Episode 2: Die schmerzliche Last der Annehmlichkeiten
„Hast du sie schon gesehen?“
„Nein, du?“
„Entsetzlich, ganz entsetzlich, uns so lange warten zu lassen, nur damit sie ihren großen Auftritt haben kann. Sie mag ja glauben, dass sie die Herrin von Innistrad ist, aber …“
„Sag das nicht so laut, Relio …“
„Aber sie ist weit davon entfernt! Ich für meinen Teil werde es erst glauben, wenn ich es mit eigenen Augen sehe.“
Relio nippt an seinem Kelch. Etwas Blut tropft ihm übers Kinn und befleckt seine weißen Rüschen – ganz wie Cordelia ihn gewarnt hatte. Er hört nie auf sie. Nähre dich nicht von Taugenichtsen, hatte sie ihm gesagt, und er tat es doch. Mach dir nicht die Nusfar zum Feind, nur weil sie wie Kinder aussehen, hatte sie ihm gesagt, bloß um ihn wenig später dabei vorzufinden, wie er mit blutgetränktem Naschwerk vor einem Mädchen herumwedelte, das fünfmal so alt war wie er. Von all den Vampiren, die Cordelia kennt, scheint Relio am bestrebtesten, seine Unsterblichkeit aufzugeben.
Und offen gestanden ist sie es leid, sich damit herumzuschlagen. Es gibt so viel anderes zu sehen. Die Treffen der Stromkirch-Kultisten haben ihren ganz eigenen Charme, sicher, doch dieser Prunk geht ihnen gänzlich ab. Cordelia findet so viel Vergnügen an prophetischen Predigten wie jede andere Frau, aber manchmal ist es gut, mit eigenen Augen zu sehen, wie die andere Seite ihr Dasein fristet.
Einfach jeder hat sich auf dem Voldaren-Anwesen zur Hochzeit eingefunden. Olivia hat sich mit den Dekorationen wahrlich selbst übertroffen. Cordelia hätte nicht gedacht, dass das möglich ist. Aber dennoch ist es schwer, den Anblick zu leugnen. Das Voldaren-Anwesen ist ganz in Rot getaucht: Der goldgewirkte Teppich unter ihren Füßen ist rot, gemäß der Kleiderordnung findet sich Rot in den Fracks und Abendkleidern, und rot – tief und dunkel – sprudeln alle paar Schritte die gestuften Blutbrunnen. Am beeindruckendsten sind jedoch die roten Blütenblätter, die durch die Luft tanzen. Einst, vor Jahrhunderten, hat Cordelia sich um Gärten gekümmert. Zuzusehen, wie die Blütenblätter durch die Luft schweben, erinnert sie an diese längst vergessenen Tage.
Und es ist ohnehin erbaulicher, als Relios Litanei zuzuhören.
Er plappert noch immer vor sich hin, doch sie hat das Interesse verloren. Irgendetwas darüber, dass Olivia die Domnathi eingeladen hat. „Und was ist daran so schlimm?“, hätte sie am liebsten gefragt. O ja, sie verkehren mit Dämonen, doch es sind ja keine Dämonen hier – oder zumindest keine, die Cordelia sehen kann –, und immerhin haben sich die Domnathi an die Kleiderordnung gehalten. Relio ist in Weiß und Blau erschienen. Also wirklich. Seine Ärmel sind bereits ganz rot von all den Blütenblättern, deren Blut wieder flüssig wird, sobald sie mit Stoff in Berührung kommen.
Ein Mensch geht vorbei und sorgt dankenswerterweise für eine weitere Ablenkung von der endlosen Faselei ihres Begleiters. Olivias erlesener Geschmack ist heute Abend wahrlich nicht zu verkennen: Die Diener sind kräftig, geschmeidig, schön und ansehnlich, aber nie langweilig. Auf dem Tablett in seinen Händen stehen Kristallkelche voll frischem Blut. Cordelia erwägt einen Augenblick lang, ob es sich schickt, stattdessen geradewegs von der Quelle zu trinken. Die muskulöse Gestalt des Mannes trägt keine Male. Vermutlich ist es das Risiko nicht wert, falls er jemandes besonderes Schoßtierchen ist. Zudem finden bereits fünf Duelle im Saal statt, von denen eines schon zu einer Ausweidung geworden ist. Es ziemt sich nicht, jemanden auf einer Hochzeit auszuweiden.
Nicht, dass das die Nusfar kümmern würde. Doch da kann man nichts machen. Als Cordelia sich einen weiteren Kelch nimmt, rammt ein Junge, der nicht älter aussieht als zehn, die Hand in die Brust eines Mannes. Cordelia schnalzt halb verächtlich, halb empört mit der Zunge. Das Opfer ist Kristoff Laurent, ein Markov, der bekannt dafür ist, sich wegen jeder Kleinigkeit zu duellieren – doch sämtliche Kampfkünste der Welt können ihn nicht vor dem reinen, raubtierhaften Instinkt der Nusfar retten. Sie hat Kristoff gemocht, der auch überall sonst so leidenschaftlich gewesen ist wie auf dem Schlachtfeld.
