Episode 3: … oder möge für immer schweigen
Buntglasfenster lassen sich nicht über Nacht herstellen.
Zunächst muss man sich entscheiden, was genau man anfertigen will – und dann, wie man das schaffen möchte. Das allein kann Monate dauern, besonders in solchen Fällen, in denen ein Glaser und ein Künstler zusammenarbeiten. Ausladende Formen und Silhouetten werden in Betracht gezogen, doch ebenso kleinere Splitter, die hier und da eingestreut werden, um das Auge zu betören. Wie viele Federn sind an der Schwinge eines Engels? Wie viele Schuppen auf dem Kopf der Schlange? Wie viele Fangzähne, die im trügerischen Licht funkeln? Das größere Bild, die Einzelheiten: Das alles muss man bereits sorgfältig geplant haben. Man muss verstehen, was man anfertigt, bevor man überhaupt anfängt.
Und dann muss man anfangen.
Und es sind lange Stunden, lange Wochen, lange Monate. Jede Feder, jede Schuppe, jeder Fangzahn entspringt einem neuen Stück Glas, das genau zu diesem Zweck eingefärbt wird. Man verwendet ein weißglühendes Eisen, um die Teile zuzuschneiden, und hofft, dass keines der Stücke vorzeitig bricht. Eines nach dem anderen, Stück für Stück, während man mit seinen Untergebenen so sein Dasein fristet.
Selbst wenn man alle Teile zugeschnitten hat – perfekt abgerundet und allesamt nacheinander auf die richtige Größe geschliffen –, ist man noch nicht fertig. Buntglas ist zu schwach, um von allein zu halten. Man muss die Teile verbinden, um sie so zu einem Ganzen zu verschmelzen. Das wundervolle Werk in Bereiche aufteilen: Federn, Schuppen, Fangzähne – sie alle haben ihren eigenen Platz. Diese werden auf Eisen aufgebracht, und endlich ist das Werk vollendet.
Wenn man Glück hat, überdauert es ein paar Jahrhunderte, ehe jemand einen Engel hindurchschleudert.
Sorin hat in seinem Leben zahllose Buntglasfenster gesehen. Ein paar hat er selbst in Auftrag gegeben. Der ganze Vorgang hat ihn seit jeher fasziniert. Wie auch die Architektur, die ihn häufig begleitet, ist er ein Werk für Jahrhunderte – etwas, was nur Sorin und andere wie er überhaupt zu schätzen wissen können.
Es ist nicht das erste Mal, das er das Fenster sieht, doch in diesem Augenblick, der einem irgendwo vor dem Fall herabhängenden Regentropfen gleicht, hat er Zeit, es zu bewundern. Auf dem Scheitelpunkt: Olivia Voldaren mit verzücktem Lächeln. Zwei schräg geneigte Kelche mit Blut dienen als Rahmen für den Rest des Fensters. Wie lange es wohl gedauert hat, dieses Monument an Olivias übersteigertes Selbstwertgefühl anzufertigen? Wie viele mühsame Stunden hat man damit zugebracht, jeden Schwung ihrer Lippen, jedes Schmuckstück, jede Wimper nachzubilden?
Wo die anderen Familien derlei Gelegenheiten nutzen, um ihre Nachfahren ins Rampenlicht zu rücken, beansprucht Olivia den Löwenanteil der Aufmerksamkeit für sich selbst. Oh, hier und da sind andere eingestreut – Federn, Schuppen und Zähne –, doch sie herrscht dennoch allein. Von ihrem Porträt an der Spitze bis zu ihrer Präsenz in der Mitte
Sie geben ein schmerzhaft königliches Bild ab: sie mit ihrer Schleppe aus trauernden Geistern, er in seinem Hochzeitsgewand. Sorin erkennt bei ihrem Anblick, dass dies nur Einzelheiten sind. Seine versammelte Verwandtschaft, die ihn gleichgültig ansieht, die Hochzeitsgäste, nach Dramatik gleichermaßen dürstend wie nach Blut, sein geraubter Großvater. Eines hat zum anderen geführt, ein Bild zum nächsten: Vampire, die sich zügellos zeigen; er erschafft den Engel; der Engel vergeht; er wird gedemütigt; Olivia füllt die Lücke, die er hinterlassen hat.
