Wolkenmeer
Wolkenmeer | Bild von: Sam Burley

Nahiri lächelte beim Klettern. Die Himmelsfestung von Murasa ragte über ihr auf und rückte Stufe für Stufe näher. Bald würden alle Schmerzen dieser Welt geheilt sein. Mit dem Lithoform-Kern konnte sie der Turbulenz ein Ende setzen und Zendikar wieder so friedlich und ruhig machen wie vor Jahrhunderten.

Wie es in ihrer Erinnerung war.

Sie bemerkte den schweren Atem Akiris, Orahs und Kazas hinter ihr, doch sie drosselte ihr halsbrecherisches Tempo nicht. Nicht so dicht vor ihrem Ziel.

Stattdessen erschuf sie mehr und mehr Stufen, die sich klickend an ihren Platz bewegten, während sie zwei von ihnen auf einmal nahm.

Sie kletterten höher hinauf als die Baumkronen der Harabaz und die schwebenden Klippen der Wrackbucht, dorthin, wo die Luft kalt und rein roch. Sie kletterten dorthin, wo Tröpfchen von den Wasserfällen der Ruinen sich mit dem Schweiß auf ihrer Kleidung vermengten und jeder Schritt riskant wurde. Sie kletterten, bis Nahiri beinahe die komplexen Muster auf den untersten Ausläufern der Himmelsfestung berühren konnte.

Erst hier brauchte Nahiri ihre Gefährten. Zareths scharfen Blick, Orahs ruhige Standhaftigkeit, Kazas raschen Verstand und Akiris meisterhafte Seilschleuderkünste. Denn um sie herum schwebten die Bruchstücke und Trümmer der Himmelsfestung. Einige Bereiche waren groß genug, dass sich darauf Wasserfälle, Bäume und Flure befanden. Einige waren kaum so breit wie Nahiri. Verirrte Polyeder glitten in den Freiräumen zwischen den Ruinen umher und glitzerten im Sonnenlicht.

Nahiri runzelte die Stirn.

Sie hatte diese Polyeder erschaffen. Vor Jahrhunderten, als sie geglaubt hatte, es wäre das Beste, die Eldrazi auf Zendikar einzukerkern. Damals, als Sorin und Ugin an ihrer Seite waren und ihr Zusicherungen eingeflüstert hatten, dass sie immer für sie da sein würden, wenn sie sie brauchte.

Nun waren die Polyeder versprengt und neigten sich in schiefen Winkeln, und Zendikar trug die tiefen Narben des Zorns der Eldrazi.

Dies alles wird schon bald richtiggestellt sein, dachte Nahiri und knirschte mit den Zähnen. Sie kletterte entschlossen weiter.

Je höher sie kamen, desto tückischer wurde die Umgebung. Sonnenlicht gleißte unerwartet auf, die Ruinen grollten und ächzten unter ihren Füßen und die Griffe unter ihren Fingern waren glitschig von Wasser und Algen. Schließlich vermochte nicht einmal Nahiri mehr mit Sicherheit zu sagen, welche Steine ihr Gewicht tragen und welche sich als launische Verbündete erweisen würden: nur so lange solide und vertrauenswürdig, bis man Druck auf sie ausübte. Mehr als einmal verlor jemand aus der Gruppe das Gleichgewicht und musste dann mithilfe von Akiris Seilen oder Nahiris Lithomagie gehalten werden. Dies erforderte katzenhafte Reflexe, und als sie die größte der Ruinen endlich erreicht hatten, lagen bei allen die Nerven blank.

„Wohin jetzt?“, fragte Akiri und richtete sich neben Nahiri auf.

Die Himmelsfestung von Murasa vor ihnen war ein Irrgarten aus hoch aufragenden Kanälen aus Kalkstein, in deren Ritzen Moos spross, und schmalen, gefährlichen Brücken, die sich über bodenlose Abgründe spannten.

Hier begriff Nahiri, dass diese Himmelsfestung eine Todesfalle war.

„Finden wir es heraus“, sagte sie grinsend. Die uralten Kor hatten eine tödliche Herausforderung vor ihr ausgebreitet, und Akiri nahm sie gern an.

