Nahiri musterte die aufsteigende Himmelsfeste, deren Trümmer gewaltig und ehrfurchtgebietend an ihr vorüberschwebten. Sie erinnerte sich an die Zeit, damals, als sie noch schön war.

Sie stand auf einem der zerklüfteten Felshänge Akoums, einem langen, vorspringenden, der Schwerkraft trotzenden Finger gleichenden Felsen. Zu ihren Füßen breitete sich ein Lavafluss aus und die heiße Luft war mit dem Geruch geschmolzenen Metalls durchtränkt. Festungen der alten Kor wie diese waren im Nachhall des Krieges gegen die Eldrazi überall auf Zendikar erschienen. Urplötzlich erhoben sich diese eindrucksvollen, zerfallenen Bauwerke erneut, nachdem sie für Jahrhunderte verschwollen gewesen waren und mit ihnen erhoben sich auch die Geheimnisse, die sie in ihrem Inneren verbargen.

“Gebirge"
Gebirge | Bild von: Chase Stone

Nahiri lächelte. Mithilfe dieser Geheimnisse würde sie die Welt verändern.

„Ich erinnere mich an dich“, sagte sie zu der vor ihr dahingleitenden Himmelsfeste, „und an all deine Macht.“

Nun galt es nur noch die einfache Aufgabe zu bewältigen, die Ruinen zu erreichen. Nahiri hob ihre Arme, begierig darauf, mit dem Steinschmieden zu beginnen. Begierig zu klettern.

Sie war jedoch zu sehr damit beschäftigt, hinaufzublicken – vorwärts zu blicken – um zu bemerken, was unten geschah. Törichterweise hatte sie angenommen, dass der Sieg über die Eldrazi auch das Chaos Zendikars hatte zur Ruhe kommen lassen.

Und so sah sie nicht, wie die Turbulenz begann.

Anfangs war sie nichts weiter als Bläschen im Lavafluss. Wie ein erwachendes Ungeheuer regte sie sich erst zaghaft, um sich bald darauf zu ihrer ganzen, unverhohlenen Größe aufzurichten. Was als leises Murmeln begann, schwoll bald zu einem ohrenbetäubenden Tosen an, als die Turbulenz den Boden erbeben ließ, an den schlanken Felsnadeln hinaufkletterte und die Luft so dick mit Asche und Hitze erfüllte, dass Nahiri der Atem wegblieb. Dann war da ein markerschütterndes Knacken und plötzlich begann die steinige Kante unter ihr zu bröckeln.

Sie fiel.

„Nein“, zischte sie im Hinabtaumeln. „NEIN!“ Sie war die Meisterin der Lithomagie, die Wächterin dieser Welt und sie würde ganz sicher nicht durch ein banales Erdbeben umkommen. Mit einer geschmeidigen Bewegung bog sich Nahiri in der Luft und streckte ihre Arme aus, um den Stein zu rufen, der eine Erweiterung ihrer selbst war.

Und der Stein antwortete. Ihr freier Fall wurde mitten in der Luft abgefangen. Sie schwebte. Sie wandte sich dem wirren Wirbel aus Magma und Felsen unter sich zu und zwang den Elementen ihren Willen auf. Ihren Willen – nicht den der Turbulenz. Sie sammelte die Macht, die rohe Energie um sich herum und nutze sie, um zu erschaffen. Einem Tanz gleich zwirbelte sie Lavaströme, lose Felsen und schiefliegende Polyeder mit ihrer Lithomagie in Form. Nach ein paar Umdrehungen ihrer Handgelenke begann sich eine Säule hinauf zu winden. Nahiri schwebte darauf und ließ sich von der Säule nach oben tragen, als diese in die Luft schoss – höher und höher, bis die Turbulenz bebend zum Halten kam.

Erst dann ließ sich Nahiri, auf ihrer Schöpfung thronend, wieder hinabgleiten – noch näher zu der Himmelsfeste hin. Sie grinste den trügerischen Boden unter sich an.

„Ich habe gewonnen“, sagte sie und versuchte, Zufriedenheit über ihren Sieg zu empfinden. Doch es war ein bitterer Triumph. Die Turbulenz war das Symptom der tiefsitzenden Krankheit Zendikars – Eine Krankheit, die Nahiri unabsichtlich zu verbreiten geholfen hatte.

Und in letzter Zeit nagten die Schuldgefühle ob ihres Versagens an ihr.

Der Fels hatte ihr stets verraten, wenn ein anderer Planeswalker in der Nähe war, doch Nahiri drehte sich nicht um, als sie ihn seine Warnung summen hörte. Da war jemand hinter ihr auf dieser Säule am Himmel.

„Akoum ist so wunderschön. . .und unberechenbar wie eh und je“, sagte Nissa, während sie, ihren Stab in der Hand, neben Nahiri trat und auf den Lavafluss hinabblickte.

„Nichts, womit ich nicht fertig werde“, erwiderte Nahiri. Sie war nicht sicher, ob das der Wahrheit entsprach, aber sie hatte nicht vor, das zuzugeben.

„Das ist es nicht. Ich. . .dieser Ort. . .“, stammelte Nissa. Nahiri hob eine Augenbraue, während die zierliche Elfe um Worte rang. Nissa holte tief Luft und sagte: „Was ich meine ist ... ich bin mit der Turbulenz aufgewachsen. Sie ist nichts, was sich zähmen lässt."

„Dann kennst du mich nicht“, sagte Nahiri mit einem Anflug von Verärgerung.

Nissa hob beschwichtigend die Hand. „Ich wollte dich nicht verärgern. Ich habe dich während des Kampfes gegen Nicol Bolas gesehen. Wie du den Stein befehligt hast. Das war beeindruckend.“

„Du warst dort?“, fragte Nahiri und rang um ein Kompliment. „Oh ja, der Baum. Ich erinnere mich.“ Nissa errötete peinlich berührt. Diese Begegnung war für den uralten Baum von Ravnica nicht gut ausgegangen.

Nahiri richtete ihren Blick erneut nach oben auf die Himmelsfeste. „Es gibt Kämpfe, die ich lieber niemals wieder austragen wollen würde."

„Ja“, sagte Nissa, „und einige Schlachten werden besser niemals überhaupt geschlagen." Ruhig musterte sie das sich endlos und aufgewühlt unter ihnen ausbreitende Akoum, aber ihre Stimme bebte vor Gefühl. „Warum hast du mich gebeten herzukommen, Nahiri?"

