„Bild

Akiri war mit dem Gefühl des Fallens so vertraut wie mit der Kraft ihrer eigenen Hände. Sie fürchtete weder das Entlangrauschen der Luft an ihrem Gesicht oder die Art und Weise, wie ihr der Magen schier in die Kehle hüpfte. Sie war die beste Seilschleuderin auf Zendikar, und sie hatte vor langer Zeit gelernt, dass man fallen können musste, wenn man klettern wollte.

Doch nie zuvor war sie so tief und so lange gefallen. Und sie war nie ohne Hoffnung gefallen.

Im Herabtaumeln sah sie, wie die Himmelsfestung von Murasa über ihr immer kleiner wurde. Und als sie die Augen schloss, sah Akiri Nahiris kalten, unbeteiligten Gesichtsausdruck und den Kern in ihrer Hand – in jenem schrecklichen Augenblick, bevor sie von der schwebenden Ruine gestoßen worden war.

In diesen ersten Momenten nackten Entsetzens warf Akiri ihre Seile und Haken nach jeder Kante und jedem schräg stehenden Polyeder in Reichweite. Anstatt weiter auseinanderzudriften, bewegten sich die Einzelteile der Himmelsfestung von Murasa nun jedoch aufeinander zu. Das Bauwerk setzte sich selbst wieder zusammen wie ein unbegreifliches Puzzlespiel, und Akiris Haken verloren ihren Griff oder wurden zermalmt, bevor sie sich hätte retten können.

Bald befand sich um sie herum nur der leere Himmel.

Dies sind die letzten Augenblicke meines Lebens, erkannte sie. Trauer und Wut trafen sie wie ein Faustschlag. Es war Akiri nicht gelungen, irgendetwas, was sie liebte, in diesen verzweifelten Momenten, bevor Nahiri sie in die Tiefe gestoßen hatte, zu retten oder zu beschützen.

Zendikar. Zareth. Sie schloss die Augen und dachte an ihren Freund und Geliebten. Sie schob das Bild seines erstarrten, schreienden Gesichts im Augenblick seines Todes weit von sich und erinnerte sich stattdessen daran, wie er mit ihr Seile geschleudert hatte: lachend und stets mit dem Schalk im Nacken.

Akiri klammerte sich an diese Erinnerungen, während sie auf den Boden wartete. Bald würde sie Zareth wiedersehen.

Der Aufprall raubte ihr den Atem. Ihr Hals und ihre Gliedmaßen wurden mit einem schmerzhaften Ruck nach vorn gerissen. Und federten ebenso ruckartig wieder zurück.

Plötzlich fiel Akiri nicht mehr.

Eigenartig, dachte sie. Der Tod ist sanfter, als ich erwartet hätte. Sie hatte zumindest damit gerechnet, die Äste der Harabaz-Bäume unter der Last ihres Körpers zerknicken zu spüren – wenn sie denn überhaupt etwas spürte. Sie öffnete die Augen und erwartete, nur Dunkelheit zu sehen, doch um sie herum war klarer, blauer Himmel. Sie drehte den Kopf und erblickte die Wrackbucht gut hundert Schritt unter sich. Die Bäume dort schwankten und peitschten die unbarmherzigen Wellen.

„Was?“, flüsterte sie. Sie hing mitten in der Luft. Unmöglich.

„Ich hab dich“, rief jemand von oben.

Akiri wandte den Blick wieder nach oben. Sie blinzelte in die Sonne und konnte über sich eine schlanke Gestalt ausmachen, die auf einem Stab lehnte. Sie stand auf etwas, was wie eine Leiter aus Zweigen aussah. Obwohl auch dies unmöglich schien.

„Was?“, flüsterte sie erneut.

„Wald"
Wald | Bild von: Tianhua X

Akiri spürte, wie sie in die Höhe gehoben wurde, und erkannte, dass sich eine Ranke eng um ihre Brust geschlungen hatte.

Als sie sich der Gestalt auf der Leiter näherte, sah sie, dass es sich bei ihrer Retterin um eine ganz in Grün gekleidete Elfe mit langem, dunklem Haar handelte. Etwas weiter unten auf der Leiter war ein Mann mit vom Wind zerzaustem Haar und hellen Augen gerade damit beschäftigt, vorsichtig hinaufzuklettern.

Die Ranke setzte Akiri vorsichtig auf der Leiter ab, etwa einen Schritt von der Elfe entfernt.

„Danke“, sagte Akiri einen Augenblick später. Das war alles, was sie herausbrachte.

„Geht es dir gut?“, fragte ihre Retterin.

„Ja.“ Akiri warf einen Blick zur Himmelsfestung von Murasa hinauf. Sie war beinahe vollständig wieder zusammengesetzt – als wäre die Falle nie ausgelöst worden. Als hätten Akiri und ihre Gruppe nicht gerade um ihr Leben gekämpft. Es war, als wäre Zareth umsonst gestorben. „Nein“, flüsterte sie, während ihr die Knie versagten.

„Ganz ruhig.“ Die Elfe umfasste ihre Schulter und half ihr, das Gleichgewicht zu bewahren. „Ich habe dich.“

„Wer bist du?“, fragte Akiri.

„Ich bin Nissa“, antwortete sie und fügte mit einem scheuen Lächeln hinzu: „Der langsame Kletterer ist Jace.“

Jace stöhnte, als er neben ihnen ankam. „Ich bin aus der Übung. Auf Ravnica haben wir keine Verliese am Himmel.“

Akiri musterte sie einen Augenblick Die beiden hatten etwas an sich, was sie vor ein paar Tagen noch nicht wahrgenommen hätte, etwas, was sie immer als Lagerfeuergeschichten abgetan hatte: ein Gefühl unaussprechlicher Macht, als bewahrten sie Geheimnisse so endlos wie die Welt. Ein Gefühl, das sie mit einem Bein hierund mit dem anderen anderswo standen.

