Episode 4: Ins Reich der Dämonen
Zum ersten Mal während ihrer Zeit auf Kaldheim musste sich Kaya keine Gedanken um die Kälte machen. Auf der anderen Seite von Tyvars Omenpfad hatte sie ein Wind aus heißer, giftig stinkender Luft empfangen. Das Erste, was sie sah, war der Himmel: aufgetürmte schwarze Wolken ohne eine Erinnerung an eine Sonne. Das einzige Licht stammte von den roten Blitzen, die gelegentlich den Himmel zerrissen, und einem gelbroten Leuchten von irgendwo unter ihnen.
Kaya stand mit Tyvar auf der Spitze eines schwarzen, zerklüfteten Felsens. Über den Rand hinweg konnte sie einen teerige Morast sehen, der von rauchenden gelbroten Rissen durchzogen war: eine weite Ebene aus Lava, deren Oberfläche sich teilweise zu harten Brocken aus Bimsstein verfestigt hatte, die auf geschmolzenem Fels trieben. Hin und wieder zerbarst eine Lavatasche zu einem Geysir, der glühende Lava in die Luft spie. Ein weniger lebensfeindlicher Ort war nur schwer vorstellbar – und dennoch schien Tyvar mit nichts als Staunen auf den apokalyptischen Anblick zu schauen.
„Wir haben es geschafft“, sagte er. „Ich war mir nicht sicher, ob uns das gelingen würde.“
„Was soll das denn heißen?“, fragte Kaya.
„Die Götter haben diesen Ort vor langer Zeit, nachdem Varragoth zum ersten Mal entkommen war, mit mächtigen Schutzrunen versiegelt. Ich habe noch nie einen Omenpfad hierher geöffnet. Kein Elf hat das. Doch Thibalt muss den Schutz irgendwie beschädigt haben.“
Dieses Schwert. Diese Art von Magie hatte sie noch nie zuvor gesehen. Sie war ganz anders als das Portal, das Alrund geöffnet hatte. „Wir müssen ihm dieses Schwert wegnehmen. Wenn er die Tore zu diesem Ort damit aufreißen kann, wer weiß, was er sonst noch alles damit anstellt?“
Tyvar deutete hinter sie. Sie drehte sich um und griff instinktiv nach ihrem Dolch – und fand, wie sie sich einen Augenblick zu spät erinnerte, natürlich nichts. Doch Tyvar zeigte ohnehin nicht auf eine Bedrohung.
Unten auf der teilweise abgekühlten Oberfläche des Magmasees waren ein paar sonderbare Linien in das Netz aus vulkanischen Spalten gezogen worden. Als sich ihre Augen an das schwache Licht gewöhnt hatten, konnte sie auch erkennen, was dort in den Basalt geritzt worden war, als hätte es ihre Ankunft erwartet: ein gelbroter geschmolzener Pfeil.
„Nun, man kann über Thibalt sagen, was man will, aber Subtilität war noch nie seine Stärke“, murmelte Kaya.
Mit einer leichtfüßigen, beinahe geübt aussehenden Bewegung hüpfte Tyvar über den Rand des Felsens. Er trat eine Felsnadel beiseite und rutschte dann einen Abhang voll glasartigem Schotter hinunter. Sein Schwung ließ erst kurz vor dem Magmawatt nach, und er blickte von dort aus zu ihr hoch. „Kommst du?“
So spaßig es auch aussehen mochte, zwischen den Seerosenblättern aus abgekühltem Gestein umherzuhüpfen, stand Kaya nicht der Sinn nach dem Lavabad, das nach einem verpatzten Sprung gedroht hätte. Und Tyvar offenbar ebenso wenig: Kaum hatte sie den Rand des Sees erreicht, drückte er die Fingerspitzen in das schwarze Ufer und schloss die Augen.
„Warte eben“, sagte er. „Ich möchte etwas probieren.“
Der Basalt des Ufers begann sich kriechend über das Magma auszubreiten. Der Stein dehnte sich nicht einfach aus oder streckte sich nur: Er schien zu wachsen. Ranken aus Fels schlangen sich ineinander und verwoben sich zu einer Brücke. Als er die Augen wieder aufschlug, wirkte Tyvar ebenso überrascht wie sie.
Behutsam betrat sie die Brücke. Sie war leicht geriffelt und stellenweise auf eine Weise verflochten, von der Kaya nicht gedacht hatte, dass Stein dazu in der Lage war. Die Brücke war, so stellte Kaya mit Erstaunen fest, seltsam hübsch.
Erst verwandelt er diese Trolle in Stein und nun das. Der Junge ist ein Transmutator. Doch das war nicht alles, was er war. Irgendwie hatte sich Tyvars Funke entzündet, ohne dass er es gemerkt hatte. Und irgendwie war er bis nach Zendikar gereist, in dem Glauben, dass es einfach eines von Kaldheims Reichen war.
In Gnottvold, als er den Omenpfad geöffnet hatte, hatte Tyvar klargemacht, dass er ihn beschreiten würde – ob sie nun mitkäme oder nicht. Wäre er einfach nur ein weiterer halsstarriger Held, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, eines ruhmreichen Todes zu sterben, hätte Kaya ihn ziehen lassen – immerhin bestand auf Kaldheim kein Mangel an solchen Leuten und sie hatte viel zu tun. Doch Tyvar war ein Planeswalker, und noch dazu einer, der nicht wusste, was dies wirklich bedeutete. Irgendwie kam es ihr wie Verschwendung vor, dass Thibalt ihn tötete, ohne dass er mehr vom Multiversum gesehen hatte. Im Laufen hatte sie versucht, ihm ein wenig darüber zu erzählen.