Als sie an einem Kelch voll Blut nippt und danach mit einem Grinsen auf den Lippen in seine Richtung deutet, scheint ihr Blick zu sagen, dass es alles hätte sein können. Jedes Zeichen von Schwäche wäre genug gewesen. Jedes Unheil, das über Innistrad hätte hereinbrechen können, hätte ihr die passende Gelegenheit verschafft. Diese Frau giert nach Macht wie Pflanzen nach dem Sonnenlicht.
Das große Ganze, das Olivias Existenz darstellt, ist stets hierauf zugestrebt.
„Willkommen, willkommen! Ach, es ist solch eine Freude, so viele Gäste hier zu sehen! Ich konnte einfach keine Hochzeit feiern, bei der die Seite des Bräutigams leer bleibt! Das wäre ein gehöriger Fauxpas.“
Die Art und Weise, wie sein Großvater ihr liebevoll die Hand tätschelt, bringt ihn schier zum Schreien. Edgar Markov hat kaum jemals Worte für seine erste Gattin gefunden, als sie noch am Leben gewesen ist. Dass er dieser Frau nun solche Zuneigung zuteil werden lässt
Ein Chor verhaltenen Gelächters seitens seiner ferneren Verwandtschaft. Sie sehen ihn nicht an, doch er spürt dennoch ihre Verachtung – wie Dolche an seiner Kehle.
„Nun, ich bin mir sicher, Sie fühlen sich alle sehr geehrt, hier zu sein, und dass Sie schon auf das Hauptereignis brennen. Ich hoffe jedoch, dass Sie mir vergeben, denn ich habe zuvor noch etwas anderes geplant. Einen kleinen Gaumenschmaus, wenn Sie so wollen, und ein Geschenk für meinen liebsten Edgar. Diener!“
Sie schnippt mit den Fingern.
Zuerst glaubt er, dass nichts geschieht. Ein kleiner Hoffnungsschimmer keimt irgendwo in ihm auf, dass sich ihre Diener endlich gegen sie gewandt haben.
Doch auch diesen erstickt sie mit derselben spielerischen Leichtigkeit. Sie blickt ihm in die Augen und deutet nach oben.
Der Kronleuchter? Ein Kunstwerk, kaum weniger beeindruckend als das Buntglas, doch was ist so besonders daran? Ihrer Miene nach ist das, was auch immer sie geplant hat
Noch etwas anderes ist an der Decke des großen Saals angebracht.
Etwas, in tiefrote Vorhänge gehüllt, sinkt sanft herab. Die Form erinnert ihn an einen Vogelkäfig, und er fragt sich, ob sie jemanden dazu gebracht hat, ihr eine Abscheulichkeit als Geschenk zusammenzuflicken. Angesichts ihrer Vorliebe für das Foltern Gläubiger könnte sie ebenso gut einem Engel die Flügel ausgerissen und sie einem Chorknaben angenäht haben. Seht nur, ein Singvogel.
Doch als der Vogelkäfig weiter herabsinkt, steigt ihm ein vertrauter Geruch in die Nase: Engelsblut. Er bringt eine Erinnerung mit: sein Großvater, das Markov-Anwesen, eine versammelte Menge aus seinen Familienmitgliedern und ihren engsten Vertrauten. Eine Furcht, die ihn fest im Nacken gepackt hielt. Das Gewicht der Erwartungen wie ein Joch auf seinen Schultern. Sein Großvater, der ihn mit Stolz ansah. Ein Becher in seinen Händen, gefüllt mit Blut.
Trinke und werde ewig.
Er wollte nicht trinken. Der scheußliche Geruch des Zeugs überzog seinen Gaumen mit Kupfer. Und dort war auch der Engel, kopfüber aufgehängt wie
Wie ein Vogel.
An diesem Tag – vor Jahren, Jahrhunderten – wand er sich noch immer. Sein Blick traf den Sorins nicht lange nach dem seines Großvaters, und sein Flehen war ebenso leidenschaftlich: Trink nicht. Rette mich.
