Stenzen schlummert tief und fest. Den Schlaf der Ungestörten, den Schlaf der Unbeschwerten, den Schlaf der gänzlich Unbekümmerten – den schlafen die Vampire in ihren Türmen. Sie brauchen eigentlich keinen Schlaf, wohl aber die Bauern – und damit entwickelt die Angelegenheit beinahe den Reiz des Neuen. Wäre es nicht entzückend, wenn wir – jetzt, auf dem Höhepunkt unserer Macht – schliefen?

Es dauert nicht lange. Eine Stunde, vielleicht zwei. Ein Nickerchen. Ein Scherz, eine Geste, eine flüchtige Faszination.

Doch es ist die beste Stunde, die die Menschen Stenzens seit Wochen erlebt hatten. Da der Mond nun hoch am Himmel steht, sehnen sich ihre Leiber nach Ruhe, nur für einen Augenblick – doch diese ist nirgends zu finden.

Denn wenn die Vampire von ihrer kleinen Pläsir erwachen, werden sie zweifellos hungrig sein. Und wenn sie hungern, jagen sie, und wenn sie jagen, sterben Menschen.

Bild von: Lucas Graciano

Grigori presst das Messer an das Handgelenk seiner Mutter. Sie bewegt sich nicht, rührt sich nicht, sie schläft zu tief – und das schon seit geraumer Zeit. Zwei Nächte (das genaue Zählen ist nun schwierig geworden) nach dem Erntezeitfest-Massaker war seine Mutter einfacheingeschlafen. Ließ sich nicht wecken. Er hatte sie davor gesehen: Voller Hoffnung hatte sie ihre Abbilder geschnitzt, um sie in den Straßen zu verbrennen. Er hatte sie danach gesehen, als der Mond nicht untergehen wollte: die Haut voller Wunden und irgendetwas in ihr zerbrochen.

„Innistrad wird überdauern“, hatte sie zu ihm gesagt. Ein weiteres Gebet, das zu hören die Engel sich nicht herabgelassen hatten.

Und so sieht er sie nun Wochen später – sie schläft noch immer. Ihre Haut ist blass und ihre Gestalt schmal. Ihre Brust hebt und senkt sich. Seine Mutter.

Ihr Blut tropft in eine kleine Glasschale. Es ist wahrscheinlich mehr wert als alles, was er je in seinem Leben in Händen hielt – vielleicht mehr als alles zusammen, was er je berührt hat –, doch es gehört nicht ihm.

Der Erlass, der draußen über der Tür hängt, ist diesbezüglich sehr eindeutig.

Segen und gute Wünsche dem Leser, denn siehe, der Tag der ausgelassensten Freuden naht.

Begierig erwarten wir Ihren Zehnten: eine Schale Blut von jedem Einwohner, einmal jede Nacht bis zu Beginn der Feierlichkeiten. Wir sind sogar so großzügig, Ihnen die nötigen Schalen zur Verfügung zu stellen. Bedenken Sie, dass die Gefäße verzaubert sind, weswegen wir es erfahren, sollten Sie – undankbare Bestie, die Sie sind – sie zerschlagen. Unsere Abgesandten werden Sie zwecks der Abholung aufsuchen. Begehen Sie nicht den Fehler, ihnen gegenüber rüde aufzutreten. Sie kennen, wie ich annehme, die Folgen solch törichter Handlungen.

Wir hoffen, dass Sie dies guter Dinge erreicht hat. Ist dem nicht der Fall, so seien Sie versichert, dass Ihr Blut uns ungeachtet Ihres Zustands nützen wird. Sie sind nicht abgabebefreit.

Ihre ewige Lehnsherrin

Olivia Voldaren, unangefochtene Fürstin Innistrads

Er sieht zu, wie das Blut seiner Mutter in die Schale tropft, und fragt sich beiläufig, was sie wohl von einer solchen Verlautbarung gehalten hätte. Ob sie sie verbrannt hätte, genau wie er es in Betracht gezogen hatte, sie zu verbrennen. Ob sie gemeinsam an einen anderen Ort, ganz gleich welchen, geflohen wären.

Stenzen.

Einst hatte er diesen Ort geliebt: seine Türme, seine weltliche Atmosphäre, seine Bräuche. Natürlich gab es überall auf Innistrad Bräuche, doch nur in Stenzen fühlte es sich so an, als erfüllten sie einen Zweck. In Kessig vermutete man nur, von Werwölfen umzingelt zu sein. Hier indes war die Gegenwart der Vampire so natürlich wie die Gegenwart der Pest.

Doch wie sollte man einer Pest Herr werden, die sich so verändert hatte?

Einige der Dorfbewohner hatten in den nahen Schlössern eine Arbeit aufgenommen. Wenn man für sie arbeitet, so sagt man, ist man sicher.