„Als ich jung war, war dieses Land friedlich. Es gab nichts von all dem." Nahiri deutete zum Boden und kräuselte abschätzig die Nase. Tief unter ihnen stiegen erneut Bläschen aus der Lava auf und kündigten ein weiteres Erdbeben an. „Die Eldrazi haben dieser Welt unaussprechlich viel Leid zugefügt."

Erneut wallten Schuldgefühle in Nahri auf. Sie hätte niemals auf Ugin und Sorin hören sollen. Sie hätte eine andere Welt finden sollen, um die Eldrazi einzusperren – damals, vor mehr als einem Jahrtausend.

„Ja“, sagte Nissa. „Ich spüre Zendikars Schmerz. Er verfolgt mich.“ Sie starrte auf irgendetwas weit in der Ferne Liegendes, aber ihr Gesicht war voller Trauer.

„Ich weiß vielleicht eine Lösung“, erwiderte Nahiri und nickte in Richtung der Himmelsfeste. „Etwas, das Zendikar heilen kann.“

Nissa blinzelte. „Ach, wirklich?“, entfuhr es ihr überrascht, und sie fügte steif hinzu: „Tut mir leid ... ich meine, du bist nicht gerade für deine Heilkünste bekannt. Nach dem, was du auf Innistrad getan hast. . .

Nahiri hob eine Augenbraue. „Sagt diejenige, die die Eldrazi freigelassen hat.“

„Ich habe nicht–“,

stammelte die Elfe, doch Nahiri hob eine Hand.

„Wir beide haben Dinge getan, die großes Leid verursacht haben. Versuchen wir, einiges davon wiedergutzumachen."

Nissa errötete und nickte. „Warum jetzt? Ich meine, du bist alt genug. . .

dich zu erinnern, wie die Himmelsfesten erbaut wurden, dachte Nahiri.

Nahiri zögerte. „Ganz egal, wie weit ich gereist bin“, erwiderte sie schließlich, „oder wie lange ich gelebt habe ... dieser Ort fühlt sich stets. . .fühlt sich. . .

„nach Heimat an“, sagte Nissa leise.

Nahiris Lippe zuckte nach oben. „Ganz genau.“ Sie deutete auf die Himmelsfeste vor ihnen. „Unsere Antworten finden wir dort oben.“ Sie lächelte verschmitzt. „Sollen wir um die Wette laufen? Die beste Zendikari gewinnt.“

Nissa antwortete nicht. Ein diebisches Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, sie streckte die Hände aus und ließ lange, dicke Ranken nach oben schnellen. Die Dornen schossen, beinahe schneller als das Auge sehen konnte, auf die Himmelsfeste zu.

Jedoch nicht schneller als Nahiri.

Mit einer flirrenden Bewegung setzte sie ihre Lithomagie ein, um eine Treppe entstehen zu lassen, auf der sie fast so geschwind, wie sie sie erschaffen hatte, nach oben rannte und dabei irre grinste. Sie warf einen Blick zurück auf Nissa, die Mühe hatte, Schritt zu halten und langsam zurückfiel und lachte. Pflanzen konnten an diesem Ort aus Stein nicht mithalten.

Nahiri machte nicht oft Fehler und wenn, dann wiederholte sie sie nicht. Der Vorteil jahrtausendlanger Erfahrung. Aber die Turbulenz ... die verdammte Turbulenz. . .

Erneut begann der Boden zu beben, und die Schwingungen verstärkten sich, wurden lauter und stärker … und in Nahiris Treppe bildeten sich unter ihren Füßen Risse. Sie rannte schneller, aber sie war nicht schnell genug. Die Treppe zerbarst und plötzlich fiel Nahiri wieder.

Sie griff nach dem Stein und bereitete sich vor, der Turbulenz erneut Einhalt zu gebieten, als sich etwas um ihren Oberkörper schlang und ihren Sturz aufhielt.

„Hab ich dich“, murmelte Nissa. Sie streckte eine Hand aus und hielt mit der anderen fest ihren Stab umgriffen. Nahiri blickte hinab und sah, dass sie von einer Pflanze gerettet worden war.

Stumm brodelte es in ihr, als Nissas Ranke sie hochhob und vorsichtig auf einer behelfsmäßigen Leiter aus Gestrüpp absetzte.

„Danke“, sagte sie und wich Nissas Blick aus.

„Sollen wir es noch mal versuchen?“, fragte Nissa nervös und blickte auf ihre Hände. „Die beste Zendikari gewinnt?"

„Nein. Gehen wir einfach“, sagte Nahiri mit kaum verhohlenem Ärger in der Stimme.

Sie kletterten schweigend, und Nahiri schluckte ihre mit jedem Schritt stärker werdenden Schuldgefühle herunter.

Sie hatte ihre Heimat zu lange vernachlässigt.

Nissa of Shadowed Boughs
Nissa of Shadowed Boughs | Bild von: Yongjae Choi

Das Erste, was Nissa dachte, als sie endlich die Himmelsfeste erreichten, war: oh ... Selbst verfallen, vernachlässigt und seit Jahrhunderten verborgen wohnte der fliegenden Festung noch immer eine atemberaubende Schönheit inne. Um sie herum erstreckten sich hohe Säulen und Bogengänge, teilweise erhaltene Dächer mit kunstvoll geschnitzten Mustern, ausschweifend geflieste Böden, deren Mosaike Bilder ergaben. Natürlich gab es schwebende Felsen, verwittertes Mauerwerk und in Trümmern liegende Bauwerke, doch Nissa war gewiss, dass dieser Ort einst ein Leuchtfeuer einer Zivilisation gewesen sein musste.

Das Zweite, was Nissa dachte: es wird Jahre dauern, hier etwas zu finden. Jetzt, da sie es hierher geschafft hatten, wurde ihr erst bewusst, wie gewaltig die Himmelsfeste war. Zwar standen sie in einer Art altem Hof, aber Nissa konnte Dutzende Bogengänge und Eingänge erkennen, die ins Innere der Festung führten.

„Hier müssen Tausende von Menschen gelebt haben“, sagte Nissa.

„Zehntausende“, sagte Nahiri und trat neben sie.

Nissa zögerte, besorgt, dass die Frage, die sie stellen wollte, Nahiri verärgern würde ... dass sie jede Hoffnung auf Freundschaft mit der selbstsicheren, alten Kor zunichte machen würde. Nicht, dass Nissa sonderlich gut darin war, Freundschaften zu schließen. Es schien, je mehr sie versuchte, sich jemandem zu nähern, desto größer wurde das Unheil, das sie anrichtete. Sie wünschte, sie wäre mehr wie Gideon mit seiner gelassenen Zuversicht und seinem stets gleichbleibenden Charme.

