„Also als ihr meintet, wenn der Schlüssel in Thraben wäre, dann wäre er sicher

Das Stöhnen der unheiligen Toten antwortet Chandra, ehe einer der anderen es kann. Kaya hält sich die Nase zu. Teferi hat seine Nasenlöcher bereits zugestopft: Er atmet durch den Mund, und es ist immer noch schlimm. Trotz der Mittagssonne ballen sich Wolken zusammen, um ihre Schatten auf die Überreste der Kathedrale zu werfen. Selbst der Himmel schämt sich für den Anblick.

Arlinns Magen zieht sich schmerzhaft zusammen. Dort der Turm, auf dem sie viele sonnige Stunden mit Lesen verbracht hat: auf der Erde verstreutes Geröll. Hier das bunte Glas, das ihr so lieb und teuer gewesen ist: zersplittert. Der Anblick der wimmelnden Masse von Untoten fühlt sich wie ein weiterer Verrat an. Sie will nicht über die Wahrscheinlichkeit nachdenken, ein bekanntes Gesicht zu entdecken.

Sie schluckt. Wie Ameisen um einen Hügel wuseln die Zombies um die Kathedrale. Es wird nicht leicht sein, an ihnen vorbeizukommen.

Licht für die Nacht
Licht für die Nacht | Bild von: Wei Wei

„Das mag gut und gern so sein“, sagt Arlinn. „Doch das wissen wir erst, wenn unsere Nachforschungen abgeschlossen sind.“

Sie hatten bereits einige Nachforschungen angestellt. Genau genommen hatte Kaya das übernommen. Sie hatten beinahe eine Woche gebraucht, um nach Thraben zu gelangen – jede Menge Zeit, um Dingen nachzugehen. Eine Ahnung hatte ihr nicht ausgereicht. In dem Augenblick, da sie in Thraben angekommen waren, hatte sie sich von der Gruppe getrennt, um auf eigene Faust loszuziehen. Wo auch immer sie hingegangen war: Kurze Zeit später kehrte sie mit einem staubigen Wälzer in Händen zurück.

„Seite siebenundsiebzig“, verkündete sie.

Die Seite zeigte einen farbigen, detaillierten Holzschnitt: eine Familie, die eine Kiste entgegennahm – von einer Hexe, die Katilda ähnelte. Der Bildunterschrift nach handelte es sich um die Betzolds aus Gaven.

Arlinn kannte einst einen Worrin Betzold aus ihrer Zeit in der Kathedrale – ein älterer Bischof, so streng, wie man nur sein konnte. Ihre Knöchel schmerzten bei dem Gedanken an ihn. Doch auch ihr Herz tat ihr weh, denn sie wusste, wenn er irgendwo war, dannNun, dann war er hier. Inmitten dieser Massen. Und wer wusste schon wie viele ihrer alten Freunde auch.

„Ich glaube, ich sehe ihn.“ Adelines Stimme durchschneidet Arlinns Gedanken. Die Katharerin deutet mit ihrem in die Scheide gesteckten Schwert auf das verwüstete Schiff der Kathedrale. Vor der Kanzel steht eine Gestalt in heiligen Gewändern. Zu Arlinns Entsetzen scheint sie vor einer versammelten Menge zu predigen. Die Kirchenbänke sind voller Zombies, die dort sitzen und klatschen und sich verneigen und beten.

Was die Drangsal diesem Ort angetan hat, ist wahrlich unheilig. Einst hatte Liliana all diese Zombies auferstehen lassen, um gegen die Eldrazi zu kämpfen. Es war schon schlimm genug gewesen, das Feld mit den lebenden Toten zu teilen – aber noch schlimmer, hinterher mit ihnen fertigzuwerden. Arlinns Vernehmen nach hatte jemand Liliana gefragt, was mit den verbleibenden Zombies geschehen sollte. Man erzählt sich, sie hätte erwidert: „Man kann sie für zahlreiche Zwecke einsetzen, wisst ihr? Versucht doch einmal, euch etwas einfallen zu lassen!“

Allein der Gedanke daran lastet schwer auf Arlinn. Dieser Ort ist ein Affront gegen alles, was sie liebt. Sie weiß, wie er einst war.

Und sie kennt die Gewänder, die der Mann trägt. Abgekämpft nickt sie. Das ist er.

„Es hilft alles nichts“, sagt Kaya. „Irgendjemand muss sich einen Weg da durch bahnen.“

Adeline zieht sich auf ihr Pferd: ein weißer Hengst, den sie wahrscheinlich Donnerkeil oder Löwenschild oder irgendetwas anderes Heroisches genannt hat. Wenn man sie so hoch oben zu Ross ansieht, kann man gar nicht anders, als Hoffnung zu verspüren.

„Das könnt ihr mir überlassen“, sagt sie. „Meine Katharer und ich kämpfen schon seit Jahren gegen die Untoten. Konzentriert ihr euch darauf, zu Worrin zu gelangen.“

Chandra lässt den Blick über die Horde schweifen und sieht dann wieder Adeline an. „Was? Und dir den ganzen Kampf allein überlassen? Wohl kaum“, sagt sie. „Ich halte dir den Rücken frei. Ihr drei schlagt euch zu Worrin durch.“ Die Luft um sie herum flirrt, erhitzt von ihrer grinsenden Begeisterung. Es gibt keinen Zweifel: Chandra wird sich entfesseln.

