde, wenn sie mich am meisten brauchten.

Samut blickte ihrer Göttin in die Augen und lächelte. „Das hast du, Hazoret. Und dafür danke ich dir.“

Hazoret schüttelte den Kopf. Ohne dich hätte ich das niemals tun können. Ihr, meine geliebten Kinder, habt mich beschützt, als ich euch am meisten gebraucht habe.

Mein Herz gehört dir. Danke, Samut die Geprüfte. Du hast die Prüfungen durchschaut und die Dunkelheit dahinter besiegt.

Tränen unbändiger Freude rannen über Samuts Gesicht. Stolz, Kraft und grenzenlose Liebe für ihre Göttin durchströmten ihren Körper. Sie wusste, dass dieser Augenblick angesichts der überwältigenden Dunkelheit nur ein kleiner Triumph war, doch das flackernde Flämmchen der Hoffnung blieb lebendig – geborgen aus der Zerstörung und vor dem Sturm des großen Täuschers geschützt.

Euphorie löschte alles andere um sie herum aus.

Und in ihrer Seele knisterte eine mächtige Kraft und zündete einen Funken.

Ein Rausch aus Energie breitete sich in ihrem gesamten Körper aus, und sie spürte, wie ihre Muskeln sich zusammenzogen, als ihr Bewusstsein sich erweiterte: Sie fiel, fiel durch den Raum, durch blitzende Wogen aus Äther, bewegte sich unendlich schnell und stand doch still, während sie durch einen Riss in der Wirklichkeit selbst taumelte. Die Luft um sie herum war plötzlich von einer kühlen Brise erfüllt, und Samut fand sich inmitten seltsamer Gräser, die um ihre Beine wogten.

Samut blickte auf und verstand nicht ganz, was sie sah. Am Himmel gab es keine Sonnen: Tatsächlich schien die Welt in eine seltsame Dunkelheit getaucht, die von merkwürdigen Lichtpunkten unterbrochen war, welche wie ferne Edelsteine tanzten und schimmerten. Absonderlich gewundene Farbmuster tanzten über den Himmel, und einige der leuchtenden Nadelstiche schienen heller zu sein als andere. Samut rieb sich die Augen. Wenn sie lange genug hinsah, schienen sie eine Art Muster zu bilden, eine verbundene Lumineszenz, die eine fast vertraute Form annahm – einem Gedanken gleich, der gerade außerhalb der Reichweite ihrer Erinnerungen verharrte, oder wie die flüsternden Splitter einen vergessenen Traumes ...

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Bild von James Ryman

Samut löste den Blick von dem seltsamen Himmel und sah sich um. In der Ferne konnte sie die schwarzen Umrisse einiger Gebäude ausmachen, die von ihrer Anlage her klaren, starren Formen verpflichtet waren. Der Wind spielte weiterhin mit dem Gras zu ihren Füßen. Sein Pfeifen war beinahe melodiös, als er ihr über die Haut strich, und fremde Gerüche kitzelten sie in der Nase.

Eine tiefe Panik ergriff von ihr Besitz. Das ist nicht Naktamun. Das ist nicht Amonkhet. Das ist ... irgendeine andere Welt.

Sie dachte an die Eindringlinge, an ihre merkwürdigen Zauber und ungewöhnlichen Zeichen.

Ich ... Ich bin wie sie. Ich bin ein Wanderer zwischen den Welten.

Sie schüttelte den Kopf und schrie verdrossen auf. Sie musste zurück nach Hause. Sie musste Hazoret helfen, die noch immer schwer verwundet war; sie musste ihren Leuten entkommen helfen ...

