Episode 1: Wanderer
Sie kamen in Schiffen, wie die Bewohner des Dorfes Sevalgr sie noch nie zuvor gesehen hatten. Lang und schlank, mit Schnitzereien versehen, die Geschichten über ruhmreiche Schlachten und listenreiche Siege erzählten, glitten sie über die Wellen wie die Drachen und Schlangen, mit denen sie am Bug verziert waren. Sie hatten nichts gemein mit jenen kärglichen Fischerbooten, die die Dörfler zu ihrer einzigen Nahrungsquelle beförderten, da man nun nicht länger in den Wald gehen konnte.
Auch waren die Männer und Frauen an Bord dieser Schiffe weder so ausgezehrt noch von Furcht und Hunger gebeugt wie die Bewohner Sevalgrs. Selbst der Graubart mit dem Raben auf der Schulter, der sie begleitete, schien sich nicht allzu schwer auf seinen Gehstock zu stützen. Sie trugen Gugeln und Halstücher, Wämser aus Fischhaut, Rüstungen – nichts jedoch, was sie zum Grund des Meeres ziehen würde, sollten sie ins Wasser fallen. Auf ihre Haut waren Navigationskarten tätowiert. Sie waren unschwer zu verwechseln. Omensucher.
Der Herse lud sie in das Langhaus ein, wo er ein so gutes Mahl vorbereitet hatte, wie es dem Dorf möglich war. So war es Brauch in Kaldheim: Man wusste ja nie, ob der Fremde an der Tür nicht ein Gott in Verkleidung war. Doch die Anführerin des Clans – die blinde Frau, die sich dennoch ohne Hilfe durch die engen, schlammigen Straßen bewegte – lehnte das Angebot ab. Sie waren nicht wegen gepökeltem Fisch und hartem Brot hier.
„Wann gab es die ersten Vermissten?“, fragte sie. Keiner der Dörfler hatte Inga Runenauge, die Anführerin der Omensucher, je getroffen, doch ihr sonderbarer weißer Blick ließ keinen Zweifel aufkommen, mit wem sie sprachen.
„Es sind keine Vermisstenfälle“, sagte eine Frau ganz vorn in der Menge, die sich versammelt hatte. „Es sind Morde.“ Im letzten Monat hatte sie zwei Töchter verloren.
„Das weißt du nicht“, rief ein Mann mit eingesunkenen, rot geweinten Augen. Er hatte seinen Gatten verloren.
„Ihr habt keine Leichen gefunden“, sagte Inga sanft. „Ist es nicht so?“
Beide nickten steif.
„Keine Leichen. Aber einer der Jäger hat es gesehen“, sagte der Herse.
„Hat was gesehen?“, fragte Inga.
„Nur zu, Hras“, sagte der Älteste. „Erzähl es ihnen.“
Ein junger Mann, kaum älter als sechzehn Jahre, trat vor. In einer der Feuerschalen zerbarst funkenschlagend ein Stück Kohle. Er zuckte bei dem Geräusch zusammen.
„Was hast du gesehen, Junge?“, fragte Inga, behutsam, um den Burschen nicht zu beunruhigen. „Was tut eurer Siedlung das an?“
Er rieb sich die Arme, als fröstelte ihn. Er weigerte sich, sie anzusehen. „Ein Ungeheuer. Es war ein Ungeheuer.“
Falls Inga überrascht war, so ließ sie sich nichts anmerken. „Asi“, sagte sie und winkte den alten Mann mit dem Raben heran. „Ich will, dass in einer Stunde ein Kriegszug bereit ist. Stammbesatzung auf den Schiffen, bis wir zurückkehren. Jeder, der nicht anderweitig gebraucht wird, wird in den Aldergardforst gehen.“
Der alte Mann, der bis dahin eifrig genickt hatte, hielt inne. „Und dein
Natürlich hatten die Dörfler sie gesehen. Diese Frau in seltsamer Gewandung, die am Ufer herumgelungert war, während die Omensucher ihre Segel eingeholt und ihre Schiffe an den alternden Anlegern Sevalgrs vertäut hatten. Sie, die sie angesehen hatte, als seien sie Kuriositäten, die aus der Tiefe angespült worden waren.