Nahiri holte den Schlüssel aus der Tasche. Sanft pulsierend leuchtete er in ihrer Hand. Sie hielt ihn den uralten Ruinen entgegen.

Und die uralten Ruinen antworteten.

Die Steine unter ihren Füßen begannen in einem synkopierten Rhythmus mit dem Schlüssel zu glänzen und zu surren, und die Steine um die Gruppe herum leuchteten auf. Dann bildeten die strahlenden Steine eine einzelne Linie tief in die Ruinen hinein. Hinter ihr hörte Nahiri, wie Orah der Atem stockte.

„Ein Pfad“, sagte Akiri bewundernd.

„Ja“, antwortete Nahiri, „aber passt auf, wo ihr hintretet. Die Himmelsfestung ist alt. Und sie mag keine Besucher.“ Sie sah, wie Zareth Akiris Schulter drückte und Akiri eine Hand auf die seine legte. Orah und Kaza tauschten Blicke aus.

„Verstanden“, sagte Kaza fröhlich.

Nahiri lächelte. Richtige Abenteurer.

Sie folgten dem leuchtenden Steinweg schweigend. Ihre Instinkte verrieten ihnen, dass sie von uralter und mächtiger Magie geleitet wurden. Zareth als der Schnellste und Heimlichste der Gruppe kundschaftete oftmals den Weg vor ihnen aus. Er fand Fallen voller Gift und Bogengänge, die nur darauf warteten, einzustürzen, und führte sie sicher darum herum.

Doch dies war nur ein Bruchteil der Gefahren, die in dieser von der Zeit abgetragenen Himmelsfestung lauerten.

In der Ferne war stets der Klang zerberstenden Steins zu vernehmen, als Polyeder in den Freiräumen um sie herum gegeneinander krachten. Im Schatten der Säulen und Felsspalten hörten sie das Kratzen unsichtbarer Krallen. Doch wann immer die Schatten zu nahe kamen, brachte Nahiri einen Polyeder dazu, vor blauer Energie zu knistern, und die Schatten wichen zurück.

Abgesehen von dieser einen Ausnahme kamen Nahiri und ihre Abenteuergruppe jedoch unbehelligt voran.

Als ob der Kern gefunden werden wollte.

Der Gedanke ließ Nahiri lächeln.

Der Pfad endete vor einer massiven Mauer, die von Fliesen bedeckt war, welche ein schwindelerregendes Muster aus geometrischen Formen und Linien bildeten. Am Fuß der Mauer blitzte der leuchtende Steinpfad ein letztes Mal auf und erlosch dann. Keine anderen Eingänge oder Wege waren zu sehen.

„Was nun?“, fragte Zareth und verschränkte die Arme.

„Vielleicht können wir sie sprengen“, schlug Kaza vor und gab sich keine Mühe, ihre Hoffnung zu verschleiern.

„Nein“, sagte Nahiri. Mit einer Hand presste sie sich den Schlüssel an die Brust und legte die andere Handfläche an die Wand. Sie schloss die Augen und erspürte die kaum wahrnehmbaren Schwingungen unter ihren Fingern. In der Sprache der Steine – dieser wundersamen, stummen Sprache – fragte sie: „Wie komme ich an dir vorbei?“

Die Antwort der Wand kam in Form sich verändernder Schwingungen, die Nahiri dorthin führten, wo die Fliesen den Boden berührten. Sie folgte der unsichtbaren Bewegung des Steins zu einer blanken Vertiefung am Boden.

Eine Stelle von genau derselben Größe wie der Schlüssel in ihrer Hand.

Nahiri grinste, als sie den Schlüssel in den leeren Schlitz gleiten ließ.

Dort pulsierte er hell auf und brachte in einer Kettenreaktion die Fliesen zum Leuchten, bis die ganze Wand erstrahlte. Sie hörte, wie es den Abenteurern hinter ihr den Atem verschlug.

„Öffne dich“, befahl Nahiri in der Sprache der alten Kor.

Und der Eingang gehorchte und löste sich, Fliese um Fliese, vom Boden wie ein umgekehrter Wasserfall. Ein Geräusch wie von Regen hallte durch die leeren Ruinen.

Augenblicke später stand die Gruppe vor einer riesigen Kaverne.