„Also sind diese Welten wie die Reiche? Und sie sind durch einen noch größeren Weltenbaum verbunden?“, fragte er.
„Na ja, ohne richtige Zweige. Und ohne riesige Tiere dazwischen.“ Zumindest soweit sie wusste. „Aber noch viel wichtiger ist, dass sie nicht auf dieselbe Weise verbunden sind. Es tauchen nicht einfach Portale auf, und es gibt keine Zauber, um zwischen ihnen hin und her zu reisen. Die einzige Möglichkeit, von einer zur anderen zu kommen, ist, zu uns zu gehören.“
„Zu den Planeswalkern“, sagte Tyvar und trat einen Brocken geschwärzten Bimssteins in die Lava. „Ein nettes Angebot. Aber ich glaube, ich passe. Es gibt mehr als genug Ruhm für mich in Kaldheim, und mehr Reiche, als ich im Leben je erkunden könnte. Außerdem: Wie sollen die Leute denn Geschichten über mich erzählen, wenn ich dem Weltenbaum gänzlich den Rücken kehre? Da müsste ich ja jedes Mal von vorn anfangen.“
Ja, dachte Kaya. Das ist der knifflige Teil. Neue Freunde, neue Feinde, neue Regeln auf jeder Welt. Stets die Fremde. Die Neue. Wieder und wieder in die Auseinandersetzungen anderer hineingeworfen werden. In ihre Kriege. Anfangs war das aufregend. Dann, nach einer Weile, wurde es ermüdend. Doch ob man das nun mochte oder nicht: Man hatte keine Wahl.
Kaya griff nach seinen Schultern und drehte ihn zu sich herum. „Du kannst nicht passen, Junge. So geht das nicht. Du bist ein Planeswalker, ob dir das nun gefällt oder nicht. Und das nächste Mal, wenn du irgendwo landest, wo es von Magie, Monstern und Menschen, die du nicht verstehst, wimmelt, dann …“ Sie rang nach Worten. „… Dann brauchst du irgendeine Art von Kodex. Ein Regelwerk.“ Kayas Kodex war einfach: Richte keinen Schaden an
Tyvar rang seinen Arm frei, und seine Verärgerung spiegelte sich mehr als deutlich in seinen kantigen und dennoch irgendwie jungenhaften Gesichtszügen wider. „Ich habe einen Kodex. Denselben, der seit Generationen von den Kriegern Skemfars weitergegeben wird. Ich brauche nicht die Unterweisung einer Fremden in diesen Dingen.“
„Ich versuche nur, dir zu helfen“, sagte sie. Niemand hatte das je für sie getan, und man sah ja nun, wohin sie das geführt hatte. Söldnerin, Diebin, Mörderin. Thibalt stand es nicht zu, ihr irgendetwas vorzuwerfen – aber er hatte recht.
„Ich bin kein Kind, und ich brauche deine Hilfe nicht. Wie ich gezeigt habe, bin ich mehr als in der Lage, auf mich aufzupassen.“ Damit stürmte er über den Pfad aus schwarzem Stein davon.
Störrischer Narr. Warum war sie überhaupt noch hier? Sie wurde für andere Arbeiten auf Kaldheim bezahlt. Da war ein Ungeheuer, das sie aufspüren musste.
Sie war noch immer dabei, sich zu entscheiden, ob sie umkehren sollte, als die erste Harpune in den schwarzen Pfad einschlug – nur eine Handbreit von Tyvars Fuß entfernt. Es war eine grobe Waffe – raues, mit Widerhaken versehenes Eisen – und schwer genug, um geradewegs im Felsen zu versinken. Einen Wimpernschlag lang schien Tyvar zu verblüfft, um sich zu bewegen – und er bemerkte nicht die zweite Harpune, die pfeifend auf ihn zuschoss.
Kaya erreichte ihn gerade rechtzeitig, um seinen Oberkörper in geisterhaftes Licht zu verwandeln, als die Harpune durch ihn hindurchpfiff. Er stolperte zurück, legte eine Hand auf den Pfad und ließ seine Arme kohlenschwarz werden.
„Rechts von dir!“, blaffte Kaya.
Durch die Brocken erstarrten Magmas bahnte sich, so unwahrscheinlich es auch sein mochte, ein Schiff seinen Weg auf sie zu. Es erinnerte sie an die Langschiffe der Omensucher, doch wo diese schlank und schmal waren, um durch enge Kanäle zu schlüpfen und entlegene Buchten zu erkunden, diente dieses Gefährt nur einem Zweck. Grausame und spitze Stacheln sprossen aus der Außenhülle, und der Bug bestand aus einem eisernen Keil mit einer abgewetzten Ramme. Anstelle von Segeln bauschte sich ein Tuch aus Flammen auf und fing jene unirdische Strömung ein, die das Schiff näher zu ihnen trieb.
„Dämonen“, sagte Tyvar. „Mach dich bereit.“
Als das Schiff näher kam, konnte Kaya drei Gestalten an Bord ausmachen. Eine trug einen Eisenhelm, der die beiden Hörner, die ihr aus der Stirn wuchsen, um zahlreiche weitere ergänzte. Ein schwarzes Visier verdeckte das Gesicht. Die Hand eines zweiten Geschöpfs war durch einen gewaltigen, breiten Streitkolben mit blutverkrusteten Rändern ersetzt worden. Nahe dem Bug stand auf einer erhöhten Plattform der größte Passagier: ein stämmiges Ungetüm, dessen rechte Seite von schwarzen Eisenplatten bedeckt war. Die Membranen seiner mächtigen Schwingen waren in vergangenen Scharmützeln zerfetzt und zerrissen worden. In der linken Hand hielt der Dämon eine weitere Harpune. Er lehnte sich zum Werfen zurück.