„Kaya?“, sagte Runenauge. „Das Ganze war doch überhaupt erst ihr Einfall gewesen.“
Na schön, ja – der Einfall war von ihr gekommen. In die Wildnis reisen, das schreckliche Ungeheuer erlegen, das sich an den Dörflern gütlich tat. Das schien das zu sein, was Helden so machten, und sie schätzte, sie war nun wohl eine Heldin. Auch dass sie bezahlt wurde, war nicht übel, obwohl sie aufrichtig wünschte, sie wüsste, wer sie bezahlte. Doch es war schwer, fremden Münzen zu widersprechen, die auf einem halben Dutzend Welten geprägt worden waren, und außerdem schien das Ganze wunderbar einfach. Nicht wie diese vertrackte Sache auf Ravnica.
Bisher lief alles genau nach Plan. Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, dass die Wildnis so
„Ist es hier immer so still? Ich war schon in Gräbern, in denen es lebendiger zuging“, sagte sie, als sie einen Augenblick anhielten, um sich unter den Ästen der hohen Bäume auszuruhen.
Der alte Mann – Asi war sein Name, so hatte er gesagt – hob eine Braue. „Vielleicht ist ein lebendiges Grab nicht so selten, wenn man eine Geisterjägerin ist.“
„Da magst du recht haben.“ Inga, die Anführerin der Omensucher, war der erste Mensch gewesen, den Kaya auf dieser Welt getroffen hatte, und sie schien von der anständigen Sorte. Allerdings schwer zu durchschauen – ständig wirkte sie abwesend, als würde sie die Unterhaltung, die sie mit einem führte, von drängenderen Angelegenheiten ablenken. Der alte Mann war bessere Gesellschaft, hatte Kaya festgestellt.
„Der Aldergard ist ein alter und seltsamer Ort. Die Omensucher sind legendäre Entdecker, doch selbst sie wagen sich selten so weit in den Wald vor. Zu weit weg vom Meer und ihren Schiffen. Inga Runenauge sieht mehr als die meisten anderen Sterblichen. Sie besitzt Wissen über jeden Ort, den die Mitglieder ihres Clans je besucht haben. Doch selbst sie weiß nur wenig über diesen Ort.“
„Seltsam, alt … Das verstehe ich alles. Aber dennoch hätte ich damit gerechnet, ein paar Tiere zu sehen. Zumindest ein Eichhörnchen. Die gibt es doch hier, oder?“
„O ja. Tatsächlich ist Toski, der Bote der Götter, ein Großvetter des gemeinen Eichhörnchens. Es gibt zahlreiche Geschichten darüber, wie er über die Zweige des Weltenbaumes huscht und Neuigkeiten aus den vielen Reichen Kaldheims überbringt.“
Er hatte jene Art von Stimme, die Kaya an tattrige Großväter erinnerte, doch sie musste sich ermahnen, dass diese „Geschichten“ vermutlich nicht allzu weit von der Wahrheit entfernt waren. Sie hatte die Zweige des Weltenbaums mit eigenen Augen am Himmel von Bretagard gesehen – unvorstellbar gewaltig hingen sie dort herab und verschwanden hinter den vorbeiziehenden Wolken. Ein Rieseneichhörnchen. Sicher, warum auch nicht? Sie hatte schon Seltsameres gesehen.
„Es ist allerdings ungewöhnlich, so lange durch diese Wälder zu wandern, ohne eine Spur von Leben zu sehen. Es ist fast so, als würden die Vögel und die anderen Tiere diesen Ort absichtlich meiden“, sagte Asi.
„Vielleicht sind sie klüger als wir.“
„Du wärest überrascht, wie viele von ihnen das sind.“
„Menschen, die mitten in der Nacht verschwinden …“, murmelte ein Omensucher neben ihnen. In seiner Stimme schwang überdeutlich Angst mit. „Am Waldrand. Wie Schafe. Ihr habt gehört, was dieser Jäger gesagt hat. Er hat ein Ungeheuer gesehen. Was, wenn es nicht einfach irgendein übergroßes Tier ist?“
„Was glaubst du denn, wem wir auf der Spur sind, junger Mann?“, fragte Asi.