Doch manchmal stirbt man da draußen bei der Arbeit in den Schlössern, und was soll dann aus der Familie werden?

Und nun der Zehnt. Die Leute hier glaubten einst, sie wären in Sicherheit – doch selbst jene, die es auf sich nahmen, in den Palästen der Verdammten zu arbeiten, müssen ihr Blut hergeben.

Nichts fühlt sich mehr richtig an.

Grigori hebt die Schale mit dem Blut seiner Mutter auf. Er küsst ihr die Stirn. Mit einer Fingerspitze wischt er den Rand des Gefäßes ab, damit nichts auf den Boden tropft, als er es nach draußen trägt. Überall, wohin sein Blick fällt, ist Tod und Leere. Noch vor Wochen hatten seine Freunde Kerzen entzündet und vor ihren Haustüren Lieder gesungen. Noch vor Wochen brannten in jedem Fenster Abbilder. Noch vor Wochen hatte er keinen Schritt nach draußen tun können, ohne ein halbes Dutzend seiner Freunde zu sehen, wie sie grinsend, trunken und Arm in Arm auf den Straßen tanzten, die entlangzugehen zu furchteinflößend war.

Doch nun sind die Straßen leer. Alle sind zu beschäftigt mit der Arbeit – und die, die es nicht sind, sind schnell einmal tot. Es war nicht auf einmal geschehen, wie ein Massaker, doch geschehen war es dennoch. Dieser Tage sind die einzigen Leute, die ihm auf der Straße begegnen, keine Leute.

Wer hatte weggehen können, hatte genau das getan, obwohl er nicht zu sagen vermochte, wohin. Die Dinge in Stenzen hatten sich gewiss zum Schlechteren gewendet – aber das gilt für überall. Den wenigen Neuigkeiten nach, die er hat erhaschen können, ist es nirgends mehr sicher. In dieser ewigwährenden Nacht müssen sie niemals ruhen. Wo kann man sich vor dem Mond verstecken?

Das lebensspendende Silber des Mondes ist nun nur mehr eine andere Art von Leichenblässe, die auf der Welt liegt.

Grigori stellt die Schale neben ihrer Zwillingsschwester ab – die, die er vor einer Stunde gefüllt hat. Erschöpft – vom Verlust von Blut und vom Verlust von Hoffnung – hockt er sich hin und starrt zum Mond hinauf.

Schwarze Fledermäuse huschen vor dem Silber vorbei, ein Schwarm, so dicht wie Krähen auf einer Leiche. Und wie Krähen haben sie etwas zum Davontragen gefunden: reich verzierte Umschläge, deren Schwarz von Rot und Weiß durchbrochen ist. Er sieht sie, als sie vorbeiflattern.

Einige trennen sich von den anderen. Zwei halten geradewegs auf ihn zu und landen dann vor den Schalen. Sie nehmen sie in ihre kleinen Mäulchen, gefüllt mit seinem Blut und dem seiner Mutter, und einen Augenblick ist Grigori versucht, sie zu töten. Es wäre sicherlich ein Leichtes, ihnen das Genick zu brechen.

Doch bei Tag (kann man es noch Tag nennen?) würden sie ihn holen kommen, ihn und seine Mutter, und nichts würde sich ändern, außer dass sie beide tot wären.

Innistrad würde fortbestehen, sterbend und doch nicht sterbend.

Die Fledermäuse brechen auf.

Grigori sieht zu, wie sie davonfliegen.

Er geht zurück ins Haus, um sich um seine Mutter zu kümmern.

Er kann nur hoffen, dass auch sie tief und fest schläft.


Bild von: Ilse Gort

Adeline hat in ihrem Leben Dunkelheit erfahren. Sie kennt das Böse. Jeder Atemzug, den sie seit dem zarten Alter von zwölf Jahren, als sie Kirche sie aufnahm, tat, diente dazu, jene niederzuzwingen, die sich Menschen zur Beute machen.

Es ist nicht immer einfach gewesen.

Doch es ist einfacher gewesen als dies.

Als sie das Schwert in das Herz des Vampirs stößt, verspürt sie nur einen winzigen Hauch von Triumph: Wenigstens wird er niemanden mehr töten. Bald darauf folgt Scham dem Gedanken. Die Arbeit, die sie hier verrichtet, ist nötig – nötiger als je zuvor –, doch Adeline hat Hunger. Und ihre hungrige Arbeit hat an irgendetwas in ihr gezehrt.

Doch dies ist nicht das Gesicht, das sie den anderen zeigen kann. Sie erwarten die unbeugsame Heldin, die Ritterin auf dem weißen Pferd, das Leuchtfeuer der Gerechtigkeit in einer Welt, die die Bedeutung dieses Wortes längst vergessen hat. Sie suchen nach einem Licht.

