Nahiri war zufrieden und erzürnt zugleich. Zufrieden, weil der uralte Schlüssel – die Lösung für ihr Problem – sicher in ihrer Tasche verstaut und stets griffbereit war. Erzürnt, weil ihr letztes Abenteuer mit Nissa ihr überdeutlich vor Augen geführt hatte, dass sie die Murasa-Himmelsfestung nicht allein aufsuchen und darauf hoffen konnte, dort zu überleben. Und so wenig sie es auch wahrhaben wollte: Wäre Nissa in der Himmelsfestung von Akoum nicht bei ihr gewesen, hätte sie den Schlüssel nie an sich bringen können.

Nun stand sie vor dem imposanten Eingang nach Seetor und wusste glücklicherweise, wo die beste Abenteuergruppe auf ganz Zendikar zu finden war.

Ihr letzter Besuch in Seetor lag eine lange Zeit zurück. Die Stadt sah nicht ganz so aus wie in ihrer Erinnerung. Der Kampf gegen die Eldrazi hatte Seetor dem Erdboden gleichgemacht, und obgleich es wiederaufgebaut worden war, trugen seine Gebäuden noch immer Narben.

Ebenso wie seine Bewohner.

Schuld plagte Nahiri, während sie mit starr nach vorn gerichtetem Blick durch die Straßen schritt. Sie machte nicht an jenem prächtigen Leuchtturm halt, der über dem Eingang zur Stadt aufragte, und sie stöberte auch nicht an den Ständen auf den Marktplätzen, an denen Menschen, Kor und Mitglieder des Meervolks verweilten und allerlei Handel trieben. Als sie das neue Kriegsdenkmal passierte – eine riesige runde Plattform mit sechs gewaltigen, gleichmäßig angeordneten Polyedern aus Stein, um die herum Trümmerteile des alten Seetor platziert worden waren –, würdigte sie es kaum eines Blickes. Anders als die Bewohner dieser Stadt brauchte Nahiri kein gewaltiges Monument, um sich daran zu erinnern, was sie verloren hatte.

Als sie sich den Gilden näherte, wurden die Straßen schmaler und füllten sich mit dem Geruch frischen Fischs und gegrillten Fleisches aus den Gasthäusern. Höker und hungrige Söldner hielten auf sie zu, änderten jedoch urplötzlich die Richtung, sobald sie den Ausdruck in ihren Augen bemerkten. Sie hatte keine Zeit an gewöhnliche Abenteurer zu verschwenden. Der Schlüssel in ihrer Tasche wog schwer.

Als sie am Expeditionshaus von Seetor eintraf und seine eisenbeschlagene Tür aufstieß, brandete eine Woge aus Lärm, Hitze und dem Geruch von schalem Bier und Reisenden über sie hinweg. Der Raum war nicht sonderlich groß, und er war voll von zahllosen Leuten verschiedenster Herkunft, die dicht gedrängt um abgewetzte Tische herum hockten und die Krüge kreisen ließen oder hitzig debattierten, wenn mögliche Auftraggeber mit Abenteurern feilschten. Und inmitten des Chaos saß wie das Auge des Sturms Kesenya, die Leiterin des Expeditionshauses.

Sie war eine hochgewachsene, stolze Kor in silberner Rüstung und teuren, violetten Gewändern. Ihr weißes Haar war zu einem komplizierten Muster geflochten, und um ihren Hals ruhte ein schillerndes rotes Halsband, bei dem es sich nur um die legendäre Drachenkrause handeln konnte. Sie war umringt von Gästen und Bewunderern, die allesamt um ihre Aufmerksamkeit buhlten. Als sie jedoch Nahiri erspähte, erhob sie sich augenblicklich, entschuldigte sich wortreich bei den Leuten um sich herum und bahnte sich ihren Weg durch den Raum.

„Gönnerin“, sagte sie leise. „Es ist immer eine Ehre, Euch zu sehen.“

„Mich freut es zu sehen, dass meine Investition Früchte trägt“, erwiderte Nahiri mit gedämpfter Stimme. „Sprechen wir in Ruhe.“

„Natürlich.“ Kesenya führte sie in ein Hinterzimmer. Es war klein, aber gut ausgestattet: Auf den Bänken lagen Kissen, und an den Wänden prangten Karten der Himmelsfestungen. Eine Runde Bier wurde hereingetragen und auf dem Tisch abgestellt.

„Ich will ehrlich sein“, sagte Kesenya und setzte sich ihr gegenüber. „Ich bin überrascht, Euch hier zu sehen. Für gewöhnlich seid Ihr etwasunnahbarer.“

„Ich bin, was ich sein muss“, erwiderte Nahiri mit einem schneidenden Unterton. Sie berührte den Schlüssel in ihrer Tasche. „Und derzeit benötige ich eine kühne und wackere Gruppe, um etwas sehr Kostbares und Mächtiges zu beschaffen.“

„Dann seid Ihr am rechten Ort“, sagte die andere Kor. „Ich nehme an, Ihr hattet bereits eine bestimmte Gruppe im Sinn?“

Nahiri lächelte.


Nahiri, Erbin der Alten | Bild von: Anna Steinbauer

In einem separaten Besprechungsraum im Expeditionshaus sah sich Nahiri vier Abenteurern gegenüber. Akiri, eine Kor, deren Seilschleuder-Künste auf ganz Zendikar berühmt waren. Eine kleine menschliche Magierin namens Kaza mit einem großen geschnitzten Stab und einem spitzbübischen Funkeln in den Augen, von der es hieß, dass sie Feuer verehrte. Orah, ein Kor-Kleriker mit einem langen weißen Bart und dem Wissen ganzer Bibliotheken im Kopf. Und Zareth, ein Mann vom Meervolk mit feuerrotem Haar und einem geflochtenen Bart. Von den vieren war er der Einzige, der nicht am Tisch saß. Stattdessen lehnte er mit verschränkten Armen an der hinteren Wand und beäugte sie misstrauisch. Nahiri wusste sofort, dass sie in seiner Nähe vorsichtig sein musste.