Die Zeit hat vieles in seiner Erinnerung weggespült, doch das Klagen, der Geruch von Blut, der Gesichtsausdruck seines Großvaters, als er ihn zum Trinken zwang – diese Dinge trotzen den rastlosen Gezeiten wie ein Berg.
Er weiß, was er sehen wird, noch bevor der Vorhang zu Boden fällt.
Er wendet den Blick nicht ab.
Da ist kein Käfig – außer Sigardas eigenen blutigen und geschundenen Schwingen, die so eng um sie herumgewickelt sind, dass sie sich nicht bewegen kann. Stattdessen wird sie von roten Bändern gefesselt, eine Verhöhnung ihrer beachtlichen Stärke. Sie hängt nicht kopfüber – doch sie hat es auch nicht bedeutend bequemer als ihre Vorgängerin. Wie mächtig der Zauber auch sein mag: Es ist schwer, den Geist eines Engels auszulöschen. Das hat Sorin am eigenen Leib gelernt. Sigarda wehrt sich noch immer.
Und als sie ihn aus ihrem gefiederten Gefängnis ansieht, liegt das gleiche Flehen in ihrem Blick, an das er sich erinnert. Ein neues Gesicht macht diese Klinge nicht stumpf. Seine Brust schmerzt, und seine Zunge klebt ihm am Gaumen. Trinke und werde ewig, hat sein Großvater gesagt. Doch ist es das, wonach sie all diese Jahre gestrebt haben? Die Geschichte zu wiederholen?
Ein weiterer Gedanke folgt: Olivia kann Sigarda nicht nur deshalb hierhergebracht haben, um sie als Geschenk zu benutzen.
Das Blut, das aus den Wunden des Engels tropft, ruft nach ihm. Er weiß, dass es auch nach ihnen ruft; er weiß, dass sein Großvater ebenfalls ein begabter Blutmagier ist.
Sorin geht die Möglichkeiten schneller durch, als er dem bewusst zu folgen vermag. Seine Instinkte sieben seinen Verstand durch. Wenn ein solches Ritual ausgereicht hat, um seine engste Familie zum Vampirismus zu bekehren, dann könnte dieses nun
Tja, es ist ganz simpel, nicht wahr? Kontrolliert man das Blut eines Mannes, so kontrolliert man ihn. Kontrolliert man das Blut eines Engels, so kontrolliert man diesen. Zugegeben: Man muss ein Vampirältester sein, um so viel Macht zu besitzen, aber
Die Idee ist simpel. Weniger einfach jedoch ist es, sie in die Tat umzusetzen. Dass Sigarda einer der ältesten Engel ist, macht die Sache nicht leichter. Doch sie brauchen noch etwas anderes. Etwas, um das Blut an die Trinkenden zu binden. Etwas, was nicht minder alt und mächtig ist. Vorzugsweise aus Mondsilber gefertigt – nie hat er ein besseres Gefäß für magische Energien gefunden. Selbst Eldrazi sind davor nicht gefeit.
Etwas wie der Mondsilber-Schlüssel, nach dem Arlinn und die anderen gesucht haben.
Der Mondsilber-Schlüssel, den Olivia nun in Händen hält und der für alle Welt wie eine Opferschale aussieht. Genau wie das Sonnengold-Schloss. Zusammen bilden sie eine Kugel. Sorin sieht entsetzt zu, wie sein Großvater seine Hände mit den ihren verschränkt. Gemeinsam halten sie den Schlüssel zur Herrschaft.
Olivia Voldaren mit der Kontrolle über sämtliche Engel auf Innistrad. Die ewige Nacht spielt im Vergleich dazu kaum eine Rolle. Innistrad kann viel überdauern – dies jedoch nicht.
Furcht und Zorn ergreifen von ihm Besitz. Er kämpft gegen seine Fesseln an, doch die Ketten graben sich nur tiefer in sein Fleisch. Eine schaurige Prozession von als Avacyn-Priestern verkleideten Vampiren nähert sich. Einer – sein hoher Hut kennzeichnet ihn als Lunarchen – nimmt seinen Platz hinter dem Paar ein.
Muss wirklich alles hier ihn beleidigen?
