Im Bauch des Langschiffs von Cosima lehnte Kaya sich zurück und sah zu, wie der Nachthimmel über ihr vorbeizog. Das war auch schon alles, was sie tun konnte, denn auf dem Schiff gab es weder Ruder noch Riemen. In dem Augenblick, als sie das Schiff betreten hatte, hatte es sich unvermittelt mit einem Ruck vom Anleger gelöst, und sie verstand, was Alrund gemeint hatte, als er sagte, es würde sie dorthin bringen, wohin sie gehen musste: Sie hatte in dieser Angelegenheit kein Mitspracherecht. Daran ließ sich nichts ändern. Von daher konnte sie sich nur zurücklehnen und ihren Gedanken nachhängen.

Nebeltor-Höhenweg
Nebeltor-Höhenweg | Bild von: Yeong-Hao Han

Üblicherweise waren die Reiche Kaldheims nicht enger miteinander verbunden als einzelne Welten. Wenn überhaupt, so war die Kluft zwischen ihnen noch unüberwindlicher, denn Kayas natürliche Fähigkeit, zwischen den Welten zu reisen, erlaubte ihr nicht, auch die Reiche auf diese Weise zu betreten. Selbst für die Götter dieser Welt war es kein Leichtes, den Kosmos zu durchqueren.

Inga zufolge gab es jedoch Ausnahmen. Hin und wieder öffneten sich – entweder dank menschlichen Einfallsreichtums oder einfach durch Zufall – zeitweilige Verbindungen zwischen zwei Reichen. Omenpfade wurden sie genannt. Doch die Doomskars waren es, vor denen sich die Menschen fürchteten: himmlische Zusammenstöße, die unweigerlich Unheil nach sich zogen. Das letzte Mal, als Bretagard mit Karfell, einem gefrorenen Reich voller Geister und wandelnder Leichen, zusammengestoßen war, hatte es eine Legion Untoter bis nach Beskirhall geschafft, ehe sie besiegt wurde. Seit Menschengedenken hatte kein Doomskar mehr Bretagard mit Immersturm, dem Reich der Dämonen, verbunden, doch die Folgen eines solchen Ereignisses waren schwer vorstellbar: Das letzte Mal, als auch nur ein einzelner Dämon bis nach Bretagard vorgedrungen war, hatte er derart entsetzlich gewütet, dass man die trostloseste, dunkelste Jahreszeit danach benannt hatte.

Alles in allem klang dies genau nach der Art von Ereignis, die sie von nun an zu vermeiden versuchen wollte. Bleib bei der Sache, Kaya. Du musst ein womöglich extraplanares und zweifellos gefährliches Ungeheuer finden. Das sollte dich für eine Weile beschäftigen.

Ein leises Poltern riss Kaya aus einem traumlosen Schlaf, und noch ehe sie wusste, wo genau sie war, war ihre Hand schon an das Heft ihres Dolches gefahren.

Warte. Wo genau war sie eigentlich?

Sie setzte sich auf, und ein Stechen im Rücken ließ sie zusammenzucken. Zwar mochte das Langschiff ein mächtiges Artefakt sein, das in der Lage war, die rauen, magischen Energien des Kosmos zu durchqueren, doch das machte es noch lange nicht zu einem bequemen Bett. Dichter Nebel hatten sich über das Wasser hinter ihr gelegt, der alles außer dem Geräusch der Wellen, die gegen das Heck schwappten, verschluckte. Vor ihr war der Bug des Schiffs auf eine schlammige Sandbank voller knorriger Wurzeln aufgelaufen.

„Das ist meine Haltestelle, was?“, sagte Kaya zu niemandem. Sie kletterte aus dem Schiff, und sofort versanken ihre Stiefel in der nassen, schwarzen Erde. Während sie sich noch fragte, ob sie das Schiff an einer der dicken Wurzeln vertäuen sollte, die sich vom Rand des Ufers ins Wasser wanden, machte es bereits einen Satz in die Wellen, als wäre es angeschoben worden. Augenblicke später war das Gefährt im Nebel verschwunden.

„Danke fürs Mitnehmen“, murmelte sie. Was genau sollte sie anstellen, wenn das Ungeheuer wieder in ein anderes Reich überwechselte? Nun ja, darüber konnte sie sich später noch Gedanken machen. Kaya griff nach einem Zweig und zog sich daran an der Sandbank hoch, um zum Wald hinaufzuklettern.