Wie Nahiri.

„Ihr könnt zu anderen Welten reisen, nicht wahr?“, fragte sie und wich aus Nissas Griff zurück.

Nissa und Jace warfen einander einen Blick zu. „Du weißt über Planeswalker Bescheid?“, fragte Jace.

Die Mythen nannten euch Wanderer. Planeswalker. Mein Dämon hat einen Namen, dachte Akiri, während Trauer ihr die Brust zuschnürte. „Ich habe Nahiri getroffen. Sie war es, die mich gestoßen hat.“ Sie deutete zur Himmelsfestung hinauf.

Sie bemerkte, dass keiner der Planeswalker überrascht wirkte. Sie beide starrten nun auf die Himmelsfestung von Murasa.

„Hat sie den Kern?“, fragte Nissa und ballte die Fäuste an ihrer Seite.

„Ja.“ Das Bild von Nahiris grausamem Gesicht blitzte erneut in Akiris Gedanken auf. Und das von Zareths totem Antlitz.

„Wir können sie noch einholen“, sagte Jace und begann, weiterzuklettern. „Schnell.“

„Nein, Jace“, sagte Nissa. „Sieh nur!“

Akiris Blick folgte Nissas ausgestrecktem Finger. In der Ferne konnte sie gerade noch eine weißhaarige Gestalt ausmachen, die wie auf einer Treppe durch die Luft rannte. Akiri erkannte die Zauberkunst der Steinschmiedin wieder. Beim Anblick Nahiris drehte sich Akiri der Magen um.

Nissa ließ eine Hand nach vorn schnellen und feuerte Dutzende Dornenpfeile auf Nahiri ab, doch die Entfernung zwischen ihnen war zu groß. Nahiri hatte jede Menge Zeit, den Angriff mit einer Bewegung ihres Handgelenks und einem gut platzierten Felsblock abzuwehren.

Akiri zuckte zusammen und griff nach ihren Seilen. Warte, dachte sie. Noch nicht.

Sie hörte, wie Jace hinter ihr ausatmete, und als Akiri sich zu ihm umdrehte, sah sie, wie er Nahiri in der Ferne anstarrte. Er streckte drei Finger in Richtung der Steinschmiedin aus wie zu einem Angriff, und Akiri hielt den Atem an.

Nichts geschah.

Dann stolperte Nahiri und hielt sich den Kopf. Jaces Mund zuckte.

Nahiri fand ihr Gleichgewicht rasch wieder und kam oben auf den Steinstufen schlitternd zum Stehen. Sie drehte sich zu Jace um.

Selbst aus dieser Entfernung bereitete Nahiris Starren Akiri eine Gänsehaut.

„Pass auf!“, rief Akiri und stieß Jace gerade noch rechtzeitig beiseite, damit er nicht von einem Felsblock getroffen wurde.

Dann fiel sie wieder. Dieses Mal hatte sie jedoch Jace mit sich gerissen.

Es gab einen Grund, warum Akiri die beste Seilschleuderin auf Zendikar war, und sie hatte Nahiris Angriff vorausgeahnt. Innerhalb von Sekunden warf sie das Seil in ihrer Hand und sicherte den Haken an der Leiter aus Ranken. Sie nutzte ihren Schwung, um einem anderen Felsbrocken auszuweichen, und hievte sich und Jace mit drei schnellen Hand-über-Hand-Griffen zurück auf die Leiter.

Als sie ihren Blick wieder über den Himmel schweifen ließ, war Nahiri fort. Akiri atmete aus: erleichtert, dass sie nicht mehr in Nahiris Visier war, und wütend, weil die Steinschmiedin entkommen war.

„Das war…“,sagte Jace zu Akiri beim Aufrichten, „beeindruckend.“

„Nahiri hat meine Gruppe nicht ohne Grund angeheuert. Wir sindwarendie Besten der Welt“, entgegnete Akiri. Mit einem sorgenvollen Stich im Herzen fragte sie sich, wo Kaza und Orah wohl sein mochten.

Bitte seid am Leben, dachte sie.

„Wir müssen ihr rasch folgen!“, sagte Nissa und begann, die Ranken hinabzuklettern.

„Oh, ihr seid also auf Flinkheit aus“, sagte Akiri mit kühler Gewissheit. Sie war Akiri, die kühne Reisende, und sie war die Herrin dieses Reiches. Dies war ihre Heimat. Sie begann, ein weiteres Seil wirbeln zu lassen.

Mithilfe ihres Seilschleuderns und Nissas Ranken flogen sie nach unten – vorbei an der Wrackbucht und dem Blätterdach der Harabaz-Bäume auf die imposanten und berüchtigten Klippen Murasas zu. Akiri sauste wie ein Vogel aus den schwindelerregenden Höhen hinunter, obwohl sie Jace helfen musste. Dieses Mal war ihr Fallen geübt und kontrolliert, obgleich ihr Herz vor Trauer schwer war.

Sie durfte Nahiri nicht entkommen lassen.

Doch sie waren zu langsam. Als sie, Nissa und Jace das weite, bewaldete Plateau jenseits der Klippen erreicht hatten, war Nahiri fort.

Nissa ballte die Fäuste und lehnte sich gegen einen gewaltigen Jurworellbaum. Dort stand sie, vollkommen reglos, mit geschlossenen Augen und leicht zur Seite geneigtem Kopf.

„Was macht sie?“, flüsterte Akiri Jace zu. Jace zuckte die Schultern.