„Ich bin Nahiri“, sagte sie. „Ich war bereits auf Abenteuern, die Legenden würdig sind. Und nun bitte ich euch, mich auf eine solche Expedition zu begleiten.“

Die Abenteurer antworteten nicht. Ihre Gesichter spiegelten unterschiedliche Grade an Skepsis wider.

Gut, dachte sie. Sie nehmen Dinge nicht einfach als gegeben hin.

„Was hat Kesenya euch über mich erzählt?“, fragte Nahiri und lehnte sich in ihrem Sessel zurück.

„Nur das Grundlegendste“, antwortete Akiri langsam. Sie, so wusste Nahiri, war ihre Anführerin.

„Sie sagte, du kannst zu anderen Welten reisen. Dass die Steine deinen Befehlen folgen. Dass du mächtig genug bist, um dich allein einem Eldrazi zu stellen“, sagte Orah und lehnte sich vor. „Ist das so?“

Ich wünschte, Letzteres wäre es, dachte Nahiri bitter.

„Ja“, sagte sie nach einer Pause.

Orah grinste und wirkte dabei wie ein entzücktes Kind, das gerade entdeckt hatte, dass all seine Lieblingsgeschichten der Wahrheit entsprachen. Akiri sah hinter sich und tauschte einen Blick mit Zareth aus.

„Wofür brauchst du dann bescheidene Abenteurer wie uns?“, fragte Zareth, richtete sich auf und kam zum Tisch herüber.

Weil ich wahrscheinlich in eine Falle laufe, dachte sie.

„Es gibt einen uraltes Gegenstand, den man den Lithoform-Kern nennt“, sagte Nahiri. Sie hielt inne und schluckte ihren Stolz herunter. „Und ich brauche Hilfe dabei, ihn zu beschaffen.“

„Wo?“, fragte Akiri und verschränkte die Arme vor der Brust.

„In Murasa. In einer kürzlich dort emporgestiegenen Himmelsfestung“, antwortete Nahiri und bemerkte, wie der Name dafür sorgte, dass die Abenteurer sich interessiert nach vorn lehnten. „Ihr habt also davon gehört?“

Erneut tauschten sie Blicke aus. „Noch niemandem ist es gelungen, sie zu erklimmen“, sagte Kaza und klang dabei nervös.

„Es hat auch noch niemand die Besten gefragt“, sagte Nahiri und lächelte in sich hinein, als sich daraufhin alle ein wenig die Schultern zu straffen schienen.

„Was springt für uns dabei heraus?“, wollte Zareth wissen. Akiri warf ihm einen Blick zu, doch er hob die Hand und sagte: „Nein. Wenn wir unser Leben aufs Spiel setzen, sollten wir wissen, wofür.“

Nahiris Nasenflügel bebten leicht, aber sie rang ihre Ungeduld nieder. „Der Gegenstand, den ich finden will, wird Zendikar von all seinen Narben heilen. Er wird dafür sorgen, dass diese Welt wieder zu einem sicheren und blühenden Ort wird – so wie vor der Ankunft der Eldrazi.“ Nahiri nippte bedächtig an ihrem Bier und machte eine Kunstpause. „Stellt euch nur den Ruhm und die Reichtümer vor, die diejenigen zuteilwerden, die diese Welt retten.“

„Der Schaden, der dieser Welt zugefügt wurde“, sagte Akiri, „ist unermesslich.“

„Ich habe meine gesamte Familie an die Eldrazi verloren“, sagte Orah leise.

„Ich habe Freunde verloren“, sagte Kaza.

„Wir alle haben jemanden verloren“, sagte Akiri und blickte erneut zu Zareth. „Und ich glaube, wir alle träumen von einer sichereren Welt. Es klingt unmöglich.“ Akiri drehte sich um und starrte Nahiri unverwandt in die Augen. Nahiri entdeckte einen Hoffnungsschimmer in ihrem Blick. „Aber wenn nur die Hälfte deiner Errungenschaften wirklich wahr ist, besteht vielleicht doch die Möglichkeit.“ Akiri lehnte sich zurück und der kurze Hoffnungsschimmer erlosch. „Falls wir dir glauben.“

„Ich tue das nicht“, sagte Zareth. „Was hält uns davon ab, den Kern ohne dich zu finden?“

Nahiri gönnte sich ein Lächeln, ließ es aber nicht ihre Augen erreichen. „Ich habe den Schlüssel“, sagte sie und zog ihn aus der Tasche. Es war, als würde sie einen kleinen Stern in der Hand halten, und sie legte ihn auf den Tisch. Der Schlüssel pulsierte hell, und die vier Abenteurer wichen instinktiv zurück.

„Oh“, hauchte Kaza.

Nahiri steckte den Schlüssel wieder in die Tasche und ermahnte sich, geduldig zu bleiben.

„Vielleicht würdest du mir den Gefallen tun, ein Spiel mit mir zu spielen, bevor wir uns entscheiden?“, fragte Zareth.

Nahiris Augen verengten sich misstrauisch. Doch wenn sie vollkommen ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass ein kleiner Teil von ihr zugleich auch gespanntes Interesse zeigte. „Welche Art von Spiel?“

„Zareth“, sagte Akiri mit warnender Stimme.

„Ein Kartenspiel“, entgegnete er und wandte sich zu Akiri um. „Das machen wir doch mit allen zukünftigen Auftraggebern. Warum sollten wir es jetzt anders machen?“

Akiri runzelte die Stirn, und Nahiri bezweifelte ernsthaft, dass dies tatsächlich ihr übliches Vorgehen war. Doch ihre Neugier war geweckt. „Also schön“, sagte sie. „Erkläre mir die Regeln.“

Akiri überließ Zareth ihren Sitzplatz, legte ihm jedoch eine Hand auf die Schulter, als sie sich hinter ihn stellte. Er grinste liebevoll zu ihr auf und legte seine Hand auf die ihre.