Wie sie nun so dabei zusieht, wie er ausblutet, verspürt sie nur einen leisen Anflug von Traurigkeit. Nun ja. Die Liebe ist so flüchtig wie eine Blüte, selbst für Unsterbliche.
„Und sieh nur, wen sie sich eingeladen hat. Ungeheuer. Ich sag’s dir: Ein Vampir zu sein, ist nicht mehr das, was es einst war“, quasselt Relio weiter. „Überhaupt, dass wir alle vor dieser Wahnsinnigen buckeln, sollte dir etwas verraten.“
„Relio, du bist ein Voldaren“, sagt sie nüchtern.
„Das bedeutet doch aber nur, dass ich sie besser kenne als die meisten anderen! Vor zweihundert Jahren hätten wir uns nie mit Domnathi abgegeben.“
Relios nächste unsinnige Plapperei stirbt im selben Augenblick wie er, ertränkt von dem Blut, das aus seinem Mund sprudelt. Wie ein Wasserfall strömt es ihm die Brust herunter. Er streckt sich nach Cordelia, doch sie weicht seinem sterbenden Griff mit einem Schritt zur Seite aus. Drei Sekunden später fällt seine Leiche mit einem Plumps auf den blank polierten Marmorboden.
Henrika Domnathi, die berüchtigte Dämonensympathisantin, steht unmittelbar hinter ihm. Scharlachrote Linien ranken sich um ihre Finger. Dunkles Blut füllt ihren Kelch. Als sie Cordelia mit ihrem stählernen Blick taxiert, hat diese Mühe, nicht davonzulaufen.
„Ein entsetzlich langweiliger Mann“, sagt sie stattdessen. „Ein Freund von Ihnen?“
„Nein, keineswegs, Lady Domnathi, keineswegs“, sagt Cordelia.
Die – Gerüchten zufolge – Geliebte von Griselbrand für eine Nacht grinst. „Gut. Und Sie sind?“
„Cordelia …“
„Ah, ja, eine Stromkirch, nicht wahr?“, will sie wissen. Die Art und Weise, wie sie Cordelias Aufmachung mustert, erinnert diese auf beunruhigende Weise an eine Katze, die eine Maus begutachtet. „Kürzlich hatte ich Fragen an Ihresgleichen, doch offenbar will sie mir niemand beantworten. Ist das nicht eine Schande?“
Man mutmaßt darüber, was Henrika mit Leuten anstellt, die ihre Fragen nicht beantworten wollen. Leise, hinter vorgehaltener Hand, denn man ist zu furchtsam, es laut zu tun. Die Blutlinie der Domnathi ist berühmt dafür, mit Dämonen zu verkehren, doch zu welchem Zweck ist völlig unklar. Und noch schlimmer: Man sagt, sie tun diesen Dämonen
Ein menschlicher Knecht beugt sich wortlos vor, um Relios Leiche wegzuschaffen. Das reicht, um Cordelias Aufmerksamkeit nur für einen Wimpernschlag abzulenken. Eine wilde Furcht überkommt sie: Sie mag ein Vampir sein, doch auch Relio war einer. Sie hat nicht vor, wie er zu enden. Wenn Henrika will, könnte sie sie gleich hier und jetzt töten …
Pling, pling, pling.
Stille breitet sich wie eine scharlachrote Flut über den großen Saal aus, als sich alle Blicke auf das Podium richten.
Olivia Voldaren ist endlich eingetroffen.
Und welch ein Auftritt es ist! Sie schwebt die Treppen in ihrem Hochzeitskleid hinunter, die wehende, spukhafte Schleppe in Blutrot von Fledermäusen gehalten! Jedes schimmernde, arkane Licht im Saal gleißt auf, und jedes erhellt ein neues Detail: das Glänzen von Olivias in Gold gefassten Juwelen, das Schimmern ihrer Zähne, den bezaubernden Reiz ihrer Robe, die aus den Geistern ihrer ältesten Feinde gefertigt ist. In all der Zeit, die Cordelia bereits auf der Welt weilt – ein paar hundert Jahre –, hat sie noch nie solch meisterhafte Gewänder gesehen. Dieser Kragen muss mindestens so hoch sein, dass er einem vom Boden bis zum Knie reichen würde.
Selbst Henrika ist beeindruckt. Ein leises Hm entflieht ihren Lippen. Sie legt einen Arm um Cordelia. „So eine Schande. Das Fest hat begonnen.“
„S-So eine Schande“, echot Cordelia.
Doch Olivia rettet sie vor weiterer Konversation.