„Ich höre zu“, sagte Nissa. Kurze Zeit später öffnete sie die Augen. „Sie ist in Richtung Norden gegangen, aber ich weiß nicht genau, wohin. Hat Nahiri dir gesagt, wohin sie als Nächstes wollte?“, fragte sie Akiri.

Akiri schüttelte den Kopf. Da sie nun wieder am Boden war, begannen die Erinnerungen an Zareth, sie zu verfolgen. Sie hatte zu viel Zeit mit den geheimnisvollen Planeswalkern verbracht. Sie verstand nun, dass sie ebenso gefährlich waren wie die Eldrazi. „Danke nochmals, dass ihr mich gerettet habt“, sagte sie und raffte ihre Seile zusammen.

„Wo gehst du hin?“, fragte Jace alarmiert.

„Ich muss Orah und Kaza finden.“

„Wen?“

„Meine Freunde. Hoffentlich hat Nahiri sie nicht auch getötet.“ Akiri schluckte schwer. Sie wusste nicht, was sie tun würde, falls sie ihre zweite Abenteuergruppe verloren hatte. Ihre zweite Familie.

„Wir könnten deine Hilfe gebrauchen“, bat Jace.

„Nun, die könnt ihr nicht bekommen“, erwiderte Akiri. „Für Nahiri zu arbeiten, war einer meiner größten Fehler. Sie hat den Kern verwendetZareth …“ Akiri holte tief Luft. „Ich bin fertig damit, Leuten von anderen Welten zu helfen.“ Sie war sich nicht sicher, woher Nahiri eigentlich stammte, doch ganz sicher nicht von ihrem geliebten Zendikar.

„Ich stamme nicht von einer anderen Welt“, sagte Nissa leise. „Ich wurde hier geboren. In Bala Ged. Mein StammMein Stamm wurde von den Eldrazi beinahe ausgelöscht. Ich spüre die Verheerung überall auf dieser Welt.“ Sie straffte die Schultern und blickte Akiri unverwandt an. „Dies ist mein Zuhause, und das wird es auch immer bleiben. Und ich weigere mich, zuzulassen, dass Nahiri es in ihre tote Vision aus Stein verwandelt.“ Sie sprach leise, doch in ihrer sanften Stimme und ihrer Haltung schwangen wilde Entschlossenheit mit.

Zum ersten Mal bemerkte Akiri, wie sich der gesamte Wald um die kleine Elfe herum zu verneigen schien. Es war, als würde er auf einen Befehl von ihr warten.

„Dann solltest du wissen“, sagte Akiri, „dass der Kern verdirbt und tötet. Tiere, Bäume,

Menschen. Sie brachte es nicht übers Herz, es auszusprechen.

Nissas Miene war schmerzerfüllt, aber nicht überrascht. „Also du hast keine Ahnung, wohin sie gegangen sein könnte?“, fragte sie.

„Keine“, antwortete Akiri.

„Ich weiß es vielleicht“, sagte Jace und wirkte schuldbewusst. Beide Frauen blickten ihn überrascht an. „Ich habe in ihren Verstand gespäht“, gab er zu. „Sie geht in die Singende Stadt."

Akiri kannte die Legenden um die Singende Stadt. Es hieß, dass jene, die durch ihre Ruinen streiften, dem Wahnsinn anheimfielen.

„Ich glaube, es war die richtige Entscheidung, in ihre Gedanken zu schauen“, sagte Nissa sanft. Dann runzelte sie die Stirn. „Aber warum will sie dorthin?“

„Weil sie von den alten Kor erbaut wurde“, erwiderte Jace.

„Was?“, sagten Akiri und Nissa gleichzeitig.

„Nun ja, das ist eine logische Schlussfolgerung“, sagte Jace. „Sie haben die alten Städte dieser Welt gebaut.“ Nissas Augen waren jedoch wieder geschlossen. Sie lauschte.

„Allein kann ich schneller dorthin gelangen“, sagte sie.

„Nissa, warte“, sagte Jace beunruhigt.

Doch Akiri war klar, dass Nissa auf niemanden warten würde. Unter ihr erhob sich bereits ein Geflecht aus Jurworrell-Wurzeln, das sie in die Luft hob. „Ich werde Nahiri aufhalten und den Kern vernichten“, sagte sie und blickte zu Akiri hinunter. „Das verspreche ich.“ Dieses Mal hörte Akiri unter der ruhigen Entschlossenheit Ärger.

Akiri nickte. „Beeil dich.“

„Nissa“, sagte Jace, doch keine der beiden Frauen hörte ihm zu.

Wie ein zielgerichtet geworfenes Seil schwollen die Wurzeln an und entschwanden rasend schnell in den Wald.

Dann war Nissa fort.

„Nissa!“, rief Jace ihr nach. Doch dort, wo sie gestanden hatte, waren nun nur noch das Raunen des Waldes und die hoch aufragenden Bäume. Er wandte sich zu Akiri. „Kannst du mich zur Singenden Stadt bringen?“

„Ja, aber das werde ich nicht.“ Akiri befestigte ein Seil an einer dicken Jurworrell-Wurzel über sich. Sie musste die Greifen finden, auf denen sie und ihre Gruppe nach Murasa geritten waren. Sie hoffte, dass Kaza und Orah in der Wrackbucht auf sie warteten.

Bitte seid in Sicherheit, dachte sie.

„Bitte, Akiri“, sagte Jace und trat hinter sie.

„Du bist kein sonderlich guter Zuhörer, oder?“, meinte Akiri und begann, am Seil nach oben zu klettern. „Ich habe für einen Tag genug verloren.“

Für ein Leben. Zareth.