Adelines Schmunzeln kehrt zurück. „Na schön. Ich bilde die Vorhut und du die Nachhut, Chandra Nalaar“, sagt sie.

Ein gespieltes Salutieren ist die Antwort. Wäre die Lage nicht so finster, hätte das Arlinn ein Lächeln entlockt. Immerhin verspürt sie einen Anflug von Freude, dass sie alle miteinander auskommen – doch der verschwindet in dem Augenblick, als sie das verwüstete Kirchenschiff betrachtet.

Es gibt keine Zeit zu verschwenden.

Adeline und die Katharer führen den Ansturm an und kommen wie ein heiliger Hammer über den Amboss aus Untoten. Adelines Befehle sind rasch und präzise, genau wie die Hiebe ihrer Klinge. Köpfe fallen von Körpern wie Obst von Bäumen. Einer macht einen Satz auf sie zu, nur um mitten im Sprung langsamer zu werden. Blaue Streifen fliegen aus Teferis Stab, als er die Bewegung des Untoten an der zentralen Säule vorbei verlangsamt. Es ist nicht viel – nur eine kleine Verzögerung –, doch genug, damit Adeline den Zombie mit ihrem Schild zurückstoßen und ihm das Schwert in die Kehle rammen kann.

Der Weg wird nicht lange frei bleiben.

Sie dringen in die hart erkämpfte Schneise vor. Kaya flackert, verschwindet und kehrt mit einem weiteren Flackern zurück, Arlinn wechselt auf halbem Weg die Gestalt. Die Arme der Toten, die sie von allen Seiten bedrängen, schmecken faulig. Sie weicht ihnen aus, wann immer es möglich ist, und drischt mit den Klauen, die die Natur ihr verliehen hat, auf Gesichter, Zähne und Füße ein. Dennoch tropft ihr Speichel aufs Fell; dennoch dringt das Knurren ihr in die Ohren; dennoch schnürt ihr der Gestank die Kehle zu.

Erst als Chandra die Nachhut bildet, verspürt Arlinn ein Gefühl von Sicherheit. Zwei große Fächer aus Flammen schießen aus ihren Händen und ersetzen die nun verblassenden Wände von Teferis Magie durch etwas Greifbareres. Selbst die Toten fürchten das Feuer, wie Thalia ihnen allen gezeigt hatte: Sie schreien im Einklang auf, weichen vor der sengenden Hitze zurück und verbreitern so die Kluft zu den Helden. Doch Chandra ist noch nicht fertig – während die anderen weiter vorwärtspreschen, dreht sie sich zu den Horden um und das Feuer, das sie herbeiruft, ist wie der Atem des Lebens selbst. Da sind einmal Zombies gewesen, und nun ist da nur noch Asche im Wind.

Adeline wagt einen Blick über die Schulter, als Chandra die Untoten in orangefarbenes Licht taucht und sieht die Pyromagierin in ihrem Element, umgeben von lebensrettender Zerstörung.

Arlinn weiß nicht, was Adeline denkt, doch sie kennt ihre eigenen Gedanken: Sie sollte niemals, unter keinen Umständen, Chandra Nalaar verärgern.

Tiefer in die Kirche hineinzugelangen, ist mühsam, doch mit Feuer und Schwert ist es ein wenig leichter. Die Wände erheben sich um sie herum und weichen dann, zerschlagen durch die Drangsal und zu etwas Neuem verformt. Worrins wortloses Stöhnen kommt näher und näher. Flammen lecken über die einst heiligen Wände, und obwohl es schmerzt, hofft Arlinn, dass sie sie läutern.

„Habt ihr ihn schon?“, ruft Chandra. Über das Tosen des Feuers ist es schwer auszumachen, doch Arlinn hört es. Sie prescht vorwärts.

Adeline hat ihn gegen eine Wand gedrückt, wo er Gebete vor sich hinbrabbelt, die er einst Arlinn lehrte. Als sie sich in ihre Menschengestalt zurückverwandelt, gewinnen seine wässrigen, untoten Augen etwas von ihrem Fokus zurück. Als sich sein Mund bewegt, formt er ihren Namen. Er deutet auf sie oder vielleicht auf ihr saftiges Fleisch. Arlinn will glauben, dass es Ersteres ist.

„Worrin, ich bin es“, sagt Arlinn. „Du erkennst mich, oder?“

„Dennick?“, kommt die Antwort. Sie blickt über die Schulter – Chandra hat zu ihnen aufgeschlossen. Adeline und die Katharer bilden einen weiten Kreis um Arlinn und Worrin.

„Worrin“, sagt Arlinn und versucht, angesichts dieser Scheußlichkeit, die sie einst kannte, ruhig zu klingen. „Wir suchen nach dem Mondsilber-Schlüssel. Weißt du, wo er ist?“

Seine Augen blinzeln. Eines nach dem anderen. Seine zahnlosen Kiefer klatschen aufeinander.