„Seien Sie gegrüßt, meine teuersten Freunde, meine erbittertsten Feinde!“ Es hat noch nie etwas Gutes bedeutet, sie so glücklich zu hören. „Wie ich sehe, gab es bereits einige Morde. Wie vergnüglich! Ich kann Ihnen nicht sagen, wie glücklich es mich macht, Blutopfer auf meiner Hochzeit zu sehen! Doch was wäre eine Hochzeit ohne den Bräutigam?“
Sie hält ihr Glas in die Höhe, um ungesehenen Mächten ein Zeichen zu geben. Bald ist sie nicht mehr allein auf dem Podium. Eine Gruppe makellos gekleideter Diener – die meisten als Scherz in Prunkgewänder der Anhänger Avacyns gewandet – erscheinen und tragen einen geschmückten Steinsarg – Marmor mit Goldintarsien –, den markovische Strahlen krönen.
Die Diener stellen den Sarg aufrecht ab.
In diesem Augenblick ist es im Ballsaal so still wie nie zuvor.
Chandra Nalaar läuft sehenden Auges der Gefahr entgegen.
Das macht sie für gewöhnlich so. Und für gewöhnlich klappt es auch. Als sie heute Abend versucht, an den Wachen vor dem Voldaren-Anwesen vorbeizulaufen, tut es das nicht. Stattdessen greift Teferi nach ihren Schultern, gerade als ein Vogel gegen die Mauer fliegt. Welche Magie dort auch immer zur Anwendung gekommen ist, verbrennt den Vogel augenblicklich. Asche rieselt dort herab, wo er die Mauer berührt hat.
„Tja
Adeline unterdrückt ein Lachen, wodurch sich die ganze Sache bereits gelohnt hat. Chandra hat sie seit einer Weile nicht lachen gehört. Mit einiger Bitterkeit mustert sie die hoch aufragenden Wachen zu beiden Seiten des Tores. Es ist nicht unmittelbar ihre Schuld, doch sie sind Teil des Problems.
Es ist Arlinns Idee gewesen, geradewegs am Vordereingang aufzutauchen. Wenn hier eine Hochzeit stattfindet – und wenn sie als kleine Gruppe mit Sorin erscheinen –, lässt man sie vielleicht ein. Chandra hat das von Anfang an für eine dumme Idee gehalten. Wer hat schon je davon gehört, dass jemand seine Feinde schnurstracks in seinen Unterschlupf hat spazieren lassen, nur weil sie sich schick gemacht haben? Doch auch Sorin hat geglaubt, es sei einen Versuch wert, und da sind sie nun also.
Soweit es sie betrifft, so lautet die richtige Antwort hier, einfach alles in Brand zu stecken. Die Wachen würden sich zerstreuen, um nicht in Flammen aufzugehen, und dann können sie die Sache ausfechten.
Auf Innistrad ist die Zeit angebrochen, in der es auf entschlossenes Handeln ankommt. Auf dem Weg hierher hat ihre Gruppe jeden, den sie bekommen konnte, herbeigerufen. Es stellt sich heraus, dass dies wesentlich leichter ist, wenn es einen Plan gibt und wenn dieser Plan darin besteht, in eine Vampirhochzeit hineinzuplatzen. Draußen in den Mooren und auf den Heiden und Klippen brodelt jede Menge Zorn: ein heißes Feuer, das nur darauf wartet, etwas zu verschlingen.
Damit kennt Chandra sich aus.
Die wartenden Reihen berittener Katharer werden vorstürmen, Sigardapriester ihre Segen beginnen, luftige Gebete sich um die versammelten Stadtbewohner schlingen wie die Schwingen von Engeln, und das wird es dann gewesen sein. Es gibt keine Hoffnung für irgendeinen der Vampire. Wir schnappen uns den Mondsilber-Schlüssel und verschwinden.
Doch Dinge, die ihr am einfachsten erscheinen, sind für alle anderen oftmals sehr viel vertrackter. Während sie die Gesichter ihrer Gefährten – nur fünf von ihnen, die übrigen haben sich unweit versteckt – mustert, hat sie das Gefühl, dass dies hier der Fall ist. Besonders im Fall von Sorin. Er sieht aus, als hätte jemand Essig in seine Portion Blut geschüttet – was beachtlich ist, denn sie hätte nicht gedacht, dass er noch sauertöpfischer dreinblicken konnte. Es gibt wohl für alles ein erstes Mal, vermutet sie.
„Niemand tritt ohne Einladung ein“, sagen die Wachen. Olivia Voldaren muss für genau diese Aufgabe zwei Vampire ausgewählt haben, deren Stimmen perfekt miteinander harmonieren – denn das tun sie, und es ist die klangvollste Zurückweisung auf ganz Innistrad.
„Was, wenn wir alle mit ihm hineingehen?“, fragt Arlinn. Sie sieht hübsch aus in ihrer Festkleidung, aber eigentlich sieht sie in allem hübsch aus. Und trotzdem hat sie einfach ausgezeichneten Geschmack: ein gut geschnittenes ochsenblutfarbenes Wams mit in den Kragen eingeflochtenen Birkenzweigen und von Rot durchsetzten Ärmeln, die in ordentlich gepressten, weißen Aufschlägen enden. Ein Pelzmantel über einer Schulter verleiht ihr einen Hauch von Wald. Den Bären hat sie vermutlich selbst erlegt. Es war schön, sie so zurechtgemacht zu sehen – als würde man seiner Lieblingstante auf einer Feier begegnen. „Er hat eine Einladung.“
„Eine Person pro Einladung“, intonieren die Wachen gemeinsam.
