Jage nicht in Kessig, sagten sie. Die Hunde werden dich finden.

Das mochte zu jener Zeit nach der Drangsal wahr gewesen sein, als man nicht einmal eine Katze umherwirbeln konnte, ohne dass ein Wölfling sie verschlang. Jetzt nicht mehr. Diese Hunde sterben aus, und die Wälder nehmen sich ihrer gierig an. Es heißt, man erkennt die Falkenraths stets an ihrer entsetzlichen Starrsinnigkeit bei der Jagd, an ihrem einnehmenden Wesen und ihrem nie enden wollenden Drang, ihre Krallen um genau jene Beute zu schließen, die sich am wenigsten fressen lassen will. Ein Falkenrath zu sein, bedeutet, sich sein Heim möglichst hoch droben zu errichten, damit jeder andere sieht, dass man auf der Jagd ist.

Bild von: Darek Zabrocki

Klaus ist da keineswegs anders. Seine Füße klatschen gegen das Unterholz, Blut tropft von seinem glatten Kinn auf das rote Laub des Ulvenwalds. Bolzen zischen ihm an den Ohren vorbei. Trotz allem grinst er. Sie haben ihn also gesehen. Vielleicht war die Verkleidung als reisender Mönch ein gewisser Affront gewesen: Die Horde an Jägern hinter ihm hat sich gehörig in ihren gerechten Zorn hineingesteigert. Er hatte nicht einmal geahnt, dass sie so viele Bolzen bei sich trugen: Ihr ploink, ploink, ploink klingt, als poche ein Riese mit den Knöcheln gegen die Bäume um ihn herum.

Ein umgestürzter Baumstamm versperrt ihm den Weg. Er springt darüber hinweg und wagt einen flüchtigen Blick auf seine Verfolger. Es sind fünf. Zwei davon groß und breitschultrig, bewaffnet mit Armbrüsten, die eher Ballisten gleichen als irgendetwas Tragbarem. Entzückend. Bald jedoch wird es keine Rolle mehr spielen, was sie bei sich tragen.

Bei dem Gedanken entringt sich ihm ein Lachen aus der Tiefe seiner Brust. Jeder Tropfen seines alchemistisch verfeinerten Blutes ruft nach der Dämmerung, und endlich antwortet die Dämmerung. Ein Chor erhebt sich in ihm, ein Kult, der die Ankunft seines ungesehenen Gottes herbeifleht, und er weiß, dass die Rettung zum Greifen nahe ist.

Denn in Wahrheit ist er nie wirklich in Gefahr gewesen. Hunde können ihm gefährlich werden, heilige Männer können ihm gefährlich werden, andere Vampire können ihm gefährlich werden – aber diese Menschen stellen keinerlei Bedrohung dar. Falken fürchten nicht die Maus – selbst dann nicht, wenn die Maus scharfe Krallen hat.

„Mir war nicht bewusst, dass sich so viele von euch nach dem Tod sehnen“, ruft er über die Schulter. Das Blut des Ältesten schenkt ihm mehr Kühnheit als je zuvor. Werden die Dorfbewohner je wieder schlafen können, wo sie doch wissen, wie einfach er ihre Herzen für sich hatte erwärmen können? Wahrscheinlich nicht, doch das wird ihn nicht davon abhalten, in ein paar Wochen zurückzukehren und sich selbst davon zu überzeugen. Es ist wichtig, die eigenen Wertanlagen im Auge zu behalten.

Und das Säen von Furcht ist immer eine lohnende Wertanlage.

Anstatt ihm zu antworten, feuern die Jäger weiter ihre Bolzen ab. Die beiden größten schießen blitzschnell und laut wie Donner durch die Luft. Beide zielen geradewegs auf seinen Kopf. Sie sind gute Schützen, doch er ist kein Hirsch, kein Bär, keine einfältige Kreatur des Waldes. Mit übernatürlicher Behändigkeit weicht er dem einen Geschoss aus und pflückt das andere aus der Luft. Ein Pflock? Jetzt werden sie aber doch recht dreist, oder?

Klaus ist jedoch bester Stimmung. Großmütig sogar, so satt, wie er ist, nachdem das Blut noch jene Talismane befleckt, die er den arglosen Dorfbewohnern verkauft hat. Mit dem Pflock in der Hand macht er einen Satz zu einem herabhängenden Ast hinauf. Nachdem er sicheren Tritt gefunden hat, wendet er sich zu den Jägern unter ihm um.

„Meine Damen, meine Herren“, sagt er. „Ich muss Euch für die Ertüchtigung danken. Wahrlich.“

Sieh sie sich nur einer an. Sieh sich nur einer die Furcht auf ihren Gesichtern an, die tiefen Sorgenfalten. Mitleiderregend.

