Will schreckte aus dem Schlaf auf. Es dauerte einen Augenblick, bis er erkannte, dass er in seinem Zimmer war und dass es sich bei den schattenhaften Gestalten, die in den Ecken lauerten, lediglich um die Überreste jenes Traums handelte, aus dem er soeben gerissen worden war. Er trug noch immer seine nun zerknitterte Uniform. Die letzte Hausaufgabe auf dem Tisch vor ihm war nach wie vor unvollendet. Draußen sah er die Nacht, wie sie sich für gewöhnlich in Arcavios darstellte: ein Streifen Dunkelheit, der vom üblichen seltsamen Leuchten auf dem Campus durchschnitten wurde. Von Rowan keine Spur. Auf ihrer Seite des Zimmers herrschte noch dasselbe Durcheinander wie schon seit einigen Wochen. Beim Aufstehen brachte ihn ein Ziepen im Nacken zum Keuchen, gerade als ein Rufen vom Flur her ertönte.

„…üdtor!“

„Wie viele hat sie –?“

„Sind alle –?“

In der vorbeieilenden Traube aus Schülern entdeckte Will jemanden aus der Magierturmmannschaft der Prismari: Arlo Wickel, der Aufbauspieler, der Quint mit seiner Erdmagie beeindruckt hatte.

„He! Was ist denn los?“

Wickel deutete den Flur hinunter. „He, Erstsemester! Immer den Leuten nach! Dekanin Uvilda wartet dort und bringt dich in deinen zugewiesenen Schutzraum!“

„Aber was ist denn los?“

„Die Oriq sind hier“, sagte er knapp, ehe er sich umdrehte und der Menge aus jüngeren Schülern nacheilte. Will stand einen Augenblick wie gebannt da. Übelkeit breitete sich in seinem Magen aus. Professorin Onyx hatte recht gehabt.

Draußen stolperte Will in eine Szene des vollkommenen Chaos. Die Menge, zu der sich mehr und mehr Schüler gesellten, die aus den Unterkünften geströmt kamen, war an einer Seite des Hofes erstarrt. Auf der anderen Seite, jenseits der entsetzten, ohnmächtigen Gesichter, erkannte Will einen Wall aus dunklen Gestalten.

Nein, keine Gestalten. Kreaturen.

Sie huschten auf dünnen, spitzen Beinen über den sauber gemähten Rasen. Insektenpanzer bedeckten weinrotes Fleisch. Leuchtende violette Stacheln zogen sich über ihre Rücken hinauf zu augenlosen Köpfen, die abgesehen von einem klaffenden Maul voller Zähne keine nennenswerten Eigenschaften aufwiesen. Entsetzliches Kreischen zerfetzte die Luft.

Sie klangen hungrig.

Zuerst dachte Will, ihm würden die Knie weich. Es war allerdings der gesamte Boden, der da erbebte. Will sah Wickel aus der Menge heraustreten. Sein Körper vibrierte vor Energie, und er rammte beide Hände in den Lehm unter sich. Aufgewühlter Mutterboden breitete sich von dort, wo er stand, halbkreisförmig aus und erhob sich zu einem Wall aus fester Erde, der die Kreaturen von den Schülern trennte. Wickel drehte sich zu den Erstsemestern um, die ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrten. „Lauft! Ich sagte: Lauft!“

Selbst als er sich beeilte, der Aufforderung nachzukommen, sah Will, wie die erste der entsetzlichen Kreaturen mühelos den Erdwall erklomm. Er musste seine Schwester finden. Wo war Rowan?


Auf der anderen Seite des Campus heulte Rowan auf und schwang ihr Schwert. Es grub sich in ein Gelenk zwischen den Panzerplatten der Kreatur. Eine Fontäne dunklen Blutes spritzte über Rowans Uniform und auf den überwucherten Garten, der die Blütenwelk-Unterkünfte umgab. Hinter ihr wich Plink vor einem der Dinger zurück und jaulte vor Furcht. Mit einer laut gerufenen Beschwörungsformel ließ Auvernine dornige Wurzeln aus dem Boden sprießen, die sich um die Beine der Kreatur schlangen und sie in die Erde hineinzerrten.

„Sie sind überall!“, rief Plink und stolperte beinahe über den begrabenen Körper der Kreatur. „Wir sind umzingelt! Verlasst das Schiff! Ergebt euch!“

Rowan ließ den Blick über das Feld schweifen, das sich vor der Blütenwelk-Fakultät erstreckte. Ihre Freundin hatte recht. Die Kreaturen rückten als schauerlich leuchtender Wall aus Chitin vor und trieben die Schüler zurück in Richtung der Unterkünfte.