„Aber das ergibt keinen Sinn“, sagt Chandra. „Nicht einmal eine Begleitung?“
„Ihr könnt es euch bestimmt leisten, mehr Leute hineinzulassen“, sagt Kaya und deutet auf ihre vergoldeten Rüstungen. „Mit Mangel hat das ganz sicher nichts zu tun.“
„Und wenn man sichergehen will, dass ganz Innistrad vor seiner neuen Herrin niederkniet, muss natürlich auch jeder einbezogen werden“, sagt Arlinn. „Man kann nicht nur Vampire einladen.“
„Das macht keinen guten Eindruck“, sagt Teferi.
„Eine Person pro Einladung.“
Chandra würde am liebsten schreien. Die Antwort ist doch so einfach. Wir gehen einfach rein, oder? Einfach reingehen.
Doch um den ganzen Ort herum gibt es Schutzzauber – Schutzzauber, die die Hexen nicht zu brechen und die die Priester nicht zu bannen vermögen. Und auch die Armee der Vampire ist da, überall auf den Zinnen, und wartet nur auf ein Anzeichen von Aufruhr. Wer weiß, wie viele von ihnen über ihre eigene Magie verfügen? Wer weiß, wie hungrig sie sind? Sicher, Arlinn und Adeline ist es gelungen, eine Armee von recht ansehnlicher Größe auszuheben – doch ist jeder bereit, sich hier ein Gefecht zu liefern?
Gleich hier und jetzt?
Sosehr Chandra auch kämpfen möchte, so wenig kann sie den Preis eines solch offenen Kampfes ignorieren. Ohne den Schlüssel – oder die unmittelbare Hoffnung, ihn zu erhalten – wird das hier wie das Erntezeit-Massaker enden.
Dieser Tag hat sich in ihren Verstand eingebrannt, und die Narbe wird noch jahrelang zu sehen sein, dessen ist sie sich sicher: die Leichen, die im warmen Gelbrot der sinkenden Sonne liegen, ihr Blut, rot wie Kirschwein, das in die festlichen Kostüme sickert, auf deren Anfertigung sie so viel Zeit verwendet haben. Sich als Werwölfe und Vampire zu verkleiden, hatte ein Akt des Trotzes sein sollen. Stattdessen ihre zerschundenen Leiber da liegen zu sehen
Doch dies waren unschuldige Menschen gewesen. Einige von ihnen kaum erwachsen.
Und wenn sie an sie denkt – nein, nein. Sie können nicht einfach da hineinspazieren.
Vielleicht weiß Adeline, was sie denkt. Das Gewicht der Hand der Katharerin auf ihrer Schulter ist tröstlich, genau wie der schwache Geruch nach Leder, der ihre Gegenwart stets ankündigt. Die Paraderüstung mit den punzierten Symbolen Avacyns, die sie trägt, ist schon zum Verlieben, aber sie riecht auch immer so gut. „Geduld belohnt die Tugendhaften“, sagt sie, „aber
„Da sagst du was“, meint Chandra. Vermutlich ist es besser, nicht allzu lange darüber nachzudenken. „Aber es ist wirklich eine Schande. Hier sind wir nun, beide schön zurechtgemacht, und können nirgendwo hin. Man hat mir ein Fest versprochen.“
„Ein Fest? Ist das alles, was es ist?“
Die tiefe Stimme trifft sie wie ein Schlag in die Rippen. Chandra zuckt nicht zusammen. In gewisser Weise ist sie froh, dass er sich endlich für die Welt um sich herum interessiert, anstatt nur vor sich hin zu brüten. „Ich meine, es ist nicht nur ein Fest“, sagt sie. „Ich versuche bloß, die Stimmung etwas aufzulockern, Sorin.“
„Ich bin mir sicher, für dich ist das alles ein großer Spaß, Nalaar, aber lass mich dich daran erinnern, dass auch Erwachsene anwesend sind“, sagt Sorin.
„Einigen der Erwachsenen könnte ein Lachen guttun“, sagt Teferi. „Chandra hat sich stets aufs Neue bewiesen. Sie hat sich das Recht verdient, Witze zu reißen. Und dies ist nicht ihre Heimatwelt. Sie hätte den Ruf einfach ignorieren oder nach dem Ernstzeitfest fortgehen können. Doch sie ist hier.“
Sorin blickt auf die Einladung in seiner Hand. Er runzelt die Stirn. Chandra findet, dass er wie ein altes, staubiges Porträt aussieht, und sie muss lachen, denn sie weiß, wie sehr er es hassen würde, das zu hören. Immerhin ist sie geistesgegenwärtig genug, sich rechtzeitig auf die Zunge zu beißen. Ganz gleich, wie albern Sorin selbst ist – oder wie wenig sie ihn mag –, ist es schwer, sich vorzustellen, was sie in dieser Lage empfinden würde.