Kaya hatte jede Menge Zeit an kalten Orten verbracht. Wenn man sich vornehmlich mit Dingen befasste, die tot sein sollten, es aber nicht waren, so führte einen dieses Leben zu einer ziemlich großen Auswahl an uralten Grabmälern und vergessenen Städten. Nie zuvor jedoch war sie in einer Wildnis gewesen, die sich so überaus alt anfühlte. Jeder Baum war alt und großväterlich gekrümmt: Selbst die jüngsten unter ihnen schienen bereits eine ganze Handvoll Lebensspannen lang gelebt zu haben. Hier und da stieß sie auf eingestürztes Mauerwerk, das unter dem allgegenwärtigen Moos kaum zu erkennen war. Alles erschien ihr wie ein Relikt aus vergessenen Äonen, ein Zugeständnis daran, dass die Zeit am Ende immer den Sieg davontrug. Nach einer Stunde Marsch hatte Kaya nur ein einziges unversehrtes Gebäude gesehen: einen hoch aufragenden Torbogen aus Stein. Einst musste er die Tore einer riesigen, versunkenen Festung gehalten haben – wer oder was auch immer diesen Ort gebaut hatte, hatte zwanzig Schritt hohe Durchlasse gebraucht.

Der Wald schien sich endlos zu erstrecken. Und beständig suchte Kaya nach jenen silbrigen, organisch aussehenden Adern aus Metall, die sie in der Höhle tief im Aldergast gesehen hatte. Ein großer, gruseliger Fußabdruck würde es auch tun. Oder vielleicht ein paar Klauenspuren. Doch da war nichts. Keinerlei Anzeichen, dass das Ungeheuer überhaupt hier gewesen war.

Kaya hatte angehalten, um sich auf dem Stumpf eines umgestürzten Baumes auszuruhen, als sie in der Ferne Stimmen hörte. Augenblicklich sprang sie auf die Füße. Den glitzernden, leuchtenden Göttern dieser Welt sei Dank. Wahrscheinlich waren diese Leute, wer auch immer sie waren, nicht so herzlich wie die Omensucher, aber vielleicht konnte Kaya sie zumindest nach dem Weg fragen.

Kaya schob schwere, herabhängende Zweige beiseite und duckte sich unter moosbewachsenen Überhängen hindurch, um dem Geräusch zu folgen. Schließlich trat sie auf eine Lichtung. An einem Ende befand sich ein behauener Steinblock, der von verblasstem, knotigem Flechtwerk und einem Grat wuchernder Pilze überzogen war. Auf dem Rest der Lichtung war eine Ansammlung absonderlicher und lärmender Kreaturen zusammengekommen.

In ihrer gebückten Haltung waren sie etwa so groß wie Kaya selbst, was bedeutete, dass sie sie um einiges überragten, wenn sie sich aufrichteten. Sie alle waren grün. Manche blassgrün, einige von satterem Farbton, einige mit einem hässlichen Fleckenmuster. Sie hatten langes, dunkles Haar, das ihre knochigen Gestalten wie eine Schärpe umhüllte, und beachtliche Hauer, die klackend aneinanderstießen, wenn sie ihre Münder öffneten und in einer Sprache redeten, die sie nicht verstand. Trolle. Auf Kaldheim hatte Kaya zwar noch keine gesehen, doch sie waren unverwechselbar. Und wenn man den Omensuchern Glauben schenken durfte, so handelte es sich bei der hiesigen Sorte um besonders übellaunige Gesellen.

Glücklicherweise schienen sie zu sehr damit beschäftigt, miteinander zu reden – und sich bisweilen Ohrfeigen zu versetzen –, um Kaya zu bemerken. Vorsichtig wich Kaya Schritt für Schritt auf dem Weg zurück, den sie gekommen war, als eine Gestalt auf den gewaltigen Steinblock trat. Statt eines Trolls handelte es sich um einen Mann, der eine Kapuze trug, von der klimpernde goldene Scheiben herabhingen. Am Gürtel trug er ein Schwert in der Scheide.

Aus dem Schatten um den Stein herum schälten sich vier Trolle, die allesamt größer waren als die in der Menge. Sie waren in rostige, schlecht sitzende Kettenrüstungen gekleidet, und sie alle trugen irgendeine Art von Waffe: Keulen, grobe Äxte, zerbrochene Schwerter. Einer von ihnen schlug seine Axt gegen den Steinblock und blaffte irgendetwas in einer rauen, gutturalen Sprache. Das Schnattern der Menge verstummte, und der Mann in der Kapuze wandte sich seinem Publikum mit ausgebreiteten Armen zu.

„Freunde“, sagte er mit tiefer, sonorer Stimme. „Ihr kennt meine vielen Namen. Manche nennen mich den Schwindler, andere den Runenschmied. Manche nannten mich den Prinzen des Schalks, andere den Gott der Lügen. Jeder kennt mich jedoch als Valki, und mein erstes Geschenk an euch, das Geschenk der Sprache, ist umsonst. Hört meine Worte. Versteht sie. Was ich euch zu sagen habe, ist von außerordentlicher Wichtigkeit.“

Valki, Gott der Lügen
Valki, Gott der Lügen | Bild von: Yongjae Choi

Ein Gott? Hier? Immerhin gab er nicht vor, ein alter Mann zu sein. Obwohl …, dachte Kaya. Irgendetwas war seltsam an ihm. Etwas, was sie nicht ganz greifen konnte.