„Sarulf“, sagte er und senkte die Stimme zu einem Flüstern, als würde allein die Erwähnung des Namens dafür sorgen, dass das Ding plötzlich auftauchte. „Der Grauen-Wolf. Der Verschlinger der Reiche.“
„Ein Wolf? Das ist es, was dich bei jeder Schneeflocke zusammenfahren lässt?“, fragte Kaya.
„Sarulf ist kein gewöhnliches Tier“, sagte Asi. „Er ist eines der kosmischen Ungeheuer. Er wurde bei der Geburt der Welt erschaffen und lebt in der Leere zwischen den Reichen. Er wäre wahrlich ein mächtiger Gegner. Doch ich würde mir keine Sorgen machen“, sagte Asi. „Es ist nicht die Art solcher Wesen, in den dunklen Winkeln des Aldergards herumzulungern. Sollten sie sich nach Bretagard aufmachen, würden sie es nicht im Geheimen tun.“
Aus dem Geäst über ihnen ertönte ein raues Krächzen. Kayas Hand fuhr an einen der Dolche in ihrem Gürtel. Ein Rabe kreiste über ihnen und ließ sich tiefer und tiefer herabfallen – schwarze Schwingen vor einem schneeweißen Himmel.
„Ah“, sagte Asi. „Hakka ist zurück.“
Der Rabe landete auf seinem Arm und hüpfte ihm dann auf die Schulter, wo er sich dicht an sein Ohr zu beugen schien. Kaya hörte nichts, sondern sah nur, wie sich der Schnabel des Vogels öffnete und schloss und wie der Mann nachdenklich den Kopf neigte.
„Nun“, sagte er. „Mein Freund hier hat vielleicht eine Spur gefunden.“
Für Kaya sah der Ort genau so aus wie einer von der Sorte, an denen man Ungeheuer findet. Vor ihrer Gruppe gähnte weit und dunkel der Eingang zu einer Höhle. Welches schwache Licht auch immer durch die Wolkendecke und das Blätterdach drang, reichte nicht weiter als die ersten paar Schritte ins Innere. Im Schnee vor der Höhle prangte eine lange Spur aus Schmutz und Blut. Irgendetwas war ins Dunkel hineingezerrt worden.
Leise, die Hände an den Waffen, flüsterten die Omensucher Gebete zu ihren Göttern. Kaya konnte es ihnen nicht verdenken. Um ehrlich zu sein, wünschte sie sich selbst ein paar Götter, zu denen sie beten konnte. Auf die Jagd nach Ungeheuern gehen. Wessen toller Einfall war das überhaupt gewesen?
Oh, richtig, dachte sie. Meiner.
„Bist du bereit, Kaya?“, fragte Inga. Sie hatte keine eigene Waffe, nur eine Laterne mit einer flackernden blauen Flamme. Lustig, dass sie es war, die ihre Lichtquelle trug. „Du bist lang und weit gereist, um hierherzukommen.“
„Ja, nun. Dann machen wir uns wohl besser ans Werk“, sagte sie. Mit sehr viel mehr aufgesetzter Zuversicht, als sie tatsächlich empfand, betrat Kaya die Höhle.
Es war wärmer hier drin. Das war immerhin etwas. Kaya konnte die schweren Felle, in die sie die ganze Zeit über gehüllt gewesen war, etwas lockerer schnüren. Gemeinsam mit den Omensuchern tastete sie sich voran. Jedes Schleifen von Stiefeln auf Stein oder Stahl auf Leder schien in der Tiefe widerzuhallen. Bald war selbst das schwache Licht von der Oberfläche verschwunden, und der azurblaue Strahl von Ingas Laterne war das Einzige, mit dem sie die Dunkelheit durchbrechen konnten. Als der Strahl über ein Stück der Höhlenwand glitt, glitzerte etwas.