„Kommst du allein da drin zurecht?“, fragt Arlinn ihn.
„Ich kann versuchen, dir zu folgen“, bietet Kaya an.
Ein drolliger Gedanke: eine kleine Geister-Kaya, die um den schmollenden Sorin herumschwirrt. Chandra weiß, dass es nicht so läuft und dass Kaya nicht wirklich ein Geist ist. Von daher würde sie ihm wohl zumindest in voller Größe folgen. Trotzdem fühlt sich das Bild irgendwie richtig an – ebenso wie die Art und Weise, wie er seufzt und den Kopf schüttelt.
„Ich war jahrhundertelang allein“, sagt er. „Dies wird nicht anders sein.“
Sie will ihn fragen, wie das gemeint ist, denn er wird ja nicht allein sein. Er ist mit einigen dieser Leute verwandt. Es muss doch da drinnen jemanden geben, den er mag?
Doch als er zwischen den Wachen hindurchschreitet, wirkt Sorin nicht wie jemand, der irgendjemanden mag.
Sorin geht allein.
Die Wachen an seiner Seite empfinden das vermutlich anders. Da die Barriere gesichert ist, haben sie sich entschlossen, ihn zum Schloss zu begleiten. Sie haben Kurierfledermäuse ausgesandt, um für eine Vertretung für sich am äußeren Tor zu sorgen.
Jedem seiner Schritte folgt einer der ihren: das spitze Klackern seiner Schuhe auf dem Marmorboden, das sanfte Scheppern ihrer Rüstungen. Hätten sie es gewollt, könnten sie sich so lautlos wie Mondlicht durch die Dunkelheit bewegen. Stattdessen leistet ihm der stete Rhythmus ihrer Schritte Gesellschaft.
Und bald schon ihr Nörgeln.
„Sie haben sich nicht an die Kleiderordnung gehalten“, sagt einer. Sorin kennt seinen Namen nicht, und er interessiert ihn auch nicht. „Die Farben waren in der Einladung deutlich ausgeführt.“
Zu beiden Seiten schweben Türme auf Felsbrocken. Auf jedem dieser Türme schenken Scharen von Voldaren und ihrer Gäste einander Blut ein. Der Geruch nach Ausschweifungen dringt selbst bis hierher zu ihm vor. Er fragt sich, ob sie sich alle an die Kleiderordnung gehalten haben. In der Ferne geht die tosende See ihrem ewigen Werk nach, ungeachtet der Ereignisse hier.
Er sagt nichts.
Blütenblätter aus Blut landen auf seinem Mantel und färben den Reif.
Weiter – durch die Tore des Schlosses, die mit dem Siegel der Voldaren und Olivias Silhouette darin verziert sind. Die schiere Unverfrorenheit dieser Frau! Hätte man mit übersteigertem Selbstwertgefühl Eroberungen vollbringen können, so hätte Olivia Voldaren sich längst einen Thron aus den Knochen Innistrads geschnitzt.
Heute Nacht wird genau dies geschehen.
Die Frau an der Tür mustert ihn mit offenkundiger Abscheu von oben bis unten, als wäre sein Gewand irgendwie weniger angemessen, weil es schwarz und grau ist. Sorin mag nicht die Geduld für die Intrigenspiele der Vampire haben, doch er weiß sehr wohl, wie man sich zu kleiden hat. Anders als viele dieser jungen Schnösel.
„Ihre Einladung?“
Er reicht sie ihr, sosehr es auch vor Zorn in ihm brodelt. Sie wissen, wer er ist. Jeder weiß, wer er ist. Olivia muss dem Mädchen gesagt haben, sich so zu verhalten – ein einfaches Küken an der Tür, um all die hohen Herrschaften willkommen zu heißen. Hatte Olivia das Mädchen wegen seines Schmollmunds ausgewählt? Wegen der völligen Teilnahmslosigkeit in seiner Stimme?
„Gehen Sie hinein.“
Ein jüngerer Sorin hätte sich das verbeten.
Doch er ist nun älter und müde. Je eher dies vorbei ist, desto besser.
Weiter durch die Tür, wo Musik ihn vollständig verschlingt. Geknechtete Musiker spielen neben vergoldeten Blutbrunnen auf. Das Stück ist mindestens dreihundert Jahre alt, wenn er sich recht entsinnt, und jeder hier kennt es. Und tatsächlich drehen sich einige zu der Melodie im Tanz, selbst hier, wo das Fest noch nicht begonnen hat. Das grüne Licht, das durch die Fenster hineinströmt, verleiht der Szenerie eine schaurige Stimmung – als würde er ein Gemälde anstelle von echten Leuten betrachten.
Doch dann geschieht es, so unvermeidlich wie die Gezeiten draußen: Einer der Feiernden wird hungrig und reißt einem Musiker die Kehle heraus.
Wirklich, einige dieser Gäste lassen sich kaum als Leute bezeichnen. Sich so vollständig seinem Verlangen hinzugeben, dass man sich nicht beherrschen kann, und so die Unterhaltung zu ruinieren, ist weniger als menschlich.