Diesmal war Tyvar vorbereitet. Mit der Präzision eines Tänzers brachte er seinen geschwärzten Arm in den Weg der Harpune und fegte sie in das Magma. „Wir müssen die Entfernung verkürzen“, sagte er.
Kaya verzog das Gesicht. „Eigentlich glaube ich nicht, dass das unser Problem ist.“
Das Schiff nahm Geschwindigkeit auf, und die feurigen Segel fachten sich zu weiß glühenden Windböen an. Zwei der Dämonen – die kleineren – breiteten die Flügel aus und schwangen sich mit großen, eifrigen Schlägen in die Luft. Sie wollten nicht einfach nur neben ihnen anlegen.
„Pass auf!“, rief Kaya.
Sie wich auf eine Seite des Pfades aus, den Tyvar erschaffen hatte, und er zur anderen. Dann prallte die Ramme am Bug dagegen und schleuderte Basalt und Glut in die Luft.
Kaya rollte sich gerade rechtzeitig auf die Beine, um den Dämon mit dem Streitkolben vom Himmel zu ihr herabstoßen zu sehen. Er ließ die Waffe mit einem gewaltigen Hieb niederfahren, der einen Krater in dem Flecken Vulkangestein hinterließ, auf dem Kaya gerade eben noch gestanden hatte.
Bevor der Dämon den Arm zurückziehen konnte, trat sie auf die Ausstülpungen seines Streitkolbens und verschmolz sie mittels ihrer besonderen Magie teilweise mit dem Stein. Der Dämon brüllte auf und griff nach ihr, doch sie entwischte seinem Griff wie Rauch, während sie zurück zu der noch immer im Stein feststeckenden Harpune hüpfte.
Es fiel ihr nicht schwer, sie frei zu zerren – sie hier und da instabil werden zu lassen, half dabei –, aber das Gewicht der Waffe ließ Kaya beinahe in den Lavasee taumeln. Während sie sich abmühte, die Eisenstange mit beiden Händen anzuheben, schlug der Dämon wütend mit den Flügeln und zerrte heftig an dem Vulkangestein, das seinen Arm umschlossen hielt. Mit ein wenig Konzentration ließ Kaya die Harpune vollkommen immateriell werden und warf sie.
Als die Harpune Kayas Hand verließ, wurde sie von einem gewichts- und subtanzlosen Ding zu einer ebenso schweren und tödlichen Waffe wie zuvor – und sie flog mit wesentlich höherer Geschwindigkeit. Sie durchschlug die gehämmerte Brustplatte des Dämons und trat aus der anderen Seite wieder aus. Der Dämon schlug einen Augenblick auf der Stelle um sich – der Streitkolben in seiner Hand war noch immer mit dem Boden verschmolzen –, bevor er zusammenbrach.
Kaya erlaubte sich einen Augenblick des Ausatmens und schoss dann vorwärts. Sie setzte einen Fuß auf die Rüstung auf dem Rücken des Dämons und sprang von dort aus auf das Deck des Langschiffs. Auf der anderen Seite sah sie, wie Tyvar aus zwei Richtungen bedrängt wurde. Der Dämon mit dem Hörnerhelm hieb wütend mit einem Paar kurzer Hackebeile mit übel gezackten Zähnen auf ihn ein, und das große Exemplar mit dem halb von Metall bedeckten Körper, den sie gesehen hatte, hielt Tyvar mit weiten Schwüngen eines stacheligen Hammers in Schach. Ein einziger Treffer damit durfte wohl ausreichen, um dem Elfen den Kopf abzuschlagen – doch bislang schien Tyvar jedem Hieb ausweichen zu können. Sie bemerkte, dass seine Arme nicht mehr die Farbe von schwarzem Basalt hatten. Nun waren sie von einem geschmolzenen, leuchtenden Gelbrot, als hätte er sie in einer Schmiede erhitzt. Jedes Mal, wenn er eines der Hackebeile beiseite schlug, stob Glut auf und verteilte sich in der Luft.
Er war schnell, stark und begabt – daran bestand kein Zweifel. Doch er konnte das nicht ewig durchhalten.
Sie duckte sich unter dem Flammensegel hinweg und schützte ihr Gesicht mit einer Hand vor der Hitze, bevor sie mit Anlauf einen Satz von der Seite heruntermachte und mit einem wenig anmutigen Klatschen auf dem Rücken des großen Dämons landete. Er war doppelt so groß wie sie und wahrscheinlich auch doppelt so schwer und lehnte sich beim Aufprall kaum nach vorn, doch es gelang ihr, sich an seinem Hals festzuklammern.
Mit einem Gedanken hüllte sie ihre Hand in jenes schaurige Licht und streckte die Finger in Form einer Speerspitze aus. Ein schneller Stich ins Herz. Instabil werden und wieder herausziehen. Es würde nicht angenehm sein, doch es würde ausreichen.