„Warte“, sagte Kaya. „Leuchte noch mal hier hin.“
Im Schein der Laterne war Kaya sich sicher: Adern irgendeines Metalls verliefen entlang der Wand und der Decke der Höhle. Es glich jedoch nichts, was sie jemals gesehen hatte. An einigen Stellen schien es sich zu netzartigen, an Wurzelwerk gemahnenden Fraktalen aufzuspalten und ein weitschweifendes Geflecht auf dem Fels zu bilden.
„Gab es hier jemals eine Mine?“, fragte sie.
„Nein“, murmelte Inga. „An diesem Ort sollte es nur blanken Fels geben.“
„Tja, das ist ganz offensichtlich nicht der Fall. Nicht mehr.“
Einer der Omensucher neben ihr streckte die Hand nach der Wand aus. Kaya hielt ihn am Handgelenk fest. „Ich würde das nicht anfassen.“
Er zog die Hand zurück. „Warum nicht?“
„Nur so ein Bauchgefühl.“
Wortlos setzten sie ihren Weg fort. Es war schwer zu sagen, wie lange sie voranschlurften. Das Dunkel zu allen Seiten schien die Luft aus ihnen herauszupressen. Es fühlte sich nach einer langen, langen Zeit an – Stunden, nicht Minuten –, und als sich der Gang endlich zu einer großen Kammer verbreiterte und die Decke über ihnen in der Dunkelheit verschwand, hätten sie erleichtert sein sollen. Wäre da nicht das gewesen, was sie in der Mitte der Kaverne erblickten.
Kaya glaubte zunächst, dass die massige Gestalt, die über den Überresten eines Schreckensbären kauerte, einfach nur fraß. Die schmatzenden Schluckgeräusche, der Klang von Fleisch, das von Knochen gerissen wurde – all dies schien ihren Gedanken zu bekräftigen. Als jedoch der Strahl von Ingas Laterne die Kreatur streifte und diese sich zu ihnen umwandte, sah Kaya, dass etwas nicht ganz stimmte: Die Arme des Ungeheuers waren in der Seite des Bären vergraben und irgendwie mit seinem Fleisch verschmolzen. Kaya schaute zu, wie die Kreatur sich mit einem entsetzlichen Knacken losriss.
„Das“, zischte Kaya, „ist kein Wolf.“
Die Kreatur maß drei Mannslängen, und ihr Leib war von einer rohen, rosaroten Farbe. Über ihre Schultern spannte sich eine Krause aus räudigem Fell in einem Dutzend verschiedener, miteinander verzwirbelter Farbtöne. Die Arme, die im Bär vergraben gewesen waren, wirkten lang und kräftig und endeten in schaurigen, gekrümmten Klauen. Zwei weitere spindeldürre Arme ragten dem Geschöpf aus der Brust. Die Krallen daran zuckten wie Spinnen. All dies war befremdlich, doch nichts im Vergleich zum Kopf: ein Gesicht wie ein Totenschädel, umrahmt von messerscharfen Hauern und einem ausladenden, dornigen Geweih. Alles hatte die Farbe von Knochen, auch wenn es im Licht von Ingas Laterne wie Metall glänzte.
Das Wesen öffnete das Maul. Rote Sehnen arbeiteten unter der gepanzerten Maske, und das Geschöpf erzeugte einen Laut, der Kaya auf eine Weise ängstigte, wie kein Geist es je vermocht hatte. Er klang wie das Brüllen eines Bären, aber grundlegend falsch. Eine schlechte Nachahmung. Dann ließ sich das Wesen nach vorn sacken und machte einen Satz geradewegs auf sie zu.
Kaya sprang aus dem Weg, rollte über den Höhlenboden und kam wieder auf die Beine, die Dolche bereits gezückt. Zwei der Omensucher waren nicht so geistesgegenwärtig gewesen. Einer war unter der Kreatur gefangen und schrie, als deren dürre Ärmchen sich ihm ins Gesicht gruben, als wäre sein Fleisch nur Wasser. Der andere wand sich, als eine monströse Hand ihn hochhob.