„Das war’s?“, fragte Kaza unbeeindruckt. „Das hätte doch jeder geschafft.“

„Nur wenige können die Runen lesen“, sagte Nahiri, „oder die vergessene Sprache sprechen.“

„Außerdem ist außer uns niemand so wahnsinnig, diesen Aufstieg zu wagen“, sagte Akiri. Die Kor grinste – etwas, was Nahiri sie zuvor noch nicht hatte tun sehen. Sie machte sich auf den Weg in die Kaverne. „Kommt schon. Holen wir uns unseren Schatz.“


Lithoform-Maschine
Lithoform-Maschine | Bild von: Colin Boyer

Akiri hieß Orah und Kaza, an der Rückseite der Kaverne nahe dem Ausgang Wache zu halten. Sie wusste, dass sie auf dieser Reise bislang außerordentlich viel Glück gehabt hatten. Akiri war jedoch eine zu erfahrene Kletterin und Abenteurerin, als dass sie erwarten würde, dieses Glück anhalten zu sehen.

Sie hatte vor Jahren ihre erste Reisegruppe an die Eldrazi verloren. Sie weigerte sich, auch ihre zweite zu verlieren.

Auf alles vorbereitet, aber flexibel sein. Das war alles, was sie tun konnte.

Gemeinsam durchquerten sie, Zareth und Nahiri die Kammer bis zur Mitte des Raumes – zu jenem Gegenstand, der ihrer aller Aufmerksamkeit bannte.

Der Gegenstand, der unmöglich zu übersehen war.

Auf einem erhöhten Podest vor ihnen ruhte ein Monolith aus dunklem, poliertem Granit, zugespitzt und in der Mitte geteilt. Auf den Monolithen gerichtete Lichtstrahlen fielen von der Decke herab, und Polyeder schwebten um ihn herum. Dunkle Blitze zuckten scharf und knisternd zwischen den Polyedern und dem Monolithen hin und her und unterstrichen so die Stille im restlichen Raum nur umso mehr.

Als sie sich näherten, hob sich der obere Teil des Monolithen, und zwischen den beiden Granithälften ruhte, strahlend wie ein dunkles Leuchtfeuer, der Lithoform-Kern.

Wenn Akiri ehrlich sein wollte, so musste sie zugeben, dass der Kern wenig beeindruckend wirkte. Er war klein, etwas, was in ihre Hand passte, doch zugleich groß genug, dass sie ihre Finger nicht ganz darum würde schließen können. Er strahlte wie ein winziger Stern, aber er war schlicht, ohne jede Verzierung.

Akiri hatte jedoch bereits vor langer Zeit gelernt, dass die mächtigsten Artefakte – oder Menschen – bisweilen diejenigen waren, denen man es am wenigsten ansah.

Akiri hielt kurz vor dem Podest an, bereit und doch angespannt. Sie suchte neben sich Zareths Hand und fand Trost in der Wärme seiner Finger. Nichts an der Himmelsfestung fühlte sich sicher an.

Nahiri bewegte sich weiter vorwärts.

Näher und näher schritt sie an den Monolithen, bis Akiri das Spiegelbild ihres Gesichts darin erkennen konnte. Nahiris Miene zeigte nichts als reine Entschlossenheit.

„Es ist so weit“, hauchte Nahiri. „Dies wird Zendikar für immer verändern.“

Akiri spürte Zareth neben ihr zusammenzucken. All seine Sorgen und Ängste wegen des Kerns brachen sich in dieser einen unwillkürlichen Regung Bahn.

Einem Instinkt folgend bewegte sich Akiri auf das Podest zu, um den Kern an sich zu nehmen. Sie wusste, dass er wahrscheinlich durch eine Falle gesichert war. Zareth legte ihr besorgt eine Hand auf die Schulter, doch sie nickte ihm beruhigend zu und ging weiter. Sie vermutete, es vermeiden zu können, jene Todesfalle auszulösen, die zweifellos hier lauerte, wenn sie nur schnell und geschickt genug war.

Der Kern blitzte gleißend auf, als sie sich näherte, als wollte er sie warnen. Sie glaubte auch, den Hauch eines Wisperns wie von gedämpften Gebeten zu hören. Oder Drohungen.

Für Zendikar, dachte Akiri, schluckte ihre Besorgnis herunter und streckte die Hand aus.