Als der Dämon sich ungelenk auf dem Rücken herumtastete, um sie zu erreichen, stieß Kaya die Hand gleich links der Wirbelsäule in ihn hinein, rematerialisierte einen Augenblick –
Und wurde beinahe ohnmächtig vor Schmerz. Es brannte im Inneren des Dämons, als steckte sie die Hand in eine Esse. Ihr Griff um den Hals des Dämons löste sich, und sie taumelte auf den rauen, schwarzen Stein unter ihr.
Der Dämon schüttelte sich, fiel auf ein Knie und richtete sich dann mithilfe des Griffs des gewaltigen Kriegshammers wieder auf. Er drehte sich zu ihr um, und seine roten Augen loderten vor Wut. Aus seinem Maul triefte dicke, schwarze Galle, die blubberte und dampfte. Sie hatte ihn verletzt, aber nicht schwer genug.
Ihre Hand war nur für den Bruchteil einer Sekunde materialisiert, aber sie spürte noch immer den Schmerz – heiß und allumfassend. Doch Schmerz war, wie so vieles anderes, ein Werkzeug. Eines, das Kaya zu nutzen wusste. Konzentriere dich auf ihn. Nutze ihn. Kaya spürte, wie irgendwo in ihrem Inneren ein eisiges Schaudern aufwallte.
Der Dämon hob den Hammer. Seine gewaltigen Muskeln spannten sich ob des Gewichts der Waffe, und kochendes Blut rann ihm noch immer aus dem Maul. Dann ließ Kaya den felsigen Pfad unter ihm instabil und zu leerer Luft werden.
Instinktiv breitete der Dämon die Schwingen aus und versuchte, das Gleichgewicht zu bewahren und sich in der Luft zu halten. Dies hätte vielleicht sogar geklappt, wären da nicht die Löcher und Risse gewesen, die die ledrige Oberfläche der Flügel zierten, oder der große Hammer, der über ihm hing. Er begann zu brüllen, als seine Beine in der Lava versanken – er fiel nach vorn, ließ den Hammer fallen und krallte sich an den rauen schwarzen Stein, aus dem der Pfad bestand, auf dem Kaya noch immer stand. Mit einem harten Tritt beförderte sie ihn rücklings und mit den Armen wedelnd in das geschmolzene Gestein und ließ den Pfad über ihm wieder stofflich werden.
Auf der anderen Seite tobte Tyvars Kampf mit dem verbleibenden Dämon noch immer. Da nun nur noch ein Gegner übrig war, ging der Elf zum Angriff über. Das Messingmesser, das an seinem Armreif befestigt war, war nun länger geworden und glühte gelbrot mit derselben vulkanischen Hitze, die seine Arme bedeckte. Mit einem peitschenden Hieb, der die Luft vor Hitze flimmern ließ, durchtrennte er eines der Hackebeile des Dämons, und der zweite Hieb durchtrennte den Hals der Kreatur. Sie hörte ein brutzelndes Geräusch, roch etwas, was schlimmer war als brennendes Haar, und dann prallte der behelmte Kopf des Dämons einmal vom Basalt ab und plumpste in die Lava, während sein Körper auf den Pfad aus schwarzem Felsen zusammensackte. Der Kampf war zu Ende.
Kayas Hand pochte noch immer entsetzlich – trotz des Zaubers, mit dem sie das Schlimmste versorgt hatte. Sie hatte sich in Sachen Heilmagie noch nie sonderlich hervorgetan. Wahrscheinlich würde es Tage dauern, bevor sie die Hand wieder vollständig bewegen konnte.
„Das war unglaublich“, sagte Tyvar.
„Ja, ja“, sagte Kaya. „Ich habe gesehen, was du …“
„Dieser Jarl war doppelt so groß wie du! Weißt du, wie viele Menschen in all den Sagas, die ich kenne, einen Dämon getötet haben? Ich nehme an, dass du mit dem anderen nicht einfach nur geplaudert hast. Folglich hast du gleich zwei erledigt! Und das ganz ohne eine Waffe! Die Skalden müssen einfach davon erfahren! Ich erzähle es ihnen selbst, wenn wir hier fertig sind.“
„Äh, danke“, sagte Kaya überrumpelt. Der Junge kann den Ruhm also doch teilen. „Falls wir vorhaben, so was noch mal zu tun, würde ich es allerdings vorziehen, bewaffnet zu sein.“
Da schien Tyvar irgendetwas zu dämmern. „Natürlich. Darf ich?“
Er beugte sich zu dem gewaltigen Hammer herunter, den der Dämonenjarl hatte fallen lassen, bevor er in der Magma versunken war. Kaya wollte gerade protestieren – ein bisschen schwer für mich und nicht wirklich mein Stil –, als Tyvar seine Finger in das schwarze Eisen des Hammerkopfs versenkte, als wäre es Schlamm. Er zog zwei Faustvoll Metall daraus hervor. Die eine ließ er auf den Pfad fallen, wo sie dumpf gegen den Felsen prallte.