Es war ein grausiges Schauspiel – genug, um weniger tapfere Krieger vor Entsetzen in die Flucht zu schlagen. Und die Omensucher waren im Herzen ohnehin keine echten Krieger. Auf der gemeinsamen Reise von den Kirdasäulen hierher hatte Kaya erfahren, was sie wirklich antrieb: der Rausch der Erkundung und der Entdeckung. Sie waren in diesem Rahmen bereit zu kämpfen, aber nie fanden sie es reizvoll. Zu ihrer Ehrenrettung floh jedoch keiner von ihnen. Nicht, dass sie weit gekommen wären, dachte Kaya.
Sie bildeten einen Halbkreis um das Ungeheuer. Einige stachen mit Speeren auf es ein, während andere mit Schwertern und Äxten nach seinen ausgestreckten Gliedmaßen droschen und ihm mit jedem Schlag blutige, klaffende Schnitte zufügten.
„Berührt es nicht!“, rief Kaya über das Schreien des Gefangenen hinweg, bis etwas ihn mit einem schmatzenden Gurgeln zum Schweigen brachte.
Vor ihren Augen schienen sich die Wunden zuzuziehen, und Muskeln fügten sich wieder zusammen. Aus einem besonders tiefen Schnitt schnellten um sich schlagende Tentakel, schlangen sich um den Arm einer Schwertträgerin und rissen sie bis zur Schulter in das Fleisch des Ungeheuers hinein. Dort feststeckend zog sie ein Messer aus ihrem Gürtel und stach so lange auf die entsetzliche Kreatur ein, bis diese sie freigab. Sie fiel zu Boden und umklammerte vor Schmerzen schreiend ihren Arm.
Es reicht nicht, ihm ins Fleisch zu schneiden, dachte Kaya und ließ Energie in ihre Messer fließen. Sie musste tiefer schneiden.
Die Kreatur machte erneut einen Satz. Ihre Wunden hatten sich bereits vollkommen geschlossen. Trotz all ihrer Masse und ihrer vielen Muskeln bewegte sie sich mit unheimlicher Geschwindigkeit. Ehe sie jedoch einen weiteren Treffer landen konnte, wurde ihr Klauenhieb erst langsamer und stockte dann schließlich kaum eine Handbreit vor einem zusammenzuckenden Axtträger endgültig. Kaya erkannte, dass der Arm des Wesens von einer blauen Aura umgeben war, die vor ihren Augen dichter zu werden schien, um sich zu einer Art durchscheinendem Kristall zu verhärten. Kayas Blick folgte dem Leuchten zu seinem Ursprung: Ingas Laterne. Als sich die Kreatur gegen den Stasiszauber aufbäumte, verzog sich Ingas Gesicht vor Anstrengung.
Nicht übel, dachte Kaya. Jetzt war ihre Gelegenheit. Kaya warf sich mit ihren vor Magie vibrierenden Dolchen vorwärts, hieb geradewegs durch den gefangenen Arm des Ungeheuers und trennte ihn an der Schulter ab. Fleisch, Knochen, Geist – wenn es überhaupt zerteilt werden konnte, so hatte sie es nun zerteilt.
Der Arm prallte mit einem klatschenden Schlag auf den Steinboden der Höhle, wurde schwarz und begann dort, wo Kaya ihn abgetrennt hatte, zu Asche zu zerfallen. Die Kreatur brüllte erneut auf – dieser Laut wie von einem Bären, in dem noch etwas anderes mitklang: ein Geräusch wie das Knirschen von Metall auf Metall. Während sie sich vor Schmerzen wand, wurde der Omensucher, der noch immer mit ihren Vorderklauen verschmolzen war, umhergeschleudert wie ein toter Fisch.
Mit einer Bewegung, die auf groteske Weise einer Umarmung glich, drückte das Ungeheuer den schlaffen Mann an seinen Leib. Der Omensucher verschwand in dem rohen, blassroten Fleisch und wurde langsam darin aufgesogen. Dann begann an dem Stumpf, wo einst der Arm der Kreatur gewesen war, ein neuer zu wachsen. Es geschah bemerkenswert schnell. Muskeln, die sich zusammenfügten, Klauen, die sich von einer jungfräulichen Durchsichtigkeit zu einer scharfen, schwarzen Kralle verhärteten – all dies geschah in den wenigen Wimpernschlägen, die Kaya von dem grauenhaften Spektakel gebannt war. Als die Neubildung beendet war, ließ das Ungeheuer kurz seine vollständige Hand spielen. Irgendetwas in ihr sprang leise knackend an seinen Platz, ehe das Wesen seine leeren Augenhöhlen auf Kaya richtete.