„Wenn ihr wunderbaren kleinen Appetithäppchen nun jedoch den Blick zum Himmel richten würdet, so wüsstet ihr, welche Stunde es geschlagen hat“, sagt er. Er spürt es bereits: wie sein Körper sich ob der Magie strafft und ausdehnt, wie seine Zähne länger und schärfer werden. In Zeiten wie diesen ist eine menschliche Gestalt nur hinderlich. Die anderen Vampirfamilien scheinen das nicht zu verstehen, wohl aber die Falkenraths. Stärke ist das Einzige, was zählt. Diese Stärke kommt aus dem Blut, und das Blut trennt sie für immer von den Niederungen des menschlichen Daseins. Sollte man sich dies nicht zunutze machen? Sollte man nicht erkunden, wohin das Blut einen führt?

Seines beginnt gerade erst zu kochen.

Die Sonne versinkt, die Jagd beginnt“, sagt er, doch sein Mund hat sich bereits verändert, ist schon zu etwas Unmenschlichem geworden. Sein Körper streckt sich zu einer monströseren und furchterregenderen Gestalt, als diese Tölpel je gesehen haben. Er stößt ein tiefes, hungriges Grollen aus.

Ihre Furcht ist köstlich für ihn. Ihre geweiteten Pupillen, ihr abgehackter Atem, während sie ihn anstarren! Der Mond teilt den Wolkenschleier für einen Augenblick. Sein entsetzliches Antlitz erscheint in dem silbrigen Licht noch deutlicher und noch furchteinflößender. Die Luft ist geschwängert von Erwartung.

Klaus bleckt die Zähne.

Dies ist nur natürlich.

Und womöglich ist auch das, was als Nächstes geschieht, natürlich: Die Jäger werfen einander wissende Blicke zu, und ihre Münder verzerren sich zu einem ebenso schaurigen Grinsen wie jenem, das Klaus zeigt. Einer nach dem anderen lassen sie ihre Waffen fallen. Der Größte von ihnen – ein Hüne, der eher einem Holzklotz als einem Menschen ähnelt – lacht ebenso grollend, ebenso hungrig auf.

Klaus hat kaum Zeit, sich dafür zu wappnen: Das Mondlicht liebkost die wartenden Jäger, deren Körper aus ihren Fesseln aus Fleisch in ihre wirklichen Gestalten bersten – hoch aufragende Bestien mit über den Lefzen pendelnden Zungen und Fell, das das Spiel der dicken Muskeln, aus denen ihre wilden Leiber bestehen, kaum zu verbergen vermag. Die beiden Größten ähneln eher dem Traum eines Nähers als jedem Hund, den Klaus je erblickt hat. Ihre Brust erinnert an die Bierfässer, deren Inhalt er einst mit seinem Vater braute, und ihre dicken Arme an den Stamm jenes Baumes, auf dem er nun hockt.

Ihm schnürt sich die Kehle zu.

„Dieser Reim“, schnaubt der Anführer, „trifft nur auf Menschen zu.“

Klaus weiß wohl, wann es Zeit ist, wegzulaufen, zu fliehen, sich den Falken gleich, die nachzuahmen er anstrebt, in die Lüfte zu schwingen. Er springt von dem Ast. Wenn er seine Gestalt nur schnell genug wechseln kann –

Doch das kann er nicht.

Hunde können schließlich alles aus der Luft fangen, wenn sie es sich nur in den Kopf gesetzt haben.

Kiefer zermalmen ihm die Brust. Ehe er weiß, wie ihm geschieht, ist er am Boden. Die Wölfe umringen ihn und blicken auf ihn herab, als sei ein zweihundert Jahre alter Vampir nichts weiter als ein Sack Fleisch.

„Das könnt ihr mir nicht antun“, stammelt er. „So geht das nicht. Die Nacht –“

„Die Nacht gehört jenen, die sie sich nehmen“, sagt der Anführer, bevor sein Mund zu einer Schnauze wird.

Es ist das Letzte, was Klaus jemals hört.


Sie sieht zu, wie ihr Atem sich vor ihr zu einer Wolke formt.

Wenn sie sich anstrengt, kann sie alle möglichen Formen darin erkennen, bevor die Wolke sich wieder auflöst: die Schwingen eines wachsamen Engels, bellende Wölfe, kreisende Fledermäuse. Irgendwer, irgendwo kann vielleicht sogar anhand dieser Bilder herauszufinden versuchen, wer sie ist. Sie hat von diesen Dingen gehört: Priester, die einen fragen, wen man am Himmel erkennt, und daraus ableiten, wovor man sich fürchtet.

Arlinn Kord weiß, wer sie ist, doch sie hätte nichts dagegen, mit jemandem darüber zu reden. Besonders dieser Tage. Innistrad ist ihre Heimat. Das war es schon immer. Doch es sah noch nie so aus. Überall, wohin sie blickt, ist Frost. Eis klammert sich an die großen Bäume, die sie als Kind hinaufgekraxelt ist, eine dünne Schicht aus Weiß bestäubt die Mäntel und Umhänge der trauernden Dorfbewohner, und das vertraute Knirschen des Laubs unter ihren Füßen hat sich in etwas anderes verwandelt. Die Sonnenuhren wollen ihr weismachen, die sechste Abendstunde sei angebrochen, doch laut der Uhr in der Mitte des Dorfes ist es gerade erst einmal halb fünf. Der Sonnenuntergang kommt früher und früher.