Doch das tut auch Adeline.

Das Licht findet sie, kaum dass der Vampir den Boden berührt und Chandras Flammen seinen Leib vollständig verschlingen. In dem orangefarbenen Leuchten findet Adelines Blick den ihrer Gefährtin.

Adeline kann für alle anderen eine tapfere Miene aufsetzen – doch gerade kann nur Chandra sie sehen.

Sie lässt die Schultern sinken. Sie lässt die Erschöpfung ihren Blick erreichen. Im Dunkel der Nacht sind Chandras Flammen heller als der Mond.

Die Pyromagierin fragt nicht, ob es Adeline gut geht. Sie beide wissen, dass das eine sinnlose Frage wäre. Stattdessen drückt sie Adelines Schulter.

„Weißt du, ich habe etwas Wein in einem dieser alten Häuser gefunden“, sagt sie. „Ich glaube, wir haben uns eine kleine Belohnung verdient.“

Trotz allem, was geschehen ist, klingt Chandras Stimme noch immer schelmisch. Dieser Tage etwas gedämpfter, aber hörbar. Adeline lässt sich einen kurzen Moment davon leiten.

„Es wird bis nach der Besprechung warten müssen“, sagt sie, „aber dann komme ich gern darauf zurück.“

Die Überreste des Vampirs verbrennen vor ihren Augen, und der Gestank kochenden Fleisches kriecht ihnen in die Nasenlöcher hinein. Adeline steckt ihr Schwert weg und dreht sich in den Wind. Überall um sie herum kämpft ihre bunt zusammengewürfelte Gruppe. Einige machen es wie sie und nutzen Waffen, um den letzten verbliebenen Ghulen und sonstigen Dienern dieses alten Blutsaugers die Stirn zu bieten. Einige helfen durch Zuwendung: Die Hexe Deidama zählt zu denen, die sich um die Kranken und die Verwundeten kümmern – jene, die bereits zu viel gesehen und zu viel erduldet haben. Magie kann nicht all ihr Leid lindern.

Doch es ist richtig, es zu versuchen.

Dies ist bereits der fünfte Gegenangriff diese Woche. Ein kleiner Junge hatte von jenen gehört, die sich der endlosen Nacht entgegenstellen. Als die Vampire über das Dorf Karo herfielen, war er zu ihnen gerannt. Die Steine auf dem Weg hatten ihm die Füße wund gerissen. Arlinn war die Erste gewesen, die er gefunden hatte – und Arlinn ist es, die sich jetzt um ihn kümmert und ihm eine Geschichte erzählt, während eine der Hexen seine Wunden versorgt. Die Blutflecken, die nun auf Arlinns Lederrüstung trocknen, passen auf eine sonderbare Art zu dem Eintopf, den sie dem Jungen in eine Schale füllt.

Als sich Adeline und Chandra nähern, wirft Arlinn einen flüchtigen Blick in ihre Richtung. Sie nickt dem Jungen zu und schenkt ihm ein herzliches Lächeln, ehe sie auf sie zukommt. An ihrer Seite: Teferi, Kaya, Deidama, einige der anderen Hexen und Monsterjäger. Ihre Gruppe ist nicht groß, vielleicht zwei oder drei Dutzend zum Schutz der Menschheit, doch sie sind grimmige Waffengeschwister. Der Rest – zweihundert – ist im Wald geblieben. Die Leute brauchten einen Ort, an den sie gehen konnten, nachdem ihr Zuhause verwüstet worden war.

„Wie ist es gelaufen?“, fragt Arlinn.

„Die Unholde sind vernichtet“, sagt Chandra.

Adeline nickt. Sie ist froh darüber, dass Chandra die Nachricht auf so heitere Art und Weise überbringt. „Es wird Zeit brauchen, das Dorf wieder aufzubauen, aber es wird sicher sein. Zumindest für heute Nacht.“

„Gut gemacht“, sagt Arlinn. „Wir werden für sie tun, was wir können. Das Gute an Kessigern ist, dass sie ein Haus an einem Tag bauen können. In ein oder zwei Wochen wird genug Platz für alle sein.“

Vieles bleibt ungesagt: dass die Dorfbewohner bis dahin überleben müssen, dass es schwieriger ist, in völliger Dunkelheit zu bauen, dass noch mehr untergehen wird, bevor überhaupt irgendetwas Neues entstehen kann.

Doch es ist ermüdend – zu ermüdend –, jetzt daran zu denken. Arlinn hat recht: Sie werden tun, was sie können. Auch andere Dörfer brauchen sie.

„Du wolltest eine Besprechung einberufen?“, fragt sie.