O ihr Götter und Ungeheuer, dachte Kaya. Dann stürmte es vor.
Sie duckte sich unter seinem ersten Hieb weg und verwandelte ihren Oberkörper in geisterhaften Äther, sodass der zweite glatt durch sie durchging. Immerhin kann ich es ein wenig länger verletzen, dachte sie. Das ist besser als nichts. Nun musste sie nur noch eine weitere Gelegenheit zum Zuschlagen finden, einen Augenblick, in dem sie Macht in eine ihrer Klingen fließen lassen konnte, anstatt sich einfach nur diesen unaufhörlichen Hieben zu entziehen. Sie tänzelte in ebenso flinken Ausweichbewegungen wie ihr Gegner.
Plötzlich prallte ihre Ferse gegen Fels. Die Höhlenwand. Sie fluchte. Es hatte sie nicht ohne Sinn und Verstand angegriffen – es hatte sie vor sich her in eine Ecke getrieben, in der all ihre Gewandtheit nutzlos war.
Das Ungeheuer hob eine schaurige Kralle zum Schlag, als ein weiteres Prisma aus blauem Licht sich um sie legte und den Hieb mitten in der Bewegung aufhielt. Zwischen den sich neu formierenden Omensuchern stehend wob Inga das Licht der Laterne zu einem weiteren Bindezauber. Nicht übel, Runenauge. Ein zweites Prisma hielt die andere Kralle in Schach. Sie steckte fest, zumindest für den Moment.
Dann tat das Ungeheuer etwas, was sie überraschte: Es riss sich den eigenen Arm ab. Es holte mit dem Stumpf aus, während die gefangene Hand in der Luft schwebte. Die Muskeln zuckten und griffen nach ihr.
Fass es nicht an, dachte sie. Dann gibt es nur eine Möglichkeit.
Kaya ließ sich gegen die Höhlenwand sinken, und der kalte Schock der Instabilität breitete sich in ihrem Körper aus. Es war nur ein Augenblick – doch es schien ein langer Augenblick zu sein. Ihr Herz hörte auf zu schlagen. Alles, wodurch sie am Leben war, wodurch sie Kaya war, wurde grau und verblasste.
Dann stolperte sie zurück zum Höhlenboden, ein paar Schritt von den Füßen des Ungeheuers entfernt. Sie sah, wie es sich umdrehte, wie diese affenartigen Arme es auf sie zuschnellen ließen, und sie hatte Mühe, ihre Lungen wieder mit Luft zu füllen. Steh auf. Steh auf!
„Genug!“, dröhnte eine Stimme, die laut an den Wänden der Höhle widerhallte. Zu Kayas Erleichterung und Erstaunen wurde die Kreatur tatsächlich langsamer, als ihre Aufmerksamkeit für einen Augenblick von der Stimme in Anspruch genommen wurde. Das war genug. Sie jagte sämtliche arkane Macht, die sie aufbringen konnte, in ihre Klinge hinein und setzte zu einem tiefen Schnitt genau durch eines der Beine des Ungeheuers an.
Diese Stimme, dachte sie und machte eine Rolle auf die andere Seite der aufheulenden Kreatur, um in Kampfstellung wieder aufzustehen. Sie klang vertraut und doch
Erst jetzt wurde sie des pfauenblauen, schillernden Leuchtens gewahr, das die Höhle ausfüllte. Sie blickte zu den Omensuchern zurück und sah Asi.
Nein – nicht Asi. Nicht ganz. Seine Gugel war zurückgeschlagen, und aus seinen Augen strahlte ein eigenartiges Licht, das die Höhlenwände erhellte: ein schillerndes Muster aus Grün und Blau und Purpur. Also nicht bloß ein netter alter Mann. Oder eben nicht nur.