Schweigen.

Das Klirren von Adelines Schwert, wie es auf die wandelnden Toten trifft. Das Tosen des Feuers. Kayas und Teferis Blicke.

„Der Schlüssel, Worrin“, sagt Arlinn. Möge der Engel ihr beistehen, doch sie legt ihm die Hände auf die Schultern. Nun kann er den Blick nicht mehr von ihr abwenden.

„Dennick“ lautet seine Antwort.

„Arlinn, wir haben nicht viel Zeit!“, ruft Adeline.

Der Schlüssel“, wiederholt Arlinn

„D…Dennick

Arlinn stößt ein unterdrücktes Fluchen aus. „Ich glaube, wir haben alles von ihm erfahren, was wir können.“

„Toll“, sagt Chandra. „Dieses Mal passt du auf meinen Rücken auf, Addy!“

Und als das Feuer die Kathedrale erneut verschlingt, schenkt Arlinn Worrin die einzige Ruhe, die sie ihm zu schenken vermag: ein Knacken, ein Gebet, eine Hoffnung.


Man glaubt, man kennt jemanden, doch oftmals kennt man nur einen Teil von ihm. Zu Lebzeiten war Worrin ein gestrenger Lehrmeister. Arlinn konnte sich nicht erinnern, mit ihm jemals über etwas anderes als Theologie gesprochen zu haben, und obwohl seine Antworten stets wohlüberlegt gewesen waren, so hatte sie ihn sich stets als einen jener Menschen vorgestellt, die ihr Leben ganz der Kirche gewidmet hatten. Gelegentlich erwähnte er seine Jugend in Gaven, aber das war auch schon alles.

Doch die Leute sind selten so einfach, und als sie in der ruhigen Siedlung in Gaven eintreffen, die die Betzolds ihr Zuhause genannt hatten, beginnen sie, Fragen zu stellen.

„Worrin und Dennick?“, meint eine Frau und streift den Frost von den Kürbissen, die sie die ganze Saison über gezogen hat. Das Alter hat sie nicht davon abgehalten, sich um die Felder zu kümmern, und ihre Hände bewegen sich mit geübter Genauigkeit. „Uff. Ich schätze, es wird auch Zeit, dass jemand vorbeischaut.“

Arlinn kniet sich neben sie. „Ist das so? Nun, tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Der Schnee hat uns aufgehalten.“

„Dazu ist nicht genug Schnee da“, sagt die Frau. „Das ist nur Frost. Du bist alt genug, um es besser zu wissen, als genau das als Ausrede zu verwenden.“

Arlinn gestattet sich ein leises Schmunzeln. Wie viele Welten sie auch besucht hat: Nirgends ist es genau wie zu Hause. „Wohl wahr, wohl wahr“, sagt sie. Der Schnee ist leicht genug, um unter ihrer Berührung zu schmelzen. „Aber vielleicht kannst du mich trotzdem auf den neuesten Stand bringen.“

Die alte Frau heftet ihren Blick auf Arlinn. „Du kommst zu spät.“

„Zu spät?“, wiederholt Arlinn und runzelt die Stirn.

„Wenn er vor der Drangsal nicht tot war, dann ist er es jetzt“, sagt die Frau. „Er hat sich im alten Haus der Familie verschanzt. Wegen der Sicherheit, hat er gesagt. Hab ihn seither nicht zu Gesicht bekommen. In dem Haus spukt es ganz schön.“

Arlinn blickt über die Schulter. Das Anwesen der Betzolds liegt auf einem Hügel, und sie kann die klaffenden Fenster von hier aus sehen. „Aber warum ist er dort hingegangen, wenn es dort spukt?“

Die alte Frau klopft sich die Hände ab. „Weil Dennick Worrins Junge ist.“


Die Drangsal hatte alles auf Innistrad zerschlagen, doch einiges wurde wiederhergestellt. Ruhige, verzweifelte Hände haben die verzerrten Symbole Avacyns auf der Straße nachgearbeitet und den Stein durch Holz oder grob beschlagenes Eisen ersetzt. Sie kommen an zerborstenen Häusern vorbei, die wie von Nähern mittels Teilen der benachbarten Gebäude geflickt worden sind. Die Leute sind die gleichen: Manche tragen ihre Narben im Inneren, andere haben lediglich ein wachsameres Auge auf die Kinder und wieder andere umklammern künstliche Gliedmaßen, während sie die Neuankömmlinge auf ihrem Weg durch die Stadt mustern.

Innistrad zerbricht. Innistrad baut. Innistrad überlebt.

Es ist ein tröstlicher Gedanke, doch das Anwesen straft ihn Lügen. Das Haus der Betzolds ist so baufällig wie nur möglich und dazu noch böse. Böse ist das richtige Wort dafür. Da ist sich Arlinn sicher: wie die Fenster auf sie herabstarren, wie die Ranken das steinerne Antlitz umklammern und wie das Maul seiner Tür offen steht.

Arlinn gefällt es nicht, sich das Haus anzusehen. Doch sie tut es.