Den anderen Klumpen hielt er hoch und musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. „Schreckliche Qualität. Aber daran können wir etwas ändern.“
Er legte beide Hände um das Material und drückte zu. Die Muskeln an seinen Armen und Schultern strafften sich. Als seine Fäuste sich wieder öffneten, hielt er ein kleines Oval in Händen, dessen raue Oberfläche an den Kern einer Frucht erinnerte. Er kniete sich hin und drückte es in den Basalt hinein, was einiger Anstrengung bedurfte. Danach tat er das Gleiche mit dem anderen Klumpen. Kaya sah verblüfft zu, wie er gebrochene, kohlenfarbene Erde über jedem zu einem kleinen Hügel auftürmte. „Was machst du denn?“
„In allem schlummert das Potenzial zu wachsen“, sagte Tyvar und richtete sich wieder auf. „Bäume, Menschen … Von ihnen erwarten wir es. Aber auch Stein und Erde – mit etwas Geduld und Zeit. Oder, falls das nicht reicht, mit einem bisschen Magie. Ich sagte dir ja, dass meine Fähigkeiten in jedem Reich, das ich durchquere, ihre Wirkung etwas anders entfalten. Ich dachte mir, dass an einem solch leblosen Ort alles verzweifelt zu wachsen versucht. Selbst Metall. Und ich hatte recht“, sagte er grinsend.
Sie hatte noch nie von Transmutationen wie dieser gehört. „Wie war das damals auf Gnottvold? Was hast du da mit diesen Trollen gemacht?“
Er winkte ab. „Das war leicht. Torga-Trolle sind Geschöpfe der Erde. Sie verbringen manchmal Jahre als nichts anderes als Felsen und setzen Moos an. Sie sind ohnehin nicht weit davon entfernt, Steine zu sein. Ich habe sie nur etwas näher an diese Form herangelockt.“
Dann reckte sich vor ihren Augen etwas aus dem Boden. Ein Trieb – von derselben dunklen Eisenfarbe wie das Oval. Doch dieser hier kräuselte und entfaltete sich. Und noch einer, aus dem anderen Hügel. Kaya sah zu, wie sie größer und dicker wurden, während sie Ranken ausbildeten, die sich zu Flechtwerk verbanden. Als sich die Spitze über dem Rest zusammenfaltete und sich zu einer D-förmigen Rundung formte, erkannte sie, was sie da vor sich hatte: eine Handaxt. Genau genommen zwei. Aus dem Boden gewachsen wie Weizenähren.
Tyvar griff danach zog sie aus dem Stein – mit einer abknickenden Bewegung, als schnitte er eine Wurzel ab. Dann reichte er sie ihr, Heft voran. „Du magst kleine und schnelle Waffen. Ist es nicht so?“
Argwöhnisch nahm sie eine. Das ganze Ding bestand aus demselben Material. Kein Rost, kein Blut, keine Makel – nur kaltes, graues Metall. Der Axtkopf, in den diese kunstvollen Flechtwerkmuster hineingewachsen waren, war von etwas hellerer Farbe als der Schaft. Irgendwie war der Griff rauer, auf eine Weise, die sich anfühlte, als würde er ihr nicht aus der Hand rutschen. Sie warf die Axt in die Luft, wo sie sich um einen Punkt gleich unterhalb des Kopfes drehte, und fing sie dann wieder auf. Für etwas, was aus dem Boden gesprossen war, war sie ziemlich gut ausgewogen.
„Danke“, sagte sie und steckte die Axt und deren Schwester in ihren Gürtel.
Tyvar schlug ihr auf die Schulter und grinste. „Ich bin sicher, dass du sie zu gut nutzen weißt. Und jetzt haben wir einen Bösewicht zu fangen. Sollen wir weitergehen?“
„Eigentlich …“, sagte Kaya und blickte dorthin zurück, wo sich das Langschiff der Dämonen in den steinernen Weg gebohrt hatte. „Eigentlich habe ich eine bessere Idee.“
Was Schiffe anging, so hatte Kaya Cosimas Langboot vorgezogen. Zusätzlich zu dessen erstaunlicher Fähigkeit, einen überall hinzubringen, wo man hinwollte, bestand darauf auch nicht die Gefahr, am Seitendeck aufgespießt zu werden oder sich beim Justieren des Baumes das Haar anzusengen. Glücklicherweise schien Tyvar ein etwas erfahrenerer Segler zu sein, als sie es war, und sobald das Dämonenschiff Fahrt aufgenommen hatte, durchbrach es ohne das sachteste Ruckeln die Platten abgekühlten Magmas auf der Oberfläche der Lava.
Der Elf bediente die Segel, während sie am Bug Ausschau hielt. „Da“, sagte sie und deutete nach vorn. Über einer aschgrauen Ebene erhob sich ein riesiger, dunkler Berg. Dort, wo sein Gipfel hätte sein sollen, befand sich ein zerklüfteter, offener Kegel, der beinahe die aufgewühlten Wolken darüber berührte. An der Spitze konnte Kaya ein seltsames Leuchten ausmachen. Es schien die Luft darum herum wie durch Hitzeflimmern zu verzerren und schickte bisweilen einen sich kräuselnden Lichtstreifen aus Blau und Grün in den Himmel. Wo hatte sie dieses Licht schon einmal gesehen? Alrund. In Kaldheim war das das Licht der Götter. Doch es war auch das gleiche Licht, welches sie an den Rändern jenes Portals gesehen hatte, das von Thibalt geöffnet worden war.
Tyvar bewegte das Ruder und steuerte das Schiff auf den Berg zu. „Das ist die Blutspitze! Ich hätte nie gedacht, dass ich sie tatsächlich jemals zu Gesicht bekommen würde!“
„Großartig. Perfekt. Blutspitze.“ Kurz dachte sie darüber nach, dass es noch nicht zu spät war, das Schiff wenden zu lassen. Immerhin bezahlte niemand sie für Thibalts Kopf.
Aber dieser gehörnte Mistkerl hat so viele Feinde, dass ich vermutlich einen Käufer finden würde. Vielleicht Chandra.