Erneut richten sich die Blicke der Menge auf ihn, erneut deutet man auf ihn, erneut wartet man darauf, was er wohl tun wird.
Trinke und werde ewig, hat sein Großvater zu ihm gesagt. Als hätte er irgendeine Wahl gehabt. Als hätte er ewig werden wollen.
„Wenn du unsere Einladungen weiterhin ablehnst, Sorin, werden wir aufhören, sie zu senden“, hat eine seiner Tanten geschrieben. Als wären ihre Soireen das Wichtigste im gesamten Multiversum.
„Ist dir jemals in den Sinn gekommen, dass du kein bisschen unterhaltsam bist?“ Das ist vor Jahren von einem Onkel gekommen: einem Onkel, dem er nun zusieht, wie er von zwei Frauen flankiert einen schlanken jungen Diener ausbluten lässt. Er schlabbert das Blut wie eine Katze ein Schälchen Milch. Das ist es, was er unter unterhaltsam versteht.
Da hängt ein Engel von der Decke, und dieser Mann hat nur Augen für sein flüchtiges Vergnügen.
Qualen über Qualen.
Olivia reicht dem falschen Priester ein Pergament. Er hat die Unverfrorenheit, es mit näselnder, spöttischer Stimme zu verlesen.
„Geliebte Gäste. Wir sind heute hier zusammengekommen, um das heiligste Ritual auf Innistrad zu vollziehen. Es heißt, dass Reiher sich ein Leben lang binden. Für jene wie uns, die wir ewig und unveränderlich sind, geht ein solches Versprechen weit über das Verständnis Sterblicher hinaus. Die Dame unseres wohl glorreichsten Hauses, Olivia Voldaren, hat ihr Herz Edgar Markov versprochen, und er ihr seine nie enden wollende Zuneigung. Ich gehe recht in der Annahme, dass Sorin Markov seinen Großvater hierhergebracht hat, auf dass er heiraten möge?“
„Keinesfalls habe ich das!“, protestiert Sorin und wirft sich erneut gegen seine Fesseln. Die Wachen zerren ihn zurück. Schlimmer noch: Die Menge lacht.
„Kümmert euch nicht um den Jungen“, sagt Edgar. „Ihr wisst ja, wie er sich auf Feiern aufführt.“
„Kein Gespür für Gastfreundschaft“, fällt Olivia ein.
Der Priester grinst. „Nun gut. Also. Ihr beide könnt euch nun eure Gelöbnisse vortragen, sofern ihr welche vorbereitet habt.“
Er fragt nicht, wer anfängt. Olivia setzt in dem Moment, in dem seine Zunge ruht, zu sprechen an.
„Edgar. Liebster Edgar. Wir trafen uns vor so vielen Jahrhunderten, dass ich vergessen habe, zu welcher Gelegenheit – doch ich erinnere mich an den Augenblick, in dem ich erkannte, dass wir zusammen sein sollten, als wäre es gestern gewesen. Sorin hatte deinen Sarg unbewacht gelassen, und ich dachte bei mir: Welcher Narr lässt einen solchen Mann ohne Zuwendung? Jetzt kümmere ich mich um dich, und gemeinsam werden wir über Innistrad herrschen. Ich verspreche, dass ich deine Meinung zumindest für einen Augenblick in Erwägung ziehe, bevor ich sie von mir weise. Ich verspreche, deine modischen Fehltritte zu übersehen. Und ich verspreche, dass ich dir die Ehre erweise, mein Ehemann sein zu dürfen.“
„Danke, glanzvollste Lady Voldaren. Dieses Gelöbnis hat mir die Tränen in die Augen getrieben“, sagt der Priester, der vermutlich seit Jahrhunderten nicht geweint hat. „Lord Markov, Ihr Gelöbnis?“
Sorin knurrt. Die Wachen, die ihn festhalten, rücken im Gleichschritt vor. Der Schwung allein trägt ihn näher an den Altar heran. Gemeinsam schleudern sie ihn auf die Stufen. Er landet wie ein Bettler aus Thraben auf dem Marmor. Jetzt sind da nur noch zwei Ketten: Eine zieht seine Schultern nach hinten und fast aus den Gelenken, während sie seine Arme fesselt, eine andere schlingt sich ihm um die Kehle.