Also, was würde Gideon tun? , dachte sie. Fang an, dich mehr wie er zu verhalten, wenn du mehr wie er–.

Mehr wie er sein willst. Und plötzlich brandete eine neue Welle der Trauer über seinen Tod über sie hinweg.

Gideon würde nicht zögern.

Also holte Nissa tief Luft und fragte: „Nahiri, wie sollen wir das, wonach wir suchen, an diesem gewaltigen Ort finden?“

Nahiris Lippen kräuselten sich belustigt. „Wir fangen an, uns umzusehen.“ Sie begann vorauszugehen und hüpfte behände über Stellen, an denen der Boden geborsten war oder an denen einfach ein Riss zum Himmel klaffte.

„Und wonach genau suchen wir?“, fragte Nissa und folgte ihr eilig.

Nahiri zögerte. „Das weiß ich, wenn ich es sehe."

Nissas Herz wurde schwer. „Du weißt es nicht?"

Nahiri öffnete den Mund, um zu antworten, aber die verdammte Turbulenz wollte einfach keine Ruhe geben.

Erneut wurde die Himmelsfeste von Wellen von Erschütterungen erfasst. Nissa trat rasch zurück, als die uralten Steine um sie herum sich zu verlagern und zu bersten begannen. Sie griff nach ihrem Stab, bereit ein Netz aus Ranken zu erschaffen.

Doch Nahiri war schneller.

Sie breitete ihre Hände aus und hielt die Festung mit, wie es schein, purer Willenskraft zusammen – Nissa wusste jedoch, dass auch ein wenig Lithomagie im Spiel war.

Als das Grollen endlich verstummte, runzelte Nahiri die Stirn, als würde die Turbulenz sie persönlich angreifen.

„Ich weiß nicht genau, wonach wir suchen“, sagte sie mit vor Ärger triefender Stimme und stapfte voran. „Die alten Kor waren nicht unbedingt deskriptiv in ihren Texten“. Inmitten eines weitläufigen Mosaiks im Zentrum des Hofes hielt sie plötzlich inne. Sie hockte sich hin und legte eine Hand auf den Boden. „Die Steine werden mehr wissen.“ Nahiri schloss die Augen und Nissa wartete, unsicher, was sie tun sollte. Von ihrem Standpunkt aus konnte sie nicht ausmachen, was das Bild aus Fliesen darstellen sollte.

Jace würde es wissen, dachte sie und verscheuchte den Gedanken kurz darauf wieder. Sie wollte nicht an Jace denken – oder an den Kampf gegen Nicol Bolas und den Preis, den Ravnica zahlen musste oder die zerrütteten Wächter oder Gideons Tod oder Chandra.

Besonders nicht an Chandra.

Nach einigen Augenblicken öffnete Nahiri die Augen und stand auf. „Alle guten Dinge sind im Herzen verborgen“, sagte sie grinsend. Sie deutete auf einen besonders dunklen und unerbittlich wirkenden Bogengang. „Das sieht nach einem vielversprechenden Anfang aus. Gehen wir.“

„Woher wissen wir, ob wir auf dem richtigen Weg sind?" Jetzt, da sich Nahiri aus dem Zentrum wegbewegt hatte, konnte Nissa erkennen, dass das Mosaik eine Sonne zeigte, deren Strahlen in alle Richtungen auseinanderstrebten. Oder so etwas wie eine Sonne.

Nahiri war bereits weit vor ihr, aber sie rief ihr zu: „Wenn etwas versucht, uns am Vorbeikommen zu hindern.“

Nissa hielt inne. Plötzlich schlug ihr Herz vor unerwarteter Panik schneller. Plötzlich erschien ihr diese Expedition wie eine wirklich schlechte Idee. Was, wenn ihre Versuche, Nahiri zu helfen, nur dazu führten, dass Zendikar erneut leiden musste? Wie so viele ihrer Fehler in der Vergangenheit? Erneut folgte sie jemand anderem. Wann würde sich das ändern?

Was würde Gideon tun?

„Er würde helfen, wo auch immer er könnte“, flüsterte Nissa zu sich, „aber er würde Nahiri nicht blindlings folgen.“

Zendikar war ihre Heimat. Nicht Ravnica oder eine andere Welt. Sie gehörte hierher. Sie war die Stimme ihrer Seele. Sie war dafür verantwortlich, sich um diese Welt und alle lebenden Wesen auf ihr zu kümmern.

Also holte Nissa tief und entschlossen Luft, umfasste ihren Stab fester und folgte Nahiri.


Von außen wirkte die alte Himmelsfeste flach und weitläufig – wie ein steinernes, am Himmel schwebendes Archipel. Von innen betrachtet erschien sie drohend und bodenlos. Nahiris Hand glitt stetig über die Wand, während sich der Durchgang tiefer und tiefer hinab wand, manchmal zu Stufen wurde und manchmal den Blick auf andere Durchgänge voller ungeahnter Geheimnisse freigab.

Doch Nahiri fiel nicht den Verlockungen der Himmelsfeste anheim. Die Steine unter ihrer Hand flüsterten von einer großen Macht in der Tiefe und Nahiri würde es sein, die sie fand und für sich beanspruchte. Hinter ihr bewegte sich Nissa beinahe lautlos– wie das Kind des Waldes, das sie war. Gelegentlich stieß ihr Stab gegen einen Stein oder sie schnappte kaum hörbar nach Luft, wenn ein verirrter Lichtstrahl seinen Weg durch einen Riss fand und ihre Umgebung erleuchtete.

Sie stiegen immer weiter hinab bis sie zu den Haupthallen der alten Kor gelangten, in denen diese sich zu Tausenden versammelt hatten, um ihren Reichtum und ihre Kunstfertigkeit zur Schau zu stellen. Und die Hallen spiegelten das wieder. Buchstäblich. Als die Fliesen die Sonnenstrahlen, die sich hineingestohlen hatten, fingen, funkelten sie wie seltene Edelsteine. Die Decke war atemberaubend hoch und die Verzierungen an den Säulen fliligran und detailreich.

Ja, es war wunderschön, gestand Nahiri sich ein. Doch ebenso war dies eine schmerzhafte Erinnerung an all das, was diese Welt verloren hatte. Besonders, da die Turbulenz die uralte Festung unaufhörlich erbeben ließ, während sie tiefer in ihr Inneres vordrangen – eine stetige, nagende Mahnung, dass Nahiri, die Wächterin Zendikars, versagt hatte, ihre Heimat zu beschützen.

Also schenkte Nahiri der Großen Halle oder den wunderschönen Verzierungen nur wenig Beachtung. Sie ging einfach immer weiter und schaute unaufhörlich voraus.