Sie ließen das Langboot am Schlackeufer des Lavasees anlanden. Immerhin würde das Erklimmen des Berges nicht der schwierige Teil sein, denn uralte Stufen waren in den Fels geschlagen. Sie waren im Lauf der Zeit verwittert und etwas zu hoch, als dass Kaya und Tyvar sie bequem emporsteigen konnten: Sie waren vor Jahrtausenden für die blutrünstigen Bewohner Immersturms und nicht für Elfen oder Menschen angelegt worden –, doch sie waren begehbar.
Ein Stück den Weg hinauf fiel ihr Blick auf etwas. Eine Bewegung unter ihnen. Im Magmasee. Kaya hielt inne und lehnte sich mit dem Rücken an eine der großen und leicht warmen Stufen. Auf der Oberfläche des Sees schnitten inmitten der gelegentlichen Flammen von Lavaeruptionen eiserne Schiffe durch das Schwarz, jedes mit einem flackernden Vorhang aus Flammen in Form eines Segels. Sie waren zu weit entfernt, um die Besatzung auszumachen – von hier aus wirkten selbst die finsteren Gefährte wie etwas aus einem Spielzeugladen –, doch sogar über das Peitschen des Windes so hoch oben konnte sie gleichmäßigen Trommelschlag erahnen.
„Bei den Einir“, murmelte Tyvar. „Das müssen Dutzende sein.“
„Hunderte“, sagte Kaya. „Das Schiff, auf das wir gestoßen sind, muss Teil ihrer Vorhut gewesen sein. Kundschafter.“
„Und das ist die Armee.“
Aber warum? All dies – eine Legion von Dämonen, eine Flotte aus Langschiffen – nur, um sie aufzuhalten? Sie wusste, dass sie zäh war, und Tyvar war auch nicht übel für einen taufrischen Planeswalker, aber dies schien doch übertrieben.
Es sei denn …
Es sei denn, sie waren überhaupt nicht ihretwegen hier.
„Dieses Schwert“, sagte Kaya. „Es öffnet Portale! Es reißt Löcher in den Raum zwischen den Welten!“
Tyvar starrte sie verständnislos an. Kaya griff nach seinen Schultern und schüttelte ihn. „Er wird einen Doomskar auslösen, Junge!“
„Korrektur“, erklang eine Stimme über ihnen. „Ich habe ihn bereits ausgelöst.“
Ein Blitz sengender Flammen schoss von der Spitzkehre in den Stufen über ihnen herab. Kaya warf sich gerade rechtzeitig zu einer Seite, um die Hitze auf ihrem Gesicht zu spüren.
Von der Kante über ihnen grinste Thibalt herunter. Eine seiner Hände war von einem Ring roter, zuckender Flammen umgeben, und in der anderen hielt er dieses Schwert aus schimmerndem, buntem Glas.
„Wir müssen ihm dieses Schwert wegnehmen“, sagte Kaya. Ein weiterer Flammenball schoss durch die Luft und schmolz den Stein dort, wo Tyvar noch einen Augenblick zuvor gestanden hatte.
Sie entschied sich für einen Weg hinauf, Tyvar für einen anderen. Zwischen den gewundenen Stufen stachen Keile aus schwarzem Fels aus dem Berg, Zeugnisse tektonischer Verlagerungen so wild wie die Bewohner dieses Reiches. Tyvar nutzte sie als Deckung. Er erklomm geduckt und mit athletischen Sprüngen und Sätzen den Abhang.
Für Kaya waren die Dinge nicht ganz so kompliziert. Sie bahnte sich einen Weg geradewegs auf Thibalt zu, schlüpfte subtanzlos durch Felsen und Feuer und durch das, was der Teufel ihr sonst noch entgegenwarf. So gewandt Tyvar auch sein mochte, sie war ihm bald voraus.
Fünfzehn Schritt noch bis zu ihrem Gegner, dann zehn. Kaya zog eine Axt aus dem Gürtel und schleuderte sie auf Thibalt. Sie hinterließ einen Kratzer in seiner Schulter und holte ihn von den Füßen. Kaya zog die zweite Axt. Lass ihn nicht aufstehen.
Sie stieß sich von der Kante ab und machte einen Satz auf Thibalt zu. Sie war vollkommen darauf konzentriert, ihn zu erreichen und sich so vom Boden abzustoßen, dass sie ihr ganzes Gewicht in den Schlag legen konnte. Zu spät sah sie den tiefen Atemzug, der seine Brust anschwellen ließ und die aufgepusteten roten Wangen.
Der Rauch strömte als gewaltige und jähe Sturzflut aus seinem Mund und bedeckte augenblicklich die übergroßen Stufen. Er wogte über Kaya hinweg, stach ihr in die Augen und brannte in ihrer Kehle. Sie schlug dennoch blindlings zu – aber die Axt prallte nur von einem Felsen ab.
Kaya zog sich mit einer Hand ihre Kapuze über Mund und Nase, hielt die Axt mit der anderen gerade und zum Schlag bereit, doch alles, was sie sehen konnte, war Rauch, in dem kleine, gelbrote Glutstückchen bösartig tanzten. Er schien sich an sie zu klammern, nach Lücken im Stoff zu suchen, durch den sie atmete, und an ihren zusammengekniffenen Lidern zu zupfen. Wo immer er nackte Haut berührte, brannte er.
Sie tat ihr Bestes, den Schmerz und das Unbehagen zu unterdrücken und sich auf ihr Gehör zu konzentrieren. Wo war Thibalt? Wo war Tyvar?