„Ich bitte um Entschuldigung“, sagte Jace. „Üblicherweise bin ich ein recht guter Zuhörer. Es waren ein paar schwerenun ja, Jahre, wenn ich ehrlich sein soll.“

Ja, das war wohl so. Akiri zog sich auf die Wurzel hinauf und suchte nach dem nächsten Ankerpunkt.

„Warte. Deine Freunde sind Kaza und Orah, richtig?“, fragte Jace.

Akiri hielt inne und starrte den in Blau gekleideten Mann an. „Was ist mit ihnen?“

Jace schloss einen Moment lang die Augen und legte die Finger an die Schläfen. „Ich spüre zwei Gestalten unten in der Bucht. Ich nehme an, es handelt sich um deine vermissten Gruppenmitglieder. Obwohl ich es nicht mit Gewissheit sagen kann.“

Akiri griff nach dem Seil und ließ sich zu Boden gleiten. „Wie machst du das?“

Jace zuckte mit den Schultern. „Ich bin ein Magier. Ich verstehe mich auf Illusionen und Gedanken.“

„Und so konntest du Nahiris Gedanken lesen?“, fragte sie. Jace blickte peinlich berührt drein, und Akiri zuckte bei dem Gedanken zusammen, dass dieser außerweltliche Fremde ihre Gedanken lesen konnte.

Mein Verstand gehört mir, dachte sie zornig, für den Fall, dass Jace zuhörte. Bleib ihm fern.

Sie begann, wieder hinaufzuklettern.

„Was, wenn ich verspreche, den Kern irgendwo anders hinzubringen? Irgendwohin jenseits von Zendikar?“, rief Jace ihr nach.

Was soll das denn nun wieder bedeuten? , wollte Akiri fragen, aber mit einem kleinen Schaudern hielt sie sich zurück. Die Eldrazi stammten auch von irgendwo jenseits von Zendikar. Es war besser, es nicht zu wissen.

„Ist der Kern dann keine Gefahr mehr?“, fragte sie stattdessen.

Jace nickte.

Das ließ Akiri zögern. Zareth hätte gewollt, dass du Zendikar rettest. Der Gedanke versetzte ihrem Herzen einen weiteren Stich. Den gefährlichen Gegenstand stehlen und ihn auf eine andere Welt schaffen? Das hätte Zareth gefallen. Und – das musste Akiri zugeben – es war eine gute Lösung. Mit einem Seufzer wandte sie sich zurück zu Jace.

„Ich bringe dich zum Eingang der Stadt, damit du Nissa helfen kannst“, sagte sie vorsichtig, „aber nicht weiter.“

„Danke, Akiri“, sagte Jace erleichtert.

Falls er ihre Gedanken las, so fand sie auf ihrem gemeinsamen Weg zur Singenden Stadt keinerlei Anzeichen dafür.

Erst viel später, als sie Kaza und Orah an der Wrackbucht wiedertraf, erinnerte Akiri sich, dass sie ihm nie ihren Namen verraten hatte.


Jace folgte Akiri durch die ineinander verflochtenen, riesigen Jurworrell-Bäume, bis diese einem Wald wichen, der von den Eldrazi verwüstet worden war. Die kränkliche, geschwärzte Landschaft hier schnürte Jace vor Schuldgefühlen die Kehle zu. Er bemerkte jedoch, dass neues, zartes Leben sich mühte, in der Asche zu sprießen.

Er drängte weiter voran.

Er folgte Akiri, als die Bäume von gewaltigen Steilwänden abgelöst wurden, die so hoch wie die Mauer Murasas waren. Er folgte ihr zerklüftete Felswände hinauf, wo bisweilen das dumpfe Grollen in Höhlen verborgener Bestien den Stein unter seinen Händen zum Schwingen brachte.

Jace folgte Akiri bis auf das Na-Plateau und in den dichten Wald dahinter. Er war erleichtert, dass er diese Reise nicht allein hatte antreten müssen, denn die Jadi-Bäume wurden dichter und dunkler, je näher sie der Stadt kamen.

Akiri schwieg während der gesamten Reise – bis auf ein geflüstertes „Halte Ausschau nach Würmern“ oder „Es sind Goblins in der Nähe. Sei so leise, wie du kannst.“

Jace spürte, dass sie ihre Trauer und ihre Sorge für sich behielt und versuchte, sie nicht zu zeigen. Ihr Schmerz war ihm jedoch offensichtlich. Vielleicht weil er seine eigenen, schmerzhaften Geheimnisse bewahrte.

Sie erreichten eine Lichtung im Wald. Vor ihnen lag der Friedhof einer Stadt, deren Alter er nicht einmal zu erahnen wagte. Es war, als wäre eine der gewaltigen Himmelsfestungen zur Erde herabgesunken. Die steinernen Türme waren zerbrochen und umgestürzt, die Mauern von Moos und Pflanzen bedeckt. Die Luft roch klamm und staubig, und über allem lag ein schauriges Summen. Das Tor am Eingang war aus Marmor: Dunkel und riesig und verzerrt und schön drehte und verflocht es sich zu seinem nicht minder komplexen Muster wie die Jaddi-Wurzeln. Drohend ragte es vor Jace und Akiri auf.

„Irgendwelche Ratschläge?“, fragte er.

„Verliere nicht den Verstand“, sagte sie.

„Na schön.“ Jace strich sich den Mantel glatt. „Danke für deine Hilfe. Undes tut mir leid wegen deines Freundes. Ich weiß, wie es ist, jemanden zu verlieren, der einem nahesteht.“

Akiri nickte. Ihr Kiefer bebte vor unterdrückten Gefühlen. Sie drehte sich um und begann, fortzugehen. Dann hielt sie inne.