Arlinn deutet auf ein behelfsmäßiges Lager: die von abgeflachten Baumstümpfen und handgeschnitzten Bänken umgebene Feuerstelle des Dorfes. Ein tapferes Herz nach dem anderen nimmt Platz. Irgendwie bleibt die kleinste Bank – auf die nur zwei passen – für Adeline und Chandra frei. Vermutlich Kayas Tun – immerhin ist sie es, die breit grinst.

Nun ja. Adeline wird sich nicht beschweren. Sie setzt sich und legt sich ihr Schwert quer über die Knie. „Also…“

Alle Blicke richten sich auf Arlinn. Die endlose Nacht hat auch ihr zugesetzt – das und was auch immer ihren Kampf mit Tovolar befeuert hatte. Adeline sieht mehr von der Wölfin als von der Frau, besonders jenseits von Besprechungen wie dieser. Der Seufzer, den sie nun ausstößt, ist nur allzu menschlich.

„Es gibt nichts zu beschönigen“, sagt sie. „Wir können so nicht weitermachen.“

„Aber was ist mit Teferis Magie?“, fragt Adeline. „Bestimmt kann er

Teferi presst die Lippen zusammen. Er blickt zum verräterischen Mond hinauf und dann wieder herab. „Unglücklicherweise gibt es nur wenig, was ich tun kann. Innistrads Sonnensystem ist kompliziert. Die Magie, die den Mond an seinem Platz hält, ist uralt und eigens auf diese Welt ausgelegt.“ Er lässt die Schultern sinken. „Selbst wenn ich herausfinde, wie ich sie verändere, ohne das Ökosystem dieser Welt zu zerstören, so erfordert es mehr Kraft, als ich derzeit habe.“

„Das ist größer, als dass es ein Einzelner lösen könnte“, sagt Kaya. „Sosehr ich die Alternative auch bevorzugen würde, so müssen wir hierfür zusammenhalten.“

„Ich verstehe nicht“, sagt Adeline. „Wir haben uns doch bereits zusammengeschlossen, oder?“

„Das haben wir. Aber unsere Gruppe besteht zum größten Teil aus Menschen“, erklärt Arlinn. Und sie hat recht: Abgesehen von zwei oder drei der verbliebenen Wölflinge ist jeder von ihnen menschlich. Aber warum auch nicht? Adeline sucht in Arlinns Blick nach einer Erklärung. Und die folgt auf dem Fuße. „Die ewige Nacht beeinflusst nicht nur Menschen. Wenn die Dinge weiter ihren Lauf nehmen, wird den Vampiren schließlich irgendwann die Nahrung ausgehen. In vielleicht zehn Jahren ist die ganze Welt leer. Vor langer Zeit gab es jemanden unter ihnen, der das erkannte. Wir müssen ihn aufsuchen.“

Chandras Lachen klingt nervös. „Bitte sag mir, dass du Scherze machst.“

„Chandra hat recht“, sagt Adeline. „Wenn du Sorin Markov meinst, so hat er uns nie mit Freundlichkeit behandelt. Warum sollte das jetzt anders sein?“

Arlinn muss gewusst haben, dass dieser Einwand kommen würde: Sie lässt die Frage nicht lange im Raum stehen. „Weil sich alles geändert hat. Außerdem ist es Olivia Voldaren, die den Mondsilber-Schlüssel gestohlen hat. Wenn irgendjemand etwas über ihre Pläne weiß, dann er.“

„Und wenn die Gerüchte, die ich gehört habe, wahr sind, hasst er sie gerade jetzt“, fügt Kaya hinzu. Dann nach einer Pause: „Das ist alles, worüber sie in Stenzen reden. Sie bittet jeden dort, eine Schale voller Blut zu spenden.“

„Und das bedeutet, dass sie etwas im Schilde führt“, stimmt Adeline zu. „Aber warum müssen wir ihn fragen?“

„Wir haben keinen anderen Ansatz“, sagt Teferi. „Sorin ist launisch, aber er war schon immer pragmatisch. Als unser führender Experte für egomanische Weltenwächter –“

„Gib mir noch ein paar Jahre“, unterbricht ihn Kaya.

„Als jemand, der ihn seit Jahrhunderten kennt, glaube ich, dass wir zu ihm durchdringen können. Das ist immerhin nicht das erste Mal, dass er launisch ist. Wenn ich genauer darüber nachdenke, habe ich ihn noch nie anders erlebt. Aber ich bin mir sicher, er wird uns zumindest verraten, was Olivia vorhat.“

„Nichts von alldem endet, wenn wir nicht den Schlüssel zurückbekommen. Er ist der Einzige, der uns einen Hinweis geben kann, wo er ist“, sagt Kaya.