„Eine Zeit großen Zwists steht bevor! Bald wird sich ein Pfad öffnen – zu grausamen und seltsamen Orten voller Kreaturen von unermesslicher Gier und Frevelhaftigkeit! Wenn man es ihnen erlaubt, werden diese Wilden die Wälder Gnottvolds niederbrennen! Sie werden die stolzen Clans der Trolle dem Schwert anheimfallen lassen!“ Stille und gelegentliches Zähneklackern waren die einzige Antwort, die er erhielt. „Diese garstigen Eindringlinge wollen …“ Er hielt inne, als suchte er nach den richtigen Worten. „… Sie wollen die Schätze eurer Baue an sich reißen!“

Nun brach die Menge in wütendes Gekreisch aus. Valki ließ dies ein paar Augenblicke lang zu, ehe er die Hände hob und um Ruhe bat. Als keine Ruhe einkehrte, trat einer der großen gepanzerten Unholde vor und zermalmte einen Troll in der vordersten Reihe mit seiner Keule. Die Menge verstummte erneut.

„Es gibt nur einen einzigen Ausweg: Die Gnottvold-Clans müssen zuerst angreifen! Zu lange haben eure nichtigen Zwistigkeiten euch entzweit! Schlagt gemeinsam zu, und niemand wird euch aufhalten können!“

Dann erkannte Kaya, was sie sah: Valki schimmerte. Zuerst war es kaum wahrnehmbar gewesen, ganz anders als das überbordende Leuchten, das von Alrund ausgegangen war. Leicht zu übersehen – doch Kaya hatte lange Zeit körperlose Feinde gejagt. Sie war geübt darin, subtile Energieströme wahrzunehmen. Das, was sie hier sah, war eine Illusion. Und Kaya wusste, dass sie auf keinen Fall eine Illusion sah, die vom Gott der Lügen erzeugt worden war.

Still bereitete Kaya einen Zauber vor. Nichts Grandioses: ein bisschen Reinigung, ein kleiner Blick hinter den Schleier. Noch ein bisschen Wind dazu, und

Sie pustete sanft in Valkis Richtung. Stäubchen aus weißem Licht tanzten von ihren gespitzten Lippen. Der Zauber taumelte vorwärts. Luft wirbelte um ihn herum auf, aufgepeitscht zu einer Brise, die die Mähnen der Trollmenge zerzauste. Als die Magie über Valki hinwegfegte, schien sie dessen Präsenz geradezu fortzuwehen: Anstelle des Gottes der Lügen stand da ein rothäutiger Mann mit zwei auffälligen Hörnern und einem sehr überraschten Gesichtsausdruck. „Wer wagt es …? Zeig dich!“, spie er wütend aus.

Schlechte Idee, dachte Kaya. Andererseits … Als wie gut hatten sich denn ihre bisherigen Ideen erwiesen? Sie trat hinter ihrem Baum hervor. „Du hast wahrscheinlich gedacht, du kommst mit dieser schlampigen Illusion durch, was?“, meinte Kaya. „Die dummen Trolle merken das ja sowieso nicht. Pech gehabt, Thibalt.“

Thibalt, kosmischer Hochstapler
Thibalt, kosmischer Hochstapler | Bild von: Yongjae Choi

Sein Mundwinkel zog sich zu einem Grinsen hoch, was seiner wütenden Miene jedoch keinen Abbruch tat. „Du hast scharfe Augen. Sind wir bereits miteinander bekannt?“

„Nein. Aber wie heißt es so schön? Dein Ruf eilt dir voraus.“ Oh, sie hatte jede Menge Geschichten über den teuflischen Planeswalker gehört, und keine davon war gut.

„Du bist zu gütig. Und mit wem habe ich das Vergnügen?“

„Mein Name ist Kaya.“

„Hm. Kommt mir bekannt vor. Eine heimtückische Diebin, wenn ich mich recht erinnere. Eine Mörderin.“

„Das ist eine ziemlich dreiste Anschuldigung aus deinem Munde. Was machst du hier?“

Thibalt zuckte die Schultern. „Das Gleiche könnte ich dich fragen. Wir Planeswalker mischen uns ja von Natur aus in alles ein, oder? Aber wie du vielleicht gemerkt hast, war ich gerade mitten in einer Sache, bevor du mich so unhöflich unterbrochen hast. Wenn du also entschuldigen würdest … Tötet sie!“

Die versammelten Trolle blickten unsicher zwischen ihr und Thibalt hin und her. Die großen Exemplare neben dem Steinblock zögerten jedoch nicht. Wie Tiere machten sie einen Satz nach vorn, wälzten sich durch die Menge und schleuderten kleinere Trolle dabei in die Luft. Der erste, der Kaya erreichte, schwang seine Axt mit beiden Händen und brüllte wie wahnsinnig. Die Axt sauste geradewegs durch den instabilen Teil von Kayas Körper, und der Schwung der Waffe trug ihren Träger vorwärts. Er taumelte und stolperte über eine Wurzel.