Unter ihnen fünf ist Kaya diejenige, der es am wenigsten auszumachen scheint. Als sie sich dem Haus nähern, zeigt sie keinerlei Anzeichen von Furcht. Die offene Tür des Anwesens beunruhigt sie nicht. Sie mustert das Gebäude von oben nach unten. Ihre Brauen ziehen sich zusammen, und dann zupft sie mit dem Daumen an ihrer Nase. „Also er ist da drin?“

Arlinn nickt.

„Zusammen mit einem Haufen böser Geister, ja?“

„Das sieht ganz sicher nach dem richtigen Ort für so etwas aus“, sagt Chandra.

„Ich habe einige heilige Symbole“, setzt Adeline an, doch Kaya winkt ab.

„Mach dir keine Mühe“, sagt sie. „Gebt mir einfach fünf Minuten, bevor ihr nachkommt.“

Thraben-Exorzismus
Thraben-Exorzismus | Bild von: Matt Stewart

Und – ganz Kaya – wartet sie gar nicht erst auf eine Erlaubnis, einzutreten. Schon verschwindet sie im Maul des Hauses. Arlinns Nase kribbelt, als der scharfe Geruch von Kayas Magie die Luft erfüllt, gefolgt von dem tiefen Surren, das sie damit zu verbinden gelernt hat. Adeline begibt sich zu einem der zerbrochenen Fenster, um hineinzuspähen. Chandra folgt ihr. Ihrer beider Reaktion nach zu urteilen, gibt es eine Menge zu sehen.

Manchmal ist es schwer, der Versuchung zu widerstehen. Voll Bitternis fällt ihr ein, dass Tovolar das Gleiche sagen würde. Zurückhaltung ist eine Eigenschaft der Menschen, keine der wilden Geschöpfe. Gib dich deiner Leidenschaft und deinen Instinkten hin – sie wissen es immer am besten. Das war es, was er sie gelehrt hatte.

Die Kirche lehrte sie anderes.

Sie drückt ihr Gesicht gegen das Fenster. Im Inneren kündet ein gräuliches Weiß von Kayas geisterhafter Gestalt. Doch sie ist nicht das einzige Gespenst dort. Die alte Frau hatte recht: Hier spukt esganz schön – aber nicht mehr lange. Kaya erledigt sie mit unglaublicher Geschwindigkeit. Es ist schwer, ihrer Gestalt zu folgen, die von einem Geist zum nächsten huscht: Hier stößt sie einem ein Messer in den Rücken, dort schneidet sie in durchscheinende, bleiche Kehlen. Arlinn fragt sich unwillkürlich, wohin die Geister dann wohl gehen, und ob der Heilige Schlaf sie holt oder etwas anderes.

Vielleicht wird sie später nachfragen.

Fürs Erste ist der Raum frei von übernatürlichen Gefahren. Chandra ist die Erste, die hineinpoltert, dicht gefolgt von Adeline und dann Arlinn. Diesmal bildet Teferi die Nachhut. Die Geister scheinen ihm wenig auszumachen. Er bewegt sich mit derselben warmen Leichtigkeit wie immer.

Doch es gibt ein weiteres Stockwerk.

Sie steigen hinauf, Stufe um ächzende Stufe, mit angehaltenem Atem, während das Surren hinter der baufälligen Tür nur umso lauter wird. Chandra macht eine Bewegung, um die Tür zu öffnen, doch Adeline hält sie mit einer Hand auf der Schulter zurück.

„Lass mich“, sagt sie. „Hinter mir bist du sicherer.“

War Adeline aus irgendeinem Märchen entkommen? Da ist diese Ritterlichkeit, ja, aber auch die Art, wie sie die Tür zertrümmert, als sie sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen wirft. Im Inneren lehnt Kaya lässig neben einem der Geister. Als die anderen hineinstürmen, grüßt sie sie mit einer sarkastischen Verneigung.

„Hier ist euer Mann“, sagt sie. „Ganz einfach.“

Teferis zustimmendes Summen zeugt von Belustigung. „Das hat keine fünf Minuten gedauert.“

„Lustig, dass du das sagst“, antwortet Kaya. „Biegst du dir nicht die Zeit so hin, wie du sie gerade brauchst?“

„Ach, wenn es doch nur so einfach wäre“, sagt er. Teferi blickt über die Schulter. Sein Lächeln wird sanft vor Mitgefühl. Er deutet auf den schwebenden Geist: ein Mann, kaum älter als dreißig Jahre. Ein Skelett, das unter einem Schutthaufen feststeckt, ist vermutlich seins. Sie tragen die gleiche, grob gewobene Kleidung. „Nach dir.“

Arlinn wartet nicht. Sie geht auf ihn zu und widersteht dem Drang, ihm die Hand zu schütteln. „Dennick? Mein Name ist Arlinn Kord. Ich war eine Freundin deines Vaters.“

Wie seltsam zu sehen, wie sich die Augen eines Geistes weiten! „Meines Vaters? Hat er nach mir geschickt?“