„Vorsicht.“ Nahiris Hand schnellte augenblicklich um ihr Handgelenk. Akiri drehte sich um, um sie anzusehen. Das Knistern der Blitze über ihnen erhellte Nahiris Gesicht, und in ihrem Blick lag ein neues und gefährliches Funkeln – eines, das Akiri zuvor noch nicht gesehen hatte, nicht einmal, als Nahiri in der Wrackbucht einen Stampfer erledigt hatte.

Jahre des Seilschleuderns hatten Akiri gelehrt, wann sie vorwärtsdrängen und wann sie zurückbleiben musste.

Warte ab. Beobachte alles, dachte sie und kehrte wieder an Zareths Seite zurück. Sie fand seine Hand und drückte sie. Er erwiderte den Druck.

Wir überlassen das uralte Artefakt besser der uralten Fremden, dachte sie. Und ein kleiner Teil von ihr war erleichtert, dass es nicht sie war, die auf dem Podest stand.

Mit angehaltenem Atem sah Akiri zu, wie Nahiri eine Handfläche unter den Lithoform-Kern schob, die Finger um ihn schloss und ihn langsam zu sich zog.

Bild aus dem Trailer – Nahiri greift nach dem Lithoform-Kern

Einen Augenblick lang war es vollkommen still. Gerade lang genug, dass Akiri ausatmen konnte. Gerade lang genug, um zu hoffen.

Dann ertönte ein ohrenbetäubendes Krachen, und die sie umgebende Kammer zerbarst, zerfiel, zerriss.

Unser Glück hat uns verlassen, dachte Akiri. Sie drehte sich um und rief: „Nahiri, wir müssen hier raus – sofort!“

Orak und Kaza rannten bereits vor ihr. Hinter sich sah sie, wie Nahiri die Stufen zum Podest hinunterspurtete und den Kern in einen Beutel an ihrem Gürtel schob. Neben ihr hielt Zareth mit ihren langen Schritten mit.

Doch selbst im Laufen spürte Akiri den Boden unter ihren Füßen beben, und sie bemerkte, dass dies nicht nur das Werk der Falle der Himmelsfestung von Murasa war.

Die Turbulenz ließ die Erde und den Himmel erzittern, während die Himmelsfestung sich selbst in Stücke riss. Vielleicht antwortete sie auf die freigesetzte Magie. Vielleicht war es einfach Pech. Akiri wusste es nicht.

Vor ihr bewegte sich der Boden unter Orahs und Kazas Füßen rollend wie eine Welle.

„Passt auf“, rief sie, doch ein weiteres donnerndes Krachen verschluckte ihre Warnung.

Der Steinboden bäumte sich auf und zerbarst, und Kaza und Orah wurden zurückgeschleudert. Der Boden, auf dem sie standen, neigte sich in einem stetig spitzeren Winkel, und die Magierin und der Kleriker hatten Mühe, sich festzuklammern.

Dann erzitterte der Boden. Kaza und Orah schrien auf und verloren ihren zögerlichen Halt. Sie stürzten ab und verschwanden aus Akiris Blickfeld.

„Nein!“, rief Akiri. Sie schlidderte zu der Kante. Zu langsam. Zu spät, um zu helfen.

Einen qualvollen Augenblick später tauchte Kaza tief unten auf. Sie schwebte auf ihrem Stab, und Orah klammerte sich an ihre Hüfte.

Akiri atmete aus, als Erleichterung sie durchströmte.

„Weiterlaufen!“, rief Zareth. Sie war sich allerdings nicht sicher, ob er die von ihnen abgeschnittenen Gruppenmitglieder oder sie meinte.

Beides, dachte sie und rannte los.

Angst verknotete Akiris Magen, als sie dahineilte und die Gebilde um sie herum zersprangen und den Blick auf einen leeren Himmel freigaben. Würden Kaza und Orah es lebend hier raus schaffen? Hatte sie ihre Gruppe in den Tod geführt?

Nein. Das waren gute, geschickte Leute. Sie würden nicht wie ihre erste Abenteurergruppe enden. Sie würden sich in Sicherheit bringen.

Das musste sie einfach glauben.