Mit der freien Hand zauberte er scheinbar aus dem Nichts ein Kartenspiel herbei. „Abenteurergruppen nennen dieses kleine Spiel Eroberung.“ Mit geübter Leichtigkeit legte er fünfzehn Karten verdeckt in einem Kreis auf dem Tisch aus. Dann tippte er in der Mitte des Kreises auf die Tischplatte, und die Karten schwebten in der Luft und begannen, sich zu drehen.

„Es geht folgendermaßen“, sagte Zareth. „Eine Karte wird zufällig ausgewählt.“ Bei seinen Worten glitt eine Karte aus dem wirbelnden Kreis in die Mitte und drehte sich um. Sie zeigte ein hübsches Bild eines komplexen Musters aus Edelsteinen und Augen. In der Mitte stand ein einzelnes Wort: List. „Und wir müssen eine wahre Geschichte darüber erzählen, wie wir uns das Wort auf der Karte zu eigen gemacht haben. Ist die Geschichte nicht beeindruckend genug, so hat ein anderer Spieler die Gelegenheit, die Karte zu erobern.“

„Das klingt simpel“, sagte Nahiri. Zu simpel.

„Oh, das ist es auch“, sagte Zareth. „Doch hier ist der Haken. Wenn ich gewinne, verrätst du uns ganz genau, was der Kern mit Zendikar machen wird.“

Nahiri lehnte sich in ihrem Sessel zurück und legte die Fingerspitzen aneinander. „Und wenn ich gewinne, kommen du und deine Begleiter mit mir zur Himmelsfestung von Murasa.“

Die vier Abenteurer tauschten erneut Blicke aus, und Akiri nickte Nahiri zu.

„Ich fange an.“ Zareth musterte die Karte eindringlich, als hätte er Mühe, an eine hinreichend listige Geschichte zu denken. „Einmal traf ich einen Buchhändler, der mehr ein Dieb als ein Gelehrter war. Ich gab vor, eine seltene und gefährliche Spruchrolle zu besitzen, und stahl, während wir feilschten, die Bücher, die er sich aus der Bibliothek von Seetor ausgeliehen hatte. Er hat es nie bemerkt.“

Die List-Karte flog in Zareths ausgestreckte Hand. Nahiri hob eine Augenbraue, und er grinste. „Ich bin auch als der Trickser bekannt.“

Was bedeutet, dass ich dir nicht trauen kann, dachte Nahiri und kniff die Augen ein wenig zusammen.

„Ich bin am Zug“, sagte sie. Erneut löste sich eine Karte aus dem Kreis und flog in die Mitte. Auf ihr prangte das Wort Widersacher.

Nahiri lächelte. Das war leicht. „Es gab jemanden, der wie ein Vater für mich war. Doch nach Jahrhunderten verriet er mein Vertrauen. Vor nicht allzu langer Zeit kämpfte ich gegen ihn. Während einer weltenvernichtenden Schlacht. Und ich gewann.“

Zareth und die anderen starrten sie an.

„Du bist nicht wirklich so alt“, sagte Kaza.

„Und seit den Eldrazi gab es keine Schlachten dieses Ausmaßes mehr“, sagte Orah langsam.

Nahiri nahm einen großen Schluck Bier und grinste. Ruhig streckte sie die Hand aus, und die Karte sauste auf ihre Handfläche. „Nicht auf dieser Welt, nein.“

Einen Augenblick lang schien Zareths Selbstsicherheit ins Wanken zu geraten.

Gut, dachte Nahiri.

„Ich will auch spielen“, sagte Kaza und rückte mit dem Stuhl dichter an den Tisch heran. Auf ihrer Karte stand Sieg.

Kaza gab eine Geschichte zum Besten, wie sie einst ein ganzes Nest voll Eldrazi-Brut mit einer Handvoll von Zaubern und einer wohl platzierten explodierenden Phiole ausgelöscht hatte. Doch Nahiri hörte nur mit halbem Ohr zu. Sie vermutete, dass es etwas mehr mit diesem simplen Kartenspiel auf sich hatte, und sie wartete darauf, dass die Falle zuschnappte.

Doch das tat sie nicht.

Bis sie etwas spürte. Die Finger, die ihre Tasche berührten, waren leicht, nur der Hauch eines Streichelns. Wäre der Boden nicht aus Stein gewesen und hätte sie nicht die Bewegungen des Tricksers durch ihn hindurch gespürt, so hätte sie es überhaupt nicht wahrgenommen. Doch als sie von ihren Karten aufblickte, lagen seine Hände beide wieder auf dem Tisch.

„Du bist am Zug“, sagte Zareth mit einem durchtriebenen Grinsen.

Auf der umgedrehten Karte stand Macht.

Nahiri lehnte sich zurück und musterte ihren Gegner lange und durchdringend.

Dann schnippte sie mit den Fingern und verwandelte alle Karten in Granit. Zareth und Kaza sprangen überrascht auf und ließen ihre Karten fallen. Sie landeten laut klappernd auf dem Tisch. Nahiri streckte die Hand aus, und das gesamte Kartenspiel flog auf ihre Handfläche.

„Ich habe gewonnen“, sagte Nahiri und funkelte Zareth an. „Und jetzt gib ihn mir zurück.“ Sie streckte die andere Hand aus.

Verblüfft fischte Zareth den Schlüssel aus seinem Wams und überreichte ihn ihr widerspruchslos.