Dennick, fromme Erscheinung
Dennick, fromme Erscheinung | Bild von: Chris Rallis

Es ist immer besser, bei der Wahrheit zu bleiben, ganz gleich, wie hässlich sie ist. „Nein, das kann man so nicht sagen. Dein Vater ist tot. Ich habe ihm selbst zur Ruhe verholfen, aber du sollst wissen, dass er am Ende deinen Namen gerufen hat.“

„Ihm zur Ruhe verholfen?“ Der Geist dreht besorgt die Daumen. „Heißt das, er istuntot?“

„Das war er“, antwortet sie. „Es ist besser, nicht darüber nachzudenken. Aber ich bin hier, um dich nach etwas sehr Wichtigem zu fragen. Etwas, was deine Familie bewacht …“

„Oh. Dies ist kein freundschaftlicher Besuch?“

„Nein“, sagt Arlinn. „Bitte. Wenn du irgendetwas über den Mondsilber-Schlüssel weißt … Innistrad braucht ihn. Die Nächte werden länger, und wir brauchen ihn für ein Ritual, um die Dinge wieder in Ordnung zu bringen.“

„Ich dachte die ganzen Leute bedeuten, dass es ein Freundschaftsbesuch ist“, antwortet Dennick. Er dreht die Daumen. Einmal, zweimal. „Die meisten Leute wollen den Schlüssel. Ich habe ihn nie gesehen. Mein Vater meinte, ich wäre kein echter Betzold.“

„Dann war er ein Narr“, sagt Arlinn. „Du bist hier im Anwesen, so wie alle anderen Betzolds. Und wenn du uns sagen könntest, wo der Schlüssel ist, würdest du die Pflicht deiner Familie besser erfüllen, als es die anderen getan haben.“

Irgendwie seufzt der Geist. „Ich schätze schon, ja“, antwortet er. „Na schön. Nun … Ich habe mich auch etwas umgesehen, weil ich davon gehört hatte, undanscheinend haben wir ihn gar nicht. Mein Urgroßvater hat ihn einem der Vampire gegeben, damit der ihn aufbewahrt. Ist das nicht albern?“

Kaya massiert sich die Nasenwurzel.

Chandra holt tief Luft. Sie hebt einen Finger. „Verzeihung, aber dürfte ich nur kurz fragen, welchem Vampir?“

Dennick seufzt. „Wirst du mich ruhen lassen, wenn ich es tue?“

„Wenn du das möchtest“, sagt Arlinn. „Aber du könntest sicher besser ruhen, wenn du wüsstest, dass Innistrad nicht in Gefahr schwebt, oder?“

Er wiegt den Kopf hin und her, als würde er darüber nachdenken. Dann: „Es sind die Markovs. Dieser Prinz von denen. Der hat ihn genommen. Hat mein Vater gesagt, dass er mich vermisst?“

„Ich hatte ein richtig ungutes Gefühl bei der Sache“, sagt Chandra auf halbem Weg zur Tür. Arlinn bleibt zurück.

Dennick will jemanden zum Reden. Das Mindeste, was sie tun kann, ist, zuzuhören – wenigstens für eine kleine Weile.


Innistrad baut wieder auf.

Selbst die Vampire.

So viel Unheil sie auch angerichtet haben, sosehr Arlinn auch der Magen knurrt bei ihrem Geruch, sosehr sie sie auch hasst – sie muss zugeben, dass dieser Umstand etwas Tröstliches hat. Die Drangsal hatte niemanden verschont. Obgleich die Bewohner der Nacht vor nicht allzu langer Zeit noch versucht hatten, die Menschheit auszulöschen, so hatten sie nun alle auf derselben Seite gekämpft.

Arlinn hofft, dass sie es wieder tun können.

Die anderen marschieren voraus. Chandra wirkt teilnahmslos. Ihr behagt es nicht, in den Bau der Schlange zu spazieren. Genauso wenig wie Kaya. Doch Arlinn versteht etwas, was sie nicht verstehen: Dies war einst ein Ort, an dem die Leute Hoffnung fanden. Und das ist etwas, was die anderen wissen, doch nicht begreifen. Nicht wirklich. Einen solchen Hunger im Bauch zu haben und dennoch zum Wohl aller entgegen dieser bestienhaften Instinkte zu handelnSie mag Sorin Markov nicht, doch sie kann ihm Achtung zollen.

Und sie kann die Erinnerung an den Engel achten, der ihr Hoffnung gespendet hatte, als Hoffnung so scheu gewesen war wie dieser weiße Hirsch.

Als die anderen weitergehen, hält Arlinn unmittelbar vor dem Tor inne. Ranken haben die zerbrochenen Hälften von Avacyns Symbol für sich beansprucht. Sie reißt sie mit bloßen Fingern entzwei, richtet das Symbol auf und beginnt ein Gebet.

Führe uns durch diese Nacht, o Engel

Zu ihrer Überraschung fällt eine zweite Stimme ein. Dem Klang nach ist es die von Adeline.

Teferi folgt mit kurzer Verzögerung, während er die Worte lernt.

Chandra stimmt danach ein, ein bisschen zu schnell, und hin und wieder verhaspelt sie sich, doch sie versucht ihr Bestes.