„Ich hoffe, Nissa hat mehr Glück als ich“, sagte sie über die Schulter. Und dann war sie im Schatten der Bäume verschwunden.

„Na schön“, sagte Jace erneut und machte sich auf den Weg zum Tor.

Es war nicht verschlossen.

Im Inneren befand sich ein Labyrinth aus Ruinen. Moosbedeckte Räume und Gänge breiteten sich vor ihm aus, so weit sein Auge reichte. Jace wurde das Herz schwer. Das würde ganz offenkundig nicht leicht werden. Und so sehr er die Herausforderung liebte: Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich zu verlaufen.

Und da war überall dieses tiefe, leicht dissonante Summen, das Jace nicht ganz ignorieren konnte.

Etwas bewegte sich zu seiner Rechten. Jace errichtete augenblicklich einen magischen Schutz um sich herum. Er folgte dem Geräusch um eine Ecke und erspähte eine weißhaarige Gestalt, die in die andere Richtung blickte.

„Hallo, Jace“, sagte Nahiri, ohne sich umzudrehen. „Natürlich bist du hier.“

„Ich bin wegen Nissa hier“, sagte er.

„Natürlich.“

„Sie sagt, der Kern wird Zendikar vernichten.“

Nahiri wandte sich zu ihm um und sah ihn stirnrunzelnd an. „Und das von derjenigen, die die Eldrazi auf diese Welt losgelassen hat.“

Jace knirschte mit den Zähnen. Immerhin war er auch einer der Planeswalker, die die Eldrazi versehentlich freigelassen hatten. „Sie tat das, was sie für das Beste hielt.“

„Genau wie jetzt?“ Nahiri hob eine Augenbraue, und Jace hatte keine Antwort. „Anders als diese törichte Baumbewohnerin weiß ich, dass ich recht habe.“

„Wie damals, als du die Eldrazi hier eingesperrt hast?“, erwiderte Jace.

Zorn breitete sich auf Nahiris Gesicht aus. „Wie kannst du es wagen?“

„Wir verstehen den Lithoform-Kern nicht vollständig“, sagte er ruhig, behielt jedoch seinen magischen Schutz bei. „Gib mir den Kern, Nahiri, und wir können seine Geheimnisse gemeinsam enträtseln. Auf Ravnica.“

Nahiri zögerte, und einen Augenblick lang hegte Jace Hoffnung.

Dann nahm sie eine standfestere Haltung an.

„Niemals“, schnaubte sie. Und mit einer stoßartigen Bewegung ihrer Hand bewegte sie die Steine rechts und links von ihm aufeinander zu.

Sie zerschlugen Jaces Barriere, wurden aber gerade lange genug aufgehalten, damit er ihnen ausweichen konnte. Jace rollte sich auf die Beine und wappnete sich für den nächsten Angriff, indem er ein Dutzend illusionäre Doppelgänger seiner selbst um sich herum erschuf.

Doch Nahiri spurtete den Gang entlang. Fluchend hob Jace die Illusionen auf und setzte ihr nach.

Er rannte uralte Gänge hinunter, tiefer und tiefer, und erhaschte kurze Blicke auf sich windende Bögen und verwüstete Höfe. Er rannte weiter hinab und folgte den Fußspuren, die Nahiri im Staub hinterließ, als sie durch enge Durchgänge und gewundene Hallen eilte.

Er rannte in die Tiefe, auf verschlungenen, zerbrochenen Treppen. Hinein in den Bauch dieser uralten Stadt der Kor.

Hier wurde jenes seltsame Summen der Stadt zu einem verstörenden Gesang. Ein Requiem für etwas, was Jace nicht benennen konnte. Ein Lied, dessen trällernde Harmonien und tiefen Schwingungen ihn mit einer solchen Traurigkeit und Sehnsucht erfüllten, dass er seine Verfolgungsjagd beinahe aufgegeben hätte.

Nein, ich muss Nahiri aufhalten, dachte er und hörte ihre Schritte vor sich. Sie wurden langsamer. Er rannte weiter.

Tief im Herzen der Stadt wurde die Melodie lauter, komplexer, misstönender – und drängender. Jace biss die Zähne zusammen. In der Ferne konnte er Nahiris Umriss erkennen. Der geisterhafte Gesang ließ seine Gelenke schmerzen.

Ich muss Nahiri erreichen. Jace stolperte durch den gewundenen Gang.

Doch jeder Schritt war schwerer als der vorherige. Die Musik schwoll an. Der geisterhafte Gesang wurde lauter und verlangte seine volle Aufmerksamkeit. Jace taumelte und stöhnte auf.

Ich muss

Er sah, dass nun blaue Lichtbögen aus Magie um ihn herum im Takt der Musik aufblitzten. Der Gesang übertönte jeden Laut, jeden Gedanken. Jace fiel auf die Knie und presste die Hände auf die Ohren.

Ich muss… Ich

Er rang um seine Konzentration und klammerte sich an einen Gedanken. Ich. Darf. Nicht. Den Verstand. Verlieren.

Es war riskant und er hatte so etwas noch nie zuvor versucht, doch Jace war verzweifelt. Er ließ seine Ohren los und versuchte, einen Zauber zu sprechen. Einen, den er schon immer hatte ausprobieren wollen, aber noch nie die Gelegenheit dazu gehabt hatte. Ein Zauber, der heikel und gefährlich war. Ein Zauber, der jedes Geräusch vollständig dämpfen würde, das in seine Ohren einzudringen versuchte.

Verrücktmachender Missklang
Verrücktmachender Missklang | Bild von: Magali Villeneuve

Das Singen steigerte sich zu einem unerträglichen Crescendo. Jede Faser seines Körpers verfiel in Krämpfe, sein Verstand schrie nach Erlösung und begann, ihm zu entgleiten.