Der zweite stach mit einem rostigen, uralt aussehenden Schwert nach ihr. Sie wich aus und versetzte dem Troll einen harten Stoß. Gerade als er gegen den gewaltigen Baum neben ihr prallte, ließ sie ihn für einen Augenblick körperlos werden, und als er wieder feste Gestalt annahm, ragte aus dem Baumstamm ein hässliches Gewirr grüner Gliedmaßen wie abscheuliche Zweige. Die anderen beiden verharrten danach am Rand der Menge und dachten ganz offenbar über die schlimmen Dinge nach, die ihren Gefährten zugestoßen waren.

„Ja“, sagte Kaya. „Ich würde mir das zweimal überlegen.“

Die Trolle blickten einander an. Einen Augenblick später ließen beide ihre Waffen fallen und ergriffen die Flucht. Sie blickte gerade rechtzeitig auf, um zu sehen, wie Thibalt sich umdrehte und in den Wald rannte. Der Trottel will wirklich, dass ich ihm nachjage.

Sie folgte ihm durch ein verworrenes Labyrinth aus Bäumen. Thibalt hatte einen Vorsprung, doch er konnte seinen Körper nicht nach Belieben instabil werden lassen. Langsam, aber sicher holte sie ihn ein, indem sie einfach durch umgestürzte Bäume und zerfallende steinerne Torbögen hindurchrannte. Endlich schnitt sie ihm auf einer Lichtung zwischen einer Reihe moosbewachsener Hügel auf der einen und ein paar wackligen Holzbauten auf der anderen Seite den Weg ab. Er beugte sich vornüber, um zu Atem zu kommen.

„Du rennst wie der Teufel!“, lachte er keuchend.

„Sind wir fertig?“, fragte Kaya. „Sag mir, was du hier machst. Was hast du davon, eine Horde Trolle aufzustacheln? Was springt für dich dabei heraus?“

„Meine Liebe“, sagte Thibalt und gewährte ihr einen Blick auf seine zahlreichen scharfen Zähne. „Chaos selbst ist mir Belohnung genug, und nichts bringt mich mehr zum Lächeln als ein kleines bisschen Durcheinander. Aber ich sehe nicht, was dich das anginge. Dies ist nicht dein Zuhause. Das sind nicht deine Leute.“

Der Gedanke war ihr bereits gekommen, ja. Aber sie hatte hier etwas zu erledigen. „Es gibt ein Ungeheuer auf Kaldheim. Etwas von außerhalb der Welt. Du hast nicht zufällig etwas damit zu tun, oder?“

Thibalt legte den Kopf schräg. „Ein Ungeheuer? Herrje, da schlottern mir ja die Knie! Ich muss mich unbedingt irgendwo verstecken! Lass mich nur eben …“

„Du gehst nirgendwo hin, und diesmal sind deine trollischen Handlanger nicht hier, um dir zu helfen. Nicht, dass sie mich hätten aufhalten können.“

„Oh, ganz offensichtlich nicht!“, sagte Thibalt und grinste auf eine Weise, die Kaya unruhig werden ließ. „Zumindest nicht die von der Hagi-Art. Du hast dich als sehr fähig erwiesen, sie loszuwerden. Aber was ihre Vettern, die Torga, angeht … Nun, bei denen rechne ich mir höhere Chancen aus.“

Er hob zwei Finger an den Mund und stieß dann den lautesten, schrillsten Pfiff aus, den Kaya je gehört hatte. Sie schlug die Hände über die Ohren und krümmte sich stöhnend. Als sie sich wieder im Griff hatte, blickte sich Kaya wild um, bereit für eine Legion Trolle, die aus den Wäldern gestürmt kam, doch um sie herum waren nichts als sanfte, grasige Hügel und diese eingefallenen, von der Holzfäule zerfressenen Gebäude.

„Wie es aussieht, tauchen deine großen bösen Trollfreunde nicht auf“, sagte Kaya. „Also lass uns …“

Ein Grollen unter ihr schnitt ihr das Wort ab, und einer der Hügel in Thibalts Nähe wurde einen Schritt höher. Auch sein Grinsen wurde um einiges breiter.