„Wenn wir einfach auf die Professoren warten …“, setzte Auvernine an.

„Nein. Wenn wir warten, werden wir überrannt werden. Wir müssen an ihnen vorbeikommen. Wir müssen hier weg“, sagte Rowan.

„Aber wohin sollen wir denn gehen?“, fragte Auvernine verzweifelt.

Rowan spähte in Richtung des Biblioplexes und dachte an Will. Wie sie ihren Bruder kannte, würde er dort sein. „Da“, sagte sie und deutete auf die massive Silhouette des Gebäudes.

„Ach, jetzt willst du lernen?“, meinte Plink und stolperte aufgelöst auf ihre Freundinnen zu.

Es war nicht nur Will, der sie dorthin zog. Das Gebäude befand sich in der Mitte des Campus. Falls sich die Dekane und Professoren zum Kämpfen entschieden, dann würde es dort sein. Und ihr Bruder hatte nie aufgehört, von all den mächtigen Zaubern zu schwärmen, die in diesen alten Wälzern schlummerten. Hoffen wir, dass du recht hast, Will.


„Aufpassen, Professorin Onyx!“

Liliana wirbelte beim Ruf ihres Schülers herum, gerade als ein Oriq-Agent einen zischenden Wirbel aus Energie auf sie schleuderte. Es war ein bösartiger Zauber – etwas, was ihr die Lebenskraft aussaugen sollte –, doch mit solcherlei Magie kannte sie sich bestens aus. Zentimeter vor ihrer ausgestreckten Hand hielt sie den Zauber auf und betrachtete ihn kühl. Hinter ihr beobachtete jene Gruppe von Schülern, die noch vor wenigen Augenblicken in ihrem Vorlesungssaal gewesen war, das Geschehen entsetzt und mit aufgerissenen Mündern. Er hätte sie treffen können, dachte sie. Nun ja. Was gerecht ist, ist nur gerecht. Mit einer Geste schickte Liliana den Zauber zurück zu seinem Ursprung, doppelt so hungrig wie zuvor. Der Oriq versuchte, ihm auszuweichen, doch die gierige Magie verschlang ihn, noch bevor er Gelegenheit hatte, auch nur aufzuschreien.

Die Dekane Kianne und Imbraham schlossen sich ihr an. Sie rannten hinter einer weiteren Welle aus Schülern den Weg entlang, der zur Quandrix-Fakultät führte. „Professorin Onyx“, sagte Imbraham in seiner merkwürdig hohen Stimme. „Wir werden von einem höchst eigentümlichen Feind verfolgt. Ich schlage vor, wir gruppieren uns mit den anderen Fakultäten neu bei …“

Ein Schrei schnitt ihm das Wort ab: Ein Schüler war zurückgefallen. „Gehen Sie!“, blaffte Imbraham. „Ich passe auf diese Gruppe auf.“

Augenblicklich brachen Kianne und Liliana im Gleichschritt auf. Ein weiterer Schrei erklang. Dieses Mal konnten sie den Schüler sehen, der zusammengekrümmt am Boden lag, während ein insektenartiges Ungeheuer drohend über ihm aufragte. „Magierjäger“, zischte Kianne. Liliana sah, wie weitere der Geschöpfe aus den Schatten hervorquollen. Ihre spitzen Beine klackerten auf dem Kopfsteinpflaster.

Die Kreatur bäumte sich auf, die Segmente ihres Körpers leuchteten, und Kianne durchbohrte sie mit einer geometrischen Lanze aus schierer Kraft. Liliana griff nach dem entsetzten Schüler und schob ihn hinter sich. „Verschwinde von hier.“

Etwas anderes hatte jedoch bereits ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Inmitten der krabbelnden Dunkelheit zu allen Seiten schien sich eine menschliche Gestalt zu befinden: ein Mann in einer roten Uniform. Zumindest hielt sie ihn auf den ersten Blick für einen Menschen. Irgendetwas stimmte nicht mit seinem Gesicht: Die Wangenknochen waren derart spitz und lang gestreckt, dass Liliana an Mandibeln denken musste. Sein Blick traf den ihren, und in einer unheimlich gleichförmigen Bewegung strömten alle anderen Magierjäger nun mit einem Mal auf sie zu.

„Wer ist das?“, fragte Kianne.

„Ich weiß es nicht“, sagte Liliana. „Aber irgendwie scheint er diese Kreaturen zu steuern.“

Dekanin Kiannes Gesicht verzerrte sich vor Entsetzen. „Sie alle? Solche Magie habe ich noch nie zuvor gesehen.“

„Es gibt immer irgendeinen Zauber“, murmelte Liliana. Sie streckte die Hand aus, und schwarze Magiefäden schossen aus ihren Fingerspitzen. Ehe sie den Mann jedoch erreichen konnten, warf sich eine der Kreaturen in ihren Weg. Der Zauber bohrte sich in den Panzer des Wesens und ließ das Chitin zerbröseln und zu Staub zerfallen.