Der Gang endete abrupt vor einem Paar gewaltiger, eingestürzter Türen.

„Sieht nach einer Sackgasse aus“, sagte Nissa im Herangehen und legte eine Hand an die Tür.

„Für dich vielleicht“, entgegnete Nahiri und nahm eine sichere Stellung ein. „Tritt zurück.“

Mit einer machtvollen Bewegung ließ Nahiri ihre Hände mit einem Klapp zusammenfahren und die gewaltigen Türen barsten auseinander, bevor sie gegen die steinernen Wände rechts und links von ihnen donnerten.

„Gehen wir“, sagte Nahiri und schritt auf die Schwelle zu. Unruhe zerrte an an ihr und besorgtes Flüstern folgte ihr aus den Steinen. Hinter der Schwelle befand sich tiefe Dunkelheit, voll des Unbekannten.

Aber Nahiri würde sich nicht aufhalten lassen. Nicht jetzt.

„Warte“, rief Nissa hinter ihr, „da ist ein–“

Etwas Schnelles und Hartes rammte Nahiri und presste sie gegen die Wand. Sie stöhnte und befahl der Steinwand hinter ihr, zurückzuschlagen.

Diese folgte dem Befehl mit einer scharfkantigen Säule, die auf das, was auch immer sie festhielt, einschlug und es dazu brachte, laut zu knurren und loszulassen. Nahiri rollte sich zur Seite und sprang mit einer einzigen, flüssigen Bewegung auf die Füße. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und bleckte die Zähne. Jetzt war sie wütend.

Gedankenlos beschwor Nahiri sieben Schwerter, die Hitze ausstrahlten und glühten, als seien sie gerade aus dem Schmiedefeuer gezogen worden. Sie schwebten um sie herum und verliehen ihr einen unwirklichen Heiligenschein, während sie gleichzeitig ihren Angreifer beleuchteten.

Vor ihr befand sich, hechelnd und wütend, der größte Felidar, den sie je gesehen hatte.

Sein haarloser Körper war von messerscharfen Hervorstülpungen bedeckt und sein gewaltiges Geweih thronte über seinem Kopf. Seine Klauen klickten, als er sich dichter an sie heranpirschte; seine gewaltigen Lefzen waren in Erwartung eines saftigen Mahls mit Speichel bedeckt.

„Das wagst du nicht!“, knurrte Nahiri und ließ alle sieben Schwerter ins Herz der Kreatur fahren. Der Felidar taumelte zurück, aber es gelang ihm mithilfe seiner Klauen und den panzerartigen Hervorstülpungen das Schlimmste des Angriffs abzuwehren.

Er schnaubte und holte mit beängstigender Geschwindigkeit und weit aufgerissenem Maul nach Nahiri aus.

Bevor er jedoch auf sie prallte, wurde er mitten im Sprung aufgehalten. Nahiri brauchte einen Augenblick, um zu erkennen, dass Nissa zwischen ihr und der verderbten Bestie stand und sie mit mehr Kraft, als sie für möglich gehalten hatte, zurückschubste.

„Du kommst nicht vorbei“, knurrte Nissa, während sich Dornen um den Felidar zu wickeln begannen. Das Untier schüttelte sich und holte sich aufbäumend mit seinem gewaltigen Pranken aus. Eine erwischte Nissas Schulter und schleuderte sie mit einem Schrei und einem dumpfen Aufprall durch die Luft.

Doch Nissa hatte Nahiri gerade genug Zeit verschafft, Ketten aus Stein zu erschaffen und sie sich um den wütenden, abgelenkten Felidar winden zu lassen. Mit einem Aufschrei riss Nahiri ihren Arm zurück und die Steinketten schnappten zu und drückten das Untier zu Boden,

„Friss das“, grollte Nahiri, als sie sich herunterbeugte und ihre Finger spreizte. Hinter ihr erschienen erneut sieben leuchtende Schwerter. Mit einem Grinsen und einen Fingerschnippen rammte Nahiri alle sieben Schwerter in den Felidar und achtete dieses Mal darauf, ihn an seinen verwundbaren Stellen zu treffen.

Die Kreatur kreischte einmal auf – ein langes und entsetzliches Aufheulen – und erschlaffte dann.

Nahiri ging zu Nissa herüber, die sich gerade aufrappelte, und bot ihr eine Hand an, um ihr aufzuhelfen.

„Es war fast so, als hätte der Felidar auf uns gewartet“, sagte Nissa und rieb sich die Schulter.

„Das hat er vermutlich auch“, sagte Nahiri, während sie ein weiteres leuchtendes Schwert als Lichtquelle erschuf. „Er hat irgendetwas bewacht.“ Sie grinste und sandte das Schwert in den dunklen Gang vor ihnen. „Finden wir heraus, was.“


Je weiter sie in die Himmelsfeste vordrangen, desto weniger wollte das unbehagliche Gefühl, auf dem falschen Weg zu sein, von Nissa weichen. Trotz Nahiris Beteuerungen war sie noch immer unsicher. Sie konnte die Lebenskraft der Welt unter sich summen hören. Auch sie klang unsicher. Oder vielleicht lag es nur an ihr?

Immerhin stießen sie unterwegs nicht auf weitere hungrige Felidare.

Der dunkle Gang, dem sie folgten, wand sich tiefer und tiefer. Die Turbulenz blieb ihnen auf den Fersen und flammte ab und an auf.

Bis sie es nicht mehr tat.

Die Himmelsfeste öffnete sich zu einer kavernengleichen Kammer. Hier gab es lange, dünne, goldgeflieste Bogengänge, die als sich kreuzende, einem Spinnennetz gleich verwobene Laufwege dienten. Der Abgrund unter den Laufwegen ließ keinen sichtbaren Boden erkennen, obgleich es hier und da verirrten Lichtstrahlen gelang, sich in spitzen Winkeln hineinzustehlen. Die Luft roch staubig und schal, doch zu Nissas Erleichterung fanden sich in einigen Nischen Moos und Farne.

Nissa lächelte, als sie sich einer Gruppe Farne näherte, die in einem seltsamen Klumpen an der Seite wuchsen. Dies war das Zendikar, das sie kannte und liebte, selbst hier in dieser seltsamen, toten Kor-Feste.

Nahiri jedoch runzelte sie Stirn, unsicher, wohin sie sich wenden sollten. Denn, wie Nissa erkannte, gab es nicht länger einen geraden Weg voran. Nahiri ging in die Hocke, schloss die Augen und legte eine Hand auf den Boden. So verharrte sie einen langen Augenblick.