Und ganz zum Schluss, mit einem leisen Seufzen, folgt Kaya, als sie beinahe fertig sind.

Als sie geendet haben, tauschen sie ein sanftes Lächeln aus und gehen hinein.

Niemand fragt Arlinn, warum sie zu einem Engel betet, der sie nicht mehr hören kann.


Leute, die sagen, dass sie über eine Brücke gehen, sobald sie sie erreichen, sind offenkundig noch nie im Anwesen der Markovs gewesen. Der dünne Streifen aus Felsen, der hineinführt, wäre schon zu gewöhnlichen Zeiten beeindruckend, wenn man bedenkt, dass er einen klaffenden Abgrund überspannt, doch die Drangsal hat ihren Weg auch hierher gefunden. Die Brücke ist zerbrochen, und die Teile schweben über der Schlucht. Der einzige Weg, um in das verfallende Schloss zu gelangen, ist, von Teil zu Teil zu springen. Die zerbrochenen Büsten der Ältesten der Markovs eignen sich nicht sonderlich gut als Trittsteine.

Drinnen ist es nicht viel besser. Kelche liegen unter dickem Staub begraben, Schulterstücke, die ein Dorf in Armut stürzen könnten, sind nur noch Steine, über die man stolpert, und die Porträts, die nicht zerrissen sind, sind schwarz geworden. Schlimmer noch: Hier riecht es nicht nach Tod, nicht nach Verwesung, nicht einmal nach Blut. Hier riecht es nach nichts.

„Wie stehen die Chancen, dass niemand zu Hause ist?“, fragt Chandra.

„Das ist unwahrscheinlich bis ausgeschlossen“, sagt Kaya. „Dieser Ort ist übel, aber nicht weil er verlassen wäre.“ Sie deutet zu dem Kronleuchter über ihren Köpfen. „Irgendjemand hat die Kerzen ausgetauscht.“

„Vermutlich ein Knecht“, sagt Adeline. „Aber Kaya hat recht: Wir müssen wachsam bleiben.“

„Aber was, wenn er nicht hier ist? Dann können wir den Schlüssel einfach stehlen, ohne mit ihm reden zu müssen.“

„Hoffen wir es“, sagt Arlinn, „aber wir sollten annehmen, dass er hier ist. Außerdem bin ich mir sicher, dass er mit sich reden lässt.“

Doch kaum sagt sie das, kommen sie an einem bestimmten Felsvorsprung vorbei, einem, der seinen Nachbarn ganz und gar nicht ähnlich sieht. Während die anderen scharfkantig und verformt sind – Dolche, die gegen einen unsichtbaren Feind gerichtet sind –, ist dieser eine klaffende Wunde im Antlitz des Markov-Anwesens. Hier sind die Furchen schlimmer als anderswo. Konzentriert sind sie in zwei langen Rillen auf jeder Seite. Der Rand ist gleichermaßen rau, und die Kanten wirken auf unbehagliche Weise so, als wären sie zerkaut worden. Spritzer getrockneten Blutes lassen den Anblick umso grausiger erscheinen.

„Das gefällt mir ganz und gar nicht“, sagt Adeline.

„Das geht mir sehr ähnlich“, sagt Teferi.

Kaya gibt einen leisen Laut von sich. Ihre Augen verengen sich. „Was auch immer es war: Es kann keine Zähne mehr haben.“

„Sorin wird wissen, was geschehen ist. Vielleicht sind wir nicht die Einzigen, die nach dem Schlüssel suchen“, sagt Arlinn.

„Wenn er überhaupt hier ist“, sagt Chandra.

Doch das ist er. Das muss er sein. Ihn nach alldem entwischen zu lassenArlinn knirscht mit den Zähnen. Sie wird diesen Schlüssel finden – koste es, was es wolle. Tovolar will Innistrad das Herz aus der Brust reißen, und das kann sie nicht zulassen.

„Wenn er hier ist, dann sicher im Thronsaal“, sagt Arlinn.

„Der sollte gleich dort vorn sein“, sagt Kaya. „Mit all diesen Gemälden kann dieser Gang nirgendwo andersaußer zum Thronsaal führen.“

Das lässt sich schlecht leugnen. Es sind nicht mehr viele Bilder zu erkennen, aber es sind genug. Ganz zu schweigen von dem Tor vor ihnen: ein riesiges, hoch aufragendes Ding, in das die schnaubenden Gesichter von Fledermäusen eingeschnitzt sind und das nun halb aus den Angeln hängt. Als sie es erreichen, muss Arlinn in ihre Wolfsgestalt wechseln, um es aufzustoßen. Adeline beobachtet sie, als sie sich zurückverwandelt. Arlinn schenkt ihr ein freundliches Lächeln.

„Keine Sorge. Ich bin stubenrein“, sagt sie. Witze darüber zu machen, hilft den Leuten manchmal, sich zu entspannen, doch in diesen Tagen ist es schwer zu sagen, ob das noch zutrifft. Im Wald war sie so kurz davor gewesen, davonzulaufen.

Doch heute ist sie Arlinn, und sie hat vor, dass es auch so bleibt – selbst als sie in dem staubigen Thronsaal jenen Prinzen finden, der schon auf sie wartet.