Neben ihm brach Kaza in Gelächter aus. „Oh, sie hat dich kalt erwischt, Zareth.“

„Sie hat gewonnen“, sagte Akiri. „Obwohl das Wort ehrlich bei einem Spiel gegen dich nie wirklich Anwendung findet.“ Sie schlang einen Arm um seine Schultern. Und zu Nahiri gewandt sagte sie: „Wann brechen wir auf?“

Nahiri erhob sich. Sie hatte gewonnen, doch aus irgendeinem Grund schmeckte der Sieg nicht süß. Sie bewegte sich auf die Tür zu. „Morgen. Bei Tagesanbruch.“


Zareth San, der Trickser | Bild von: Zack Stella

Zareth verfluchte sich dafür, Nahiri den Schlüssel zurückgegeben zu haben. Die anderen verspotteten ihn wegen seiner spektakulären Niederlage gegen die seltsame Kor, doch sie ließen von ihm ab, als er nicht mit seinem sonstigen Sarkasmus konterte.

Stattdessen ließen sie ihn in Ruhe, während sie ihr Bier austranken und sich auf die vor ihnen liegende Reise vorbereiteten. Doch Zareth ging nicht. Nein. Er hockte im Expeditionshaus von Seetor und nippte an einem weiteren Getränk, während die Stunden verrannen und der beengte Raum sich langsam leerte.

Wer hatte Nahiri überhaupt das Recht gegeben, seine Welt zu ändern?

Es war kurz vor Mitternacht, als er schließlich die einzige verbliebene Person im Raum war.

Nun gut, da war noch Kesenya. Und das kam ihm gerade recht. Zareth fragte sich, ob die Leiterin des Hauses jemals schlief.

„Brichst du nicht am Morgen auf?“, fragte sie und setzte sich neben ihn.

„Ja“, entgegnete er, „aber ich will diesen Abend genießen. Falls es mein letzter ist.“

Kesenya musterte ihn lange. „Lügner“, sagte sie.

„Na schön“, sagte Zareth. „Dieser Gegenstand, den wir in der Himmelsfestung von Murasa finden sollen … Ich mache mir Sorgen deswegen.“

Die Leiterin des Hauses schwieg und bedeutete ihm lediglich mit einer Geste, fortzufahren.

„Sie meinte, sie will damit Zendikar verändern“, sagte Zareth. „Es wieder zu dem machen, was es war, bevor die Eldrazi hier eingekerkert wurden.“

Kesenya gab ein leises Lachen von sich. „Aus deinem Mund klingt es, als wäre das etwas Schlechtes, Trickser.“

„Du hast diese alten Ruinen gesehen“, sagte er scharf. Der Ärger, der sich den ganzen Tag über in ihm angestaut hatte, begann aus ihm herauszubrechen. „Glaubst du, dass es in einer Welt voller Festungen und Armeen einen Platz für Leute wie uns geben wird?“

Zum ersten Mal, seit er sich erinnern konnte, wirkte die Leiterin verunsichert. „So einfach ist das nicht. Nahiri istwichtiger, als sie scheint.“

Zareth schüttelte den Kopf. „Alles, worum ich dich bitte, ist, einen Käufer für den Kern zu finden, der reich und dumm ist. Jemanden, der ihn nicht wirklich benutzen will“, sagte er. „Ich kümmere mich um den Rest.“

Kesenya zögerte hin und her gerissen. „Beschaffe mir den Kern und ich ziehe es in Erwägung“, sagte sie schließlich.

Zareth lächelte. Das war zwar kein Ja, aber ein Nein war es auch nicht. Ihm reichte das aus.

Fürs Erste.


Wald | Bild von: Sam Burley

Als sie die Wrackbucht endlich erreichten, war Akiri die Erste, die von ihrem Greif abstieg und einen Fuß auf den Boden setzte. Die beeindruckenden Klippen der Insel ragten über ihnen auf, und ein Wald aus riesigen Harabaz-Bäumen umgab sie. Doch Akiris Blick war fest auf die Himmelsfestung von Murasa geheftet, die sich hoch über dem verworrenen Geflecht der Zweige der Harabaz-Bäume erhob. Die uralte, schwebende Ruine war gewaltig. Dort, wo kleine Wasserfälle von ihr in die Tiefe stürzten, wuchsen üppiges Grün und kleine Bäume. Die Teile der Festung bewegten sich leicht in den Luftströmungen, und selbst Akiris begrenzter Blickwinkel vom Boden aus verriet ihr, dass der Aufstieg gefährlich werden würde.

Sie lächelte. Sie liebte die Herausforderung.

„Hui“, sagte Kaza und starrte nach oben. „Das sieht übel aus. Gut, dass sie uns angeheuert hat.“

„Das wird der Stoff sein, aus dem Legenden sind“, stimmte Akiri ihr zu.

„Wir sollten aufbrechen“, sagte Nahiri und schwang sich von ihrem Greif. „Der Lithoform-Kern ist ganz in der Nähe.“

„Woher wissen wir, wo wir ihn finden, sobald wir erst einmal da oben sind?“, fragte Zareth mit verschränkten Armen. Akiri sah ihn warnend an. Während der gesamten Reise hatte er Nahiri mit Fragen über den Kern gelöchert und dabei nie ganz sein Missfallen verbergen können.

Nahiri bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick. „Ich werde es wissen.“ Sie drehte sich um und schritt dorthin, wo Kaza und Orah ihre Bündel vorbereiteten.

„Das ist keine Antwort“, grollte Zareth leise genug, dass nur Akiri es hören konnte. „Ich traue ihr nicht.“ Er griff nach Akiris Hand und verschränkte seine Finger mit den ihren.

Akiri seufzte. Sie konnte die Anspannung in seiner Haltung sehen und die Besorgnis, die er ausstrahlte, förmlich spüren.

„Ich weiß“, sagte sie. „Aber ich habe das Gefühl, dass sie Zendikar um jeden Preis beschützen will. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie ihm Schaden zufügen würde, auch wenn ich nicht genau weiß, warum.“ Es gab viele Dinge auf dieser Welt, die Akiri nicht verstand, und Nahiri war eines davon. Sie drückte Zareths Hand einmal – ganz fest –, ehe sie sie losließ und zu den anderen ging. Einen Augenblick später hörte sie seine langen Schritte hinter sich.

„Wie groß genau ist dieser Kern?“, fragte Orah und schlang sich ein aufgewickeltes Seil über die Schulter.