Endlich blickte sie finster drein. „Die Steine verraten mir nicht, welchen Weg wir gehen sollen.“

„Warum nicht?“, fragte Nissa. Sie hätte nicht gedacht, dass die Steine Nahiri irgendetwas verwehren konnten.

Sie zuckte mit den Schultern. „Wir sind jetzt ganz in der Nähe. Wir können uns ebenso gut einen zufälligen Weg aussuchen.“

Nissa zögerte. Das fühlte sich ganz sicher nicht nach der richtigen Lösung an.

Was würde Gideon tun?

„Nein“, sagte Nissa leise.

„Was?“ Nahiri drehte sich mit überraschten Gesichtsausdruck zu ihr um.

„Warte–“,

Nissa hockte sich neben einen der Farne. Seine Blätter waren ebenso groß wie sie, aber seine Blüten waren winzig, zierlich und blau.

„Wie ist es möglich, dass hier Pflanzen gedeihen?“, fragte Nahiri und trat hinter sie.

Nissa lächelte. „Du wärst überrascht, wie viele Dinge auf dieser Welt an solch ungewöhnlichen Orten wie diesem gedeihen.“

„Wie–“

Nahiri hub wieder zu sprechen an, aber Nissa beachtete sie nicht. Sie legte eine Hand auf die Spitze des Farns – wie die Hand eines Elternteils auf den Kopf eines Kindes. Sie schloss die Augen und spürte sein Leben unter ihren Fingerspitzen, spürte seine Anstrengungen und seinen Stolz, an einem solch unwirtlichen Ort überlebt zu haben. Nissa lächelte über diesen Stolz und diese Stärke. Und sie rief nach ihm.

Sie hörte, wie Nahiri nach Luft schnappte, als das Elementar zum Leben erwachte. Es war groß, fast zweimal so groß wie sie, so grün und lebendig wie seine Lebenskraft. Sein Kopf bestand aus einem Wirrwarr aus Farnwedeln mit blauen Ketten kleiner Blüten, die seine Arme und seinen Hals umrankten.

„Was ist das?“, sagte Nahiri und machte einen Schritt zurück.

„Ein Freund“, sagte Nissa, während das Elementar sich hinkniete und so beinahe auf Augenhöhe mit ihr war. Sie hatte nicht die Absicht zu erklären, dass dies die ersten Kreaturen gewesen waren, die sie so angenommen hatten, wie sie war – bevor sie zur Planeswalkerin wurde, bevor sie sich den Wächtern angeschlossen hatte.

Sie griff nach der sechsfingrigen Hand des Elementars, sah seine Liebe für sie in seinen Augen, und zum ersten Mal seit Langem fühlte sie sich, als gehöre sie an einen Ort.

„Wir müssen das Herz der Himmelsfeste finden“, sagte Nissa zu dem Elementar. „Kannst du uns helfen?"

Das Elementar blinzelte langsam, richtete sich ächzend zu seiner vollen, überragenden Größe auf und begann, Nissa an der Hand zu führen.

„Gehen wir!“, rief Nissa über ihre Schulter. Sie erhaschte einen Blick auf Nahiri, die sie mit offenem Mund anstarrte, und musste ein Lachen unterdrücken.

Das Farn-Elementar führte sie durch ein Labyrinth aus Laufwegen und hielt nur dann inne, wenn sich die Turbulenz aufbäumte und Nahiri ihre Kräfte einsetzen musste, um die Gänge am Einstürzen zu hindern. Es zögerte jedoch nie lange – als würde irgendetwas in diesem Relikt einer Festung es zu sich rufen.

Schließlich erreichten sie einen Vorsprung, eine kleine Plattform mit einer schmalen Brücke, die zu einem dunklen Eingang führte. Nissa schickte sich an, sie zu überqueren, doch Nahiri griff nach ihrem Ärmel.

„Warte“, zische sie und deutete auf etwas. „Sieh nur!“

Nissas Blick folgte Nahiris Finger nach oben zur Decke und einem gigantischen, von einer unsichtbaren Macht gehaltenen Geoped. Er wand seinen langen Panzer in seinen unsichtbaren Fesseln und gewährte den Planeswalkern unter ihm einen ungetrübten Blick auf hunderte seiner zappelnden Beinchen.

Nissa erschauderte. Geopeden erinnerten sie zu sehr an Schlangen. Eine Schlange mit kleinen Schlangenbeinchen. „Irgendeine Idee, wodurch die Falle ausgelöst wird?"

„Nein“, sagte Nahiri, „schick das Farnding zuerst hinüber.“

„Nenn es nicht so“, erwiderte Nissa knapp. Warum wollte niemand verstehen, dass Elementare lebende, empfindsame Wesen waren? Das sie nicht nur Werkzeuge waren, die man herbeirufen, benutzen und dann sterben lassen konnte? Nein, Nissa würde es nicht wissentlich in seinen Tod schicken. Sie wandte sich zu dem Elementar. „Kannst du das entschärfen?“, fragte sie und nickte in Richtung der Falle.

Das Elementar blickte zweifelnd drein. Seine riesigen brauen Augen wanderten zwischen ihr und der sich windenden Kreatur über ihnen hin und her.

„Ich werde nicht zulassen, dass es dir etwas antut.“ Nissa hob die Hand und sandte Ranken aus, um ein behelfsmäßiges Netz unter dem Geopeden zu erschaffen. Vorsichtig streckte das Elementar seine gewaltigen, blättrigen Hände aus und stupste den Geopeden einmal vorsichtig an. Die Kreatur fauchte und wand sich.

Einen Augenblick lang hielt die unsichtbare Falle.

Und dann nicht mehr. Die mächtige Kreatur stürzte herab.

Sobald sie jedoch in Nissas Netz fiel, schloss Nissa ihre Faust und die Ranken schnappten um das Ungeheuer zu. Sie zog ihren Arm zurück und die Ranken rissen den Geopeden in die Tiefe, wo er am Boden aufprallte. Das Ungeheuer kreischte und zuckte. Dann erschlaffte es.

Nissa grinste. Nimm das, Nicht-Schlange.

Sie hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass Nahiri es nochmals mit einer Steinfaust zerschmettern würde. Nissa und das Elementar sprangen überrascht zurück.

„Was?“, fragte Nahiri grinsend. „Dies ist Zendikar. Alles, was hier geboren wurde, lässt sich nur schwer töten.“

Einen Augenblick lang war Nissa versucht zu streiten. Sie kam nicht umhin, an ihr erstes Zuhause in Bala Ged zu denken und wie einfach ein Großteil ihres Stammes und all dessen, was sie kannte, von den Eldrazi ausgelöscht worden war.