Er zwingt sich auf die Beine. Die Kette droht, ihm die Luftröhre zu zerquetschen. Sei’s drum. Das hält er aus. Er hält alles aus, wenn es bedeutet, dass er Olivia Voldaren den Kopf vom Rumpf reißen kann.
Zu sehen, wie sie so auf ihn herablächelt
Vor Tausenden von Jahren hat Edgar Markov die wichtigste Entscheidung in Sorins Leben für ihn getroffen.
Heute erwidert Sorin den Gefallen.
Holzfäller, Schmied, Werwolf, Vampir, Engel – Blut ist Blut.
Er ruft nach der Dunkelheit in der Schale und sie antwortet. Eine Klinge aus rot-schwarzen Teilen durchtrennt die Ketten so mühelos wie jedes Schwert. Der Schwung lässt die Schale aus ihrer beider Hände taumeln.
Blut bedeckt sein Hemd, seine Haut, seine Hände – doch er steht unerschrocken vor ihnen.
„Ich erhebe Einspruch.“
„Sorin“, sagt Olivia und bleckt die Zähne. „Du ruinierst meinenbesonderen Tag.“
„Also, ich habe nur eine Frage“, sagt Chandra.
Arlinn grinst. Wie sie da außerhalb der Tore stehen, hat es nur wenig gegeben, was sie tun können. Ein neues Gespann Wachen hat das alte abgelöst, doch auch die sind nicht gesprächiger. „Was liegt dir auf der Seele?“
„Das ist eine Vampirhochzeit, ja?“
„Richtig“, sagt Kaya mit einem unguten Gefühl. „Eine Vampirhochzeit.“
„Glaubt ihr, dass sie da drin Kuchen haben?“
Adeline muss halb stöhnen und halb lachen. Kaya zupft an ihrem Nasenrücken herum. Teferis Schultern heben und senken sich in einem leisen Kichern.
Arlinn denkt einen Augenblick nach. „Das müssen sie doch, oder? Für die Diener?“
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie ihre Diener verpflegen, nein“, sagt Kaya. „Teferi, warst du schon einmal auf einem solchen Fest?“
„Auf keiner Vampirhochzeit, nein, aber
„Auf etwas Ähnlichem?“, fragt Adeline.
„Auf etwas Ähnlichem, ja“, sagt Teferi. Er reibt sich das Kinn und zuckt dann lächelnd die Schultern. „Aber das ist ja das Verzwickte an Hochzeiten. Egal, unter welchen Bräuchen sie stattfinden: Manches ist immer gleich. Es geht immer darum, Leute zusammenzubringen.“
„Selbst unter Vampiren?“, fragt Chandra.
Teferi nickt. „Selbst unter Vampiren.“
Vielleicht würde es ja nicht so schlimm werden, sobald sie hineinkommen.
Bis dahin müssen sie sich weiter die Zehen abfrieren.
Seine übernatürlich scharfen Sinne bemerken den Stoß einen Wimpernschlag, bevor er seinen Kopf getroffen hätte. Ein goldener Speer kommt von hinten in Sicht. Was für ein schmutziger Trick, ihn auf diese Weise anzugreifen. Vielleicht aber auch ein Geschenk – denn immerhin wird er eine Waffe brauchen. Er bricht die Speerspitze vom Schaft ab und zieht. Bevor der Speerträger sein Gleichgewicht wiederfindet, wirbelt Sorin herum und treibt die scharfe Klinge in die Achselhöhle des Mannes. Knochen knirscht an Metall. Das hält den Speerträger zwar nicht auf, doch dafür sorgt Sorins Magie. Ein fester Blick in die Augen reicht aus, um ihn an Ort und Stelle erstarren zu lassen.
Und ihn in einen Schild zu verwandeln.
Wachen arbeiten selten allein. Diese hier bildet da keine Ausnahme. Als Nächstes versucht ein Schwerträger sein Glück. Seine Waffe ist zu schwer, als dass ein Mensch sie führen könnte. Ein garstiges, tierhaftes Grunzen kündigt den Treffer gegen die Rüstung von Sorins Gefangenem an. Sorin hebt eine Augenbraue. Was ist das für ein Ding? Mehr Totschläger als Klinge. Wenn es nach Sorin ginge, so würde er sich etwas mit einer besseren Auswuchtung aussuchen.