Karte noch nicht vorgestellt
Bild von: Simon Dominic

„Genau genommen“, sagte Thibalt, „scheinen deine Augen nicht ganz so scharf zu sein, wie du geglaubt hast.“

Einer nach dem anderen befreiten sie sich aus der Erde und ließen einen Hagel aus Klumpen schwarzer Erde auf die Lichtung niederprasseln. Der Zerfall der hölzernen Gebäude zur einen Seite von Kaya schien sich zu beschleunigen, als ein Koloss sich aus dem Boden schob und verirrte Holzstücke losriss.

Diese Kreaturen waren gewaltig: mindestens zwanzig Schritt hoch mit knochigen Kämmen auf dem Leibern, die nichts mehr ähnelten als den Eigenheiten der umliegenden Landschaft. Ihre Fäuste jedoch weckten Kayas Interesse am meisten: Jede hatte in etwa die Größe eines Felsbrockens. In ihrem langen, strähnigen Haar wuchsen Moose und Gräser, und an dem, der sich unter den Holzbauten emporgegraben hatte, hingen Planken und Bohlen wie eine primitive Rüstung herab. Tief in ihren steinern anmutenden Gesichtern lagen stecknadelkopfgroße, rote Augen. Einer gähnte, während er sich erhob, und zeigte einen Mund voller gelber, schiefer Zähne.

„Torga-Trolle, musst du wissen, hassen es, wenn sie aus einem tiefen Schlummer aufgeweckt werden“, sagte Thibalt. „Und sobald das geschehen ist, haben sie die unangenehme Eigenschaft, alles und jeden in der Nähe in Stücke zu reißen.“

„Bist du irre?“, zischte Kaya und drehte sich zu den Trollen hinter sich um. Insgesamt zählte sie sechs. „Sie werden uns beide töten!“

Hinter ihr erklang ein eigenartiges Geräusch und dann ein … wehklagender, pfeifender Ton, als würde die Luft selbst durchschnitten. Sie wandte sich um und sah, dass Thibalt sein Schwert gezogen hatte. Es war unübersehbar ein Wunderding. Aus irgendeiner Art Glas geschliffen schien es ein sich ständig veränderndes Spektrum aus Farben in sich zu bergen, wie sie es nur einmal zuvor gesehen hatte: eines, das von Alrund selbst ausgegangen war.

Neben Thibalt war ein Riss in der Welt. Es gab keine andere Möglichkeit, es zu beschreiben: Er hing einfach in der Luft, die Ränder zerfranst und rau und schwach leuchtend. Hitze und schwefelige Luft strömten daraus hervor, und jenseits des Risses erspähte Kaya schwarze, von Vulkanausbrüchen gespaltene Erde.

Thibalt wog das Schwert in den Händen und grinste sie an. „Klappt jedes Mal. Ich würde dir ja viel Glück wünschen, aber dann wäre ich wohl ein Lügner, nicht wahr?“

Und damit trat er durch das Portal. Hinter ihm verbanden sich die Ränder und verschwanden. Kaya war mit den Trollen allein.

So langsam sie konnte, zog sie ihre Dolche aus der Scheide. Vielleicht konnte sie sich ohne einen Kampf aus ihrer Lage befreien. „Hört mal … Derjenige, der euch aufgeweckt hat, ist gerade verschwunden, aber wenn ihr mir einen Augenblick gebt, mich zu erklären …“

Einer der Trolle holte mit offener Handfläche nach ihr aus, als wollte er ein Insekt zerquetschen. Wäre Kaya nicht rechtzeitig instabil geworden, wäre ihm dies auch gelungen. Obwohl der Hieb sie nicht traf, ließ der Einschlag ihre Zähne klappern. „Also gut“, sagte sie. „Ich habe es versucht.“

Sie stieß eine ihrer Klingen in den Arm des Trolls – oder vielmehr versuchte sie es. Es fühlte sich beinahe genau so an, als wollte man versuchen, einen Felsbrocken zu erstechen. Da war ein klirrendes Brechen, und sie sah zu, wie der Dolch, den sie seit Tolvada hatte, entzweibrach. Der Schock dauerte nur einen Wimpernschlag lang an – lange genug jedoch für den Troll, um die Hand auszustrecken und sie mit einem Wisch über die Lichtung zu fegen.

Ihr Kopf dröhnte, als sie sich wieder aufrappelte. Es war lange her, dass sie so schwer getroffen worden war. Sie packte ihren verbleibenden Dolch so, dass dessen Spitze nach unten zeigte. „Ich mochtediesen Dolch.“

Sie taumelte geradewegs in die Reichweite eines anderen Trolls, der mit einem entwurzelten Baum nach ihr schlug, durch den sie hindurchglitt. Auf der anderen Seite hieb sie nach seinem ungeschützten Bein: Der Treffer kratzte über die dicke Haut und glitt ab, um nicht mehr als einen dünnen Kratzer zu hinterlassen. „O bitte“, sagte sie und wich einer Rückhand eines zweiten Trolls aus.