Dann, mitten in einer Note, hörte das Lied auf.

Jace atmete aus. Sein Zauber wirkte.

Binnen Sekunden klarte sein Denken auf und er konnte seine Gelenke wieder bewegen. Er sah Nahiri, die sich vor ihm am Boden krümmte und die Hände auf die Ohren gepresst hatte. Er rappelte sich auf, eilte zu ihr hinüber und breitete die Hände aus, um den Radius seines Zaubers zu vergrößern.

Sie stöhnte und hielt sich die Augen zu. Jace hielt inne, unsicher, was die nächste Reaktion der Lithomagierin sein würde, und argwöhnisch, ob wohl ein Angriff folgen mochte.

Er sprach sie telepathisch an. Geht es dir gut, Nahiri?

Sie rappelte sich auf, ließ einmal die Schultern kreisen und funkelte Jace an. Erwartest du ein Dankeschön?

Natürlich nicht, lächelte Jace in sich hinein.

Sie runzelte die Stirn und blickte finster auf ihre Füße. Ich habe es erst nicht gehört. Das Singen. Und als ich es schließlich tat, dachte ich, ich sei zu mächtig, als dass es eine Wirkung auf mich haben würde.

Jace nickte. Diese Welt steckte schon immer voller Überraschungen.

Der Kern und ich werden Zendikar nicht verlassen, Jace. Sie nahm eine strengere Haltung und ihr Gesicht einen schmallippigen, trotzigen Ausdruck an.

Na gut. Jace erkannte, dass er seine Taktik ändern musste, wenn er zu Nahiri durchdringen wollte. Wohin gehst du denn?

Zum Zentrum der Stadt. Um es zu aktivieren.

Jace wartete mit verschränkten Armen.

Nahiri verdrehte die Augen. Die Runen sagten, es gäbe dort einen magischen Fokuspunkt, der die Energie des Kerns durch die Leylinien durch ganz Zendikar leiten kann.

Das erweckte Jaces Interesse. Sodass die Umwandlung sich überall einstellt?

Nahiri nickte vorsichtig.

Dann sah Jace, wie Nahiri sich ihre geheilte Welt vorstellte. Ein verwandeltes Zendikar. Riesige, wunderschöne Städte, in denen Tausende von Menschen Dinge herstellten, diese verkauften und in ihrem Handel aufblühten. Überall kompliziert behauene Bogengänge und komplexe, atemberaubende Architektur. Und vor allem war die Welt stabil. Sicher.

Sie erinnerte Jace an Ravnica.

Ich werde dich nicht aufhalten, Nahiri. Solange du mir versprichst, den Kern erst einzusetzen, nachdem wir seine Wirkungsweise genauer studiert haben.

Nahiri dachte schweigend darüber nach und nickte schließlich. Ich habe kein Verlangen danach, meiner Heimat zu schaden.

Doch Jace konnte ihre Gedanken sehen, und er wusste, dass Nahiris Definition von „schaden“ nicht dieselbe war wie Nissas. Dass sie Städte und Armeen auslöschen würde, um ihr Ziel zu erreichen.

Er wusste auch, dass er verstehen musste, wie der Kern aktiviert wurde, wenn er dessen Geheimnisse jemals enträtseln wollte. Dass seine geheimnisvolle Macht zunächst ordentlich erfasst und eingeordnet werden musste, wenn er eine nützliche Waffe in den noch kommenden Kämpfen sein sollte.

Und er wusste, dass sie jede Waffe, derer sie habhaft werden konnten, brauchen würden, wenn sie erneut Nicol Bolas entgegentraten.

Daher drehte er sich mit einem beschwichtigenden Lächeln zu Nahiri um und dachte: Geh voran.


Nahiri und Jace durchquerten das Labyrinth der Singenden Stadt. Ihr anfälliger Waffenstillstand belastete die Stimmung zwischen ihnen schwer. Nahiri hielt sich dicht bei Jace, damit sie innerhalb der Reichweite seines Zaubers blieb. Niemals wieder wollte sie diese wahnsinnigen, gequälten Stimmen hören.

Im Gehen fuhr sie mit einer Hand wie beiläufig über die bemoosten Steinwände und fragte sie nach dem Weg zur Mitte der Stadt, während die andere auf dem Beutel an ihrem Gürtel ruhte. Der Kern fühlte sich warm an, und sie spürte seine auf- und abschwellende Macht. Das brachte sie zum Lächeln.

Doch der Kern wisperte auch nach wie vor, gerade leise genug, damit sie die Worte nicht verstehen konnte. Wenn sie vielleicht einmal einen Augenblick Zeit fand, nachdem sie Zendikars einstige Schönheit wiederhergestellt hatte, würde sie versuchen, die Bedeutung des Wisperns zu enträtseln.

Glücklicherweise schwieg Jace. Vielleicht las er ihre wütenden Gedanken, während sie ihr Mantra wiederholte: Nie wieder, nie wieder.

Die Schwingungen der Steine führten sie durch schier endlose Gänge, über leere Höfe und auf geborstenen Wendeltreppen wieder nach oben. Nahiri stand so kurz vor ihrem Ziel. So kurz davor, den Fokuspunkt im Zentrum der Singenden Stadt zu finden. So kurz davor, endlich all jene Schäden ungeschehen zu machen, die sie vor so langer Zeit anzurichten geholfen hatte.

Als sie die letzte Treppenstufe hinaufstiegen, fanden sie sich in der Mitte eines uralten Gartens wieder, der nun von Jaddi-Wurzeln, Farnen, Moosen und Blumen mit hellen, purpurnen Blüten überwuchert war. Noch immer fanden sich steinerne Rankgitter, ausgetrocknete Brunnen und die ferne Erinnerung an Pfade zwischen ihnen.