Neben ihr hob Dekanin Kianne die Hände, und Licht gleißte um sie herum auf. Binnen weniger Wimpernschläge war eine Horde kantiger, katzenartiger Fraktale entstanden. Die Konstrukte machten auf Kiannes Zeichen hin einen Satz vorwärts und prallten gegen die Welle der herannahenden Magierjäger. Der Mann im roten Mantel verschmolz mit der Menge sich windender, stacheliger Leiber. Liliana machte sich daran, ihm zu folgen, als etwas sie aufhielt.

All dieser Aufruhr. Ein Angriff auf den ganzen Campus – ohne ein offensichtliches Ziel außer Chaos und Zerstörung. Warum?

Weil, wie Liliana mit wachsendem Grauen erkannte, das gar kein Angriff war. Das war ein Ablenkungsmanöver.


Will rannte. Er rannte, so schnell er nur konnte, und versuchte, nicht an die grauenhafte Kreatur hinter sich und ihre zahllosen Beine zu denken – oder an das Brennen in seinen Lungen, wie er sich immer weiter antrieb, oder an das nasse Gras unter seinen Füßen, auf dem er so leicht ausrutschen konnte –

Augenblick mal. Ohne anzuhalten streckte Will die Hand in Richtung des Bodens aus und konzentrierte sich. Hinter ihm wurde der Abendtau zu hartem Eis. Er blickte gerade rechtzeitig über die Schulter, um zu sehen, wie eines der langen Beine des Ungeheuers zur Seite rutschte und unter ihm einknickte.

„Ja!“, rief Will, kurz bevor er gegen etwas Großes und Stacheliges lief.

Er prallte vom Panzer der zweiten Kreatur ab, die mit einer Klaue nach ihm hieb und dabei zwar seine Uniform zerriss, aber nichts weiter Wichtiges traf. Im Fallen rollte er sich zur Seite, als eine zweite Klaue sich dort in den Boden bohrte, wo kurz zuvor noch sein Kopf gewesen war. Will streckte blindlings die Arme aus, berührte die gepanzerte Körpermitte des Geschöpfs und entzog ihr derart schlagartig das letzte bisschen Wärme, dass sich in der Mitte der Schale ein Riss bildete. Die Kreatur stolperte kreischend zurück, doch dann hatte sich die andere auch schon aufgerappelt und huschte auf ihn zu.

Plötzlich erfüllte ein Brüllen die Luft und grollte über den Himmel. Weiteres Gebrüll antwortete, bis der Boden unter der Kakophonie erbebte. Die Kreatur sprang von Will herunter und schien auf ihren zahllosen Beinchen beinahe davon zu galoppieren. Sie war schnell, aber nicht schnell genug.

Eine Flammensäule schoss vom Himmel herab und fegte über den Boden. Überall um sich herum hörte Will das Kreischen der Eindringlinge und roch er den Kohlenstoff in der Luft, als ihre Panzer versengt wurden, aufbrachen und sich schwarz verfärbten. Im Nu waren sie nichts weiter als Asche, die vom Schlagen großer Schwingen davongeweht wurden.

Will schützte seinen Kopf mit hoch gerissenen Armen und rief Eisschollen um sich herum herbei, als ein weiterer Flammenstoß über den Hof fegte. Sie reichten gerade eben so aus, um ihn vor der sengenden Hitze zu bewahren, doch Will konnte nicht anders, als seine Freude hinauszuschreien. Die Drachen waren hier.


Rowan drehte sich beim Klang ihres Namens um und ließ ihre Freunde an sich vorbei zum Hauptcampus eilen. Dort stand – mit einem Schwert aus Eis in der Hand und einem albern aussehenden Riss an der Vorderseite seiner Uniform – ihr Bruder. „Will!“

Sie rannten aufeinander zu und fielen sich in die Arme, um einander fest zu drücken. Als Rowan sich aus der wechselseitigen Umklammerung löste, runzelte sie angesichts der behelfsmäßigen Waffe in seiner Hand die Stirn. „Wo ist dein Schwert?“

„In unserem Zimmer“, sagte Will zwischen keuchenden Atemzügen. „Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte.“

„Passt auf!“, rief jemand hinter ihnen. Rowan hatte kaum Zeit, den Oriq-Agenten richtig wahrzunehmen, der hinter der Hecke hervortrat. Er streckte die Hand aus und Dornen aus tödlicher roter Energie schossen auf sie zu. Rowan riss Will zu Boden.