„Nie habe ich solchen Unrat gesehen, der es wagte, diese Reiche zu entweihen! Selbst die Dämonen Immersturms sind nicht so verderbt!“
Es war schwer zu sagen, dachte Kaya, wie viel davon zu dem Ungeheuer vor ihnen durchdrang. Sein Bein war weg und zerfiel zu Asche. Es balancierte auf seinen drei verbliebenen Gliedmaßen, während die kleineren Hände dicht vor seiner Brust gefaltet blieben. So gekrümmt wirkte es noch tierhafter als zuvor. Kaya war zwar keine Meisterjägerin, doch selbst sie wusste, dass ein Tier immer dann am gefährlichsten war, wenn man es verwundet hatte.
Das Ungeheuer warf sich erneut auf sie, doch dieses Mal war Kaya vorbereitet. Nun wurde es langsamer. Beim nächsten Versuch würde sie es erwischen. Ein sauberer Schlag durch seinen Hals sollte es erledigen.
Plötzlich krachte das Monster gegen – nichts. Es taumelte zurück und warf sich dann mit seinem gesamten Gewicht erneut vorwärts. Es gab einen dumpfen Schlag, und dort, wo es aufprallte, kräuselte sich die Luft. Eine magische Barriere, erkannte Kaya. Und zwar eine ziemlich starke. Selbst sie würde Mühe haben, sie zu durchdringen.
Sie drehte sich um. Hinter ihr hatte Asi einen Arm ausgestreckt, und diese funkelnde Energie wallte um seine Hand. Das Ungeheuer blickte zwischen ihr und Asi mit etwas hin und her, was sie als Unsicherheit zu erkennen glaubte. Dann, mit einem letzten durchdringenden Brüllen, wandte es sich zur Flucht.
„Warte!“, rief Kaya. „Halt es auf!“
Doch es war zu spät. Das Ungeheuer machte einen absonderlichen, dreibeinigen Satz und rannte geradewegs auf jenes Stück der Wand zu, aus dem dieses ganze pilzartige Metall zu entspringen schien. Ohne langsamer zu werden, warf es seinen Körper auf die silbrige Oberfläche. Anstatt jedoch abzuprallen – oder die Höhle über ihren Köpfen zum Einsturz zu bringen –, schien es in das Metall einzusinken wie in etwas Dickes, Zähflüssiges. Einen Augenblick später war es zu einer wulstigen Masse aus Fleisch und Erz geworden, und einen Augenblick nach diesem war es verschwunden.
Stille legte sich über die Höhle. Die Omensucher schienen vor dem noch immer schillernden Asi zurückzuweichen und die Augen zu bedecken. Selbst Inga wirkte erschüttert. Ihre blicklosen weißen Augen waren fest auf ihren einstigen Berater gerichtet.
„Alrund“, flüsterte Inga. „Ich habe natürlich die Sagen gehört, aber ich hätte nie geglaubt
„In der Tat, Inga Runenauge. Bisweilen gefällt es den Göttern, in der Verkleidung eines Sterblichen zu reisen, auf dass wir Kaldheim beobachten können, ohne selbst beobachtet zu werden“, sagte Asi mit tiefer, in ein unnatürliches Echo gehüllter Stimme. „Und was ich gesehen habe, bereitet mir große Sorgen. In allen Reichen sind –“
„Du hast es entkommen lassen!“, herrschte Kaya ihn an und rammte ihre Dolche zurück in die Scheide.
Asi – Alrund? Wer auch immer – hielt inne. Zweifellos hatte viele, viele Jahre lang niemand so mit ihm gesprochen.
„Wir hatten es schon geschwächt“, sagte Kaya. „Ich habe gesehen, wie es langsamer wurde. Nächstes Mal weiß es, dass wir kommen. Es wird bereit sein. Dieses Ding ist nicht so dumm, wie es aussieht.“
„Also hast du vor, es weiter zu verfolgen, selbst nachdem du gesehen hast, wozu es fähig ist“, stellte Alrund fest.