Nahiri legte die Stirn iun Falten. „Ich bin mir nicht ganz sicher.“

„Nun ja“, meinte Kaza fröhlich. „Falls es nötig ist, kann ich ihn sicher levitieren. Oder in die Luft sprengen. Das kann ich auf jeden Fall.“

„Zur Kenntnis genommen“, sagte Nahiri mit einem leisen Lächeln.

„Und woher wissen wir überhaupt, ob dieser Kern funktioniert?“, fragte Zareth.

Nahiri drehte sich zu ihm um und erstarrte. Ihr Gesichtsausdruck und ihre Haltung wurden so unnachgiebig wie Stein. Einen schrecklichen Augenblick lang dachte Akiri, sie würde Zareth angreifen. Instinktiv spannte sie sich an, bereit zum Handeln.

Doch Nahiri war schneller.

Mit einer flirrenden Bewegung zog Nahiri den glänzenden Schlüssel aus der Tasche, hielt ihn Zareth hin und sprach ein Wort, das Akiri nicht verstand. Akiri sprang vorwärts, wurde jedoch von einem derart grellen Blitz zum Stehen gebracht, dass sie sich die Hand vor die Augen halten musste.

„Zareth!“, rief sie panisch.

Es dauerte einen langen, qualvollen Wimpernschlag, bis ihr Blick wieder klar war.

Und dann bemerkte Akiri zwei Dinge.

Zum einen stand Zareth noch am gleichen Fleck, unversehrt und ebenfalls blinzelnd. Akiri atmete aus und Erleichterung durchströmte sie.

Zum anderen befand sich hinter Zareth ein wütender Stampfer, der mitten im Sprung erstarrt war. Sein Maul stand offen, seine langen Fangzähne waren gebleckt, und zwei seiner sechs Beine trennte kaum eine Handbreit von Zareth – die Bestie war bereits im Begriff gewesen, zuzuschlagen. Es war klar, dass dieses wilde Ungeheuer jagte, um zu töten, und dass es im allerletzten Augenblick noch aufgehalten worden war.

Akiri griff nach ihren Seilen, um die Bestie einzufangen und zu fesseln.

Bevor sie jedoch handeln konnte, zerfiel der Stampfer zu Sand. Innerhalb von Wimpernschlägen war außer einer Handvoll schwarzer Körnchen nichts mehr von der Kreatur übrig.

„Das“, sagte Nahiri und steckte den Schlüssel wieder ein, „ist nur ein Vorgeschmack auf die Macht des Kerns.“

„Wo war dieser Kern, als wir gegen die Eldrazi gekämpft haben?“, fragte Akiri mit vor Staunen gedämpfter Stimme. „Wir hätten ihn brauchen können.“

Nahiri erstarrte erneut, doch dieses Mal war ihr Gesicht voller Schuld und Schmerz. „Wir sollten aufbrechen“, sagte sie steif. „Wir sollten nicht am Boden bleiben.“

„Beginnt, auf die Bäume zu klettern“, sagte Akiri. Sie nickte Zareth und den anderen rasch zu. „Ich komme gleich nach.“

Akiri gab vor, ihre Ausrüstung ein weiteres Mal zu prüfen, während die anderen begannen, den nächsten Harabaz-Baum hinaufzuklettern. Als sie außer Sicht waren und Akiri sie kaum noch hören konnte, ließ sie die Schultern sinken. Das würde ein Abenteuer werden, um das sich Legenden rankten.

„Falls irgendeine großmütige Gottheit zuhört“, flüsterte Akiri den Bäumen und den Klippen zu. Sie glaubte an kaum mehr als daran, gut vorbereitet und stets flink zu sein, aber heute fühlte es sich anders an. „Bitte behüte meine Gruppe heute.“

Es war kein sonderlich gutes Gebet, doch sie belästigte die Götter nur ungern. Akiri schlang sich ihre Seile über die Schultern und begann zu klettern.

Aus dem Augenwinkel sah sie, wie sich etwas bewegte. Sie erstarrte kurz, drehte sich dann um und erspähte einen wachsenden dunklen Fleck unter einem der Bäume in der Nähe – genau dort, wo Nahiri den Schlüssel verwendet hatte. Er sah aus wie ein Tentakel aus schwarzem Sand. Er wurde stetig größer, wand sich um den Stamm, ließ die Blätter, die Zweige und die Rinde verdorren und verwandelte sie in etwas Starres und Unnachgiebiges.

Wie Stein.

Akiri erschauderte.

Es gab viele Dinge auf dieser Welt, die sie nicht verstand, und dies war eines davon.

Rasch kletterte sie weiter.


Als Jace in Seetor eintraf, fragte er sich, ob er am richtigen Ort anfing. Von dem, was Nissa ihm auf Ravnica erzählt hatte, wusste er, dass Nahiri hier war. Auf Zendikar. Und er schloss daraus, dass auch Nissa auf diese Welt zurückgekehrt war. Doch die Frage lautete natürlich: Wohin genau?

Seetor, so fand er, war ein guter Ausgangspunkt.

Seit dem Kampf gegen die Eldrazi war er nicht mehr hier gewesen – seit die Stadt im Grunde dem Erdboden gleichgemacht worden war. Damals war der Leuchtturm über dem Eingang zerborsten, und Verderbnis hatte sich in Kozileks Schatten über sämtliche Straßen der Stadt ergossen.

Inzwischen war der Leuchtturm wiederaufgebaut worden, hoch aufragend und stolz, und die Straßen waren sauber und glänzend. Jace ging durch sie und hoffte, dass er auf Nissa stoßen würde. Dass er die Dinge mit ihr wieder ins Reine bringen konnte. Sie war seine Freundin, und obgleich er nicht immer ein guter Freund war, so wollte er doch versuchen, ein besserer zu werden.