Da war ein gurgelndes Geräusch und dann Stille. Rowan brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie die Augen geschlossen hatte. Als sie sie wieder aufschlug, sah sie den Oriq über den ganzen Boden verteilt daliegen. In der Nähe befand sich die vertraute, strenge Präsenz von Professorin Onyx, die sich mit ihren kalten, violetten Augen zu ihnen umdrehte. „Ihr beide. Warum habt ihr nicht irgendwo Zuflucht gesucht?“

„Wir wurden angegriffen“, sagten sie beinahe gleichzeitig.

„Bei den Prismari-Unterkünften“, meinte Will.

„Und denen von Blütenwelk“, fügte Rowan hinzu. „Sie haben uns umzingelt – fast so, als wollten sie versuchen, uns an einem Ort zu binden.“

„Das liegt daran, dass sie genau das wollten“, sagte Professorin Onyx. „Das hier gehört nur zu irgendeiner Ablenkungsstrategie.“

„Wovon wollen sie uns denn ablenken?“, wollte Will wissen.

„Darauf habe ich keine Antwort“, sagte sie. „Noch nicht. Doch eins weiß ich: Die Magierjäger treiben die Schüler nicht nur zusammen. Sie haben den Biblioplex abgeriegelt.“

Abgeriegelt. Rowan gefiel ganz und gar nicht, wie das klang. Eine lebende Mauer aus Stacheln, diesen leuchtenden, purpurnen Fühlern und schnappenden Zähnen. „Was sollen wir tun?“

Professorin Onyx richtete den Blick ihrer violetten Augen nun auf sie. „Wäre ich eine verantwortungsbewusste Professorin, würde ich euch beide irgendwohin in Sicherheit bringen und euch aus all dem heraushalten.“

„Aber das werden Sie nicht tun“, sagte Rowan. „Oder?“

Der Mundwinkel der Professorin zuckte – Rowan hätte es beinahe ein Lächeln genannt. „Nein. Ganz so verantwortungsbewusst bin ich dann auch nicht. Und ich brauche Hilfe.“


„Dann ist das also unser Weg hinein?“, fragte Will und legte die Hand auf die Steinscheibe. Diese schien in einen der sanften Hügel in einem verwilderten Bereich des Blütenwelk-Campus eingelassen worden zu sein.

„Ja. Es handelt sich um einen alten Wartungszugang, den ich in meinen Zeiten als Schülerin gefunden habe.“ Die Professorin legte die Hand gegen die Tür und murmelte etwas vor sich hin. Mit einem leisen Knirschen, das Will alarmierend laut vorkam, teilte sich die Steinscheibe und zog sich in die Flanke des Hügels zurück. Dahinter befand sich ein langer, dunkler Tunnel.

„Die lassen Schüler hier herunter?“, fragte er.

Rowan und Professorin Onyx hoben beide eine Augenbraue.

„Nein“, sagte Will. „Nein, ich schätze nicht.“

Rowan beschwor eine funkelnde Lichtkugel in ihrer Hand und machte ein paar vorsichtige Schritte in den Gang hinein. Die Professorin und Will folgten ihr dicht auf den Fersen.

„Wird irgendetwas, äh …“, setzte Will an, „da unten auf uns warten?“

„Das weiß ich nicht“, sagte Professorin Onyx. „Schon möglich. Seit langer Zeit hat niemand in Strixhaven diese Tunnel betreten, aber ich bin kaum die Einzige, die von ihnen weiß. Ich glaube, Extus hat seine Leute nun schon seit Monaten hier hindurchgeschleust.“

„Extus?“

„Der Mann, der für all das hier verantwortlich ist. Das Oberhaupt der Oriq.“

Will spürte, wie sich ihm die Kehle zuschnürte. „Ah. Das Einzige, worüber wir uns also Sorgen machen müssen, ist ein Haufen blutrünstiger Magier, die dunkle Zauber wirken.“

„Reiß dich mal zusammen, Will“, sagte Rowan. „Es ist ja nicht so, dass wir so etwas nicht schon mal gesehen hätten.“

„Ist dem so?“ Professorin Onyx wirkte belustigt. „Ihr beiden seid in dieser Sache wohl kaum die wahrscheinlichsten Helden. Aber ich schätze, ich sollte meinen Mund da nicht zu weit aufreißen.“

Will hatte keine Ahnung, was das nun wieder zu bedeuten hatte.


Extus schritt die gewundenen Korridore des Biblioplexes entlang und fuhr mit einer Hand über die edlen hölzernen Regale. So viel Weisheit in diesen alten Büchern … und doch schien ihnen nun kein Quäntchen davon zu helfen. Es war seltsam, noch einmal die für diesen Ort so kennzeichnende Stille zu hören – nur wurde diese Stille heute gelegentlich vom Schrei eines Schülers durchbrochen, der hier drinnen gefangen war.