Es ergibt Sinn. Doch da ist etwas, was Adeline ihm nicht vergeben kann. „Arlinn, das letzte Mal, als wir ihn gesehen haben, hat er gegen Sigarda gekämpft.“

Die Muskeln in Arlinns Kiefer arbeiten. „Ich weiß. Dasist auch für mich nicht leicht. Doch wenn sich Teile der Herde verirrt haben, so überlässt man sie nicht den Wölfen.“

„Aber er ist kein Schaf“, sagt Adeline, „und du bist ein Wolf.“

Ein schiefes, wissendes Lächeln von der Frau. „Das heißt, ich weiß das eine oder andere übers Jagen und das eine oder andere über Rudel. Adeline, ich würde mich freuen, wenn du mit uns kommst, aber wenn du lieber hierbleiben willst, verstehe ich das.“

Adeline weiß, was richtig ist, und sie weiß, dass die gerechte Sache oft auch die schwerste ist. Katharer ertüchtigten sich bisweilen mit beschwerten Schwertern, um diese Wahrheit zu verinnerlichen: Der Pfad der Gewalt sollte nie der erste sein, den man beschreitet, und es sollte sich nie leicht anfühlen, ein Leben auszulöschen.

Wenn es ihnen gelingt, zu ihm durchzudringen, ist es vielleicht den Versuch wert.

Sie spürt Chandras Blick auf sich. Sie wartet auf eine Antwort. „Ich komme mit. Wenn noch eine Spur von Avacyn in ihm ist, wird er zuhören.“

Später, als sie sich zum Aufbruch bereit machen, findet der Junge aus Karo sie. Er wartet vor ihrem behelfsmäßigen Zelt. Seine Füße sind verbunden, und er trägt eine viel zu große Rüstung, die er irgendwo aufgelesen hat. Das Symbol Avacyns auf seiner Brust ist beinahe so lang wie er selbst. Das Schwein, das er mitgebracht hat – ein riesiges Ding von den Ausmaßen eines Pferdes – beschnüffelt den Boden in der Nähe.

„Wie kann ich helfen?“, fragt er.

Adeline geht auf die Knie. „Du hast bereits sehr geholfen“, sagt sie. Aus den Falten ihrer Rüstung zieht sie ein aus Zweigen und Kerzen gewobenes Symbol, das sie auf seinem Kopf drapiert. „Das Beste, was du tun kannst, ist, sicher nach Hause zurückzukehren.“


Sorin der Freudlose
Sorin der Freudlose | Bild von: Martina Fackova

Innistrad wird überdauern. So lautet das Sprichwort. Doch ein Blick aus dem Fenster ist alles, was nötig ist, um es sämtlicher Bedeutung zu berauben. Keinesfalls wird Innistrad dies überdauern.

Dessen ist sich Sorin Markov gewiss.

Er ist sich dessen schon seit zahllosen Jahrhunderten gewiss. Da er sehr der Philosophie zugewandt gewesen war, hatte er die Wahrheit in dieser Angelegenheit nur kurze Zeit, nachdem sein Großvater ihn verwandelt hatte, erkannt. Wenn kein Vampir je starb und jeder Vampir sich vorsichtig gerechnet einmal im Monat nährte – und dabei oftmals seinen „Spender“ tötete – und Menschen neun Monate brauchten, um sich zu vermehren

Nun, es ergab einfach keinen Sinn.

Selbst wenn man Menschen herausrechnete, die an Krankheiten starben, Menschen, die zu Vampiren wurden, Menschen, die von Wolfskiefern zermahlen wurden, und so weiter: Es ging nicht auf. Damit Innistrad überdauern konnte (das Sprichwort gab es schon damals), mussten sie entweder die Anzahl der erschaffenen Vampire drastisch verringern oder dafür sorgen, dass die Menschen überlebten.

Sorin, der damals noch jung gewesen war, trug seinem Großvater seine Erkenntnis an. Edgar hatte lange Zeit das Interesse des Jungen an Alchimie gefördert. Sicherlich würde er, sobald er erst einmal alles in Schwarz und Weiß aufgelistet sah, seinen schweren Fehler begreifen.

Edgar lauschte den Worten des jungen Sorin aufmerksam. Und mehr noch: Er stellte bei jeder Gelegenheit kluge Fragen. In diesen zwei Stunden erfuhr Sorin mehr über die Welt als bei der Vorbereitung seiner Präsentation. Sein Großvater ließ all seine Quellen in einem neuen Licht erscheinen.