Und sie alle sind so. Ja, seit Tausenden von Jahren sind sie alle so.
„Sorin? Ist das Sorin Markov?“
Er geht weiter.
Die Gänge im Anwesen der Voldaren sind darauf ausgelegt, Gäste zu verwirren. Das ist einer von Olivias ältesten Tricks: Die Feiernden auf irgendeine Weise trunken machen, ihnen sagen, dass sie auf keinen Fall umherwandern sollen, und dann ein paar Leute verschwinden lassen, wenn sie es doch tun. Es gibt mehr Geister in den Murmelnden Gängen als Buchseiten in Olivias Bibliothek. Jeder ist eines ihrer Opfer. Jeder Einzelne, der durch diese seltsamen Säle wandelt, deren Türen bisweilen plötzlich ins Leere führen und wo sich Treppen neu anordnen.
Der Kniff dabei ist jedoch, dass das Anwesen Olivias Launen unterworfen ist.
Und sie ist ebenso berechenbar wie verachtenswert.
In gewisser Weise hat er gewusst, dass dies geschehen würde. Etwas in der Art. Während seines unwürdigen Gefängnisaufenthalts hat sie bereits lachhafte Versuche unternommen, Macht zusammenzuraffen. Es ist nur natürlich, dass jemand, der so offenkundig ehrgeizig ist, auf den Gedanken einer politischen Hochzeit kommen würde. Und sobald dies erst einmal geschehen war, gab es nur wenige auf Innistrad, durch die sie ihre Macht hätte mehren können. Die Henrika lieben Rache mehr als Macht, die Falkenraths haben niemanden anzubieten, und Runo Stromkirch würde sich eher den unergründlichen Geschöpfen des Meeres hingeben. Damit bleiben nur Sorin – der für sie unerreichbar gewesen ist – oder sein Großvater.
Er hätte es wissen sollen.
Je näher sie dem Ballsaal kommen, desto mehr Leuten begegnen sie. Knechten, die es nicht wagen, ihn anzusehen. Jungvolk, das dies ungehemmt tut, ganz so, als wäre allein der Akt, Sorin Markov anzublicken, etwas so profund Profanes, als dass es ihr altersloses Dasein verändern könnte.
„Das ist er, der Mann im Stein“, sagen sie. „Wie possierlich!“
„Sollte er nicht das Maul eines Gierschlunds haben?“ Er kennt den Begriff, wenn auch nur flüchtig. Die Falkenraths haben sich einen neuen Namen gemacht.
„Für solch einen Narren ist er recht stattlich.“
Sie kichern, als sie an ihm vorbeihuschen, die Münder noch rot von ihrer letzten Mahlzeit. Gläser klirren. Hinter ihm scheppern noch immer die Rüstungen der Wachen, über ihm schweben Blütenblätter aus Blut auf Wolken aus Musik.
Schweigend grübelt er über all das nach, was er getan hat, um ihnen dieses Dasein zu ermöglichen.
Er hasst es hier.
Weiter, zum Ballsaal selbst, einem Raum von einer solchen Größe, dass es nur schwer vorstellbar ist, dass er sich in die Architektur des Schlosses einfügt. Der Mond allein kann nicht für ausreichend Licht sorgen, und geisterhafte, gelb-grüne Magie erfüllt den Saal. Tänzer, Duellanten, Herumlungerer und Faulenzer: Hunderte von ihnen haben sich versammelt, und sie alle spiegeln sich in den blanken Marmorböden. Brunnen aus Blut sorgen für Stärkung und Trunkenheit, angekettete Knechte bieten den Feinschmeckern in der Menge etwas Frischeres.
Ein kleiner Mann neben der Tür stößt in ein Horn.
„Ich präsentiere: den äußerst willkommenen, sehr verehrten Sorin Markov!“
Er denkt, nicht zum ersten Mal, an Mord.
Doch er weiß, wozu das führen wird, hier, umgeben von all jenen, die ihn zu Fall gebracht sehen wollen. Olivia muss nur den Befehl geben. Dann werden sie sich alle auf ihn stürzen, wie Krähen aufs Aas, und sämtliche Blutmagie der Welt wird ihm nur ein paar wenige Augenblicke erkaufen. Und währenddessen wird Arlinns bunt zusammengewürfelter Haufen vergeblich draußen warten.
Also tötet er den Ausrufer nicht, und auch keinen derjenigen, die sich umdrehen und ihn ansehen. Wie viele Blicke ruhen wohl auf ihm? Er weiß es nicht, doch er spürt jeden einzelnen wie eine Dolchspitze in seinem Fleisch.
Doch der Pflock durchs Herz folgt erst, als er zum Podest hinaufblickt.
Es gibt keinen Zweifel: Dies ist der Sarg seines Großvaters.
Und diese Frau, in die aufgewühlten Seelen ihrer Opfer gekleidet, ist Olivia Voldaren.
Stille herrscht im Haus der Ungezügeltheit.
Selbst von hier aus – vom anderen Ende des Ballsaals – kann er sehen, als sie zu lächeln beginnt.