„Extus!“

Beim Klang seines Namens wandte er sich um. Einer seiner Agenten näherte sich, ein schweres Buch mit ausgefransten, vergilbten Seiten in der Hand. Tavver, wenn er die Stimme richtig zuordnete. Ein junges Mitglied und ihrer Sache voll und ganz verpflichtet. Er hatte bereits mehrere Aufträge im Inneren der Schule erledigt.

„Ich habe das im Ostflügel gefunden, genau wie Sie gesagt hatten.“

„Gut gemacht.“ Extus nahm das Buch an sich und wischte eine Staubschicht vom Deckel. Goldene Lettern leuchteten im schwachen Licht auf.

„Was ist das? Wenn mir die Frage erlaubt ist“, sagte Tavver.

„Das Werk eines weiteren brillanten Geistes, das übersehen und dem Verfall überlassen wurde. Wir werden so leichtfertig weggeworfen, wenn wir ihrem Zweck nicht dienlich sind.“ In einem Anflug von Großmut streckte er die Hand aus. „Du wirst für alles, was du heute getan hast, belohnt werden.“

Gerade als der Agent seine Hand ergriff, erspähte Extus über Tavvers Schulter hinweg eine Schülerin in den Roben der Prismari. Sie blutete stark und ein Arm hing schlaff an ihrer Seite herab, doch sie funkelte sie beide mit einem Ausdruck unbändiger Wut an. Extus spürte förmlich den Hass in dem Zauber, den sie wob – eine Kugel aus vollkommener Finsternis, die sie zielsicher auf ihn zuschleuderte.

Ohne Zögern packte Extus Tavvers Arm fester und zog den jungen Mann zu sich heran und damit in den Weg des Zaubers. Der Körper des Agenten krümmte sich beim Einschlag, und ein Schrei hallte hinter seiner Maske hervor, ehe er erschlaffte und zu Boden ging. Die Schülerin hob die Arme und versuchte, weitere Energie zu sammeln, doch sie war zu ausgelaugt. Extus schleuderte einen Pfeil knisternder Energie durch die Luft, der die Schülerin geradewegs in die Brust traf. Nachdem sie zusammengesackt war, war es erneut still in der Bibliothek.

Extus sah kurz auf den nun reglosen Leib seines maskierten Agenten hinunter. Ohne einen weiteren Blick zu vergeuden, setzte er seinen Weg anschließend fort.


„Sie haben das hier als Schülerin gefunden?“, staunte Will. Seine Stimme hallte eigentümlich von den steinernen Wänden des Tunnels wider.

„Wie lange ist das her?“, fragte Rowan. Sie trug ihr einziges Licht, ein hüpfendes bisschen Funkenmagie, das eigenartige Dinge mit ihren Schatten anstellte.

„Sehr lange“, sagte Professorin Onyx. „Es waren andere Zeiten, und damals war ich ein völlig anderer Mensch.“

Sie betraten etwas, was wie eine Höhlenkammer aussah. Der graue Stein über ihnen verschwand in der Dunkelheit. Eine Kluft trennte die Kante, auf der sie standen, von einem weiteren Tunnel, den Will im Dunkeln kaum ausmachen konnte, und eine hölzerne Brücke spannte sich über den Abgrund.

„Gibt es eine andere Möglichkeit, hinüberzugelangen?“, fragte Will und beäugte das ausgefranste Seil und die alternden Planken.

„Weißt du, das habe ich nie herausgefunden.“ Professorin Onyx betrat leichtfüßig den Rand der Brücke. Rowan folgte ihr und eilte mit beängstigender Geschwindigkeit über die vermoderten Bohlen.

„Langsam“, sagte Will und ging bedächtig hinter ihr her.

„In jedem Augenblick, den wir hier verschwenden, tun die Oriq noch mehr Leuten weh“, sagte Rowan über die Schulter. Jeder Schritt vorwärts ließ Holzsplitter in den Abgrund unter ihnen rieseln.

Ein Knacken durchschnitt die Luft und prallte von den Wänden ab. Steine rutschten in die Tiefe, als Staubwolken um sie herum aufwallten. Rowan machte einen weiteren Schritt, und das Holz unter ihr brach weg.

Will machte einen Satz nach vorn, als Rowan fiel, und packte mit einer Hand ihren Unterarm. Während er in seinem Bemühen weitere Planken beiseite fegte, wuchtete und hievte er Rowan zurück auf die Brücke. Sie landeten aufeinander und legten den Rest des Weges dann kriechend zurück.