Und mit ihm der Mond.

Immer der Mond.

Arlinn, Hoffnung des Rudels
Arlinn, Hoffnung des Rudels | Bild von: Anna Steinbauer

Sie spürt ihn, selbst jetzt, als sie im Haus des Ältesten sitzt, selbst jetzt, als sie seiner Frau verspricht, ihr Bestes zu tun, um diese Morde aufzuklären.

„Es geschieht jede Nacht, nicht wahr?“, sagt die Frau zu ihr. Ihre Stimme ist kaum mehr als ein Krächzen. „Des Nachts höre ich sie einander rufen. Mein Finneas sagt immer, wir sind sicher, solange wir uns um unsere eigenen Angelegenheiten kümmern, aber letzte Nacht

Im anderen Zimmer hat Finneas’ Blut die Wände rot getüncht. Arlinn schluckt. Ihr Blick fällt auf Avacyns Symbol über dem Kamin – halb fester Stein, halb Draht und Stroh. Die Drangsal hat Innistrad viel genommen, doch es ist schwer, einen festen Glauben zu brechen. Selbst wenn das Objekt dieser Verehrung so tief fällt und hart landet wie Avacyn.

„Es ergibt einfach keinen Sinn“, sagt die Frau – Agatha. „Sie sollte uns beschützen. Alles schienFür eine kleine Weile war es

Arlinn nimmt Agathas Hand in ihre. Im Angesicht unfassbarer Widrigkeiten findet bisweilen eine einfache menschliche Berührung ihre Stimme. Agatha schnieft. Sie sieht ebenfalls zu dem Symbol auf, und in dem Moment, in dem sie es wahrnimmt, senkt sie den Blick.

„Wir sind nicht allein“, sagt Arlinn. „Wie dunkel es auch erscheinen mag, der Morgen wird kommen – auf welche Weise auch immer.“

„Du hast leicht reden.“

Aber es ist keineswegs leicht, so zu reden. Besonders nicht für Arlinn, die sich so überdeutlich an den erhobenen Speer des Engels erinnert. Noch Wochen nach der Drangsal wollten ihre Wölfe nichts mit der Gesellschaft der Menschen zu tun haben, und sie konnte es ihnen kaum verübeln. Unter Menschen zu wandeln, bedeutete, ihre Sorgen einzuatmen und ihre Bürde zu tragen. Die Wälder brachten Leben, die Straßen und Kirchen und Dörfer nur endlosen Tod.

Und dennoch ist der Tod auf Innistrad allgegenwärtig, und sich von ihm abzuwenden, ist, als wende man sich von der gesamten Schönheit menschlichen Strebens ab. Das Leben im Wald ist einfacher, ja. Schlichter, ja. Doch der Triumph einer Jagd ist nur ein flüchtiger Augenblick im Vergleich zu jenem Triumph eines ganzen Dorfes gegen die sich anpirschende Dunkelheit. Einen Ort zu errichten, an dem Kinder die Dunkelheit nicht fürchten, dauert viele Jahre, doch sein Nutzen hält Generationen lang an.

Also besucht sie die Städte und Dörfer in Kessig und tut, was sie kann, um sie gegen die Dunkelheit zu wappnen.

Agatha wirft einen weiteren Scheit ins Feuer. Als sie sich in den alten, abgewetzten Sessel fallen lässt, zieht sie den Umhang ihres Gatten enger um sich. Auch ihr Atem bildet Nebel. Arlinn denkt darüber nach, sie zu fragen, was sie darin sieht.

„Arlinn“, sagt Agatha.

„Ja?“

„Es wird dunkler, nicht wahr?“

Arlinn schluckt. Ein flüchtiger Blick aus dem Fenster ist alles, was nötig ist, um Agathas Furcht zu bestätigen. Sie beide kennen die Antwort. Dass sie diese Frage überhaupt stellt, zeigt nur, wie zerrüttet der Tod ihres Mannes in der letzten Nacht sie zurückgelassen hat. Kessiger verlassen sich oft auf ihren Aberglauben, um sich vor Dingen in Sicherheit zu wähnen, denen sie lieber keinen Namen geben wollen.

Am besten lügt man nicht. „Ja, ich glaube, das wird es.“

Agatha zieht die Knie enger an den Körper. „Gustav und Klein sagen, ihre Feldfrüchte gedeihen nicht mehr so wie früher. Die Kälte ist schlecht für sie, aber Licht bekommen sie auch keines.“

„Die Ernte ist nicht mehr weit“, sagt Arlinn. „Ihr werdet mehr Vorräte anlegen müssen, doch in dieser Saison sollte es genug für alle geben. Die Jäger können sich um den Rest kümmern.“

„Diese Saison“, wiederholt Agatha. „Was ist in der nächsten? Und was, wenn alle Jäger

Sie macht eine Geste in Richtung des anderen Zimmers, in Richtung des Blutes, das Arlinn hinten im Rachen schmecken kann. Sein Geruch weckt einen urtümlichen Sinn in ihr – einen Teil, der sagen will, dass die Jäger mehr Fleisch als sonst finden werden, wenn sich unter ihnen so viele Wölfe befinden.