Samut rannte los, nutzte Erinnerung und Instinkt und bündelte Magie, die noch neu und gefährlich war. Als die Muskeln in ihren Beinen brannten, spürte sie, wie dasselbe unbeschreibliche Gefühl von ihr Besitz ergriff. Plötzlich riss eine Macht sie aus der Wirklichkeit, ihre Magie verwob sich mit den Fasern ihrer Muskeln, ihr Körper diente einem Zauber als Gefäß, von dem sie nicht wusste, dass sie ihn wirken konnte. Wieder fiel sie durch blitzendes Blau und wirbelnde Farben, und während sie fiel, konnte sie vage die anderen Welten spüren, die an ihr vorbeirauschten, bis ihre Knie endlich in vertrautem, warmem Sand landeten und sie sich erneut in Hazorets Gegenwart wiederfand.

Um sie herum schauten die anderen Überlebenden sie entsetzt an, hatten sie doch gerade gesehen, wie ihre Auserwählte verschwunden und kaum dass jemand hätte darauf reagieren können, wieder aufgetaucht war.

Mein Kind.

Hazorets warme Stimme hallte in Samuts Kopf wider, und sie begann, sich aufzurappeln und zu antworten. Ihr Körper jedoch sackte zusammen, und sie fiel kraftlos zu Boden.

Hazoret fing Samut mit ihrer Hand auf und hielt sie sanft fest, während zwei andere Überlebende herbeieilten und sie sachte zu Boden betteten. Djeru kniete an Samuts Seite, und seine Stirn furchte sich vor Sorge.

Ein donnerndes Bersten und Wogen aus Macht lenkte die Aufmerksamkeit aller Anwesenden zum Himmel.

Der goldene Drache flog über die Stadt. Blitze zuckten zwischen seinen Klauen. Sein Blick fiel nach unten, und donnerndes Gelächter entrang sich seiner Kehle.

„Wahrscheinlich haben die Eindringlinge begonnen, sich dem großen Täuscher zu stellen.“ Djeru steckte sein Chepesch in die Scheide und stand auf.

Eine Khenrakriegerin ergriff das Wort. „Wir sollten ihnen helfen!“

Djeru schüttelte den Kopf. „Diesen Kampf können wir nicht gewinnen. Wir sind weit davon entfernt, bei Kräften zu sein.“

Die Khenra runzelte die Stirn. „Also tun wir nichts?“

Wir überdauern.

Die Überlebenden wandten sich zu Hazoret. Die Göttin hob ihren Speer auf und blickte zu Nicol Bolas.

Als wir noch acht Götter waren, stellten wir uns dem Drachen entgegen und unterlagen. Ich weiß nicht, ob diese Eindringlinge ihn aufhalten können. Ich bete, dass sie erfolgreich sein werden.

Sie wandte sich zurück zu den versammelten Überlebenden.

Doch nun müssen wir zunächst überdauern, ausharren und überleben. Wir werden in die Wüste gehen und Schutz zwischen den Dünen und Trugbildern suchen. Und solange ich als Göttin Amonkhets atme, werde ich euch beschützen.

„Und wir dich.“ Djeru kniete sich vor Hazoret nieder und schlug sich mit der Faust gegen die Brust. Einer nach dem anderen taten die anderen Überlebenden es ihm gleich.

Hazoret lächelte traurig und blickte zu Samut herunter. Ihre unerwartete Auserwählte, das Kind, das die Wahrheit gesehen und es gewagt hatte, den Göttern zu trotzen, weil es die Götter so leidenschaftlich liebte.

Und sie marschierte auf die Wüste in der Ferne zu, gefolgt von ihrem Volk, während der Drachentäuscher in den Ruinen Naktamuns auf seine unsichtbaren Widersacher herabstieß.


„... doch selbst, als der große Täuscher Vernichtung auf die Ruinen Naktamuns herabregnen ließ, bewahrte Hazoret, die Überlebende der Götter, die Mutter und Behüterin der Sterblichen Amonkhets, ihre Kinder vor dem sicheren Untergang. Und so war es und so soll es sein: Götter und Sterbliche auf einem gemeinsamen Marsch in eine unbekannte Zukunft.“

– Haqikah, Überlebender von Amonkhet


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Planeswalker-Profil: Samut
Weltenbeschreibung: Amonkhet