Sorin Markov sitzt auf dem Thron seines Hauses, mit einem Bein über der zerbrochenen Lehne. Er liest in einem alten, unbeschrifteten Buch. Ein Tagebuch vielleicht. Ein Loch in der Decke wirft einen einzigen Strahl Mondlicht auf seine bleiche Haut. Inmitten der leeren Pracht des verlassenen Hauses gibt er ein eigenartiges Bild ab.

Zwar blickt er nicht zu ihnen auf, als sie eintreten, doch Arlinn kann seine Abscheu riechen. Seine Stimme ist kräftig und überheblich. „Nennt den Grund mich jetzt zu stören oder ich werde euch alle hinausgeleiten.“

„Sorin“, sagt Teferi. Natürlich ist er es, der vortritt. Natürlich zeigt er keine Spur von Einschüchterung. Die elegante Verbeugung würde jeden Adligen beschämen. „Eine Freude, dich wiederzusehen. Wir haben nur eine kleine geschäftliche Angelegenheit, um die wir uns kümmern müssen. Wir werden uns kurz fassen.“

Der Vampir wirft einen raschen Blick über die Kante seines Buches. „Ich weiß es besser, als deiner Definition von kurz irgendeine Bedeutung beizumessen. Der Grund für euer Erscheinen. Sofort.“

Teferis Schultern heben sich zu einem Schulterzucken, als wollte er sagen: „Ich hab’s versucht.“ „Wir sind auf der Suche nach dem Mondsilber-Schlüssel. Die Nächte werden länger …“

Sorin schlägt das Buch zu. „Nein.“

„Was meinst du damit? Nein?“, fragt Chandra. „Wir haben eine Ewigkeit danach gesucht. Du könntest uns zumindest anhören.“

Seine Blicke heften sich auf sie. Chandra stellt das Reden ein. Der Mann hat etwas Raubtierhaftes an sich und gleichzeitig etwas Betörendes. Arlinn hat im Lauf ihres Lebens eine Menge Blutsauger getroffen, aber keinen wie ihn. Es war wie der Unterschied zwischen Hunden und Wölfen.

Und ja, da ist etwas Räuberisches an der Art, wie er da steht, wie er das Buch beiseite wirft, an den Schritten, die er macht, und an der Pose, die er einnimmt: Seine Hand ruht wie beiläufig auf dem Knauf seines Schwertes. „Ich kann nicht erwarten, dass jemand so Ungestümes versteht, was ich bereits alles für diese Welt geopfert habe. Wenn meine Familie“ – er schnaubt das Wort beinahe – „es wünscht, in der wertlosen Genusssucht der ewigen Nacht zu versinken, habe ich wahrlich genug getan, um sie aufzuhalten. Soll sie sich laben.“

Teferi, der direkt vor Chandra steht, hebt die Hände. „Wenn du ihr nicht zuhören willst, dann höre mir zu. Diese Welt ist deine Familie, Sorin. Wir alle wissen das. Du hast mehr als genug getan. Wir bitten um den Schlüssel, damit wir unseren Beitrag leisten können. Arlinn hier will die ewige Nacht ebenso wenig sehen wie du.“

„Ist dem so?“, antwortet er. „So sag mir doch bitte. Was hast du für diese Welt getan? Nur zu. Ich höre.“ Nun kommt er näher, nun gleitet das Schwert aus der Scheide, nun ruft die Bestie in Arlinn danach, freigelassen zu werden.

Doch sie gibt dem Ruf nicht nach. Noch nicht. Sie stemmt die Hacken in den steinernen Boden. „Ich habe vielleicht nicht deine Geschichte, aber in den vergangenen Jahren habe ich diese Welt bereist und den Menschen zugehört. Ich dachte, du verstehst besser als jeder andere, warum Menschen leben müssen. Du hast Ava…“

Sie hat den Namen noch nicht zu Ende gesprochen, als das Schwert schon durch die Luft schneidet. Nur ihre übernatürlich schnellen Reflexe bewahren sie vor ernsthaftem Schaden, als sie einen Arm hebt, um die flache Seite der Klinge abzuwehren. Dennoch dringt Stahl in Fleisch, und ein Streifen Rot fällt auf den Boden. Schwarzer Rauch brennt ihr in den Augen, und die Zähne in ihrem Mund werden länger. Diese goldenen Augen lodern in der Dunkelheit.

Dir“, grollt er, „ist es nicht erlaubt, von ihr zu sprechen.“

„Hast du schon vergessen, warum du sie erschaffen hast?“, fragt sie. Chandra hat bereits ihr Feuer entfacht, wie sie Arlinn über seine Schulter hinweg zu verstehen gibt. Nur ein Wort von ihr, und die anderen vier würden sich auf ihn stürzen, doch das will sie nicht. Noch nicht. „Wir brauchen Engel. Wir brauchen Hoffnung, wir brauchen Glaube. Wir brauchen den Tag – und wir brauchen den Schlüssel.“

„Hinaus!“, ruft er. Das Wort hallt giftig von den kahlen Wänden wider. „Sofort!“

„Nicht ohne den Schlüssel“, erwidert Arlinn mit derselben Bestimmtheit. „Vielleicht hast du es vergessen, aber ich nicht.“

Das Schwert fährt in die Höhe, und er holt zu einem weiteren Schlag aus, als seine Wut ihn übermannt. Arlinn hebt erneut den Arm.