„Sie sagen, es war ein Vampir. Ist das zu glauben? Ein Vampir? Hier draußen“?, meint Agatha. „Die Wache hat ihn zur Strecke gebracht. Sie haben mich gefragt, ob ich sein Herz sehen will. Sie sagen, es war leicht, ihn zu töten.“

„Ich glaube, ich habe sie auf dem Weg hierher gesehen“, sagt Arlinn. „Sie haben an etwas gearbeitetEs hat wie eine Vogelscheuche ausgesehen, nur viel größer. Und mit Fangzähnen. Irgendeine Art von Abbild.“

Da ist ein schwaches Lächeln auf Agathas Gesicht. Es fühlt sich wie ein Fortschritt an. „Das ist das Werk der Hexe. Finneas glaubt, es wäre eine gute Idee, dass sie uns hilft. Glaubte.“

Arlinn schenkt ihr einen weiteren Becher Tee nach. Dampf windet sich in der kalten Luft aus den Trinkgefäßen und kriecht höher und höher. Der wohltuende Geruch nach Kräutern lässt die Hütte heller erscheinen.

„Hier,“ sagt sie. „All diese Tränen machen dich durstig – ob du es merkst oder nicht.“

Sie lächelt erneut und führt den Becher an die Lippen. „Das ist gut. Ich weiß nicht, was du hineingetan hast, aber die Gewürze fühlen sich warm an.“

„Es ist ein altes Familienrezept“, sagt Arlinn. Tatsächlich ist es einfach nur eine Mischung aus all dem, was sich für ihre Nase richtig angefühlt hatte, als sie das letzte Mal draußen im Wald gewesen war. „Wenn ich es dir verrate, suchen sie mich heim.“

So etwas wie ein Lachen entfährt Agatha – ein kurzer Atemzug, dann ein längerer. „Das können wir nicht zulassen.“

„Allerdings“, sagte Arlinn. Sie gießt sich ebenfalls nach. „Also, ich habe eine Idee. Solange wir aus diesen beiden Bechern trinken, sprechen wir über unsere Familien. Ich erzähle dir alles über meine Brüder, und du erzählst mir von Finneas.“

Ihr Nicken versinkt beinahe unter dem übergroßen Wollpullover. „Gut. D-Das kann ich tun.“

„Das freut mich“, sagt Arlinn. „Und danach kannst du mir mehr über diese Hexe erzählen.“


Arlinn kennt diese Wälder – und sie kennen sie. Wohin ihr Blick auch fällt, wartet eine Erinnerung darauf, sie zu grüßen. Hier – die Kratzer in einer Eiche von einer alten Jagd. Zwei Tage lang hatten sie und ihre Wölfe einen weißen Hirsch durch den Wald verfolgt. Man hätte meinen sollen, er müsste leichter zu finden gewesen sein, als es der Fall war, doch dieser Hirsch hatte etwas an sich – etwas, was sie bezauberte, wann immer sie ihn witterte. Als sie und die Wölfe ihn schließlich am Fuß einer Steilwand in die Enge getrieben hatten, ließen sie ihn ziehen. Manchmal ist es schon Geschenk genug, etwas nur erblickt zu haben.

Das ist allerdings nicht, was die Wölfin ihr sagt. Sie erinnert sich daran, ihn vor sich gesehen zu haben: Augen, rosa von Blut und Wasser, sein Fell so hell wie der Schnee, von dem sie so oft träumte. Sie erinnert sich an den Hunger, der sich in ihrer Magengrube zusammengebraut hatte. Wenn man auf allen vieren geht, ist es so leicht etwas zu schmecken, so leicht, zuzubeißen und zu zerreißen und zu zerfetzen. Die Timberwölfe an ihrer Seite verkündeten ihre Absichten durch ein unmissverständliches tiefes Grollen und knirschende Zähne. Auch sie waren hungrig.

Doch dieser Hirsch hatte etwas vom Mond an sich, etwas, was ihr verriet, dass er nicht für ihre Mägen bestimmt war. Unschuldige Schönheit war selten auf Innistrad, so selten wie Unschuld überhaupt, und sie wollte nicht diejenige sein, die sie erschlug. Arlinn wechselte in ihre menschliche Gestalt zurück. Die Wölfe setzten sich verstimmt und schwiegen, als sie einen Segen flüsterte.

Der weiße Hirsch rannte davon.

Die Wölfe kehrten an die Jagd zurück.

Letzten Endes war es nicht so schwierig gewesen, eine andere Mahlzeit zu finden. Sie legten sich schlafen, alle fünf von ihnen, umeinander eingerollt und mit etwas weniger heiligem Fleisch im Magen.

Und als sie am Morgen erwachten, war da ein Schädel, der auf einem in den Boden gerammten Schwert thronte. Weißes Fell hing an den Knochen. Sie kannte das Schwert, sie kannte den Geruch des Fleisches des Hirsches, und sie verstand die Botschaft.

Tolovar hatte nie viel für ihre sanftere Seite übrig gehabt.