„Sorin. Glaubst du ernsthaft, dass ich nie den gleichen Gedanken hatte?“

„Aber, Großvater“, wandte Sorin ein, „wenn dem so war, warum hast du dann auf die gleiche Weise weitergemacht? Die Zukunft ist nichts Abstraktes. Als Unsterbliche müssen wir das einsehen. Innistrad muss überdauern –“

„Innistrad wird überdauern. Doch nur Bauern verspüren den Drang, das auszusprechen“, erwiderte sein Großvater. „Wir haben eine Ewigkeit Zeit, die Zukunft zu planen – oder zumindest beinahe. Die Lösung wird sich schon finden.“

„Großvater, dies kann nicht warten –“

„Ganz im Gegenteil. Du blickst nur auf einen kleinen Teil des Gewebes der Geschichte“, sagte Edgar. Dann nahm er einen seiner Federkiele zur Hand und tunkte ihn in Tinte. Das Kratzen auf dem Pergament bedeutete, dass Sorin entlassen war.

Einen kleinen Teil.

Er nahm sich den Rat seines Großvaters zu Herzen. Die Lösung würde sich schon finden. Er musste in größeren Maßstäben denken, über das Unmittelbare hinausblicken. Wohin er auch ging: Der Gedanke hatte sich in einem Winkel in seinem Verstand eingenistet und wurde mit jedem verstreichenden Jahr immer komplexer.

Sechs Jahrhunderte dauerte es, bis sich das Gesamtbild zusammengesetzt hatte, doch dann fühlte es sich offensichtlich und richtig an. Er fühlte sich töricht, es nicht früher erkannt zu haben. Die Menschen brauchten eine Beschützerin. Und er gab sie ihnen.

Natürlich hatten die anderen Vampire zu diesem Zeitpunkt die Welt bereits fast leergetrunken. Es war eine sehr knappe Angelegenheit gewesen, Innistrad so zu retten, wie er es getan hatte.

Und doch hatte er eine Niederlage erlitten – ebenso wie die von ihm geschaffene Retterin –, und jetzt erfüllt selbst der Geruch der Luft dieser Welt ihn mit Bitterkeit.

Ein Teil von ihm fragt sich, ob sein Großvater Avacyn und ihren unvermeidlichen Fall vorausgeplant hatte. Edgar hatte stets an alles gedacht, und er kannte seinen Enkel besser, als alle anderen ihn je gekannt hatten und wahrscheinlich auch je kennen würden. Hatte er Vorkehrungen für diese ewige Nacht getroffen? Hatte er gewusst, was sie mit der Vampirbevölkerung machen würde? Mit der menschlichenBevölkerung?

All die Jahre seiner Existenz hatten Sorin nicht darauf vorbereitet.

Zuerst hatte er die Rolle des Beobachters eingenommen. Seine Wunden geleckt, sich in seinem Anwesen vergraben und zugesehen, wie sich all das entfaltete. Die anderen wussten ebenso gut wie er, was geschehen würde, wenn sie sich die Bäuche vollschlugen.

Wenn jedoch Geduld das ist, was unter Vampiren als Letztes ausstirbt, so ist Zurückhaltung das Erste. Sorins Berechnungen nach blieben ihnen vielleicht noch Monate, bevor alle Menschen auf dieser Welt Vampire, Werwölfe, Geister oder schlicht tot waren.

Sein Großvater hatte lange genug geruht. Wenn es einen Plan für diese Eventualität gab, war es an der Zeit, dass sie sich unterhielten.

Sorin steigt die Stufen des Markov-Anwesens hinab. Sein kurzer Krieg mit Nahiri, seinem einstigen Schützling, hat einen Großteil dieses Ortes verwüstet, doch die Familienarchive, die tief unter der Erde verborgen sind, sind weitestgehend intakt. Verzerrte, schwebende Messerklingen geben den Weg zu anmutigen weißen Bögen und eleganten Treppen frei. Hier brannte die Geistflamme hell. Hier lag kein Staub auf den Stufen und keine Staubkörner tanzten in der Luft. Sorin selbst hat diesen Ort verzaubert. Würde ganz Innistrad heute einstürzen, würden diese Familienarchive als Denkmal an ihre eigene Torheit erhalten bleiben.

Da sind natürlich die Bücher, die ihn als Erstes begrüßen: eine sorgfältig zusammengestellte Sammlung der gesamten Weisheit der Welt. Den Tagebüchern seines Großvaters wird hier besondere Sorgfalt zuteil: Sie sind in goldene Buchdeckel gebunden und unter dem reinsten Glas ausgestellt. Drei Bücherregale beinhalten Sorins eigene Tagebücher – die, die er nicht gerade liest oder schreibt. Die Gedanken von Generälen, Alchimisten, selbst Katharern und Avacyns Priestern zwinkern ihm von ihren Plätzen in den Schränken aus zu.

Rette uns, scheinen sie zu sagen.

Wie oft hat man diese Worte bereits zu ihm gesagt. Er war der Probleme anderer müde, müde, andere Welten zu retten, und müde des weiten und verzwickten Netzes, das er in seinem ewig währenden Dasein gewoben hat. Innistrad – immerhin kennt er Innistrad. Er denkt, hier kann er sich erholen. Sobald sozusagen sein Haus in Ordnung gebracht ist, kann er wieder daraus auftauchen und sich erneut um diese anderen Welten kümmern.