Ich wünschte, Chandra wäre hier, dachte er. Er hatte versucht, sie zu finden, bevor er hierherkam, doch es war vergeblich gewesen. Und Jace vermutete, dass er nicht viel Zeit hatte, bevor Nahiri ihren Plan in die Tat umsetzte.

Derart gedankenverloren reagierte Jace zunächst nicht, als ihn jemand ansprach.

„He, Held!“, rief jemand hinter ihm. „Du warst doch einer der Verteidiger der Stadt während des Krieges, oder?“

Jace drehte sich um und sah eine Frau auf sich zukommen. Sie trug eine leichte Rüstung aus Leder und Metall in Rot- und Goldtönen sowie einen laubgrünen Umhang. Ihr Haar war schwarz und zu einem straffen Zopf geflochten. Ihr Gesicht war von Falten durchzogen, doch ihre hellgrünen Augen strahlten. Oder vielmehr ihr eines Auge. Die rechte Hälfte ihres Gesichts bestand aus einem Wirrwarr von Narben, die Jace als von Verderbheit verursachte Wunden erkannte. Ihre rechte Hand war verkrümmt, und sie humpelte leicht.

„Ja, ja, das war ich“, antwortete Jace.

„Dachte ich’s mir doch“, sagte sie grinsend. „Ich erinnere mich an den blauen Mantel. Ich habe nicht weit von dir entfernt gekämpft.“

„Hast du?“ Jace stöberte in seinen Erinnerungen, doch an diesem Tag hatte es so viel Chaos gegeben. So viel Zerstörung.

„Ja. Ich habe einen Schwarm Brutlinge aufgehalten. Das lief ganz gutbis mich die Verderbnis erwischt hat.“ Sie zuckte die Schultern.

„Tut mir leid“, sagte er, unschlüssig, was er antworten sollte. Plötzlich wünschte er, er und die anderen Planeswalker hätten während dieses Kampfes schneller und entschlossener gehandelt.

Die Frau warf ihm einen eigentümlichen Blick zu. „Das muss es nicht. Ich habe einem Dutzend Leute zur Flucht verholfen, bevor es mich erwischt hat. Und müsste ich diese Entscheidung erneut treffen, würde ich nichts ändern.“ Sie grinste, und Jace musste zugeben, dass es ein bezauberndes Lächeln war. „Mein Name ist Mara. Ich bin auf dem Weg zum Mahnmal. Möchtest du mich vielleicht begleiten?“

„Es wäre mir eine Ehre“, sagte Jace und meinte es so.

Gemeinsam gingen sie zu der imposanten Plattform mit ihren sechs aufrecht stehenden Polyedern. Und gemeinsam knieten sie am Fuße eines davon nieder. Er konnte Mara murmeln hören. Sie bat Freunde, die sie während des Kampfes verloren hatte, um Vergebung. Dafür, dass sie sie nicht hatte retten können. Dafür, dass sie sie überlebt hatte.

Jace schnürte es die Brust zu. Er wusste nicht, welche seiner Freunde er um Vergebung bitten sollte.

Er dachte an Nahiri und wie verzweifelt sie doch versuchte, die Zeit für diese Welt zurückzudrehen. Er dachte an Nissa, die sich Vorwürfe dafür machte, dass sie das Richtige für die Welt hatte tun wollen, die sie liebte.

Er dachte an Gideon, der sich willentlich für diese Welt geopfert hatte.

„Auch ich bin schuldig“, flüsterte er leise – so leise, dass Mara neben ihm ihn nicht hören konnte –, „aber ich werde es wiedergutmachen.“


Unglücklicherweise war nicht jeder in Seetor so zuvorkommend. Viele Leute traten an ihn heran, doch die meisten waren Händler oder einzelne Abenteurer auf der Suche nach einem Gönner. Er konnte keine zehn Schritte gehen, ohne dass jemand versuchte, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Zuerst erkundigte er sich nach Tazri, einer furchtlosen Generalin bei der Schlacht gegen die Eldrazi und seine Freundin. Er erfuhr jedoch, dass sie irgendwo in Guul Draz irgendeine schreckliche Bestie jagte. Dann lenkte er die Unterhaltung darauf, ob irgendwer jemanden gesehen hatte, der Nissa oder Nahiri ähnelte, doch die Abenteurer schüttelten den Kopf und die Händler priesen weiter ihre Waren an.

Schließlich war Jace so verdrossen, dass er eine Illusion heraufbeschwor, die ihn als Mann vom Meervolk mit einer langen weißen Barttracht erscheinen ließ, der in Braun- und Grüntöne gekleidet war. So wanderte er weitestgehend unbehelligt durch die Straßen von Seetor. Dieses Mal jedoch spähte er in den Verstand einiger der vernarbteren und ernster aussehenden Abenteurer und hoffte, so einen Blick auf die anderen beiden Planeswalker zu erhaschen.

Er fand nichts.

Vielleicht erkannte er deshalb beim Betreten des Expeditionshauses von Seetor, dass er die gesamte Zeit über am falschen Ort gesucht hatte. Der Raum war voller Abenteurer mit funkelnagelneuer Ausrüstung, die stolz das Abzeichen des Hauses trug: den roten, gezackten Umriss der Drachenkrause. Alle lachten laut und brüsteten sich mit ihren jüngsten Erfolgen.

„Kann ich dir helfen?“, fragte ein Mann an der Tür.

„Ich suche nach der Leitung dieses Hauses“, antwortete Jace. Der Mann hob eine Augenbraue und musterte Jace von oben bis unten.

„Ach ja, richtig.“ Jace hob die Illusion auf. „Ich bin Jace Beleren. Sag ihr, wir müssen reden.“


Die Leiterin des Expeditionshauses von Seetor saß Jace in einem separaten Besprechungszimmer gegenüber, und er konnte augenblicklich ihre Vorsicht spüren.

Ich frage mich, warum? Er unterdrückte den Drang, ihr in den Kopf zu schauen.

Der Raum war behaglich: Hier gab es Kissen, und vor ihm stand Tee. An den Wänden hingen Karten, und in einer Ecke befanden sich Tinte und Pergament zum Aufsetzen von Verträgen.