„Mein liebster Sorin“, ruft sie. „Welch Freude! Du kommst gerade rechtzeitig!“
Er runzelt die Stirn. Eine Woge unterdrückten Gelächters geht durch die Menge. Er streift seinen Mantel ab und wirft ihn hinter sich, ehe er sich einen Weg durch die Umstehenden zum gestohlenen Sarg seines Großvaters bahnt.
„Olivia, es ist mir wie immer ein Fest“, sagt er. „Wie ich sehe, hast du weder Kosten noch Mühen gescheut.“
„Und warum sollte ich auch? Dieser fröhliche Anlass verdient nur das Beste, meinst du nicht auch? Ich würde nicht wollen, dass dein Großvater in irgendetwas außer dem Besten aufwacht.“
Er kann sich nicht davon abhalten, mit den Zähnen zu knirschen.
Doch er geht weiter. Einen Schritt. Noch einen. Fallende Blütenblätter. Klirrende Gläser.
Olivia schnippt mit den Fingern. Einer der Knechte reicht ihr ein verziertes Messer.
„Frag ihn selbst, wenn du willst“, sagt sie. „Es wird nur einen Augenblick dauern.“
„Was du tust, ist Wahnsinn.“
„Wahnsinn? Ach, mein lieber Junge, das ist das Weiseste, was ich je getan habe“, antwortet sie.
Da suchen sich die Dolchspitzen ein neues Ziel: Die Aufmerksamkeit der Menge ruht nun auf Olivia. Mit einer schwungvollen Handbewegung zieht sie das Messer über ihren Arm. Altes Blut, mächtiges Blut, Blut, so dunkel wie die Nacht um sie herum, tropft auf Edgar Markovs Sarg.
Der rote Kronleuchter über ihnen und die roten Teppiche unter ihren Füßen gesellen sich zu der Frau in ihrem roten Hochzeitskleid und dem roten Blut auf dem weißen Stein des Sarges.
Jeder Tropfen macht ihn wütender. Jeder Augenblick, den das giftige Blut dieser Frau über die Reliefs seiner Familiengeschichte rinnt, ist eine Beleidigung. Sein Großvater – sein Großvater, der all das erschaffen hat, was diese Leute so schätzen! Sein Großvater, der sie erschaffen hat und der nun als einfaches politisches Werkzeug missbraucht wird.
Er weiß, was geschehen wird. Die Rillen verlaufen bis hinein ins Innenleben des Sarges. Jeden Augenblick wird das Blut dieser Frau auf die Lippen seines Großvaters tropfen. Der Rausch wird ihn überwältigen und – schlimmer noch – ihre eigenen Gefühle und Erinnerungen werden sich mit den seinen vermischen.
Sorin ist stets vorsichtig gewesen, wenn er seinen Großvater aufgeweckt hat. Er harrt aus, bis sein eigener Sturm an Gefühlen sich legt, er hat seinen Verstand auf angenehme Erinnerungen getrimmt, er hat getan, was auch immer nötig ist, damit sein Großvater friedlich erwacht. Aus dem Schlaf zu erwachen, ist furchterregend – so wenig das auch irgendjemand zugeben will.
Und nun wird sein Großvater vom Geschmack des vom Ehrgeiz durchsetzten Blutes dieser Frau erwachen – umgeben von diesen Insekten
Es ist letztlich ein kindischer Gedanke. Vielleicht der kindischste, den er je gedacht hat – und sicherlich der kindischste in letzter Zeit.
Doch da ist er, am Grund all dessen, ein einziger Gedanke, der immer und immer widerhallt.
Er will seinen Großvater nicht verlieren.
Er will nicht, dass sein Großvater verletzt wird.
Auf keiner Welt hat ihn jemand länger gekannt. Niemand kennt seine Geschichte so gut – von seiner Kindheit bis zu seinem Aufstieg, seine Fehlschläge und seine Triumphe.
Niemand sonst erinnert sich mehr daran. Alle anderen sind tot.
Diese Erkenntnis ist der Funken, sein Zorn das Pulver. In dem Augenblick, als er den Gedanken denkt, ändert sich alles. Die Explosion lässt alle Vorsicht in Rauch aufgehen.
Sorin stürmt vor.
Die Wachen stehen bereit, vier von ihnen mit verschränkten Speeren. Mäuse haben angesichts der Katze eine höhere Überlebenschance. Als Sorin einen von ihnen anspringt, reißt er ihm die Kehle heraus, noch ehe sie am Boden auftreffen. Die beiden anderen lässt er an Ort und Stelle erstarren – ebenso wie das Blut in ihren Körpern. Er setzt erneut zum Sprung an – auf Olivia zu.
Doch in seiner Eile hat er den letzten Mann vergessen.
Eine dicke, schwere Kette um seinen Hals bremst sein Vorankommen jäh und zerrt ihn wie einen Hund an der Leine wieder zurück. Wenn er noch einen Schritt nach vorn machen könnte, könnte er Olivia und das ganze Ritual aufhalten.