Rette uns, sagen sie zu ihm.

Ich versuche es, will er antworten.

Jenseits der Bücher befinden sich Porträts, Statuen und die Waffenkammer. Er schreitet durch die schmalen Hallen aus weißem Stein und hält nicht an, um in den Werken seiner Brüder zu blättern. Innistrad wird überdauern. Dazu wird später noch Zeit sein, falls er das Bedürfnis verspürt, sich in den Erinnerungen eines Hauses zu verlieren, das ihn nie ganz aufgenommen hat.

Nur noch ein kleines Stückchen bis zu den Särgen.

Wenn Ahnen der Welt um sich herum überdrüssig werden, ruhen sie oft, bis die Welt so fremdartig geworden ist, dass sie sie aufs Neue entdecken können. Wäre er ein gewöhnlicher Vampir – ein einfacher Unsterblicher ohne die Fähigkeit, Innistrad zu verlassen –, wäre er vermutlich selbst hier gelandet. Doch es muss immer jemanden geben, der über sie wacht, und diese Aufgabe ist jedes Mal unweigerlich Sorin zugefallen.

Er verachtet sie. Er macht keinen Hehl daraus, nicht hier, in der kalten Stille der Gruft. Er funkelt jeden Namen auf jedem Sarg an und fragt die Darinliegenden in seinem Verstand, warum sie sich nicht die Mühe machen können, herauszukommen. Es ist ihre Dekadenz, die zu all dem geführt hat, und dennoch sind sie hier und ruhen – träumen vielleicht gar –, während er hinter ihnen herräumt.

Erschöpfend.

Auch er hat einen Sarg. Ein närrisches Ding. Ein Versprechen, das er sich gegeben hat: irgendwann selbst zu ruhen.

Das Einzige, was ihn davon abhält, ihn zu zerschmettern, ist der Gedanke, dass sein Großvater das sehen und für den kindischen Zornesausbruch halten würde, der es wäre.

Vorwärts. Sein Großvater ruht in einem Mausoleum am Ende des Korridors, geschützt von einer massiven Steintür. Oftmals wacht Edgar für einen kurzen Augenblick auf. Sorin hat ihm für diese Fälle Bücher dagelassen – Dinge, von denen er denkt, dass sie den derzeitigen Zustand Innistrads zeigen. Manchmal, wenn er den Rat seines Großvaters braucht, weckt er ihn auf. Die beiden unterhalten sich im Wohnzimmer der Toten, und wenn sie fertig sind, begibt sich Edgar wieder zur Ruhe. Sorin fühlt sich dann stets wie ein Kind – doch der Rat ist ihm stets hilfreich gewesen.

Schicksalhafte Abwesenheit
Schicksalhafte Abwesenheit | Bild von: Eric Deschamps

Entschlossen betritt er das Mausoleum, erwartend, seinen Großvater in jenem prächtigen Sarg, den er für ihn hat anfertigen lassen, ruhen oder an seinem stattlichen Tisch lesen zu sehen – und findet stattdessen einen leeren Raum vor.

Hier gibt es keine Statuen, die ihn begrüßen. Der Tisch, die Stühle, selbst der leere Teekessel, den er hier aufbewahrt hat – verschwunden. Staub bedeckt die Bücherschränke, die einst die Sammlung an Wissen seines Großvaters beherbergt haben.

Doch nichts von alldem kommt der größten Leere im Raum nahe: Der Sarg selbst fehlt.

Zorn lodert in seinem Herzen auf. Das tut er oft, und dennoch ist nun so wenig Brennbares übrig, dass er nur noch lachen kann.

Natürlich. Gestern hatte er sich gestattet, das Anwesen zu verlassen. Er hatte mit eigenen Augen sehen wollen, was vor sich ging.

Natürlich schlug jemand zu, als er weg war.

Er zupft an seiner Nase und wägt seine Möglichkeiten ab. Und dann hört er das Schlagen von Flügeln und spürt die Bewegung der Luft im Palast. Jemand ist hier. Vielleicht mehr als ein Eindringling.

Er dreht sich um und versucht, das Geräusch zu erhaschen. Eine Fledermaus, wie es sich anfühlt. Er zermalmt sie ohne einen weiteren Gedanken. In seinen Fängen, die jetzt blutbefleckt sind, befindet sich ein einzelner Umschlag.

An meinen liebsten, teuersten Sorin Markov, den wir an diesem Tag niemals vergessen würden.

Er kennt diese Handschrift.

Es braucht Jahrhunderte an Geduld, den Umschlag nicht zu zerknüllen. Stattdessen öffnet er ihn.