Für den Moment musste sie sich darauf konzentrieren, dass auch Zareth und Nahiri an einen sicheren Ort gelangten.

Denn alles, was sie gerade tun konnte, war, dafür zu sorgen, dass sie diese Himmelsfestung lebend verlassen würden.


Akiri, kühne Reisende
Akiri, Kühne Reisende | Bild von: Ekaterina Burmak

Nahiri rannte und hatte Mühe, die Ruinen lange genug mit ihrer Lithomagie zusammenzuhalten, damit sie die trügerischen Steinbrücken überqueren konnten. Die Versuchung, diese Welt einfach zu verlassen und sich so in Sicherheit zu bringen, flackerte kurz in ihrem Verstand auf. Aber nein, sie würde Zendikar in seiner Stunde der Not nicht enttäuschen. Die Himmelsfestung von Murasa stellte sie vor eine Herausforderung, und die würde sie meistern.

Sie glaubte, den Kern im Beutel an ihrer Hüfte wispern zu hören, aber Nahiri hatte keine Zeit, ihm näher zu lauschen.

Ohne den Kern riss die Himmelsfestung sich selbst in Stücke. Und die Turbulenz – die verdammte Turbulenz – peitschte Winde um sie herum auf und machte eine ohnehin gefährliche Lage noch chaotischer.

Sie konnte nicht die Himmelsfestung zusammenhalten und gleichzeitig die Turbulenz in Schach halten.

Zumindest noch nicht.

Also lief sie hinter Akiri und Zareth her, während Zorn in ihr aufwallte.

Sie stießen auf eine Sackgasse. Vor ihnen schwebten Inseln voller mit Bäumen bewachsener Ruinen, und zwischen ihnen befanden sich nichts als leerer Himmel und ein paar Polyeder. Mit einem meisterhaften Wurf schleuderte Akiri ihr Seil um eine vorbeiziehende Kante.

Bild aus dem Trailer – Akiri, Zareth und Nahiri in der Sackgasse

„Schnell“, sagte sie, bevor sie sich zu der gewaltigen, schräg stehenden Plattform unter ihnen schwang. Zareth warf ebenfalls ein Seil, und Nahiri machte ihres bereit, doch ein riesiger Wirbelwind in der Ferne fesselte ihre Aufmerksamkeit.

Ihr kurzes Zögern hatte zu lange gedauert. Ehe Zareth oder sie zum Sprung ansetzen konnten, bäumte sich die Himmelsfestung erneut auf und verlagerte sich wieder.

Nahiri hatte Mühe, nicht zu fallen, während sie zusah, wie die Plattform, auf der Akiri stand, von ihnen wegdriftete.

„Schnell“, sagte Zareth und streckte ihr den Arm hin. Und Nahiri wurde klar, dass sie gemeinsam hinüberschwingen mussten.

Nahiri zog in Betracht, sich zu weigern. Der Trickser, der nur wenig für sie übrig hatte, könnte sie am Ende fallen lassen. Doch sie glaubte, dass Zareth trotz seiner Listen genug Ehre besaß, sie nicht kaltblütig zu ermorden.

Nahiri griff nach dem Seil an Zareths Seite, und als er zum Schwung ansetzte, flüsterte sie ihm ins Ohr: „Ich weiß, dass du den Kern für dich selbst willst.“

Überraschung huschte über das Gesicht des Manns vom Meervolk, doch ehe er antworten konnte, befahl Nahiri dem Stein unter ihnen, ihnen einen Stoß zu geben.

Einen der Schwerkraft trotzenden Herzschlag lang sah Nahiri nichts als Himmel. Weit und erbarmungslos.

Dann landeten sie auf der Plattform. Nahiri rollte sich anmutig ab. Zareths Gesichtsausdruck wandelte sich zu purer Erleichterung, als er Akiri sah. Sie zog ihn auf die Beine und nickte Nahiri kurz zu.

Sie rannten wieder.

Der Lärm war so unbarmherzig wie der schneidende Wind, der an ihren Gesichtern und ihrer Kleidung zerrte. Die Himmelsfestung um sie herum fiel in sich zusammen. Die zierlichen Steinbrücken zerbrachen und stürzten in die Tiefe. Die Polyeder wirbelten ziellos umher und verfehlten sie nur um Haaresbreite.