„Danke“, sagte Rowan mit zittriger Stimme.

„Du würdest das Gleiche für mich tun.“

„Kommt weiter“, sagte Professorin Onyx auf der anderen Seite. Sie schien die Nahtoderfahrung der Geschwister kaum wahrgenommen zu haben. „Wir müssen uns beeilen.“

„Was will er eigentlich?“, fragte Will. „Extus, meine ich. Weshalb ist er hier?“

„Es gibt eine ganze Reihe von Dingen, hinter denen er her sein könnte. Bücher von großem Wert, magische Artefakte: Der Biblioplex ist voll von Dingen, die ein ehrgeiziger Größenwahnsinniger gut gebrauchen könnte.“

„Wohin führen Sie uns denn nun?“

„Ich bringe euch dorthin, wo ich hingehen würde, wenn ich den größtmöglichen Schaden anrichten wollte.“

Will starrte nur weiter vor sich hin, während die Professorin ihren Weg durch den Tunnel fortsetzte.

„Wir müssen in Bewegung bleiben“, sagte Rowan und stupste ihn an, damit er weiterging.


Extus legte eine Hand auf das glatte, kühle Holz der Flügeltüren, die zur Halle der Orakel führten. Sie waren verschlossen, doch glücklicherweise war der Angriff der Oriq zu rasch erfolgt, als dass irgendwelche Schutzzauber hätten angebracht und aktiviert werden können. Mit einer kurzen Willensanstrengung sprengte er die Türen aus den Scharnieren und trat ins Innere der Halle.

Ernste, faltige Gesichter waren rund um den Raum herum in Stein gehauen worden: Orakel. Längst tot, aber nicht vergessen. Extus glaubte, in ihren Augen eine gewisse Missbilligung wahrzunehmen, als würden sie selbst aus dem Grab heraus noch tadeln, was er hier trieb. Als glaubten sie nicht, dass er hierhergehörte.

Es spielte keine Rolle. Sie waren tot. Und sobald er hier fertig war, würden sie froh darüber sein.

Sein Blick schweifte zur Decke, und selbst unter seiner Maske musste er ins Licht blinzeln. Der Strixhaven-Knoten hing in der Luft, und Ranken aus Energie peitschten und zischten um die Kugel herum. Mana aus den Zeiten der ursprünglichen Entstehung dieser Welt, das noch immer einen Mahlstrom aus reiner Macht bildete. Darunter befand sich eine Reihe aus steinernen Ringen, beinahe so alt wie der Vortex selbst – Eindämmungskreise, wie Extus wusste. Ihr Licht tauchte den gesamten Raum in ein sanftes Blau und ließ Schatten über den Boden tanzen.

Ja, dachte er. Das wird reichen.

Er öffnete das Buch in seiner Hand und blätterte die Seiten um, bis er fand, wonach er gesucht hatte.

Schritte erklangen aus einem der Gänge, als Oriq-Agenten in den Raum strömten. Jeder von ihnen trug ein Buch oder eine Schriftrolle. Extus nickte, froh darüber, dass die Maske das alberne Grinsen verdeckte, das sich quer über sein Gesicht spannte. „Gut. Ordnet sie so an, wie wir es besprochen haben. Es ist Zeit.“

Einer nach dem anderen platzierten die Agenten die Bücher und Rollen sorgfältig vor ihrem Anführer, bis die uralten Schriften in einem Halbkreis vor ihm lagen. Extus hielt nur kurz inne, um den Augenblick zu würdigen, und begann dann zu lesen.


Liliana hatte damit gerechnet, sich den Weg zum Knoten freikämpfen zu müssen – immerhin würden die Oriq ihren ultimativen Preis keinesfalls ungeschützt lassen –, doch sie hatte nicht erwartet, dass ihre Schützlinge über diesen Teil ihres „Abenteuers“ so begeistert sein würden. Sie hatte kaum jemanden töten müssen: Sobald sich irgendein maskierter Oriq blicken ließ, elektrisierte Rowan ihn mit einem Energiestoß, der ihn zuckend zu Boden schickte. Selbst Will war recht nützlich, indem er Hüllen aus Eis um gefallene Oriq entstehen ließ, sodass sie, sobald ihre Muskeln zu zucken aufgehört hatten, kaum etwas anderes tun konnten als zu zittern und zu bibbern. Bei ihrer Ankunft vor der Halle der Orakel waren die Türen jedoch bereits aufgerissen. Im Inneren erkannte Liliana eine Gruppe maskierter Gestalten, die vom flackernden Licht des Vortexes umrissen wurden. In ihrer Mitte las einer von ihnen etwas aus einem großen, schweren Buch vor.