Doch es geht nicht nach ihm: Als sie ihn in Ketten gelegt haben, haben sie ihm auch sein Schwert abgenommen.
Dies hier wird ausreichen müssen.
Er schleudert den blutenden Gefangenen auf den Schwerträger zu. Im einen unnatürlich Augenblick ist er hinter ihm, im nächsten bricht er ihm das Genick. Sorin entreißt ihm das Schwert. Ja, das Gewicht ist ganz falsch, und das ist auch kein Wunder: Es ist so dick wie seine Hand und mit Gold beschichtet.
Ekelhaft.
Wirklich ekelhaft.
Und das macht es zur genau richtigen Waffe, um Olivia damit zu töten.
Drei weitere fallen in rascher Folge, zermalmt vom Gewicht der neuen Waffe. Er schenkt ihnen kaum Aufmerksamkeit. Seine Häscher spielen keine Rolle mehr – nur die Frau, die das Sagen über sie hat.
Fünf weitere Wachen nähern sich. Er hat Zeit für einen Hieb. Er wird nicht schön werden. Nicht mit diesem Ungetüm. Dennoch zählt nichts anderes: nicht das, was hiernach geschehen wird, nicht der Mondsilber-Schlüssel, nicht die ewige Nacht und nicht der Ausdruck des Entsetzens auf dem Gesicht seines Großvaters.
Dies ist sehr viel persönlicher.
Auch Olivia weiß das. Sobald ihre Blicke sich treffen, umklammert sie den Mondsilber-Schlüssel fester – als könne die Macht in seinem Inneren sie retten.
Sorin hebt das Schwert.
Muskelkraft und Eigengewicht tragen es in einem grässlichen Bogen nach unten, dichter und dichter auf Olivias schwebende Gestalt zu. Sei’s drum. Er macht einen Schritt in den Schwung hinein, um die Entfernung zu überbrücken. Er wird dies hier und jetzt beenden –
Zumindest will er das.
Ein Lichtblitz lenkt ihn ab. Der Strahlenkranz der Klingenspitze streift Olivias Kleid und Handschuhe aus Chiffon. Olivia, die nach dem nun fallenden Schlüssel greift, ist außer sich vor Zorn. Umso mehr, als er außerhalb ihrer Reichweite landet.
„Eine Braut an ihrem Hochzeitstag angreifen?! Ich wusste ja, dass du ein Rüpel bist, aber das?! Wir werden ein ganz neues Wort dafür erfinden müssen, wie rüpelhaft du bist!“, höhnt sie zu ihm herab.
Die Hand seines Großvaters legt sich ihm auf die Schulter.
„Sorin, dies ist sehr viel wichtiger, als du dir je vorstellen könntest. Wir brauchen ihn. Der Schlüssel – meine Güte, was ist das?“
Er muss nicht wegsehen, um es zu bemerken: Unter Olivias Füßen leuchtet der Mondsilber-Schlüssel in einem unnatürlichen Licht.
Dort, vor dem Altar, bricht eine Art Geist aus dem Schlüssel hervor. Nein, kein Geist – etwas anderes. Er hat so etwas auf anderen Welten gesehen: Dies ist jemandes Seele, die von dessen Körper getrennt wurde. Der Form des Kopfschmucks nach zu urteilen die Seele einer Hexe.
„Wer hat dich denn eingeladen?“, blafft Olivia.
Die Seele der Hexe dreht sich zu ihr um. Augenbrauen kräuseln sich über durchscheinenden Augen. „Du.“
Geisterhafte Ranken winden sich um den Arm der Hexe. Sie sprießen, erblühen und vergehen innerhalb eines Wimpernschlags. Die Hexe mustert dies mit einigem Interesse. Eine einfache Geste, und zu den Ranken gesellen sich Blüten. In nur wenigen Augenblicken hat sie sich einen Stab wachsen lassen – einen, dessen zahlreiche Verästelungen entschlossen leuchten.