Doch die Wache zieht ihn einen Schritt nach hinten, und seine Füße stolpern über die Leichen.
Sorin knurrt. Er nimmt den Anblick vor sich fest ins Visier: den Sarg, das Blut, Olivias lächelndes Gesicht.
Noch
Eine weitere Wache schließt sich der ersten an und wirft eine zweite gesegnete Silberkette um seine Brust.
Er drängt vorwärts.
Eine dritte Wache. Eine vierte. Mehr und mehr strömen herbei. Schneller, als seine Magie ihrer Herr werden kann. Schneller, als er sie aufzuhalten vermag.
Alles, was er tun kann, ist, zu versuchen, sie zu erreichen – und zuzusehen.
Zuzusehen, wie der Sarg aufgleitet und sein Großvater aus dem Inneren zum Vorschein kommt. Edgar Markov mustert nicht die versammelte Menge oder seinen in Ketten gelegten Enkel – er hat nur Augen für Olivia Voldaren.
Er lächelt sie an.
Sorin hat Mühe, sich daran zu erinnern, ob er seinen Großvater jemals hat so lächeln sehen. Glückselig, rein und umso entsetzlicher. Er lächelt wie ein Kind.
„Meine Damen und Herren – und Sorin“, verkündet Olivia. „Ich präsentiere Ihnen meinen schmucken und perfekten Verlobten: Fürst Edgar Markov.“
Er nimmt ihre Hand. Einen langen, schaurigen Augenblick trinkt er das Blut aus ihrem Handgelenk. Erst danach erhebt er sich aus dem Sarg.
Als er mit seinem Mahl fertig ist, tupft er sich das Gesicht mit einem Taschentuch ab. Nun wendet er sich zur Menge, nun nimmt er den Anblick in sich auf.
„Großvater!“, ruft Sorin. „Großvater, sie kontrolliert dich …“
Erst jetzt nimmt Edgar Notiz von ihm, und nur wie jemand, der ein aufsässiges Haustier bemerkt. Das Lächeln von vor einigen Augenblicken verwandelt sich in eine mitleidige Miene. „Sorin, bitte. Du verdirbst die Feier.“
„Die Feier?“, wiederholt Sorin. Ihm fällt nichts anderes zu sagen ein. Da war eine leise Hoffnung gewesen – eine Hoffnung, die er sich nicht einmal hat eingestanden –, dass Olivias Bezauberung wirkungslos bleiben würde. Kann es wirklich so einfach sein?
Sein Großvater zeigt keinerlei Anzeichen einer Kursänderung. Olivia schnippt mit den Fingern, und eine ganze Schar Knechte eilt herbei. Wie Spinnen, die ein Netz weben, wuseln sie um ihn herum und helfen ihm Stück für Stück in sein Hochzeitsgewand.
Sorin sinkt das Herz in der Brust. Er nimmt vage zur Kenntnis, dass die Wachen ihn nicht mehr aufhalten. Wenn er wollte, könnte er sich bewegen.
Doch er kann die Kraft nicht aufbringen.
Nicht, als Olivia den Arm seines Großvaters ergreift. Nicht, als die Gäste ihn anlächeln.
„Warum so ein langes Gesicht? Es ist ja nicht so, dass du ganz allein auf der Seite des Bräutigams stehen wirst“, sagt Olivia.
Er ist zu niedergeschlagen, um das mit einer Antwort zu würdigen.
Doch sie hält Wort: Das wird er nicht.
Da sind andere Särge. Er hat so viele Verwandte, dass es unmöglich ist, sie alle im Markov-Anwesen aufzubewahren. Viele haben auf ihren eigenen Grundstücken geruht.
Und sie waren Olivias Aufmerksamkeit nicht entgangen.
Olivia schwirrt wie eine wahnsinnige Honigbiene von einem Sarg zum anderen. Es bedarf nur weniger Tropfen, um den Prozess des Aufweckens der Ahnen zu beginnen. Obwohl Edgar ihr versprochener Ehemann ist, gelingt es ihr irgendwie, den Blick durchgängig auf Sorin gerichtet zu halten.
Er fragt sich, wie viel sie weiß. Er fragt sich, ob sie sie handverlesen hat – die Ahnen, die er am meisten verachtet. Er vermutet, dass dies der Fall ist. Es wäre kein schwieriges Unterfangen: Er hat sich selten mit dem Rest seiner Familie vertragen.
Er weiß nicht genau, wann es geschieht, doch das tut es – vermutlich zu dem Zeitpunkt, als seine dritte Tante aus ihrem Schlummer erwacht und ihn höhnisch anblickt.
Sorin Markov wendet den Blick ab.
Eines nach dem anderen schreiten seine Familienmitglieder an ihm vorbei. Eines nach dem anderen küsst seine Wangen und fordert Gleiches ein. Und all das in vollkommenem Schweigen, denn es gibt nichts zu sagen.
Hier findet eine Hochzeit statt, und mit Sorin zu sprechen, hat einem schon im Anwesen der Markovs stets die Stimmung verdorben.