Dies war Zendikar in seiner zerstörtesten, gefährlichsten und albtraumhaftesten Form, und Nahiri hasste es.

Dennoch rannte sie weiter, wich sie weiter aus, floh sie weiter.

Bis der Wirbel auftauchte.

Ohne Vorwarnung schnellte er aus einer Öffnung am Boden dieser schwebenden Ruine hervor. Einem Tornado gleich fiel er über alles und jeden um sich herum her. Nur Augenblicke zuvor hatte sich Zareth auf einen Absatz auf der anderen Seite der Kluft geschwungen. Nahiri konnte ihn nicht mehr sehen. Akiri stand wie angewurzelt mit dem Seil in der Hand da, während der Wirbelwind aus Stein und Staub wütend um sie herum peitschte.

„Geh!“, rief Nahiri. Mit einem knappen Nicken rutschte Akiri das Seil hinunter.

Nahiri drehte sich um, grinste und stellte sich mit festem Stand und ausgestreckten Armen dem Wirbel.

Bild aus dem Trailer – Nahiri gegenüber dem Vortex

Ich werde dich meinem Willen unterwerfen, dachte sie. Wie sie die Turbulenz in Akoum unterworfen hatte und Sorin und so viele andere Feinde. Sie streckte die Finger aus und ließ ihre Wut und ihre Schuldgefühle zusammen mit ihrer Magie aus sich herausströmen.

Stück für Stück wurde der Wirbel langsamer und hielt dann an – ein erstarrtes, harmloses Ding.

Nahiri lächelte siegreich.

Doch ihr Triumph war nur von kurzer Dauer. Der Wirbel schwoll erneut an. Wie ein Damm, der kurz vor dem Bersten stand, trug er so viel Zorn und Kraft in sich, dass er Nahiri so lange die Stirn bot, bis sie ihn nicht länger beherrschen konnte.

Nahiri wurde von der Kante der Ruine geschleudert.

Um sie herum war nur blauer, kalter Himmel. Nahiri drehte sich im Fallen um und sah Akiris Seil keine Handbreit von sich entfernt. Sie streckte die Hand aus.

Und griff daneben.

Sie befand sich im freien Fall.

Nahiris Herz stockte, als sie jedes Quäntchen Macht zusammenraffte, um ihren Sturz aufzuhalten. Bis irgendetwas sie am Arm packte.

„Ich hab dich“, stieß Akiri hervor und grinste. Mit Zareths Hilfe hievte sie Nahiri auf die Plattform.

Nahiris Wangen brannten vor Scham. „Gehen wir“, sagte sie und formte die schwebenden Trümmer um sich herum zu einer Brücke. Sie spurtete darüber. Der tobende Rausch aus Chaos und Zerstörung hinter ihr wurde lauter und kam näher.

Nahiri bleckte die Zähne. Nun hatte sie Gewissheit, dass sie Zendikar nicht mit ihrer Lithomagie allein heilen konnte.

Der Kern in ihrem Beutel wisperte erneut, doch Nahiri hörte nicht zu. Sie sprintete und sie plante.


Glutflut
Glutflut | Bild von: Campbell White

Nahiri landete auf einem breiten Ausläufer der Himmelsfestung von Murasa, der noch intakt war, dicht gefolgt von Akiri und Zareth. Es war der erste Ort, den sie erreichten, der weder in sich zusammenfiel noch bebte. Es dauerte daher einen Augenblick, bevor Nahiri bemerkte, was nicht stimmte.

Warum gibt es hier Lava?, dachte sie verblüfft und musterte das Gebiet vor sich. Dann traf sie die Erkenntnis: Die Turbulenz hatte die Landschaft der Himmelsfestung ebenso verändert wie viele andere Gebiete auf dieser Welt. Nissa hatte gesagt, dass die Turbulenz als eine Antwort auf die Eldrazi begonnen hatte – Zendikars Weg, die Krankheit in sich zu bekämpfen. Nun schien es, als wolle die Welt sie bekämpfen.

Nennt Zendikar das etwa einen Kampf? Nahiri grinste.