Sie spürte, wie sich die arkanen Strömungen in der Luft verlagerten und gewissermaßen nach etwas lauschten – auf eine Weise, wie sie sie bereits zuvor schon viel zu oft erlebt hatte. Mächtige dunkle Magie war hier am Werk. Selbst die Kenrith-Zwillinge schienen etwas zu bemerken, denn sie beide wurden neben ihr sehr still.

„Wir sind zu spät“, sagte Liliana. „Er hat sich bereits an den Knoten gebunden.“

„Nein, sind wir nicht.“ Rowan durchbrach die Trance, die sie alle gebannt zu haben schien, als Erste und eilte in den Raum.

„Warte!“, rief Will und rannte ihr nach, bevor Liliana ihn aufhalten konnte. Narren – sie können sich ihm nicht stellen. Nicht, wenn er so viel Macht zur Verfügung hat!, dachte sie.

Die maskierten Magier drehten sich bereits um. Ihre Hände leuchteten vor Feuer und brodelndem Gift und anderen groben, bösartigen Zaubern. Rowan schrie mit einer Mischung aus Zorn und entsetzlichem Entzücken auf, als Blitze über ihre Haut zuckten und auf eine Gruppe Oriq übersprangen. Entfesselte, unbändige Macht. Rauch stieg aus den Kapuzen der Oriq aus, als sie zusammenbrachen. Dieses Mädchen muss man bereits jetzt ernst nehmen, dachte Liliana. Noch ein paar Jahre, und es wird wahrlich furchteinflößend sein.

Doch Rowan war noch immer zu unerfahren, um den Oriq-Agenten zu spüren, der hinter ihr nach ihr griff – mit Fingern, die vor tödlicher Macht knisterten. Liliana konzentrierte sich, und die Zeit schien einen Augenblick stillzustehen, als sie durch die arkanen Strömungen, die in der Luft umherwirbelten, nach dem kleinen Licht der Seele des Mannes tastete. Mit einem wilden Hieb aus Willenskraft stieß sie das Licht aus seinem Körper, der daraufhin schlagartig zu Boden fiel.

Und dann brach der Zauber über sie herein. Was?, dachte Liliana und drehte ruckartig den Kopf in Richtung des Ursprungs des Angriffs. Extus, der Mann, der das schwere Buch hielt, hatte eine Hand ausgestreckt. Sie hatte nicht das geringste Aufbauen offensiver Magie wahrgenommen – weder die Wärme von Feuer noch den süßlich-kränklichen Eindruck von Todesmagie. Womit hatte er sie getroffen?

Plötzlich schien sich der Raum unter ihren Füßen zu beugen. Alles wirbelte beklemmend dicht um sie herum, und ein Schwindelgefühl überkam sie. Eine Empfindung nicht unähnlich dem Weltenwandern, wenn auch krank und verzerrt. Das Letzte, was sie sah, war der Knerith-Junge, der nicht sie, sondern seine Schwester ansah. Verängstigt – doch ob er nun Angst um sie oder wegen ihr hatte, vermochte Liliana nicht zu sagen. Dann wurde es schwarz um sie herum.

Als sie die Augen öffnete, war das Licht des Knotens erloschen.

Liliana blinzelte, während ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten. Sie setzte sich auf. Ihre Hand streifte über Erde und Laub. Sie sah sich um, und ihr Verstand klarte endlich genug auf, um die Umrisse des Waldes um sich herum zu erkennen. Forcierte Translokationsmagie. Von so etwas war sie noch nie getroffen worden.

Sie rappelte sich auf. Vor sich konnte sie gerade so eine jener Fackeln ausmachen, die den Weg nach Strixhaven wiesen. Der Campus selbst lag irgendwo in weiter Ferne und außer Sicht.

Versucht, nicht zu sterben, ihr zwei. Ich komme. Aber es wird ein langer Spaziergang werden.


Rowan starrte auf die Stelle, an der sich gerade noch Professorin Onyx befunden hatte, und wandte sich dann an Extus. „Was hast du mit ihr gemacht?“

Die maskierte Gestalt antwortete nicht. Mit einem verdrossenen Knurren streckte Rowan eine Hand nach ihr aus. Ein Donnern zerteilte die Luft, als ein Blitzschlag in Richtung des Mannes fuhr, doch der Anführer der Oriq machte nur eine flüchtige Handbewegung. Der Blitz wurde zum Stillstand gebracht und fiel dann aus der Luft, als bestünde er aus Glas. Das Oriq-Oberhaupt gestikulierte beiläufig, als verscheuchte es eine Fliege, und Rowan sah, wie sich die Luft krümmte und verzerrte, als eine Woge aus Macht auf sie zuraste. Sie schloss die Augen und hob die Hände – doch anstatt von dem Zauber entzweigerissen zu werden, regneten lediglich Eissplitter auf sie herab, als die Mauer, die Will hastig errichtet hatte, zerbarst.