Sie rollte zwischen den Beinen eines dritten hindurch und entging dessen ungeschicktem Versuch, nach ihr zu greifen. Zeit, schmutzig zu kämpfen. Sie umhüllte ihre Klinge mit ätherischer Energie, rammte sie zwischen zwei Rückenwirbel ihres Gegners und zog gerade rechtzeitig die Hand zurück, damit der Dolch sich wieder materialisierte. Es war schwierig, den richtigen Zeitpunkt zu erwischen, doch ein tiefes Brüllen belohnte sie, als der Dolch im Rückenmark des Trolls wieder stofflich wurde. Mit einem gewaltigen Rums prallte der Troll am Boden auf.

„Wer will als Nächstes?“, fragte sie und drehte sich zu den anderen um. Na schön, mit diesem Kniff mochte sie sich kurzzeitig entwaffnet haben, doch das war nichts, womit sie nicht …

Schmerz explodierte an ihrer linken Seite, und dann taumelte sie und rollte über den Boden. Der Troll, den sie gerade erst erlegt hatte – der, der scheinbar nach ihr ausgeholt hatte –, rappelte sich auf. Sie konnte sehen, wie sich der Kratzer an seinem Bein schloss. Die können sich also auch heilen, dachte sie zwischen zwei üblen Brechreizen. Warum nur konnte sich alles auf dieser Welt heilen?

Die anderen Trolle brüllten, droschen mit den Fäusten auf den Boden und stellten sich in einem Halbkreis auf, der die Sonne verdunkelte. Eine gegen sechs. Sie hatte schon Kämpfe mit schlechteren Ausgangsbedingungen gewonnen. Andererseits hatte sie in diesen Kämpfen Waffen gehabt. Ein Dolch war zerbrochen. Der andere steckte in einem wütenden Troll. Kaya holte tief Luft und zuckte bei dem Stechen in ihren Rippen zusammen.

„Brauchst du Hilfe?“, erklang eine Stimme zu ihrer Linken.

Tyvar Kell
Tyvar Kell | Bild von: Chris Rallis

An einem der uralten, knorrigen Bäume dieses Ortes lehnte ein Mann mit langen, roten Zöpfen. An seinen spitzen Ohren konnte Kaya erkennen, dass es sich um einen Elfen handelte, doch sein Körper war muskelbepackter, als sie es je für jemanden seiner Art für möglich gehalten hätte. Zudem schien er darauf sehr stolz zu sein, denn trotz der Kälte trug er kein Hemd. Einzig eine Sammlung von Talismanen klimperte an Halsketten und einem Paar Armreifen, von denen einer von einer Messerklinge aus Messing verschlossen wurde. Irgendetwas an seiner entspannten, ruhigen Haltung ließ ihn jung erscheinen, selbst für einen Angehörigen eines Volkes, das immer jung wirkte.

„Wie lange stehst du schon da?“, fragte sie.

„Lange genug, um zu sehen, dass du dich nicht allzu gut schlägst. Nicht, dass ich es dir verdenke! Ein Torga-Troll ist kein leichter Gegner, geschweige denn sechs! Glücklicherweise bin ich gerade auf der Durchreise.“

Das ärgerte sie. Einen Augenblick lang wandte Kaya den herannahenden Trollen, die noch immer vorhatten, sie zu Brei zu schlagen, den Rücken zu. „Hör zu, Kleiner, mach dich lieber vom Acker, bevor du verletzt wirst. Ich kann selbst auf mich aufpassen.“

„Da bin ich mir nicht so sicher. Immerhin hast du deine beiden Klingen verloren, während ich noch immer meine Geheimwaffe habe.“

„Das Ding an deinem Handgelenk?“

„O nein. Ich meinte das.“ Er warf einen kleinen, flachen Stein in die Luft, fing ihn und ließ ihn über seine langen Finger tanzen.

Kaya blinzelte. „Das ist deine Geheimwaffe? Ein Stein?“

Er lächelte nur und schlenderte so gelassen auf die Trolle zu, als würde ihn nichts auf der Welt bekümmern.

„He! Pass auf!“, rief sie. Dummer Junge – jetzt musste sie sie beide retten. Jetzt konnte sie nicht einfach weglaufen. Sie bewegte sich auf ihn zu und bereitete sich darauf vor, ihn instabil werden zu lassen, doch sie hatte eine lange Strecke zu überwinden.

Den Trollen war es scheinbar gleichgültig. Sie waren ebenso willens, diesen neuen Gegner in Stücke zu reißen. Als er näher kam, holte einer mit einer schlammbedeckten Faust aus. Ohne langsamer zu werden, tänzelte er aus dem Weg.