Jace nahm die Hände in die Höhe und senkte sie langsam, um den Stillezauber aufzuheben. Das schaurige Summen der Stadt erklang erneut, wurde aber nicht lauter.

„Was nun?“, fragte Jace.

Sie zog den Lithoform-Kern aus ihrem Beutel. Er strahlte in ihrer Hand wie ein Machtversprechen. Sein Wispern wurde fieberhaft, wütend.

„Kannst du das hören?“, fragte Nahiri und hielt den Kern in die Höhe.

„Kann ich was hören?“, fragte Jace stirnrunzelnd.

„Nichts“, sagte Nahiri rasch. „Gehen wir weiter.“

„Wohin?“

Nahiri deutete auf ein großes, steinernes Gebäude vor ihnen, das einem Pavillon glich. Selbst von dort, wo sie standen, konnte sie erkennen, dass es eingestürzt war und in Trümmern lag. Doch traf dies nicht auf alles auf Zendikar zu?

Sie verstaute den Kern wieder in ihrem Beutel und schritt voran.

Irgendetwas stimmte nicht. Je näher sie dem zerstörten Gebäude kamen, desto stärker wurde das Gefühl, und Nahiri erkannte, dass der Pavillon vollkommen in sich zusammengestürzt und das, was auch immer sich in seinem Inneren befunden hatte, zermalmt worden war.

„Nein“, sagte Nahiri und rannte vor. Sie legte die Hände auf den verwüsteten Eingang. Die steinernen Schwingungen verrieten ihr, dass der Schaden erst kürzlich entstanden war.

„Was tust du?“, fragte Jace.

„Ich bringe das hier in Ordnung!“, sagte Nahiri, während die Steine um sie herum zu beben und sich zu regen begannen. Sie konnte den Schaden wiedergutmachen. Das musste sie einfach tun.

„Spar dir die Mühe“, sagte eine Stimme hinter ihnen. Nahiri wirbelte herum und sah Nissa in den Ruinen des uralten Gartens stehen, eine Hand an ihrem Stab und die andere an ihrer Seite zur Faust geballt. Sie stand hoch aufgerichtet und stolz, und in ihrem Blick lag ein ruhiger und dennoch gefährlicher Ausdruck.

„Der Fokuspunkt“, sagte Nahiri durch zusammengebissene Zähne, „war hier.“

„Das war er“, erwiderte Nissa kalt, „bis die Elementare ihn zerstört haben.“

„Du hast deine Kreaturen dazu gebracht, das hier zu tun?“, rief Nahiri. Es würde Tage, wenn nicht gar Wochen dauern, den Schaden an den magischen Kanälen hier zu beheben.

„Ich bringe sie nicht dazu, irgendetwas zu tun“, sagte Nissa. „Ich helfe ihnen, und sie helfen mir. Ich bin die Wächterin Zendikars, und sie sind die lebendige Verkörperung dieser Welt.“ Hinter ihnen erschien ein riesenhaftes Elementar. Seine Gliedmaßen bestanden aus Wurzeln und Blättern, und seinen Kopf zierte ein gewaltiges Geweih, das wie nach hinten geschwungene Flügel aussah. „Ist es nicht so, Ashaya?"

Ashaya, Seele der Wildnis
Ashaya, Seele der Wildnis | Bild von: Chase Stone

Nahiri blickte Finster drein, aber das Erscheinen eines solch garstigen Elementars ließ sie innehalten. Sowohl sie als auch Jace traten einen Schritt zurück.

„Nissa.“ Jace hob beschwichtigend die Hände. „Ich verspreche, dass ich den Kern nicht einsetzen oder zulassen werde, dass jemand anders ihn einsetzt“, sagte er und blickte zu Nahiri. „Solange wir ihn nicht verstanden haben.“

„Und was bedeutet dein Wort, wenn andere sich nicht daran halten?“, gab Nissa zurück. Sie starrte Nahiri unverwandt an.

„Wenn sie es nicht tut“, sagte Jace mit enervierender Ruhe, „dann wird sie sich in einer beeindruckend lebensechten Illusion der Singenden Stadt wiederfinden. Nur dass ich dann den Gesang diesmal nicht aufhalten werde.“

„Wichtigtuer“, zischte Nahiri. Stumm schwor sie sich, niemals wieder irgendjemandem zu vertrauen.

„Ich will nicht gegen euch kämpfen. Das will ich wirklich nicht“, sagte Nissa zu Jace und Nahiri. „Wir alle haben genug gekämpft. Wir verdienen etwas Frieden.“

„Da bin ich ganz deiner Meinung, aber… sagte Jace. „Ich glaube, Nahiri hat nicht unrecht. Das uralte Zendikar war wudnerschön. Ich habe ihre Erinnerungen gesehen.“

„Siehst du, selbst der Wichtigtuer stimmt mit mir überein“, sagte Nahiri zufrieden. Endlich nahm jemand Vernunft an.

„Jace, wir haben doch schon darüber gesprochen. Die Elementare …“

„Werden wieder wachsen. Alles wird wieder wachsen.“

„Nicht alles“, sagte Nissa ruhig.

„Das Zendikar, das ich kenne, ist stark und unbeugsam“, sagte Nahiri.

„Stell dir nur die Stabilität vor“, sagte Jace. „Wie die Bewohner dieser Welt in der Lage sein werden, aufzublühen. Ohne Furcht vor der Turbulenz.“

Nissa trat einen Schritt zurück. Dann noch einen. „Ich habe dir vertraut“, sagte sie zu Jace. Der Schrecken und der Schmerz in ihrem Gesicht waren unübersehbar.