„Rowan, hör mir zu“, rief Will und griff nach ihren Schultern. „Wir müssen unsere Magie vereinen, wie wir es früher immer getan haben.“

„Du hast es selbst gesagt: Ich kann meine Kräfte nicht mehr beherrschen“, spie Rowan aus. „Etwas ist jetzt anders. Unsere Magie verändert sich.“

„Ja“, sagte Will. „Du bist stärker geworden. Aber ich habe mehr Kontrolle. Gemeinsam können wir es schaffen. Es gibt keine andere Möglichkeit!“

Doch das war nicht wahr. Rowan blickte zu Extus und dem Sturm aus roher Magie zurück, die hinter ihm aufwallte und leuchtete. Der Knoten. So hatte Professorin Onyx ihn genannt. Sie spürte die Macht, die von ihm ausging. Mehr Macht, als ein einzelner Magier je zu nutzen imstande sein würde. Sie konnte sie sich nehmen, sie aussaugen, genau wie sie die Macht aus dem Wasserelementar dieses Prismari-Schülers gesaugt hatte. „Wir können das tun, was er tut: Wir können den Knoten nutzen. Den gleichen schmutzigen Kniff anwenden!“

„Das ist zu gefährlich“, sagte Will. „Das ist zu viel Macht. Du wirst dich nur umbringen! Du wirst ganz Strixhaven verni…“

Eine weitere Woge aus Kraft brandete von dort, wo Extus stand, auf sie zu und schnitt ihm das Wort ab. Will rief einen neuen Schild aus Eis herbei, doch dieses Mal war der Zauber stark genug, ihn zu durchdringen und sie beide durch den Raum zu schleudern.


Rowan rappelte sich in eine sitzende Position auf. Ihr schwirrte der Kopf. Unweit von sich sah sie, wie Will das Gleiche tat. Sie bemerkte, dass sich irgendetwas zu ihren Füßen sammelte, und ihre Stiefel durchnässte. Erschreckt bemerkte sie, dass es Blut war.

Allerdings nicht ihr Blut und auch nicht Wills. Rinnsale aus der Flüssigkeit schienen sich über den ganzen Raum auszubreiten. Rowan verfolgte ihren Weg, und ihr Blick schweifte in Richtung des Knotens, der über Extus hing. An die Stelle des vorherigen blauen Leuchtens war nun ein tiefes Rot getreten.

Ein markerschütterndes Aufheulen ließ den Raum erbeben. Risse zuckten über die Wände und wirbelten jahrhundertealten Staub aus dem Gebälk auf. Ein weiterer Riss durchzog den Raum, und ein Stück der Decke krachte auf sie herunter.

Rowan warf sich auf Will, und sie beide purzelten aus dem Weg, gerade als der Stein am Boden aufprallte. Ein weiterer Felsen fiel herab und zermalmte die reglose Leiche eines Oriq-Agenten in der Nähe. Rowan verzog das Gesicht.

Mehr Blut strömte aus den konzentrischen Kreisen auf dem Boden vor Extus und brodelte, als käme es aus einem Springbrunnen. Das, was als Tröpfeln angefangen hatte, war nun zu einer Sintflut geworden. Der süßliche Eisengeruch stieg ihr in die Nase.

Unter dem Knoten breitete Extus die Arme weit aus. „Erhebe dich, o Großer! Ich rufe dich, Avatar des Blutes! Entfessle deinen Zorn über diese ungerechte Welt!“

Aus der sprudelnden Blutfontäne in diesem Steinkreis schälten sich zwei Spitzen, die sich in die Gestalt von Hörnern streckten und dehnten. Irgendetwas zog sich in die Freiheit.

Rowan rutschte nach hinten, bis sie eine Wand erreichte. Keine Hörner, sondern ein Helm aus uralter Bronze. Das, was sich da in Blut und Eingeweide getaucht erhob, war gewaltig und nur entfernt menschenähnlich. Mit jedem seiner vier muskelbepackten Arme umklammerte es eine grausame Waffe mit viel zu vielen Schneiden und Stacheln, als dass Rowan sie in ihrer Gänze hätte erfassen können. Dies war eine Kreatur des Krieges. So viel stand fest. Ein Wesen, dessen einziger Daseinszweck darin bestand, alles, was seit Jahrhunderten Bestand hatte, zunichtezumachen.

Das also war Extus’ Plan gewesen. Das also war es, was sie aufzuhalten versucht hatten. Und nun bedeutete ihr Versagen ihrer aller Tod.