Der Boden vor ihr zerbarst zu Fontänen aus Feuer und Asche. Nahiri wurde zurückgeworfen, und ein gewaltiges, wütendes Elementar erhob sich aus dem Boden, als würde es aus der Lava selbst geboren. Seine riesige Brust und seine Fäuste strahlten Hitze ab. Feuer knisterte, als seine kohlenroten Augen sich funkelnd auf Nahiri richteten. Sein Blick war voller Hass.

Nahiri streckte eine Hand hinter sich aus, und einen Augenblick später formte sich ein glühendes Steinschwert in ihrer Hand. Wenn dieses Ding einen Kampf wollte, dann sollte es einen bekommen. Mit Freuden.

Doch Zareth war schneller. Mit grimmiger Entschlossenheit stürmte er, den Dreizack in der Hand, auf das Elementar zu. Ein Lichtbogen schoss aus der Waffe und umgab die Kreatur kurz, ehe sie davon mitten in die Brust getroffen wurde.

Das Elementar zuckte nicht einmal zusammen. Es richtete sein stummes Starren auf Zareth, hob die beiden feurigen Fäuste und ließ sie auf den Mann vom Meervolk hinabfahren.

Blitzschnell stand Akiri mit erhobenen Armen vor Zareth. Die Stulpe an ihrem Arm blitzte auf, und eine helle Scheibe erschien wie ein Schild zwischen ihr und dem Ungeheuer. Das Elementar rammte beide Fäuste gegen den magischen Schild. Akiri stöhnte und wich zurück. Die Kreatur knurrte verdrossen und hob erneut die Hände.

Nahiri sah, wie sich Zareth und Akiri für einen weiteren Hieb wappneten, und sie wusste, dass sie ihn nicht überleben würden.

Nahiri hob eine Hand in einem Bogen nach oben und griff mit der anderen nach ihrem Schwert, bevor sie die Erde selbst erhob und auf ihr zum Himmel aufstieg. Sie hörte kaum das Flüstern, als sie den Kern aus ihrem Beutel zog.

Die Bewegung ließ das Elementar innehalten, den Blick von den geduckten Gestalten vor sich abwenden und ihn starr auf sie richten. Oder vielmehr auf den Kern in ihrer Hand.

„Ist es das, was du willst?“, rief Nahiri.

Das Elementar knurrte und stapfte drohend und mit geballten Fäusten auf Nahiri zu.

Nahiri hob ihr Schwert, doch sie wusste, dass es nicht genug sein würde. Allein würde sie nichts gegen die von der Turbulenz erschaffene Abscheulichkeit ausrichten können. Sie senkte das Schwert. Sie blickte auf den Lithoform-Kern in ihrer Hand.

Soll ich?, fragte sie sich.

Der Kern setzte sein Wispern fort, aber sie konnte die Worte nicht verstehen.

Doch Worte zählten nicht. Taten zählten.

Sie hörte, wie Akiri aus der Ferne aufschrie, und blickte in Richtung des Geräuschs. Zareth rannte auf das Ungeheuer zu. Nein, erkannte sie. Er rannte auf sie zu – mit gezücktem Dreizack, zwischen dessen Zinken Energie tanzte. Sein Gesicht war verzerrt vor grimmiger Entschlossenheit.

Im selben Augenblick knurrte das Elementar Nahiri an und holte aus.

Bild aus dem Trailer – Nahiri steht dem Elementar gegenüber

Dies war der Moment, in dem Nahiri eine Entscheidung traf.

Sie hob den Kern und – leicht, so leicht – lenkte sie seine Kraft in ihre Hand.

Die Welt knisterte vor dunkler Energie. Dann wurde alles weiß. Farben wurden von der Helligkeit davongespült, Klang verlor sich in Donnern und einen Augenblick lang gab es nichts. Nahiri konnte nichts sehen. Nichts hören.

Nichts spüren.

Ihre Welt war rein.

Als das Licht des Kerns verlosch, war alles um Nahiri herum aschegrau geworden. Da war nichts als Stille, und das Elementar war spurlos verschwunden.

Nahiri lächelte siegessicher. Sie hatte gewonnen.

Akiris gequälte Stimme durchbrach das Schweigen. „Zareth!“


Einöde
Einöde | Bild von: Adam Paquette

Akiri war auf die Knie gesunken und hielt den kalten, steifen Leichnam desjenigen, den sie liebte. Sie blinzelte, blinzelte erneut, wollte, dass dies ein Irrtum war, eine grausame List. Es musste einfach einer sein.