Er war schnell, das musste sie ihm lassen. Selbst ohne die Fähigkeit, sich körperlos zu machen, schien es für die schwerfälligen Trolle unmöglich, den Elfen zu fangen. Sie rammten die Fäuste auf den Boden, wo er eben noch gestanden hatte, während er zur Seite tänzelte. Sie schlugen klatschend die Hände zusammen, wo er eben noch gewesen war, und er schlug einen Rückwärtssalto. Es war, als wollte man eine Schlange zu fassen kriegen – oder Blitze einfangen. Mehr als einmal dachte Kaya, sie hätte gesehen, wie er einen Augenblick länger an einer Stelle ausharrte, als er es gemusst hätte, und einen Hieb seiner Gegner absichtlich nur um Haaresbreite anstelle von Meilen danebengehen ließ. Also ein Angeber.

In der Zwischenzeit geschah eine Verwandlung in der Faust, die den Stein umfasst hatte: Die Haut an Hand und Arm wirkte zunehmend polierter und härter und hatte beinahe dieselbe graue Farbe wie der Stein angenommen. Als einer der Trolle versuchte, den flinken Elfen in den Felsboden am Fuß des Hügels zu rammen, machte das Spitzohr plötzlich einen Satz nach vorn. Allerdings schlug es die Kreatur nicht mit der Messingklinge an seinem Arm, sondern berührte sie nur mit seiner neuen Steinhand am Bein.

Plötzlich begann die Verwandlung, die den Arm des jungen Elfen ergriffen hatte, sich rasend schnell über das Bein des Trolls auszubreiten. Seine grün-graue Haut, die bereits vernarbt und zerklüftet war, wurde zu rauem Stein, der sich wellenförmig und mit beängstigender Geschwindigkeit auf seinen Oberkörper ausdehnte. Die schwerfällige Kreatur hatte gerade genug Zeit, überrascht das mit Hauern bewehrte Maul zu öffnen, bevor ihr die Steinwelle über das Gesicht brandete und die verblüffte Miene einfror.

Der Troll mit dem Baum schwang diesen in einem weiten Bogen gegen den Elfen, der geradewegs darüber hinwegsprang, seinen Körper zwischen zwei peitschenartige Zweige manövrierte und eine Rolle zur anderen Seite machte. Er legte die felsgraue Hand auf den Ellenbogen des Trolls, und die Kreatur wurde zu Stein.

Er wich einem neuerlichen Hieb aus und versteinerte einen weiteren Troll. Und noch einen. Von Anfang bis Ende dauerte das Ganze weniger als eine Minute. Als sie alle besiegt waren, stand der Elf mit in die Hüften gestemmten Händen da und musterte voll Stolz all die hoch aufragenden Statuen, als hätte er sie selbst aus dem Stein gehauen. Er blickte so selbstzufrieden drein, dass Kaya nur ungern zugeben mochte, dass sie beeindruckt war. „Nicht übel, Kleiner.“

Er blickte sie an, und sein Gesichtsausdruck wurde mürrisch. „Willst du wohl aufhören, mich so zu nennen?“

„Wie soll ich dich denn sonst nennen?“

„Tyvar Kell. Elfenprinz von Skemfar. Der größte Held in allen Reichen. Und dein persönlicher Retter.“

„Also, Tyvar“, sagte sie und versuchte, nicht die Augen zu verdrehen. „Ich bin Kaya. Ich weiß deine Hilfe zu schätzen, aber was macht ein großer Held wie du hier draußen mitten im Wald? Bist du mir etwa gefolgt?“

„Nicht dir. Valki.“

„Er ist nicht Valki“, sagte Kaya und ging an die Stelle, an der ihre Klinge zerbrochen war. Sie ließ das metallene Ende in die Scheide gleiten und befestigte das Heft an ihrem Gürtel. „Sein Name ist Thibalt.“ In welchem dieser Trolle steckte jetzt ihr anderer Dolch? Das war schwer zu sagen, insbesondere deshalb, da sie nun alle Statuen waren. Vorsichtig und tastend glitt sie mit der Hand durch sie hindurch. Sie waren alle ganz und gar aus Stein. Sie stieß einen unterdrückten Fluch aus.

„Ja, das habe ich dank deines praktischen Gegenzaubers bemerkt. Ich war allerdings schon eine Weile misstrauisch. Vor nicht allzu langer Zeit kam er an den Hof meines Bruders. Ich weiß nicht, welche Lügen er Harald erzählt hat, aber seit diesem Besuch bereiten sich die Elfen auf einen Krieg vor. Es gibt Gerüchte, nach denen sie gegen die Götter selbst ins Feld ziehen wollen.“ Sie drehte sich gerade rechtzeitig um, um alles Großspurige und Prahlerische, das er eben noch zur Schau getragen hatten, verschwinden zu sehen. Er wirkte jung und besorgt. Einen Augenblick später straffte er sich – jedoch nicht schnell genug, um seine Besorgnis zu verbergen. Wenn Thibalt mit seinem Volk Unfug trieb, konnte sie es ihm allerdings nicht verdenken, ein wenig beunruhigt zu sein.