Dann wurde ihr klar, dann Nahiri über sie sprach – die beiden Planeswalker Zendikars.

Nissa lächelte. Vielleicht würden sie diese Welt heilen. Gemeinsam. „Das ist wahr. Gehen wir und schnappen uns das Herz dieser Himmelsfeste.“


Inscription of Insight
Inscription of Insight | Bild von: Zoltan Boros

Das Herz der Himmelsfeste strahlte. Jede Oberfläche, jedes Fleckchen der Steinmauern, Böden und Decken war mit uralten Runen übersät. Die Runen leuchteten in einem goldenen Licht, das mit ihren Schritten pulsierte, als die beiden Planeswalker den Raum betraten. Nissas Farn-Elementar – oder, soweit es Nahiri betraf, das Farn-Ungetüm – folgte hinter ihnen.

Aber es waren nicht die Runen, die Nahiri interessierten. Es war ein Podium, genau in der Mitte des Raumes – das Herz des Herzens. Und in dessen Mitte befand sich eine kleine Fliese, die wie ein Stern funkelte.

„Was ist das?“, fragte Nissa neben ihr.

Nahiri lächelte. Das war vielversprechend. Äußerst vielversprechend. Und es erfüllte sie mit mehr Hoffnung, als sie seit langem verspürt hatte. „Ein Schlüssel“, erwiderte sie.

„Ein Schlüssel wozu?“

„Um die wahre Macht zu entfesseln, nach der wir suchen.“

Nissa runzelte die Stirn. „Ich dachte, du sagtest, wir finden hier etwas, um Zendikar zu heilen.“

„Ich sagte, dass die alten Kor-Texte nicht immer ganz eindeutig waren“, setzte Nahiri barsch an, „aber dass der Gegenstand, den wir suchen, sowohl mächtig als auch gefährlich ist. Es ist. . .eine Kugel. Ihr Name bedeutet, grob übersetzt, Lithoform-Kern. Und sie ist die letzte ihrer Art.“

Das Farn-Elementar trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen, und Nissa blickte misstrauisch drein. „Woher weißt du das?“, fragte sie.

„Das steht da“, sagte Nahiri und trat auf das Podium zu. Die Runen blitzten heller, emsiger auf, als sie immer näher kam – als würden sie sie zu sich rufen. „In den Texten um uns herum.“

Nissa folgte ihr langsam. „Du kannst die Runen lesen?“

„Natürlich“, entgegnete Nahiri. „Ich bin eine alte Kor.“

„Oh. Richtig.“ Nissa errötete und blieb mit ihrem Farn-Ding zurück, während Nahiri sich dem Podium näherte. Sie hörte, wie Nissa dem Elementar zuflüsterte: „Bleib dich bei mir.“

Am Fuße des Podiums blitzten die Runen um Nahiri einmal auf und verdunkelten sich dann. Vor ihr leuchtete hell der Schlüssel – beinahe einladend. Aber noch griff sie nicht danach. Stattdessen legte sie ihre Hand auf den kühlen Marmor zu jeder Seite des Schlüssels und lauschte den Steinen, spürte ihre Macht, suchte nach Fallen.

Sie fand keine.

Nahiri griff langsam, vorsichtig, nach dem Schlüssel und hob ihn auf.

Er erstrahlte heller in ihrer Hand und grüßte sie wie eine schmerzlich vermisste Freundin.

„Nun, da wir jetzt den Schlüssel haben“, sagte Nissa, „müssen wir wohl das Schloss finden.“

„Ja“, sagte Nahiri, den Kopf gedankenverloren zur Seite geneigt. „Dir Runen sagen Murasa. In einer Himmelsfeste dort.“

„Es ist niemals einfach, oder?“, sagte Nissa seufzend. „Was sagen deine Runen außerdem noch?“

„Ein wenig der Kraft des Kerns befindet sich in diesem Raum“, sagte Nahiri. „Und auch hier.“ Sie hielt den Schlüssel hoch. „Ich–“

Sie hielt inne. Erneut spürte sie das Grollen der Turbulenz. Sie war aufmerksam gewesen, hatte die Erde gespürt, obgleich sie sich meilenweit über ihr befand. Sie lernte, das unvorhersehbare Aufwallen vorauszuahnen.

Nahiri knirschte mit den Zähnen. Die Turbulenz. Die verdammte Turbulenz.

Nissas Gesichtsausdruck verriet, dass auch sie es spürte. „Zeig es mir“, sagte Nissa.

Also sprach Nahiri die Worte, die uralte Sprache, die sie seit Jahrhunderten nicht mehr verwendet hatte. Sie spürte, wie sich die Macht unter ihren Füßen wand, spürte, wie sie sich erhob und ihrem Ruf folgte. Dann entfesselte sie die gerade erhaltene Macht über die wankende und bebende Erde.

Ein Blitz zuckte in dem Raum auf, und Nahiri hielt sich die Hand vor die Augen. Tief unten hörte sie, wie die Turbulenz zauderte, und dann … einem Ungeheuer gleich, dessen Herz durchbohrt worden war, erschauderte sie und verstummte gänzlich. Über sich hörte sie knirschende Geräusche und spürte, wie die Himmelsfeste sich wieder zusammensetzte – wenn auch nicht vollständig. Den Runen hatte nicht so viel Macht innegewohnt. Aber dennoch – diese uralte und verwüstete Festung heilte sich selbst.

Ein Glücksgefühl wallte in Nahiri auf und sie drückte den Schlüssel fest an ihre Brust. Sie hatte sie gefunden. Sie hatte eine Möglichkeit gefunden, Zendikar zu heilen.

Dann hörte sie hinter sich das Farn-Ding schreien.


„Nein!“, rief Nissa. Sie spürte den Schmerz des Elementars, bevor sie begriff, was geschah. Bevor sie sah, wie seine grünen Gliedmaßen sich krümmten und verwelkten. Bevor sie hörte, wie es einen markerschütternden Schrei ausstieß. Bevor sie sah, wie seine hellen Augen erloschen und zu Asche zerfielen.

Nissa griff mit ihrer Macht, mit ihren Händen nach ihm, versuchte, das Elementar vor dem Tod zu bewahren, doch es hatte keinen Sinn. Alles, was übrig blieb, war eine Faustvoll Asche. „Was hast du getan?“, schrie Nissa Nahiri an.