Wo auch immer er ist und was auch immer er tut – das kümmert sie nicht länger. Sie hatten ihre Pfade vor langer Zeit gewählt. Er hatte sein Rudel gefunden und sie das ihre.

Die Wölfe drängen darauf, sie zu treffen und mit ihr zu spielen. Findet Hexen, hatte sie ihnen aufgetragen, und sie sind froh, auf jede nur erdenkliche Weise zu helfen. Während sie durch die Wälder läuft, hört sie alle paar Augenblicke einen von ihnen rufen, und wenn sie bei ihm ankommt, erwartet sie ein sonderbar geformter Ast und ein Wolf, der sie erwartungsvoll anblickt. Sie dankt ihnen natürlich. Diese merkwürdigen Äste bergen ihre ganz eigenen Hinweise.

Bild von: Rovina Cai

Je tiefer sie sich in den Wald vorwagen, desto stärker ändert sich der Geruch. Ein beißender Gestank brennt sich ihr in die Nüstern, gefolgt von einem warmen, zimtartigen Duft. Als sie in ihre menschliche Gestalt zurückwechselt, kann sie den nächsten Ast deutlicher erkennen: Hierist ein Hinweis. Eine Reihe von sorgfältig eingeritzten Mondsicheln und Kreisen befindet sich darauf. An einem Ende hängt von einem Zweig ein Stück polierter Opal herab. Sie kneift die Augen zusammen. Dienen diese eingeritzten Formen nur der Zierde oderAgatha sagte, Finneas wäre einem geheimen Zeichen gefolgt, um zu der Enklave zu finden.

Arlinn krault ihren Gefährten zwischen den Ohren. „Gut gemacht“, sagt sie. „Teilen wir uns auf – hier entlang.“

Er richtet sich auf, duckt sich wieder und saust wie ein Pfeil davon. Sie braucht nur einen Augenblick, um sich zurückzuverwandeln und ihm zu folgen. Er ist der Schnellste des Rudels. Wölfe haben keine Namen, nicht im menschlichen Sinne jedenfalls, doch es fühlt sich falsch an, so viel Zeit mit jemandem zu verbringen, ohne ihm einen zu geben. Der weiße Streifen an der Flanke dieses Wolfes, zusammen mit seiner beeindruckenden Geschwindigkeit, brachte sie dazu, ihn „Flitzer“ zu nennen. Seine Gefährtin, „Rotzahn“, folgt ihm in angemessener Geschwindigkeit und hält stets Ausschau nach möglichen Gefahren. „Geduld“, die ihren Namen erhielt, nachdem sie jeden Tag vor den Türen der Kathedrale auf sie gewartet hatte, ist Rotzahn auf den Fersen. Manchmal überholte sie sie sogar. „Findling“, der Größte und Freundlichste unter ihnen, bildet mit wild baumelnder Zunge die Nachhut.

Da sie nun weiß, wonach sie Ausschau halten muss, ist es leicht, den Symbolen zu folgen. Sie kann sich der Jagd hingeben – dem Laub unter ihren Tatzen, der kühlen Waldluft, ihren Sinne, die vor Leben vibrieren. Auf vier Pfoten zu laufen, fühlt sich so viel natürlicher an, als auf zwei Füßen zu rennen. Manchmal glaubt sie, dass sie in ihrer menschlichen Gestalt nicht wirklich rennt.

Findlings aufgeregtes Heulen ist nur das erste. Sie alle spüren es. Den Rausch dieser ungezähmten Wildnis, die Gefahren Innistrads in weiter Ferne dank der Freude des Augenblicks. Arlinn schließt sich ihnen an. Zumindest für den Moment will sie sich frei fühlen.

Doch kaum hat das Heulen ihre Kehle verlassen, sieht sie ihn: einen Hirsch, reinweiß, unter einem mit ziseliertem Silber behangenen Zweig. Seine rosafarbenen Augen richten sich auf sie.

Arlinn kommt schliddernd zum Stehen. Ihr Nackenfell richtet sich auf und sie knurrt, um den anderen zu bedeuten, anzuhalten. Etwas stimmt nicht. Es kann unmöglich zwei von ihnen geben, und ihm ausgerechnet hier zu begegnenIrgendjemand muss versuchen, ihnen einen Streich zu spielen.

Doch sie wird sich nicht zum Narren halten lassen. Ein tiefer Atemzug verhilft ihr zu mehr Erkenntnissen – so wie es auch der Hirsch selbst tut, der einfach um die versammelte Gruppe herumstolziert. Zunächst einmal riecht er keineswegs nach einem Hirsch. Schweiß: Ja. Farbe: Ja. Selbst der Duft von Magie, aber nichts von einem Hirsch. Außerdem verhält er sich nicht wie ein Hirsch. Alles in diesem Wald läuft vor einem Rudel Wölfe davon. Die einzige Ausnahme bilden anderen Werwölfe. Doch dies ist es auch nicht.

Der Hirsch stolziert weiter um sie herum. Rotzahn senkt die Schnauze und knurrt, als er näher kommt. Der Hirsch weicht zurück und blickt erneut Arlinn an. Die Art, wie er seinen Kopf neigt, ist der letzte Hinweis, den sie braucht.