„Doch wie die Legionen das Reich der Götter betreten sollen, weiß ich nicht“, endete er.

O ihr Ahnen. „Der Doomskar. Alrund sagte, dass ein Doomskar bevorsteht“, sagte Kaya.

Tyvar blickte so überrascht drein wie die Trollstatuen hinter ihm. „Ein Doomskar? Und das hast du von Alrund selbst gehört?“

„Ja. Netter Kerl. Hat mir ein Schiff geliehen.“

„Und … dieser Thibalt. Er ist ein Feind von dir?“

„Sicherlich kein Freund. Ich weiß nicht, was er im Schilde führt, aber auf jeden Fall bedeutet er Ärger.“

„Dann verfolgen wir ihn gemeinsam. Du brauchst ganz offenkundig meine Hilfe“, sagte Tyvar und lächelte sie auf eine Weise an, die es bis jetzt noch jedes Mal geschafft hatte, sie stocksauer zu machen. Mit dieser Einstellung, dachte sie, wird dieses Jungchen eines Tages draufgehen. Nicht, dass das ihr Problem war. „Hör zu, ich habe anderes zu tun. Ich kann nicht hinter jedem Bösewicht herrennen, der sein hässliches gehörntes Haupt zeigt. Außerdem weiß ich nicht mal, wie wir ihm folgen sollten.“

„Wie meinst du das?“

„Er hat ein Schwert benutzt, um irgendeine Art Portal zu öffnen.“

„Hast du etwas gesehen? Auf der anderen Seite, meine ich“, sagte Tyvar.

„Nicht viel. Es war nur einen Augenblick lang offen“, sagte Kaya und versuchte, sich zu erinnern. „Ich entsinne mich jedoch, dass ich Feuer gesehen habe. Und der Boden sah verkohlt aus.“

„Immersturm“, sagte Tyvar. Der Name lag ihr wie Blei im Magen. Sie hatte Inga Geschichten von einem solchen Ort flüstern hören. Das Reich der Dämonen. Aus unerfindlichen Gründen wirkte Tyvar von den Neuigkeiten begeistert.

„Na ja, sofern du nicht irgendwo ein magisches Schiff versteckt hast …“

Doch Tyvar hatte bereits die Augen geschlossen. Er streckte beide Hände vor sich aus, und Kaya machte instinktiv einen Schritt zurück. Langsam begannen Manaströme in der Luft zu kreisen und sich zu komplexen Mustern aus leuchtendem Flechtwerk zu verknüpfen. Kaya erkannte, dass sie solche Magie bereits gesehen hatte. Als Alrund einen Übergang in ein anderes Reich geöffnet hatte, hatte es zwar beinahe mühelos gewirkt, aber die Grundlagen waren die gleichen. Als der Zauber sich zum schimmernden Nachthimmel des Kosmos öffnete, spürte sie einen merkwürdigen Druck auf den Ohren, als wäre plötzlich alle Luft von der Lichtung gewichen. Schließlich öffnete Tyvar die Augen, und vor ihnen erschien ein Torweg.

„Wo zum Henker hast du denn das gelernt?“, hauchte Kaya.

„Die Zauberer Skemfars sind Meister ihrer Zunft. Und du darfst mich als Meister unter den Meistern betrachten“, sagte er grinsend. „Ich war in allen Reichen Kaldheims. Auf jeder drückt sich meine natürliche Gabe etwas anders aus.“

Sie trat ein bisschen näher an ihn heran, und etwas zog ihren Blick auf sich. In dem Bündel aus Talismanen um seinen Hals, unter all den Knochen und Edelsteinen und kleinen Metallteilen, befand sich ein Oktaeder aus dunklem Stein, in dessen Oberfläche ein feines, präzises Muster eingeritzt worden war – eines, das sie schon einmal gesehen hatte. Aber nicht hier.

„Ah“, sagte er, als er ihrem Blick folgte. Er hielt den kleinen Stein ins Licht. „Bewundere ihn ruhig. Ich habe ihn in einem weit entfernten Reich gefunden. Eines, von dem nicht einmal die Sagas erzählen. Es hieß …“

„Zendikar“, unterbrach sie ihn. „Ihr heiligen Ahnen! Du bist ein Planeswalker.“

Sein Grinsen erstarb vor jäher Unsicherheit. „Und was genau ist ein … Planeswalker?“