„Was?“, fragte Nahiri und drehte sich um. Nissa sah, dass sie ihren Schlüssel an die Brust drücke und lächelte, als hätte sie gerade einen Kampf gewonnen. „Es hat die Turbulenz aufgehalten.“

„Du hast das Elementar ermordet!“

„Deine Pflanze?“

Meine Familie. Nissa sprach es nicht aus. Einen Teiul von Zendikar. Denn die Elementare waren Zendikar, und wenn das Bezwingen der Turbulenz mithilfe des Kerns ihren Tod bedeutete, dann schwebte Zendikar in tödlicher Gefahr. Nissa starrte auf die Asche in ihren Händen und spürte, wie Trauer und Wut in ihr aufwallten. Über diesen Fehler.

Über all ihre Fehler.

Was würde Gideon tun?

„Er würde nicht zulassen, dass das geschieht“, flüsterte Nissa zu sich selbst, während sie sich aufrichtete und die Schultern straffte.

„Was?“, fragte Nahiri verwirrt.

„Ist dies deine Lösung?“, fragte Nissa. Sie schrie nicht mehr, aber in ihrer Stimme schwang eine stille Wut mit, die Nahiri innehalten ließ.

„Sieh dich nur um – diese Himmelsfeste wird geheilt. Die Turbulenz unter uns ist verstummt, und das Land beruhigt sich. Die Leute können hier wieder etwas aufbauen!“, sagte Nahiri und deutete auf die sich zusammensetzende Festung.

„Zu Lasten von ZendikarsLeben“, gab Nissa zurück. Sie streckte ihr Bewusstsein nach den Pflanzen und dem Moos aus, das in den Winkeln und Ritzen der Himmelsfeste wuchs, aber sie erhielt keine Antwort. Jetzt war Nissa gewiss, dass alles, das einst in diesen Ruinen gelebt hatte, tot war.

„Du weißt nicht, wie Zendikar war“, sagte Nahiri mit vor Ärger verzerrter Stimme. „Du weißt nicht, wie atemberaubend und hell seine Bewohner und seine Städte einst waren.“

„Und du weißt nicht, wie Zendikar jetzt ist. Es ist noch immer wunderschön. Nahiri–“ Nissa streckte die Hand aus. „Gib mir den Schlüssel.“

Nahiri regte sich nicht. Stattdessen streckte sie den Unterkiefer vor, stellte sich aufrecht hin und breitete die Arme aus.

Nissa dachte nicht nach, sie handelte einfach. Um Haaresbreite wich sie den Säulen aus, die plötzlich aus dem Boden geschossen kamen. Sie dachte nicht nach, als sie ein Gewirr aus Ranken entfesselte, um die steinernen Schwerter abzuwehren, die auf sie zugeflogen kamen. Sie dachte nicht nach, als sie den Ranken befahl, sich um Nahiris Knöchel zu winden und sie zu Boden zu reißen.

Mit einem Stöhnen und einem Fluch stürzte Nahiri. Doch bevor Nissa erneut angreifen konnte, ließ die andere Planeswalkerin eine Mauer aus Stein zwischen ihnen entstehen, die Nissa – trotz der baumstammdicken, peitschenden Dornen, die sie herbeirief – nicht durchdringen konnte. Immer und immer wieder schlugen ihre Dornen gegen den Stein.

Nach ein paar Augenblicken verwandelte sich die Mauer zwischen ihnen in Glas und gab den Blick auf eine zerschundene und vor Wut schäumende Nahiri frei.

„Ich kann nicht untätig dastehen und zusehen, wie diese Welt sich in Stücke reißt!“, rief Nahiri. „Ich bin die Wächterin von Zendikar!“

Nissa blickte die andere Planeswalkerin an und ihr wurde klar, dass sie eine Närrin war, gehofft zu haben, dass dieses uralte, ungerührte Wesen ihr bei der Heilung ihrer Heimat helfen würde. „Ebenso wie ich.“

Was würde Gideon tun?

Er würde sich Hilfe holen.

Also verließ Nissa diese Welt.


Jace, Mirror Mage
Jace, Mirror Mage | Bild von: Tyler Jacobson

Ravnica, die Welt der Städte. Oder vielmehr einer einzigen, weltumspannenden Stadt. Nissa konnte ihre Schönheit erkennen: anmutige, schwebende Türme und marmorgepflasterte Straßen und Herbstbäume vor einem grauen Himmel. Sie konnte die Schönheit bewundern und sich dennoch der vom Krieg verwüsteten Straßen erinnern.

Sich noch immer erinnern, wie der Geist von Vitu-Ghazi fiel.

Es würde am besten sein, wenn sie nicht erkannt würde, beschloss sie, also verweilte sie nicht allzu lange auf den Straßen, bevor sie Jaces Zuhause erreichte.

Sie wurde in Jaces inneres Refugium geführt – mit nichts mehr als einer höflichen Verbeugung und einem finsteren Blick der Wache an der Tür. Sie verdiente wohl den Zorn der Einwohner Ravnicas, schätze sie. Er traf sie dennoch.

Vielleicht hatte Chandra recht. Vielleicht war sie ein wandelndes Unglück.

Nissa wollte nicht an Chandra denken. Besonders jetzt nicht, da sie die Hilfe von Jace und der anderen brauchte.

Das Innere des Refugiums quoll schier über von Büchern und Schriftrollen und magische Objekte, für die sie keinen Namen hatte, waren überall in dem gewaltigen Raum verstreut. Aus hohen, bogenförmigen Fenstern strömte Licht herein, aber es gab noch immer dunkle Winkel. Nissa brauchte einen Augenblick, um Jace zu finden, der – auf einer an die hinterste Wand gelehnten Leiter kauernd – ein Buch aus dem obersten Regal las.

„Bin gleich da!“, rief er.

Nissa wusste, dass Jace mit „gleich“ alles – ein paar Augenblicke bis zu ein paar Stunden – meinen konnte. Aber sie war zu nervös, um ihn zu unterbrechen, also wartete sie.

„Nissa!“, sagte Jace, als er sie endlich erblickte. „Warum hast du nicht ... ich meine, ich dachte, du würdest nicht, ich meine, warum–“ Er hielt inne, rutschte die Leiter herunter und kam auf sie zu. „Ich meine ... ich bin froh zu sehen, dass es dir gut geht.“ Er streckte die Hand aus und erinnerte sich im letzten Augenblick, dass sie es nicht mochte, berührt zu werden. Er zog seine Hand zurück und schenkte ihr stattdessen ein warmes Lächeln.

Dies traf Nissa völlig unvorbereitet. Sie dachte, er würde zornig auf sie sein. Wie der Rest von Ravnica. Erleichterung, dass er es nicht war, dass er sich freute, sie zu sehen, brandete über sie hinweg, während er sie zum Tisch führte.