Sie sieht zu dem Engel, der wie eine Erntezeitfestdekoration in der Mitte des Raumes hängt. Entsetzen und Schrecken vermengen sich auf ihrem Gesicht und werden dann von einer wissenden Miene abgelöst. Ihr Blick richtet sich brennend auf Olivia Voldaren. „Dazu lässt du dich herab?“
Edgars Griff um Sorins Schulter wird fester, doch seine Worte treiben nur einen weiteren Keil zwischen sie. „Olivia, du musst sie aufhalten!“
Sorin schubst seinen Großvater beiseite. Er sagt sich, dass es nicht wirklich Edgar ist, der da redet, als würde es das Ganze weniger schmerzhaft machen. Eines ist jedoch klar: Wenn Olivia die Hexe aufhalten soll, muss er Olivia aufhalten. So schnell er nur irgendwie kann, hastet er zwischen sie und den Schlüssel und pariert ihr kopfloses Vorpreschen mit einem wilden Hieb. Selbst der Biss der Klinge an ihren ausgestreckten Armen kann sie nicht aufhalten – sie kommt weiter näher. Er wehrt sie weiter ab. Sorin wirft sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie: Es ist ein grober Stoß und alles, was nötig ist, um der Hexe die Zeit zu verschaffen, die sie braucht.
Ein Strahl sanften, satten Lichts über seiner Schulter verrät ihm, dass er Erfolg hat.
Olivias Klauen kratzen ihm über die Wange und graben sich dann in sie hinein, um sein Gesicht in der bizarren Parodie einer liebenden Stiefmutter festzuhalten. Es wird schwer sein, das Feuer, das in ihrem Blick lodert, zum Erlöschen zu bringen. Was auch immer die Hexe vorhat: Es sollte besser gut sein.
Doch dann hört er etwas, ein Geräusch, das ihn mit Hoffnung erfüllt – selbst wenn es entsetzliche Erinnerungen aus seinem Leben als Sterblicher heraufbeschwört.
Den heiligen Schwingenschlag eines Engels.
Er weiß nicht, was geschehen wird – nicht wirklich. Doch er hat eine Vorstellung. Dieser Strahl muss die Bindezauber aufgehoben haben, durch die Sigarda gefesselt gewesen ist. Sorin lächelt Olivia unverwandt an. Das ist den Schmerz durch ihre Nägel wert, die sich tiefer in sein Gesicht graben.
„Ich glaube, deine Feier ist zu Ende“, sagt er.
Und entzückt sieht er zu, wie sich ihr Blick von ihm löst, um etwas hinter ihm zu betrachten.
Sorin stößt sie von sich und dreht sich zu dem sich erhebenden Engel um.
Die Erschaffung eines Engels gleicht der Erschaffung von Buntglas: Man muss wissen, was er werden soll, bevor man beginnt.
Sorin hat Sigarda nicht erschaffen – doch er kennt sie. Und in den Tagen, bevor er Avacyn erschaffen hat – in den Tagen, als er erkannte, dass sie die Lösung war, nach der er so lange gesucht hatte –, hat er sie studiert. Wo Bruna stets aufmerksam und zurückhaltend gewesen ist, hat Sigarda niemals Perfektion zum Feind des Guten werden lassen. Sie handelt, wenn sie weiß, wer aufseiten des Guten und wer aufseiten des Bösen steht. Dennoch fehlt ihr Selas polternde Art und ihr unerbittlicher Eifer gegenüber Sündern. Der eiserne Rahmen, der Sigarda zusammenhält, ist eine unerschrockene Liebe zu den Menschen.
Er hat das Gleiche für Avacyn gewollt. Oder zumindest ein Scheinbild dieser Liebe, wenn er sie schon nicht selbst erschaffen kann.
Oh, da sind Unterschiede. So empfindet Sigarda zu tief und bietet oftmals Gnade an, wo Skrupellosigkeit den Menschen Innistrads besser dienen würde. Sie ist zu emotional, hat er gedacht. Das steht der Erfüllung ihrer Pflichten im Weg.
Doch wie er sie nun ansieht, umrahmt vom Buntglasfenster der Voldaren, erkennt Sorin, dass es besser ist, dass er sie nicht erschaffen hat.