Arlinn bellt den anderen einen Befehl zu, sich ruhig zu verhalten. Sie schlüpft hinter einen Baum und wechselt in ihre Menschengestalt zurück. Geduld trabt mit ihrem Lederbeutel zu ihr. Sie greift nach ihrer Kleidung, die darinnen ist.

„Katilda, nicht wahr?“, ruft sie. „Ich hoffe, du gibst mir einen Augenblick, mich anzuziehen.“

Die Wälder um sie herum scheinen zu lachen: Sie spürt es im Rücken, während sie sich ankleidet. Erst als sie sich umsieht, bemerkt sie, dass sie sich unter einem der gewaltigen Steinbögen des Celestus befinden. Irgendetwas an dem Gebilde hat sie schon immer an das Innere eines Uhrwerks erinnert. Manchmal, so sagt man, gleiten die Arme über die zentrale Plattform – die so groß wie ein Dorfplatz war. Arlinn selbst hatte es nie gesehen, doch sie hatte alle möglichen Ideen darüber gehört, welche Art von uralten Riten ihn wohl antreiben mögen.

Sie mussten tief in den Wald vorgedrungen sein. Arlinns Mutter hatte sie immer ermahnt, umzukehren, sobald sie die zerbrochenen Ringe aus der Erde ragen sah. Als Kind hatte sie sich gefragt, wie es wohl sein würde, auf den breiten, flachen Oberflächen herumzuklettern – wenn die Menschen in Thraben doch jeden Tag mit einem solchen Ausblick erwachten. Vielleicht, wenn sie dort hinaufgelangen konnte, könnte sie so tun, als sei sie eine verwöhnte Adlige. Jetzt als Erwachsene betrachtet sie die Reliefs auf der vernarbten Oberfläche mit Sorge und die Linsen mit deutlichem Unbehagen. Ihre Mutter hatte sie zu Recht vor dem Celestus gewarnt. Welchem Zweck er auch immer gedient haben mag: Er ist besser in der Vergangenheit aufgehoben.

Bild von: Jonas De Ro

„Wenn du meinen kleinen Trick verzeihst, vergebe ich dir, dass du dich anziehst“, erklingt die Antwort. Ihre Stimme ist gleichzeitig bezaubernd und kühl. Sie klingt, so denkt Arlinn, wie die Art von Dorfvorsteherin, die schon vor langer Zeit herausgefunden hat, dass man diejenige war, die ihren Kuchen stiehlt. „Die Wölfe in diesem Wald sind oft nicht so gut erzogen. Die meisten von ihnen hätten angegriffen.“

Arlinn kommt hinter dem Baumstamm hervor. Dort, wo es einstmals nichts als Bäume und Unterholz gegeben hatte, sieht sie nun eine Enklave: Zweige und Häute, die zu Zelten geformt und mit denselben Halbmonden und Kreisen verziert sind, die sie vorhin gesehen hat. Schwebende Kerzen tauchen den Ort in ein unheimliches Licht, ebenso wie es die Vogelscheuchen überall tun. Arlinn runzelt die Stirn. Kerzengelichter – so hatte ihre Mutter sie immer genannt. Es gibt eine alte Geschichte darüber, wie eines davon einen kleinen Jungen rettete, der sich im Wald verirrt hatte, und ihn den ganzen Weg zum Erntezeitfest begleitete. Eine andere Geschichte erzählt von Jägern, die auf der Suche nach Pelzen den Ulvenwald durchstreiften. In einem Jahr kehrte keiner von ihnen heim. Im nächsten Jahr erschienen diese Gelichter, geboren aus der Furcht ihrer Familien. Sie hatte nie damit gerechnet, einem von ihnen zu begegnen, geschweige denn so vielen. Das Grinsen, das in ihre tropfenden Wachsgesichter geschnitzt warDerlei Dinge konnten nur auf Innistrad tröstlich wirken.

Doch da sind auch Menschen in der Enklave – vielleicht zwei Dutzend von ihnen. Einige Frauen, andere Männer, wieder andere, die sich eindeutigen Zuschreibungen entziehen. Opulenten Kopfschmuck tragend murmeln sie Zauber vor den Kerzengelichtern. Ein dunkelhäutiger Mann schnitzt einen grimmig dreinblickenden Kürbis. Die schwingenden Mondsteine auf seinem Kopfputz funkeln im Licht. Zwei Frauen stehen um einen brodelnden und blubbernden Kessel. Vielleicht liegt es an der Kälte der Luft, doch Arlinn kann den aufsteigenden Rauch aus einigen Schritten Entfernung erkennen. Und sie kann auch das köstliche Gebräu riechen.

Und dort sitzt eine Frau vor ihnen auf einem bemoosten Baumstumpf. Auf ihrem Schoß liegt ein Stab. Ihr weißes Haar kräuselt sich durch die zahllosen Zweige ihres Kopfschmucks, und die fahlen Halbmonde und Kreise, die auf ihre dunkle Haut gemalt sind, sorgen nur dafür, dass ihre Gesichtszüge verschwimmen. Es ist schwer zu sagen, ob die Wölfe oder Arlinn ihre Aufmerksamkeit fesseln – doch sie scheint dies alles höchst belustigend zu finden.