„Komm, setz dich“, sagte Jace. „Was kann ich für dich tun?“

Nissa war nicht sicher, wo sie anfangen sollte, also sprach sie es einfach aus. „Zendikar ist in Gefahr.“

„Die Eldrazi?“, Fragte Jace beunruhigt.

„Nein, nein“, sagte Nissa rasch. „Nichts dergleichen. Es ist Nahiri.“

„Nahiri“, sagte Jace und zog die Augenbrauen zusammen. „Die andere Wächterin über Zendikar?“

„Ja“, sagte Nissa. Plötzlich war sie sehr erschöpft. Sie war nicht sicher, wie sie Jace all das erklären sollte – Jace, der nie eine Verbindung zu einer Lebenskraft verspürt hatte. „Sie versucht, die Welt zu heilen.“

„Ja, du hattest erwähnt, dass sie dich sehen wollte. Aber ich verstehe nicht. Ist das nicht das, was du willst?“

„Ja, aber da ist diese uralte ‚Kugel‘–“

„Elfisch oder Kor?“

„Kor. Aber–“

Jace bewegte sich bereits zwischen den Regalen hin und her. „Ich glaube, ich habe eine Schriftrolle darüber–“

„Jace! Hör zu“, sagte Nissa schärfer als sie beabsichtigt hatte. „Bitte.“

Jace hielt inne und wirkte überrascht, aber er setzte sich wieder und nickte. Nissa verspürte ein klein wenig Stolz ob dieses Sieges. Jace hörte nie auf sie. Vielleicht half ja letztendlich doch, Gideon nachzueifern.

Nissa berichtete, was in der Himmelsfeste über Akoum vorgefallen war, was Nahiri ihr über den Lithoform-Kern erzählt hatte, und was sie dem Farn-Elementar angetan hatte. Jace hörte schweigend und aufmerksam zu. Sie musste innehalten und ein paar Mal Atem holen, als sie den Tod des Elementars beschrieb.

„Ich weiß, dass du keine Verbindung zu Elementaren hast“, sagte sie, „aber mir bedeuten sie etwas. Nicht, dass mir die Wächter nicht auch. . .“ Sie konnte Jace nicht in die Augen sehen, während sie das sagte.

„Nein, ich verstehe Elementare nicht vollständig“, sagte Jace, „aber ich weiß, wie wichtig sie dir sind. Wie können wir helfen?“

Nissa atmete erleichtert aus. Eine Woge der Dankbarkeit, dass sie – trotzdem sie immer und immer wieder mögliche Freundschaften und Beziehungen ruinierte – noch immer auf Jace und die anderen zählen konnte, brandete über sie hinweg.

„Nun ja, ich muss Nahiri dazu bringen, den Lithoform-Kern zu zerstören, wenn sie ihn findet. Und ich weiß nicht, wie ich sie davon überzeugen kann, das zu tun ...“ Nissas Schultern bebten leicht. „Ich vermisse Gideon. Er würde wissen, wie man vernünftig mit einer uralten und wütenden Steinschmiedin reden könnte.“

Jaces Gesicht war ein komplexes Wirrwarr aus Emotionen. „Er fehlt mir ebenfalls.“

„Was soll ich tun, Jace? Ich glaube nicht, dass ich stark genug bin, allein gegen Nahiri zu kämpfen, wenn es dazu kommt.“

Jace legte die Fingerspitzen zusammen. „Wenn wir den Lithoform-Kern hierher bringen–“

„Nein!“, sagte Nissa und sprang halb aus ihrem Stuhl auf. Jace starrte sie verblüfft an, und, wenn sie ehrlich war, war Nissa selbst von dem Nachdruck in ihrer Stimme überrascht. „Du hast nicht gesehen, welchen Schaden er anrichtet, Jace.“

„Ja, aber wenn wir ihn studieren könnten ...“, sagte Jace und bewegte sie wieder auf seine Regale zu.

„Und woran würdest du ihn ausprobieren?“, fragte Nissa mit wachsendem Unbehagen. Sie verlor ihn.

„Ich vermute, der Lithoform-Kern kanalisiert Zendikars Kraft–“

„Jace!“

„Dann kann seine Macht formbar werden–“

„So einfach ist das nicht.“

„Vielleicht hängt es davon ab, wer ihn verwendet?“ Jace zog eine Schriftrolle aus einem der Regale. „Dies sollte–“

„Du hörst nicht zu!“, rief Nissa und sandte eine Ranke aus, um Jace die Schriftrolle aus der Hand zu reißen. Überrascht machte er einen Schritt zurück.

Nissa konnte spüren, wie ihr Gesicht vor Zorn glühte und wie ihr Herz gegen ihre Brust hämmerte. Das war alles ganz falsch. Sie hatte die Wächter verloren und sie würde die Elementare Zendikars verlieren. Ihre Familien.

Was würde Gideon tun?

„Was denkst du, Nissa?“, fragte Jace, der vor ihr stand und versuchte, ihr in die Augen zu sehen.

Was würde Gideon tun?

Gideon würde sich den Augenblick zunutze machen.

„Ich werde nicht meine beiden Familien verlieren“, sagte Nissa. Ihr Gesichtsausdruck verwandelte sich in etwas, das stärker war als Entschlossenheit. „Ich werde mein Zuhause beschützen. Mit oder ohne die Hilfe der Wächter.“

„Warte–“,

hub Jace an, aber Nissa wartete nicht. Sie hatte lange genug gewartet. Mit einem Atemzug, einer Bewegung einem Gedanken wanderte Nissa zurück nach Zendikar.

Dem einzigen Ort, an den sie jemals gehört hatte.


Jace stand in seinem nun leeren Refugium und plante.

Er hätte besser zuhören sollen. Er hätte Nissa überzeugen sollen zu bleiben, sich den Wächtern wieder anzuschließen. Schuldgefühle wegen der Geheimnisse, die er über Nicol Bolas für sich behielt, nagten an ihm. Er war der Einzige, der die Wahrheit kannte.

Dass der uralte, entsetzliche Drache noch immer am Leben war.

Und jeden Tag, an dem Jace dieses Geheimnis hütete, enthielt er seinen Freunden die Wahrheit vor.

Aber es konnte es wieder gutmachen. Das würde er.

Er sinnierte über das, was Nissa über den Kern gesagt hatte, und fragte sich, ob er irgendwie mit der Turbulenz in Verbindung stand. Und wenn ja – was konnte Nahiri mit dieser Macht anfangen? Was könnten die Wächter tun?

Sehr viel, erkannte Jace.

Also plante er – in dem Wissen, dass er bald auf Zendikar sein würde.