Er hätte sie niemals mit so viel gerechtem Zorn versehen.
Blut befleckt ihre Schwingen, und die Luft um sie herum schimmert vor goldener Energie. Jeder Schnitt, den er ihr in ihrem Kampf zugefügt hat, weint erneut. Doch da sind noch weitere Wunden, und er fragt sich, wie genau Olivia sie eingefangen hat. Was auch immer geschehen ist, wird ihr nun zehnfach zurückgezahlt werden. Sie blickt auf die versammelte Menge mit reiner, unverhohlener Abscheu herab. Selbst die ältesten der Vampire verstummen bei ihrem Anblick – ein neues Symbol für etwas, was sie einst gefürchtet haben.
Sigarda breitet die Schwingen aus. Eine Schockwelle aus weißer Energie bildet sich um sie herum.
„Ihr alle seid schuldig“, spricht der Engel.
Sorin holt Luft.
Es ist nicht genug, ihn auf das vorzubereiten, was nun folgen soll.
Sie ist so hell wie die Dämmerung, so hell wie Alabaster, so hell wie die Hoffnung – zu hell, um sie anzusehen.
Heiliges Licht gleißt ihm in den Augen.
Es hat Jahre gedauert, das Buntglas hinter ihr zu vollenden. Ebenso wie die Paneele, die die Wände zieren. Wie viele Monate, wie viele Jahre, wie viele Leben stecken wohl in dem Kronleuchter über ihren Köpfen? Es ist unmöglich zu wissen. Selbst für ihn sind die zahllosen Jahre der Arbeit, die Olivias schaurige Sammlung darstellen, unergründlich.
All das – jedes Jahr, jeder Monat, jede Stunde – zerspringt in einem einzigen Augenblick.
Das Licht macht ihn schwindelig, doch er kann die Risse sehen, wie sie sich formen – Adern aus Feuer im Glas. Er kann nicht wegsehen, selbst als das Licht ihn versengt. Dem allen wohnt eine Schönheit inne: Die größeren Splitter, jeder einzelne ein Spiegel, reflektieren das Ewige zwischen ihnen; die kleinen Splitter, tödlicher Schnee; Blutstropfen, ein blasphemischer Regen, der auf die Versammlung herniedergeht.
Und dann trifft sie alle die volle Wucht dieses Ausbruchs.
Chaos fährt wie ein Speer durch das Anwesen der Voldaren.
Eine Explosion aus Energie reißt ihn von den Füßen. Ehe er weiß, wie ihm geschieht, wird er in einen Blutbrunnen geschleudert – und er gehört damit noch zu den Glücklicheren im Saal. Blutmagie erlaubt es ihm, aus dem herabregnenden Blut einen Schild zu formen, der ihn vor den Splittern schützt. Dazu ist nicht jeder imstande. Überall um ihn herum sind Hochzeitsgäste, die aussehen wie Nadelkissen.
Sorin steht mitten unter ihnen.
In diesem Augenblick bemerkt er zwei Dinge: Zum einen sind Olivia und sein Großvater bedauerlicherweise weitestgehend unverletzt. Und zum anderen: Das Glas ist nicht das Einzige, was zersprungen ist.
Chandra hat tausend Fragen. Adeline hat fünfhundert Antworten, etwa zweihundert Vermutungen und sie nimmt an, das die anderen sich um den Rest kümmern können. Vor dem Anwesen der Voldaren stützt sie den Kopf in die Hand und sieht Chandra beim Reden zu. Wie schrecklich die Lage auch sein mag und wie bösartig der Ort, der nur einen Steinwurf entfernt ist: Das Licht in Chandras Augen ist schön.
Und weil sie so aufmerksam hinsieht, erkennt Adeline es: ein neues Licht aus hellem Gold, das auf Chandras Wangen glänzt.
Es wirkt beinahe
„Wartet. Wartet, was ist das?“
Adeline blickt zum Anwesen hinüber. Das Licht kommt aus dem Gebäude.
Die an die Einladungen gebundenen Schutzzauber fallen in sich zusammen.
Chandra grinst. „Wie es aussieht, fängt das Fest jetzt erst an.“