„Wir sind nicht wie die meisten Wölfe“, sagt Arlinn. Sie blickt mit zusammengekniffenen Augen über die Enklave. „Und ich nehme an, du bist nicht wie die meisten Hexen.“

Das ist sie sicher nicht – Arlinn kann in der Luft hier nichts Böses wittern. Wie furchteinflößend die Schatten ihrer Kopfbedeckung sie auch aussehen lassen und wie seltsam die Bemalung ihr Gesicht wirken lässt: Es gibt keinen Zweifel daran, dass sie menschlich ist. Das allein ist in gewisser Weise tröstlich – obwohl Arlinn keine Ahnung hat, was diese Leute im Schilde führen. Die Magie hier riecht nicht wie gewöhnliche Magie. Wie etwas, was man zum Gären stehen gelassen hat, haftet ihr der Geruch des Alters an.

„Das kommt darauf an, wen man fragt“, sagt Katilda. „Vor der Ankunft des Erzengels waren wir wie die meisten Hexen. Bei seiner Ankunft gingen wir in die Schatten, und nun, da er fort ist, treten wir aufs Neue ins Licht.“

Arlinn neigt den Kopf. „Du wirkst nicht so alt.“

„Vielleicht nicht in dieser Gestalt und mit diesem Namen“, sagt Katilda. Sie deutet mit ihrem Stab auf den Baum, neben dem Arlinn steht. „Eine Eichel allein ist keine Eiche. Mit Zeit und Wasser und Sonne – wird sie vielleicht zu einer. Ebenso verhält es sich mit uns.“

„Also lasst ihr etwas neu wachsen“, sagt Arlinn. „Wer seid ihr?“

Bild von: Bryan Sola

„Wir sind, was einst war und was sein wird. Wir sind, was das Dunkel nicht töten kann. Wir sind der Morgenlichtzirkel.“ Die Frau spricht mit der Stimme von dreien, und bei jeder Silbe blitzen ihre Augen. Die Spitze ihres Stabes leuchtet. Sie stößt ihn sanft gegen die Erde. Das Gebüsch um sie herum erwacht zum Leben, wächst rasend schnell und nimmt sonderbare Formen an. Binnen weniger Wimpernschläge erkennt Arlinn es: das stolze Haupt des weißen Hirschs. „Doch wer bist du, Wölfin?“

„Mein Name ist Arlinn Kord“, antwortet sie. Sie blickt dem Zweighirsch nicht in die Augen. Selbst dann nicht, als die Augen zu Blüten werden. Sie kennt den Geruch von Nachtschatten nur allzu gut. „Es wird keinen Morgenlichtzirkel geben, wenn es keinen Morgen gibt – und in dieser Geschwindigkeit wird dies bald der Fall sein. Ich bin hier, weil ich Antworten suche.“

„Du hast mir keine gegeben.“ Ein weiterer sanfter Stoß des Stabes, und Ranken strömen herbei, um die Lücken im Kopf des Hirsches auszufüllen. Er macht zwei Schritte und verbeugt sich dann vor Katilda. Ein Bittsteller vor einer absonderlichen Herrscherin. „Doch wir wollen das fürs Erste beiseite lassen. Meine Antworten für dich sind so klar wie der Wald um dich herum und das Pochen deines eigenen menschlichen Herzens.“

Flitzer klopft mit dem Schwanz gegen den Boden. Arlinn selbst fühlt sich nicht sehr geduldig. Diese Hexe, diese Katilda – was waren das nur für Leute, die die Dinge immer so in die Länge ziehen mussten? „Könntest du sie ein bisschen klarer machen?“, fragt sie. „Meine Augen sind nicht mehr das, was sie einmal waren.“

Die Hexe berührt mit ihrem Stab den Kopf des Hirschs. An der Stelle entspringt eine Krone aus Zweigen und Blüten. „Es gibt einen Ritus genau dafür.“

Arlinn sieht nicht zu, wie der Hirsch davonprescht – sie hält den Blick auf Katilda gerichtet. „Wenn ich eines gelernt habe, dann dies: Riten sind niemals einfach.“

„Darin liegt ihre Macht: Ein Ritus erdet die Gemeinschaft und ihre Bräuche. Im Lauf der Zeit fügen Hunderte ihren Glauben seiner Macht hinzu und übertreffen alles, was ein einzelner Magier sich zu erträumen hofft“, sagt Katilda. „Der Erzengel hat uns von diesen Bräuchen abgelenkt. Wir müssen zu ihnen zurückfinden – und zum Erntezeitfest.“

Avacyn hatte niemanden von irgendetwas abgelenkt – doch nun ist nicht die richtige Zeit für diesen Streit. Ganz gleich, wie sehr er in Arlinns Brust brennt. „Zum Erntezeitfest? Wie in den alten Geschichten?“

„Genau dies“, antwortet Katilda.