„Die Aufgabe ist noch nicht erledigt. Und ich wurde bereits bezahlt.“ Es ging ihr nicht um ihre Berufsehre, auch wenn sie dies nicht vor der versammelten Menge zugeben mochte. Dieses Ding war gefährlich, und – wie sie zu vermuten begann – nicht aus dieser Gegend. Doch das ergab keinen Sinn. Gab es derart hässliche Planeswalker?
„Die Bestie ist bereits aus Bretagard geflohen. Du kannst sie nicht mit gewöhnlichen Mitteln aufspüren“, sagte Alrund. „Sie bewegt sich zwischen den Reichen, wie es kosmische Ungeheuer tun. Obgleich ich sicher bin, dass dieser Schrecken nicht zu ihnen zählt.“
„Also schön. Wie verfolge ich es?“, wollte Kaya wissen. „Immerhin schuldest du mir was. Dafür, dass du es überhaupt erst hast entkommen lassen.“
Das schien dem Gott etwas zum Nachdenken zu geben. „Ich muss mich mit meinesgleichen beraten. Es gibt zu viele Rätsel, die einer Antwort bedürfen. Doch wenn du diese Kreatur tatsächlich aufspüren willst, wird dir das Langschiff Cosima auf dieser Queste zur Seite stehen. Dafür werde ich sorgen.“
Kaya hörte mehr als ein paar Omensucher nach Luft schnappen. Die Cosima – sie kam in beinahe jedem Gebet vor, das sie auf See sprachen.
„Bei deiner Rückkehr wirst du sie am Anleger von Sevalgr vorfinden. Ich vertraue darauf, dass die Omensucher dich zurückgeleiten werden, doch von dort aus wirst du deinen eigenen Weg finden müssen. Das Schiff ist sehr
„Und woher genau soll ich wissen, wohin ich gehen soll? Ich bin nicht gerade eine erfahrene Seefahrerin“, sagte Kaya.
„Folge dem Licht von Starnheim über den höchsten Zweigen des Weltenbaumes. Es wird dich auf jenen Pfad führen, den zu beschreiten dir bestimmt ist.“
Kaya unterdrückte ein Seufzen. Götter und ihre Rätsel. Nur ein Mal wünschte sie sich eine klare Antwort.
„Ich muss aufbrechen.“ Alrund winkte in Richtung der Höhlenwand. Der Stein schien sich zu kräuseln und zu Wellen schillernden Lichts zu schmelzen: Verwobenes Flechtwerk – hübsche und blitzende Linien in denselben Farben, wie sie auch von Alrund ausgingen – bildeten den Umriss einer Tür. Dann verschwand der Stein, und an seiner Stelle war – nichts. In der Ferne konnte sie Licht erkennen, wie Sterne, die sich langsam bewegten, aber dazwischen befand sich nichts als schier unendliche, leere Dunkelheit. Plötzlich war Kaya sehr glücklich, ein magisches Boot zu haben, das ihr beim Überqueren dieser Kluft behilflich war.
Alrund trat auf den Durchgang zu, den er erschaffen hatte, und hielt dann inne. „Inga Runenauge. Kaya, die Weitgereiste. Ich fürchte, die Ankunft dieser Kreatur ist ein Omen: ein Vorzeichen, dass uns schreckliche Dinge bevorstehen. In all meinen Weissagungen sehe ich auf ganz Kaldheim nur Tod und Zerstörung. Ich fürchte, es nähert sich ein Doomskar – einer, der anders ist als alles seit Menschengedenken.“
Schweigen senkte sich über die Omensucher. Nicht zum ersten Mal fühlte sich Kaya, als hinkte sie einen Schritt hinterher. „Doomskar. Das klingt nicht sonderlich toll“, sagte sie.
„Ein Zusammenstoß der Reiche“, sagte Inga. „Und er bringt unweigerlich Krieg und Chaos mit sich. Eine Zeit großen Leidens.“
Wundervoll, dachte Kaya bitter. Ein Ungeheuer jagen. Ein paar Dörfler retten. Wunderbar einfach – nicht wie diese vertrackte Angelegenheit auf Ravnica.