Doch dazu gibt es keinen Grund. Eine Feder fällt zwischen ihnen zu Boden, golden und leuchtend, einen Wimpernschlag später gefolgt von einer Sense, deren Kopf einem Reiher nachempfunden ist. Sorins Schwert prallt auf die engelhafte Waffe, und in blanker Wut weicht er zurück, um den Eindringling zu betrachten.

Zwar mag es mitten in der Nacht sein – eine kalte, dunkle Zeit, vielleicht das Ende Innistrads –, doch das goldene Licht, das den Raum durchflutet, bringt einen Schwall von Hoffnung. Genau wie der heilige Zorn des Engels vor ihr.

Avacyn mag ihre Gebete nicht mehr erhören.

Doch Sigarda hört sie.

Sigarda, Bewahrerin des Lichts
Sigarda, Bewahrerin des Lichts | Bild von: Howard Lyon

„Sorin Markov“, sagt sie. Ihre Stimme ist volltönend mit einem leichten Echo, das sie übermenschlich klingen lässt. „Wie tief du gefallen bist. Du hast dich aus dem Stein gegraben, nur um zu schmollen.“

Diese Grube – das war er? Wie seltsam, Mitleid zu empfinden mit einem jahrhundertealten Vampirprinzen.

Umso seltsamer, wenn dieser Mann seine Klinge mit der eines Engels kreuzt. „Und was soll ich tun? Denn offenbar hast du alle Antworten. Nur zu. Erkläre es mir. Entweder das oder du schließt dich denen hier an und verschwindest von hier.“

Sigardas goldene Augen verengen sich. Sie wendet den Blick von Sorin ab, doch als sie spricht, fühlt es sich an, als sei sie an Arlinns Seite. „Arlinn Kord – es ist dein Glaube, der mich hierher gerufen hat. Das Ziel in deinem Herzen ist gerecht. Du findest den Mondsilber-Schlüssel in Sorins persönlichen Gemächern im dritten Stockwerk. Geh. Ich will mit ihm über seine alte Schöpfung sprechen.“

Chandra und Kaya brauchen keine zweite Aufforderung: Sie stürmen in Richtung der Treppe. „Danke, Sigarda!“, ruft Chandra, als sie über die weichen Teppiche sprintet. Teferi folgt ihnen dicht auf dem Fuße und hält nur kurz inne, um eine ehrfürchtige Verbeugung auszuführen.

Doch Arlinn und Adeline bleiben, selbst als Sigarda die Sense über ihn hebt, selbst als seine Gesichtszüge angesichts der Gefahr noch bestialischer werden. Ein gewisses heiliges Grauen fesselt sie an Ort und Stelle. Ist es nicht die Pflicht der Gläubigen, ihren Idolen zur Seite zu stehen? Die beiden tauschen einen Blick aus. Adeline hebt den Schild.

Geht!“, ruft der Engel, während Sorin mit seinem Schwert auf seine Rüstung einschlägt. „Wenn ihr je an mich geglaubt habt, dann geht!“

Arlinn schluckt. Sie will helfen. Adeline drückt ihren Arm. „Wir würden nur im Weg stehen“, murmelt sie so niedergeschlagen, wie Arlinn sich fühlt.

Und vermutlich hat sie recht.

Doch dadurch fühlt es sich nicht besser an.

Arlinn geht hinter Adeline die Stufen hinauf und versucht, den Schmerzensschreien, die nun erklingen, keine Beachtung zu schenken, versucht, nicht zu zählen, wie viele von dem Engel und wie viele von dem Vampir stammen. Das allein schon ist Glaube.

Es ist Chandra, die den Raum findet – vollgestopft mit Bücherregalen und uralten Waffen –, und Teferi, der den Schlüssel entdeckt. Er liegt in der ausgestreckten Hand einer Statue. Sorin muss ihr den Kopf abgeschlagen haben, doch die Rüstung und die Flügel lassen keinen Zweifel daran, wen sie darstellt. Die kopflose Avacyn steht unter einem Gemälde des jungen Sorins und seines Großvaters, beide in festlicher Kleidung.

Mondsilber-Schlüssel
Mondsilber-Schlüssel | Bild von: Joseph Meehan

Arlinn nimmt den Schlüssel.

Zum zweiten Mal an diesem Tag murmelt sie ein Gebet.

Dieses Mal betet sie für Sigardas Sicherheit und dass sie es rechtzeitig zum Erntezeitfest zurückschaffen.

Doch es ist seltsam, zu einem Engel für dessen eigene Sicherheit zu beten, und noch seltsamer, ihn darum zu bitten, die Zeit zu verzerren.

Nichts ist sicher auf Innistrad – doch sie werden versuchen, weiter zu überleben, auszuharren und erneut das heilige Licht des Tages zu erblicken.