Es ist noch nicht zu spät, um zu fliehen.
Der Gedanke schien wie aus dem Nichts aufzutauchen.
Es ist ohnehin zu spät. Thibalt hat den Doomskar bereits eingeläutet. Was tust du noch hier?
Das Brennen auf ihrer Haut, in ihren Lungen und in ihren Augen wurde nach und nach schlimmer. Eine eigenartige Erschöpfung hatte sich auf ihre Glieder gelegt: Die Handaxt, die sie ausstreckte – einst so leicht und ausgewogen – schien ihr nun den Arm nach unten zu ziehen.
Die Probleme dieser Welt sind nicht deine Probleme. Du schuldest diesen Leuten nichts. Ziehe weiter – springe durch die Blinden Ewigkeiten. Verschwinde von hier. Rette dich selbst. Immerhin ist es das, was du am besten kannst.
Einer nach dem anderen preschten die Gedanken durch ihren Verstand, ohne dass Kaya sie aufhalten konnte, und sie spürte, wie der Impuls an ihr nagte und wie sich die magischen Energien um sie herum aufbauten, bereit, sie davonzutragen.
Es wäre so einfach. Hier gibt es nichts für dich außer Schmerz.
Irgendetwas stimmte nicht – abgesehen von dem brennenden Rauch, abgesehen von der unnatürlichen Erschöpfung, die Kaya in die Knie zwang. Da war eine Stimme in ihrem Kopf. Eine Stimme, die beinahe, aber nicht ganz, wie ihre eigene klang.
Im kräuselnden Rauch rechts von ihr nahm sie eine Bewegung wahr. Zuerst sah Kaya das Schwert. Diese wunderschönen, in Glas gefangenen Farben, die auf sie zuwirbelten. Thibalt, der zum Todesschlag ausholte. „Du konntest nicht einfach gehen, oder?“
Sie versuchte, die Axt zu heben, um den Schlag abzuwehren, doch ihre Waffe war zu schwer und ihr Arm zu träge. Kaya wusste bereits, dass es zu spät sein würde. Einem tierischen Instinkt folgend schloss sie die Augen.
Da war ein lautes Klirren. Nicht unbedingt das Geräusch von Metall, das sich in Fleisch fraß. Und auch kein Schmerz. Komisch.
Kaya öffnete die Augen. Zwischen ihr und Thibalt stand Tyvar. Er hatte das schimmernde, gottgleiche Schwert mit dem Dolch abgefangen, der an seiner Armschiene befestigt war. Thibalt hatte Mühe, dagegenzuhalten. Sein Arm zitterte vor Anstrengung, doch es war vergebens. „Wer bei allen Teufeln bistdu?“
Mit einer schnellen und geübten Bewegung schlug Tyvar das Schwert aus Thibalts Hand. „Tyvar Kell. Prinz der Elfen. Der größte Held in Kaldheim.“
Der Nebel in Kayas Kopf lichtete sich, und sie konnte spüren, wo Thibalt in ihren Verstand geschlüpft war und wie er seine Gegenwart mit ihren eigenen Zweifeln und Ängsten verschleiert hatte. Je mehr sie zuhörte, desto größer wurden Erschöpfung und Schmerz. Diese Magie war beinahe kunstvoll – ganz anders als die ungelenke, schludrige Arbeit, die sie bislang von ihm gesehen hatte.
Doch warum war Tyvar dagegen immun? Er war genau wie sie in den Rauch gestürmt. Warum saugten seine Zweifel und Unsicherheiten nicht langsam das Leben aus ihm heraus? Es sei denn … Es sei denn, er hatte keine?
Bei den Ahnen, dachte sie. Er ist zu jung, zu überheblich, zu dumm, um an sich zu zweifeln. Und den Göttern von Kaldheim sei Dank dafür.
Vor ihr wich Thibalt zurück. Rotes Feuer wand sich um seine Hand, doch Tyvar griff nach seinem Kragen und warf ihn über eine Schulter, um den Planeswalker gegen die Kante einer der Steinstufen zu schleudern. Mit einem abgehackten Husten wich der angehaltene Atem aus Thibalt und mit ihm der Rauch und das Feuer, das sich um sie herum in nichts auflöste. Tyvar drückte seine Messingklinge an Thibalts Hals. „Und nun, Unhold, wirst du uns sagen, was du getan hast.“
Angesichts dessen gelang Thibalt ein Grinsen. „Sieh selbst“, krächzte er.
Kaya spürte, wie sich die Energien um ihn herum aufstauten. Die Magie hinterließ einen scharfen, beißenden Geruch in der Luft. Sie wollte rufen, doch dann war da das Geräusch von trockenem Holz, das Feuer fing, und Thibalts Augen leuchteten gelbrot auf. Wie brennendes Papier löste sich ein Körper zu einem Haufen Glut auf, und Tyvar taumelte zurück.