Zareths Hand war zu einer Klaue verkrümmt, die nach irgendetwas griff. Sein Mund war weit geöffnet, wie zu einem stummen Schrei. Doch es waren seine Augen, die Akiri in den kommenden Monaten in ihren Träumen heimsuchen würden.

In Zareths Augen, die sonst immer strahlend und voller Gefühl waren, fand sich keinerlei Licht mehr.

„Zareth…“, hauchte Akiri und drückte den Körper ihres Freundes, ihres Geliebten, fest an sich. Das konnte nicht sein. Es durfte nicht sein

Sie spürte, wie Nahiris Schatten auf sie fiel. Sie spähte hinüber und sah, dass der Lithoform-Kern am Boden lag – nur wenige Schritte von dort entfernt, wo Akiri in der Asche kniete.

Nahiri wollte danach greifen, doch Akiri war schneller. Wimpernschläge später stand Akiri auf den Beinen und taumelte vor der seltsamen, uralten Kor zurück.

„Was ist diesesDing, Nahiri?“, verlangte sie zu wissen. Der Kern war warm und leuchtete sanft in ihrer Hand – wie ein klarer Himmel an einem perfekten Tag zum Seilschleudern.

„Keine Stürme mehr, keine Katastrophen“, sagte Nahiri und klang so ruhig, so vernünftig. Sie kam näher. „Keine grausigen Ungeheuer. Dies ist unsere Gelegenheit."

Akiri musterte die Verheerung um sich herum und die Leiche am Boden. „Unsere Gelegenheit?“

Nahiri antwortete nicht. Sie machte nur einen weiteren Schritt vorwärts. Dann noch einen.

Akiri stolperte zurück. Sie wusste, dass sich hinter ihr eine Kante befand und dahinter leerer Himmel.

„Zareths Gelegenheit?“, rief sie und deutete auf die Leiche. „Nein. Dies endet hier.“ Sie durfte nicht zulassen, dass Nahiri sie erreichte. Sie konnte sie den Kern nicht bekommen lassen.

Zareth hatte recht gehabt. Er hatte recht gehabt.

Nahiri näherte sich weiter. Angst packte Akiris gebrochenes Herz, und als ihre Fersen beinahe die Kante berührten, hielt sie inne.

„Nein“, sagte Akiri und hielt den Kern über die Kante, bereit, ihn fallen zu lassen, bereit, sich von diesem entsetzlichen Preis zu befreien.

Doch Nahiris Blick war auf etwas hinter ihr geheftet. Akiri drehte sich um und erspähte einen Polyeder hinter sich, gerade in Reichweite der Seile. Sie müsste nur ein Seil schleudern

Der Polyeder schlug Funken. Dunkle Energie griff aus ihm heraus nach ihr, und Akiri konnte sich nicht mehr bewegen. Gelähmt sah sie zu, wie Nahiri näher kam.

Und näher.

Bild aus dem Trailer – Akiri erstarrt

Ruhig nahm ihr Nahiri den Lithoform-Kern aus der Hand.

Nahiri streckte eine Hand aus und berührte Akiris Wange. Erst da bemerkte Akiri, dass ihr Gesicht tränenüberströmt war.

„Es tut mir leid, Akiri. Das tut es wirklich“, sagte Nahiri, und es klang nach aufrichtigem Bedauern. Doch Akiri sah in ihrem Gesicht nichts weiter als Entschlossenheit und Unbarmherzigkeit.

Sie wollte schreien, doch ihre Stimme war fort. Sie wollte nach ihren Seilen greifen, aber ihre Muskeln gehorchten ihr nicht. Akiri konnte nichts tun, als Nahiri ihr eine Hand auf die Schulter legte. Und drückte.

Akiri kippte nach hinten.

Und fiel.

Das Letzte, was Akiri sah, war Nahiri mit einem kalten, berechnenden Blick in den Augen und dem Kern in ihrer ausgestreckten Hand.

Und dann war da nur noch der Himmel – unendlich weit und grausam.

Bild aus dem Trailer – Nahiri blickt auf Akiri herab