„Ich bin hier, um zu helfen“, sagte er zu ihr. Er erkannte, dass er ihr Vertrauen gewinnen musste. Irgendwie.

Kesenya hob eine Augenbraue. „Wobei helfen?“

Jace wiederholte das, was Nissa ihm über den Kern erzählt hatte. Er betonte, eine vernünftige Lösung finden zu wollen. Er erklärte, wie er, Nissa und Nahiri in der Vergangenheit zusammengearbeitet hatten.

„Ich weiß nur nicht, wo sich Nissa oder Nahiri im Augenblick aufhalten“, endete er schließlich.

Kesenyas Miene war nicht zu deuten. Er wusste, dass er es nicht tun sollte, doch er wurde zunehmend verzweifelter: Er blickte in ihre Gedanken.

Zareth hatte recht, dachte sie.

Stattdessen sagte sie jedoch: „Ich fürchte, ich kann dir nicht helfen.“

Jace zuckte überrascht zurück. „Du machst dir keine Sorgen?“

„Ich mache mir Sorgen“, erwiderte sie. „Sie hat meine beste Abenteurergruppe mitgenommen.“

Und sie sucht nach etwas, was vielleicht besser nicht gefunden werden sollte, dachte sie.

„Zendikar ist ein wunderbarer Ort“, sagte Jace gemessen. „Ich hätte gern die Gelegenheit, mit Nahiri zu sprechen, bevor sie ihn verändert. Doch ich muss wissen, wo ich suchen soll.“

Er sah ein kurzes Aufflackern von Unentschlossenheit in Kesenyas Gesicht, und er wagte es, wieder zu hoffen.

Dann verhärtete sich ihr Ausdruck.

„Es tut mir leid. Ich kann dir nicht helfen“, sagte sie und stand auf. „Dieses Haus nimmt die Privatsphäre seiner Besucher sehr ernst.“

„Ich verstehe“, sagte Jace und fügte dann leise, mehr zu sich selbst, hinzu: „Bedauerlicherweise ist diese Welt sehr groß.“

„Ja. Wenn du eine Unterkunft brauchst, ist hier die Anschrift eines respektablen Gasthauses“, sagte sie und holte sich rasch einen Federkiel und ein Stück Pergament von dem Tisch in der Ecke. „Viel Glück.“ Sie hielt ihm das Pergament hin.

„Danke“, sagte Jace und griff entmutigt danach. Er fragte sich, ob er seine Kräfte einsetzen und sie zwingen sollte, ihm zu sagen, was er wissen wollte.

Doch nein, das würde eine Grenze überschreiten. Jace konnte beinahe hören, wie Gideon ihn dafür schalt, Kesenyas Gedanken ausgespäht zu haben. Fast konnte er Gideons enttäuschtes Stirnrunzeln vor sich sehen.

Er verließ mit schwirrendem Kopf das Expeditionshaus und versuchte, seine nächsten Schritte zu planen. Er war schon halb die Straße hinuntergegangen, ehe er sich Kesenyas Notiz ansah.

Darauf stand die Adresse für das Gasthaus „Zum Gelehrten und Meer“. Doch unten auf das Pergament gekritzelt stand ein einziges Wort: Murasa.


Schwarmschlurfer | Bild von: Nicholas Gregory

Jace hatte schon viele Welten und Orte bereist, aber Murasa war anders als jede andere Insel, auf der er je gewesen war. Er war sich nicht sicher, ob sie ihm gefiel.

Da waren zunächst einmal die Klippen um ihn herum. Sie waren schwindelerregend, höher als die höchsten Türme auf Ravnica, und ihr glatter, weißer Stein verhieß Gefahr. Um ihn herum reckten sich gewaltige Harabaz-Bäume gen Himmel, und ihre Wurzeln spannten sich wie Torbögen über ihm. Seine Stiefel sanken leicht in den feuchten, groben Sand am Boden ein, und der Geruch nach Sole und Tang war beinahe überwältigend.

Jace erschauderte. Die Wrackbucht erinnerte ihn zu sehr daran, wie er im Dschungel Ixalans gefangen gewesen war. Er wünschte, es wäre ihm gelungen, Chandra oder ein anderes Mitglied der Wächter mit hierherzubringen, doch niemand hatte seinem Ruf geantwortet.

Glücklicherweise konnte er die Himmelsfestung über sich sehen – sehr weit über sich, und der Aufstieg schien tückisch.

„Nun ja, ich mag Herausforderungen“, sagte er. Wenn seine Zeit auf Ixalan ihn irgendetwas gelehrt hatte, dann war es, wie man Schwielen an den Händen bekam.

Er hörte es, bevor er es sah. Irgendetwas Großes preschte durch das Unterholz hinter ihm. Seine schweren Schritte ließen den Boden erbeben. Jace drehte sich gerade rechtzeitig um, um ein gewaltiges, gefräßiges Ungeheuer zwischen den Bäumen auftauchen zu sehen. Es hatte sechs knotige Beine, einen krabbenartigen Leib und auf seinem Rücken wuchsen große, fahle Pilze.

„Ach, nicht jetzt“, zischte Jace und machte sich unsichtbar.

Die riesige Kreatur hielt inne und drehte sich mal in die eine, mal in die andere Richtung. Mit einem lauten Klatschen ließ sie die grotesken Vorderbeine zusammenschnellen, sodass die Pilzstöcke auf ihrem Rücken erbebten und erzitterten. Dann drehte sie den massigen Leib in Jaces Richtung.

Und stürmte auf ihn zu.

Jace rollte sich aus dem Weg. Einen Wimpernschlag später krachte die Kreatur in einen Baum hinter ihm.