Die Worte darin tragen nicht dazu bei, dass seine Stimmung sich aufhellt. O nein. Wenn sein bisheriger Trübsinn die Dunkelheit des neuen Mondes war, so ist dies die Dunkelheit eines Mondes, der auf Nimmerwiedersehen vom Himmel gestohlen wird.

Er wirft den schlaffen Kadaver der Fledermaus in eine Ecke des Mausoleums und stürmt die Treppe hinauf. Da sind andere Eindringlinge. Er kann sie spüren. Dennoch: Sollten sie irgendeine Rolle in dieser Farce spielen

„Obacht. Dieses Buch ist in Menschenhaut gebunden.“

Die Stimme hallt zu ihm herab. Eine Frau. Vertraut, aber nur vage. Sie sind in der Bibliothek. Als er auf sie trifft, stehen sie im Halbkreis um seinen Lesetisch herum. Einige von ihnen kennt er, doch es sind jede Menge Neuankömmlinge dabei. Wie es scheint, haben sie auf ihren Reisen ein paar Streuner aufgelesen: irgendeine Art Diebin mit flinken Augen und einem spitzen Grinsen. Die Pyromagierin, die ihre Hände in die Luft wirft, als hätte sie etwas Entsetzliches gesehen. Dann fällt sein Blick auf Teferi. Jovial wie immer versucht er, ein Lachen zu unterdrücken. Teferi verwirrt Sorin. Er hat selten jemanden getroffen, der die gesamte Geschichten überblicken kann oder so bereitwillig lächelt. Die Wölfin, Arlinn Kord, die mit in die Hüften gestemmten Händen etwas vorträgt. Und die Katharerin, die beim letzten Mal mit ihnen gekommen war.

Alle in seiner Bibliothek, in seinen Familienarchiven, wo sie sich wie Kinder aufführen, als sie mit einer der bedeutendsten Schriften über das Sticken auf ganz Innistrad konfrontiert werden. Natürlich ist es in Menschenhaut gebunden. Was erwarten sie denn sonst? Er behält doch keine Werke von Novizen.

Er hat nicht übel Lust, sie alle hier hinauszubefördern, sie an ihren Adern zu packen und sie tanzen zu lassen. Seine andere Hälfte – älter, geduldiger, sich seiner schrecklichen Lage bewusst – erkennt, dass sie einen Grund für ihre Anwesenheit haben müssen.

„Ihr habt eine Minute, mir zu erklären, weshalb ihr hier eingedrungen sein“, grollt er.

Vielleicht haben sie ihn nicht kommen hören, denn die meisten von ihnen zucken zusammen. Arlinn und Teferi sind die einzigen Ausnahmen. Es verdrießt ihn, zu sehen, wie ungerührt Teferi bleibt, als würde nichts von alldem ihn berühren. Noch schlimmer: Der Blick der Wölfin ist auf den Brief gerichtet.

„Ich glaube, du weißt, weshalb wir hier sind, Sorin“, sagt sie. „Doch die eigentliche Frage ist: Was ist das?“

Er könnte eine Antwort verweigern. Doch in Wahrheit – so ungern er es auch zugeben will – hat sie recht. Er weiß, weshalb sie hier ist. Die ewige Nacht verheißt nichts Gutes für die Menschen, die ihr so am Herzen liegen. Natürlich würde sie ihn wieder um Hilfe bitten.

Und wenn Ehrlichkeit das Motto der Stunde ist

Er wirft den Brief auf den Tisch. Die Diebin schnappt ihn sich als Erstes, und die Pyromagierin beugt sich zum Lesen über ihre Schulter. Wie ein Kind kann sie ihr Entsetzen nicht verbergen.

Einladung zur Hochzeit
Einladung zur Hochzeit | Bild von: Justyna Gil

„Es ist eine Einladung“, sagt er.

„Eine Einladung?“, wiederholt Arlinn. Auch sie beugt sich vor, um einen besseren Blick auf den Brief zu erhalten, doch mittlerweile versperren die anderen ihr die Sicht mit ihrem Gegaffe.

„Zu einer Hochzeit. Oliva Voldarens Hochzeit.“ Der Name ist wie Gift auf seiner Zunge. „Sie hat meinen Großvater gestohlen. Wenn sie heiraten, bilden sie die größte aller Vampirfamilien. Sie werden … Sie wird über ganz Innistrad herrschen.“

Arlinn nimmt der Pyromagierin den Brief weg. Er sieht zu, wie sie ihn liest – sieht zu, wie ihre Kiefer arbeiten, sieht zu, wie sie erkennt, dass er nicht lügt.

Dann wirft sie ihm einen überraschend entschlossenen Blick zu. „Wie es aussieht, müssen wir in eine Hochzeit hineinplatzen.“