„Er“, spie der Elf aus. „Er …“
„Hat diese Welt verlassen. Ja“, sagte Kaya und rappelte sich vom Boden auf. „Tyvar … Danke. Für deine Hilfe.“
„Natürlich“, sagte er und sammelte sich. „Aber was, wenn er zurückkehrt?“
„Das kann er nicht. Zumindest nicht in nächster Zeit. Und wenn, dann ist er keine Gefahr für uns. Das Weltenwandeln erfordert eine Menge Energie. Er wird eine Weile brauchen, um sich zu erholen.“
„Ah“, sagte Tyvar. „Dann haben wir gewonnen? Es ist vorbei?“
Kaya blickte zum Gipfel des Berges hinauf, wo diese seltsamen Lichter noch immer funkelten und sich über den aschgrauen Himmel kräuselten. „Nein, ich glaube nicht, dass es das ist.“
An jedem anderen Tag wäre der Anblick eines riesigen Quells voll Blut im Krater des Berges unter ihnen vielleicht einen Moment der näheren Betrachtung wert gewesen. Doch vom Gipfel der Blutspitze hatten sie einen guten Blick auf den Riss am Himmel. Er erstreckte sich von dort, wo sie standen, zur Mitte des Magmasees, den sie überquert hatten. Kaya wusste nicht, ob die schweren Aschewolken ihnen den Blick versperrt hatten oder ob er neu war – eine frische Wunde, die während ihres Aufstiegs geschlagen worden war. Entlang der Ränder des Risses erstrahlte dieses wabernde, vielfarbige Licht und breitete sich über den Himmel aus.
„Bei allen Reichen“, murmelte Tyvar.
Im Inneren sah Kaya ein sich ständig wandelndes Kaleidoskop aus Landschaften: zerklüftete, hoch aufragende Berge, Festungen aus Eis, Ebenen voller hohem, gelbem Gras. Es fühlte sich an, als sähe sie in das gesamte Multiversum, als wären alle Welten durch einen vollkommen falschen Schlag aufgebrochen worden.
„Du weißt nicht zufällig, wie man das rückgängig machen kann? Vielleicht mit dem Schwert?“, fragte sie. Sie hatten es mitgenommen. Tyvar hatte es in seinen Gürtel gesteckt.
Er schüttelte den Kopf. „Meine Talente haben ihre Grenzen, weißt du?“
Trotz allem – dem metallischen Blutgeruch, dem Riss am Himmel – entfuhr Kaya fast ein Lachen. Es erstarb ihr jedoch in der Kehle, als sie sah, wie sich die ersten Gestalten aus dem feurigen See unter ihnen erhoben. Mit jedem Schlag ihrer ledrigen Flügel stiegen sie höher gen Himmel. Sie trugen Schwerter und Speere, Hellebarden und Hämmer. Das Gewicht der Waffen und Rüstungen zog sie abwärts, doch nicht genug, um ihren stetigen, entsetzlichen Aufstieg aufzuhalten. Es mussten Tausende sein, und sie alle waren auf dem Weg zu dem Riss am Himmel – ihrer Einladung, nicht nur ein Reich, sondern alle Reiche dieser Welt zu plündern, zu brandschatzen und zu verwüsten. In ihrer Mitte erhob sich von einem Schiff mit zwei Masten aus Feuer ein Dämon, neben dem alle anderen winzig erschienen. In einer Hand hielt er eine große, doppelblättrige Axt. Er schien seine Schwingen mit manischer Wut zu schlagen und überholte die anderen in seinem Drang zur Flucht. Sie kannte seinen Namen, noch bevor Tyvar ihn überwältigt murmelte. Sie hatte ihn oft genug während ihrer Zeit bei den Omensuchern gehört. Varragoth.
Kaya wandte sich zu Tyvar, der noch immer den unheiligen Schwarm anstarrte, der sich vor ihnen in die Lüfte erhob. „Tyvar, wir müssen gehen. Diese Welt wird gleich in Stücke brechen.“
Er schien sie nicht zu hören. „Wir müssen sie aufhalten. Wir müssen die warnen, die auf der anderen Seite sind!“
„Tyvar“, sagte sie sanft. „Es ist vorbei. Du bist ein großer Krieger. Versteh mich nicht falsch. Aber selbst der größte Krieger in der Geschichte könnte nicht ändern, was gleich geschehen wird.“ Sie sah bereits, wie die Dämonen den Riss durchquerten. Ihre kräftigen Flügelschläge führten sie zu neuer Beute. „Wir haben es versucht. Jetzt ist alles, was wir tun können, am Leben zu bleiben. Zur nächsten Welt gehen. Versuchen, es dort besser zu machen –“
Sie wollte ihm eine Hand auf den Rücken legen, doch er entwand sich ihr. „Das ist es also, was euresgleichen tut: Ihr verschwindet, sobald die Welt sich in eine Richtung entwickelt, die euch nicht passt. Ihr lauft davon, sobald die Dinge schwer werden. Letzten Endes bist du nicht anders als Thibalt.“
Die Worte trafen sie tiefer, als sie es erwartet hatte. Bis sie sich endlich eine Erwiderung überlegt hatte – irgendetwas darüber, nicht so starrköpfig zu sein und dabei nicht zu sterben –, hatte Tyvar bereits einen Omenpfad geöffnet. Er wandte sich zu ihr um. „Wenn es das bedeutet, ein Planeswalker zu sein, dann will ich damit nichts zu tun haben.“
Damit trat er durch den Durchgang.
Die Energie, die Kaya zum Weltenwandeln angesammelt hatte, hing noch immer in der Luft – ein namenloser Druck, der ein Ventil suchte. Sie konnte noch immer gehen. Sie sollte noch immer gehen. Das war die kluge Entscheidung. Das war ihr Kodex.
Doch sie konnte nicht anders, als über diese Stimmen in ihrem Kopf nachzudenken. Sie hatte sie auf die eine oder andere Art und Weise schon gehört, lange bevor sie Thibalt oder Tyvar getroffen hatte.
Kaya fluchte, holte tief Luft und folgte ihm.