„Gewürztee und Kuchen?“, fragt Arlinn. Das Feuer brennt heißer. Als Priesterin Avacyns wusste Arlinn sehr genau, wie stark der Schutz des Erzengels gewesen war. „Wie soll uns das retten?“

„Das Erntezeitfest ist mehr als das“, sagt sie. „Sonne und Mond haben ihre eigene Zeit am Himmel. Das Erntezeitfest ist die Zeit der Menschen – unsere Feier, einem weiteren Jahr getrotzt zu haben. Wir haben zu lange in Furcht gelebt. Uns zu lange auf äußere Mächte verlassen, um uns zu retten. Wir müssen einander retten. Indem wir uns versammeln –“

„Warte“, sagt Arlinn und hebt die Hände. „Du hast vor, wie viele Leute zu versammeln?“

„So viele, wie kommen werden“, sagt Katilda mit der Geduld einer Dorfpriesterin. „Zusammen können wir unsere gemeinschaftliche Stärke unter dem Celestus bündeln und durch sie unser Gleichgewicht wiederherstellen.“

Arlinn schüttelt den Kopf, und ihre Ungeduld bahnt sich ihren Weg. „Da kannst du gleich einen Brief an jeden Nachtpirscher auf Innistrad schicken. So viele Leute an einem Ort zu versammeln, lädt geradezu zu einem Angriff ein. Wir haben bereits genug Tod gesehen. Wir müssen nicht noch mehr Leben für eine alte Geschichte aufs Spiel setzen, die du in irgendeinem Buch gelesen hast –“

„Ich habe sie nicht in einem Buch gelesen“, gibt Katilda zurück. Nun ist auch ihre Stimme schneidend, und die Hexe steht von ihrem Baumstumpf auf. Zu Arlinns Überraschung ist sie eine hochgewachsene Frau, so kräftig, wie die Eichen, die sie gepriesen hatte. Ein leiser Geruch nach Lehm stiehlt sich in Arlinns Nase – doch das ergibt keinen Sinn. Katilda ist kein Ghul. „Es wird Schutz geben, Arlinn Kord. Wächter, die nun das, was sie gelernt haben, nutzen können, um das Dunkel zu vertreiben. Du willst den Morgen zurückbringen? Wohlan denn. Doch das kannst du nicht, ohne auch die Hoffnung zurückzubringen, die wir verloren haben.“

Rotzahn knurrt. Ebenso wie Flitzer. Ihr Unbehagen hallt in Arlinns Brust wider. Dies wird auf keinen Fall gut enden. Doch als sie die alte Hexe anstarrt, sieht sie kein Anzeichen für ein Nachgeben.

„Du hast mir noch nicht einmal verraten, wie genau dieser Ritus vonstatten geht“, sagt Arlinn. „Vorausgesetzt, dass wir nicht zuerst alle getötet werden.“

„Wir?“, erwidert die Hexe, hält sich jedoch nicht mit der Spitze auf. Stattdessen deutet sie mit ihrem Stab auf den Celestus. „Die Antwort liegt, wie ich dir schon sagte, genau hier. Wir nutzen den Celestus. In seiner Mitte befindet sich ein Schloss aus hellem Gold: Wir brauchen den Mondsilberschlüssel, um ihn in Gang zu setzen. Hast du dich nie gefragt, wofür er gut ist? Unsere Vorfahren nutzten ihn genau hierfür – um das Gleichgewicht zwischen Tag und Nacht wiederherzustellen.“

„Im Kessigwald, umgeben von Feinden.“

„Ja. Um die Feuer anzufachen –“

„Die Feuer der Hoffnung“, unterbricht Arlinn sie. „Und wenn wir das nicht tun? Wenn wir einen anderen Weg finden?“

„Es gibt keinen anderen Weg“, sagt Katilda ebenso bestimmt. „Wird der Celestus nicht in Gang gesetzt – und wird er nicht richtig in Gang gesetzt –, wird die Nacht den Tag überwältigen. Geister, Ghule, Vampire, Werwölfe – ihr werdet euch an uns laben, bis –“

„Ich bin kein –“

Doch ein Geräusch, das durch den Wald schneidet, lässt ihr die Stimme in der Kehle stecken bleiben. Ein Heulen, rau und tief. Ein Geräusch, das die Wölfin in ihr aufheulen lässt. Ihr Rudel antwortet, und sie kann seine Freude spüren, seine Gier auf die Jagd.

Denn sie kennt dieses Heulen gut. Vor Jahren hörte sie es zum ersten Mal, als sie sich in ihrem Zimmer zusammengekauert und auf das Symbol gestarrt hatte, das sie beschützen sollte. Und sie hatte das Haus ihrer Familie verlassen, war auf allen vieren über die feuchte Mitternachtserde darauf zugespurtet – denn das Heulen sprach von einer Welt ohne Furcht.

Das erste Mal, dass sie das Heulen vernommen hat, ist zwanzig Jahre her. Die erste Nacht, in der sie Blut gekostet hat – und Freiheit.

Es rührt sie auf, selbst jetzt.

Tovolar.