„Nissa“, flehte Jace.

„Du willst nicht gegen mich kämpfen“, sagte Nahiri und legte eine Hand auf den Kern in ihrem Beutel.

Nissa starrte sie ungerührt an. „Versuch es nicht.“

Doch Nahiri wollte nicht mehr zuhören. Sie hatte Drachenältesten und unsterblichen Vampiren die Stirn geboten. Nichts würde sie aufhalten können. Nicht jetzt. Nicht jemand, der so klein und zierlich und unsicher war. Nicht, wenn sie ihrem Ziel so nahe war.

Mit einer Drehung ihrer Handgelenke erzeugte sie Dutzende um Dutzende glühender Schwerter. Eines für jeden Augenblick ihres Zorns in den letzten tausend Jahren. Mit einer zweiten Drehung schleuderte sie die Schwerter geradewegs auf Nissa.

Doch bevor auch nur eine ihrer Waffen ihr Ziel traf, schlug ein Schemen sie allesamt aus der Luft.

Etwas prallte auf Nahiri, presste sämtlichen Atem aus ihr heraus und schleuderte sie zu Boden.

Sie rollte sich ab und rappelte sich auf, bereit, erneut zuzuschlagen. Doch das, was sie erblickte, ließ sie innehalten. Neben ihr hörte sie, wie Jace die Luft einsog.

Nissa schwebte mehrere Schritt hoch in der Luft, ihr Haar hinter ihr wehend und ihr Körper von grüner Energie durchzuckt. Selbst aus der Ferne konnte Nahiri Nissas Wut spüren. Und ihren Willen, dieses geschundene Zendikar um jeden Preis zu beschützen. Denn vor Nissa stand Ashaya mit ihrer ganzen Macht.

Die Seele der Wildnis schien vor lauter Kraft und Beschützerinstinkt regelrecht anzuschwellen. Ihr Blick war auf Nahiri geheftet, ihre Augen glühten grün vor Energie, und sie hob vier ihrer verkrümmten, zweigartigen Gliedmaßen, um sie mit einem wilden Knacken auf Nahiri herabfahren zu lassen.

Nahiri konnte sich gerade rechtzeitig aus dem Weg rollen. Mit einem Schwung ihres Armes hob sie die Steine um sich herum an und ließ sie auf das Elementar prasseln. Doch die Steine zerbarsten an den Zweigen wie Glas, und die Kreatur zuckte nicht einmal. Sie drehte ihren gewaltigen Kopf in Nissas Richtung.

Das Elementar erhob erneut die Arme.

„Lauf!“, rief Jace hinter ihr.

Nahiri hatte immer gedacht, dass nur Feiglinge sich zurückziehen. Doch Ashaya war unnachgiebig. Ich muss den Kern beschützen. Vor allem anderen.

Also floh sie.

Gemeinsam mit Jace sprang und spurtete sie durch den uralten Garten. Sie setzten jede Illusion und jeden Gegenangriff ein, den sie kannten. Doch es war nicht genug. Ashaya war zu riesig, zu schnell. Jace und Nahiri wurden ständig von Wurzeln zurückgestoßen oder ins Straucheln gebracht, bis sie nichts mehr tun konnten, außer sich auf die Treppe und zurück in den Bauch der Singenden Stadt zu verkriechen.

Das geisterhafte Singen drang ihnen in die Ohren. Jace wirkte sofort erneut seinen Stillezauber, und gemeinsam rannten sie durch die moosbewachsenen Gänge zurück. Gelegentlich stellten sich ihnen Mooselementare in den Weg, doch sie waren kleiner und schwächer und ließen sich leicht durch Jaces Gegenzauber oder eine gut gezielte Faustvoll Steine verscheuchen.

Nahiris Wut spornte sie bei ihrer Flucht an, doch zum ersten Mal seit langer Zeit spürte sie einen Funken echter Angst. Sie hatte die Elfe unterschätzt.

Als sie den Eingang der Stadt erreichte und die alten, marmornen Tore sah, atmete Nahiri aus und wurde schneller. Sie hatte es beinahe geschafft.

Doch dann entdeckte sie eine kleine, vertraute Gestalt, die am Eingang wartete. Und dieses Mal waren Nissa und Ashaya von Dutzenden und Dutzenden anderer Elementare umringt.

Nahiri und Jace kamen schliddernd zum Stehen.

„Wie …“, keuchte Nahiri. „Wie bewegst du dichso schnell fort?“

„Ich gehöre auf Zendikar. Es ist das Herz meiner Macht und meiner Stärke“, erwiderte Nissa. „Ich kenne alle Pfade und weiß, wie ich sie nutze. Doch ihr beide …“ Ihr Gesicht füllte sich mit Zorn, und hinter ihr begannen ihre aus der Pflanzenwelt Murasas geborene Elementare, sich zu erheben. „Ihr beide werdet das nie verstehen. Verlasst meine Heimat.“

„Nissa, warte!“, rief Jace.

„Dies ist meineHeimat, Baumbewohnerin.“ Nahiri wappnete sich, rief die Steine um sich herum zu sich und spürte, wie die Singende Stadt als Antwort zu erbeben begann. „Dies ist seit Tausenden von Jahren meine Heimat. Und ich werde dich nicht gewinnen lassen.“

Nahiri spreizte die Finger und hob die Steine in die Luft. Sie sammelte all ihre Kraft für einen Angriff.

Doch die Elementare waren schneller und stürmten wie eine wütende Horde auf Jace und Nahiri zu. Und in diesem Augenblick begriff Nahiri.

Der Kampf um Zendikars Seele hatte begonnen – und er würde unbarmherzig sein.