Verdammt, dachte Jace. Neuer Plan. Er hob seine Unsichtbarkeit auf und erschuf stattdessen eine Illusion seiner selbst, die er so weit wie möglich von sich entfernt platzierte. Das Ungeheuer hielt inne und ließ den Blick zwischen den beiden Planeswalkern hin und her pendeln. Mit einem ohrenbetäubenden Knacken ließ es erneut seine Vorderbeine zusammenfahren. Jace hielt sich keuchend die Ohren zu. Als er wieder aufsah, starrte ihn die Kreatur unverwandt an.

Sie hatte sich nicht täuschen lassen.

Sie verwendet ein Echolot, erkannte er einen Augenblick zu spät.

Das Ungeheuer stürmte auf ihn zu. Jace glitt aus dem Weg und wich dem Geschöpf um Haaresbreite aus.

„Warum will nur alles auf dieser Welt mich töten?“, murmelte er, während er zwei Finger an die Schläfe legte und versuchte, den Verstand der Bestie zu unterwerfen.

Doch was auch immer dieses Untier beherrschte, war nicht in dessen Kopf.

Und jetzt war es ganz dicht bei ihm. Zu dicht. Jace roch die Wellen der Verwesung, die von der Kreatur ausgingen. Panik wallte in ihm auf. Warum verfing seine Gedankenkontrolle nicht?

Oh! Das Ding wird von den Pilzen auf seinem Rücken gesteuert! Doch auch diese Erkenntnis kam zu spät. Die Kreatur hob die gewaltigen, verkrümmten Vorderbeine über ihn.

Jace errichtete eine Barriere und wappnete sich für den Aufprall.

Doch dieser blieb aus.

So plötzlich das Ungeheuer aufgetaucht war, so plötzlich erschien nun auch etwas anderes.

Zunächst konnte Jace sich keinen Reim darauf machen, worum es sich dabei handelte. Eine zweite Kreatur kämpfte jäh gegen das Ungeheuer, ein Wesen, das von seiner Anmutung her vollständig mit den Bäumen um sich herum hätte verschmelzen können. Sein Leib war dick und grau, doch seine Gliedmaßen glichen aufs Haar den riesigen Baumwurzeln über ihm.

Diese zweite Kreatur hieb ein Mal, zwei Mal mit einem entsetzlich dumpfen Knirschen Knirschen auf das andere Untier ein und entwurzelte so einige der knolligen Pilze auf dessen Rücken. Das Ungeheuer kreischte auf und zuckte zurück.

Was bist du?, dachte Jace.

Sein Retter näherte sich und drosch wieder und wieder und wieder auf das Ungeheuer ein. Jace erkannte, dass der Neuankömmling nichts anderem als einer Verkörperung der Harabaz-Bäume um ihn herum ähnelte. Riesig, alles umspannend und unbeugsam. Die Antwort traf Jace wie ein Faustschlag.

Das ist ein Elementar. Jace wirbelte herum und suchte nach der anderen Planeswalkerin.

Und ja, da war sie: Nissa hockte mit ausgestreckter Hand in einem der großen Bäume und wirkte voll und ganz wie die Wächterin dieser Welt.

Ihr Gesichtsausdruck war durch und durch von Kampfeslust geprägt.

Binnen Sekunden vernichtete das Harabaz-Elementar das Ungeheuer, dessen riesiger Leib zerschunden und reglos zu Boden sackte.

„Geht es dir gut?“, fragte Nissa und sprang so leichtfüßig von ihrem Ast herunter, als mache sie nur einen Schritt nach unten, anstatt sich drei Mannslängen in die Tiefe fallen zu lassen.

„Ja“, antwortete Jace. „Danke.“

„Gern geschehen.“ Sie lächelte, doch das Lächeln erreichte nicht ihre Augen. Ihr Blick glitt zu dem Harabaz-Elementar, das vor der Leiche des Ungeheuers umhertigerte, als forderte es sie zu einem weiteren Angriff heraus. „Ich habe noch nie zuvor ein Harabaz-Elementar beschworen. Ich glaube, Gideon hätte es gefallen.“

„Es ist beeindruckend“, gab Jace zu.

Es ist Zendikar“, sagte Nissa steif. „Natürlich ist es das.“

Innerlich versetzte Jace sich selbst einen gehörigen Tritt. „Ich wollte nicht andeuten, dass –“

„Ich weiß“, sagte sie sanft. „Die Elementare sindmir nur wirklich wichtig. Sie waren für mich da, bevor irgendjemand anders für mich da war. Ich kann nicht zulassen, dass Nahiri ihnen Schaden zufügt.“

Jace legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Ich tue nicht so, als würde ich das vollkommen begreifen“, sagte er, „doch diese Elementare bedeuten dir viel. Also werde ich dir helfen, sie zu beschützen.“

Nissa lächelte – das erste Lächeln, das er seit langer Zeit von ihr zu sehen bekam. Sein Herz machte einen Sprung.

„Danke“, sagte sie. „Nahiri ist dort hinaufgegangen.“ Nissa deutete auf die imposante Himmelsfestung.

„Woher weißt du das?“

„Zendikar hat es mir gesagt.“

Jace runzelte verwirrt die Stirn. Er würde diese Welt nie verstehen. „Welches ist der beste Weg dort hinauf?“, fragte er.

„Meine Ranken“, sagte Nissa und wirkte gleich darauf beschämt. „Sie sind nicht so schnell wie Nahiris Kunst der Steine. Es wird nicht leicht werden. Bist du bereit dafür, Jace?“

Sie biss sich auf die Lippen und rang die Hände. Jace erkannte, dass sie damit rechnete, dass er sich weigern würde.

Jace zog sich vor lauter Schuldgefühlen der Magen zusammen. Es stimmte: Der alte Jace hätte abgelehnt. Jener alte Jace, der nicht mit Vraska Ixalan überlebt hatte.

Doch er war der Jace, der diesen Ort und diesen Menschen überwunden hatte. Und um Nissas Freundschaft willen – um der Wächter und der noch folgenden Kämpfe willen – musste er das hier tun.

„Ja“, sagte er. „Ich bin bereit.“