Episode 4: Hereingeplatzt
Lanzen aus Licht zerschmettern sämtliche Fenster des Voldaren-Anwesens. Die an die Einladungen gebundenen Schutzzauber fallen in sich zusammen und verwehen wie Asche im Wind. Die Luft in Stenzen ist zum ersten Mal seit gefühlten Monaten frisch und klar – so klar wie die Ziele der hier voller Hoffnung Versammelten.
Heute Nacht reißen sie die Tore dieses grässlichen Schlosses nieder. Heute Nacht kämpfen sie mit Zähnen, Klauen und Schwertern, um den Tag zurückzugewinnen.
Arlinn kann den Befehl gar nicht schnell genug geben. Noch in dem Augenblick, als sie den Ausbruch von engelhaftem Licht sieht, ruft sie den anderen zu: „Jetzt!“
Doch sie sind bereits in Bewegung, auf sich aufbäumenden Streitrössern, durch das Licht vergoldet wie Ikonen, die Schwerter erhoben. Adeline steht an der Spitze der Meute, Chandra sitzt hinter ihr. Teferi beschleunigt die Schritte der Fußtruppen um ihn herum, so sehr er nur kann. Die Wachen an den Toren können der versammelten Menge nicht standhalten. Arlinn sieht nicht, wer sie ausschaltet, nur die Speere, die ihnen die Brust durchbohren, doch sie schmeckt das Blut im Wind.
Ihre Sinne schärfen sich. Sie kann durch die Tore sehen: von dem schmalen Steg, der sich dünn wie ein Faden über den Abgrund spannt, bis zum grotesken Wandteppich des Anwesens. All das wird eingerissen werden. Ein befriedigender Gedanke. Es ist, wie ihre Mutter stets gesagt hat: Ganz gleich, wie lecker der Kuchen aussieht – wenn man ihn mit heißem Fisch füllt, schmeckt er trotzdem widerlich und faulig. Und Vampire hinterlassen einen fauligen Geschmack an allem, was sie berühren.
Kayas Hand auf ihrer Schulter holt sie in die Gegenwart zurück – in die Wirklichkeit dieses Augenblicks, heraus aus ihren abschweifenden Gedankengängen. „Wir müssen los“, sagt sie. „Sonst bleibt nicht viel für uns übrig.“
Sie hat recht. Arlinn hat gelernt, dass Kaya mit einer Menge Dinge recht hat. Sie hofft, sie können einander besser kennenlernen, wenn all das hier vorbei ist: Von allen anderen Planeswalkern begreift Kaya das zerbrechliche Gleichgewicht aus Leben und Tod, das Innistrad prägt, am besten. Und Innistrad zu verstehen, heißt, Arlinn zu verstehen.
„Versuch, Schritt zu halten“, sagt sie lächelnd.
Kaya verdreht die Augen – doch sie gibt nicht nach.
Die beiden schließen sich der Menge an: Katharer zu Fuß und zu Pferde, Priester mit Reihern und Priester mit avacynischen Kragen, und Bauern, die ihre Familien verloren haben.
Vorwärts über die Brücke, vorwärts zu diesem Pfuhl aus Verderbtheit, in einem tosenden Ansturm des Lebens und des Todes.
Vorwärts die Lanzen, vorwärts die Hammer und Schilde, die Fackeln und Mistgabeln, die heiligen Bücher und gesegneten Klingen.
Und schon stoßen die Fledermäuse hernieder. Anfangs noch weit entfernt und leicht für herabfallende Ascheflocken zu halten, doch der Lärm macht diese Hoffnung rasch zunichte. Kreischen sticht Arlinn in den empfindlichen Ohren. Sie hält sich das eine zu und drückt sich das andere gegen die Schulter, um die Kakophonie abzudämpfen. Es nutzt nichts.
Was jedoch etwas nutzt, sind die magischen Geschosse, die man von hinter ihr in die Luft schleudert. Auch Pfeile finden bald ihr Ziel. Als sich die Fledermäuse hungrig nach Blut herabstürzen, erwarten sie die Hexen und Bogenschützen bereits sehnsüchtig. Fell zischt, das Kreischen wird lauter … und verstummt dann. Arlinns Ohren klingeln noch immer, als die Fledermäuse abstürzen. Arlinn hört nicht, wie die Knochen der Fledermäuse unter den Stiefeln ihrer behelfsmäßigen Armee zermalmt werden – doch sie spürt es.
Sie spürt auch die Veränderung unter ihren Sohlen, als sie von einfachem Stein auf sorgsam gepflegten Marmor treten. Voraus, beim zweiten Paar Tore, sind die Wachen bereits überwältigt worden und treiben mit dem Gesicht nach unten in Blutlachen. Vielleicht hat Kaya recht. Wenn sie sich nicht beeilen, wird bald kaum etwas übrig.
Doch selbst eine Streitmacht dieser Größe hat Schwierigkeiten mit Toren.
Kaya und Arlinn bahnen sich ihren Weg durch die Menge. Das ist recht einfach – hauptsächlich dank ihrer einstigen Anführerin und ihrer Kameradin. Adeline, Teferi und Chandra bilden die Vorhut, die vor den Toren steht.
Teferi hebt den Kopf und schüttelt ihn dann seufzend. „Scheußlicher Geschmack.“
„Deshalb sollten wir das ganze Ding einfach abfackeln“, sagt Chandra.
„Du meinst das Tor, oder?“, fragt Adeline.
Chandra blickt mit einem gequälten Lächeln zu ihr zurück. „Genau
Flammen winden sich in Spiralen um ihre Arme. Energisch stapft sie vor und streckt die Hände aus.
Arlinn ist versucht, sie aufzuhalten. Immerhin ist Feuer unberechenbar, und wo es Vampiren zweifellos gefährlich werden kann, so doch auch ihrer Gruppe.
Aber möge Avacyn sie behüten, sie kann darüber einfach nicht zornig sein. Der Gedanke, Olivias selbstgefälliges Gesicht brennen zu sehen, hat etwas Befriedigendes.
Teferi stößt seinen Stab gegen den Boden. Sosehr ihn der Anblick amüsiert, so haben sie doch keine Zeit zu vergeuden. Das Feuer lodert heißer, heller und schneller – und bald darauf ist das Tor vor ihnen nur noch Asche.
Hier beginnt der wahre Ansturm.
Das Voldaren-Anwesen liegt vollkommen offen vor ihnen. Arlinn ist selbst noch nie hier gewesen, doch sie hat die Geschichten gehört. Wenn man einmal falsch abbiegt, verschwindet man auf Nimmerwiedersehen. Doch das gilt nur, wenn man zufällig allein hier ankommt.
Arlinn ist stets mit einem Rudel gereist. Ein leiser Stich der Traurigkeit folgt dem Gedanken. Flitzer, Findling, Geduld und Rotzahn. Wenn sie es versucht, kann sie sich vorstellen, wo sie gerade sein mögen – irgendwo mit federnder Erde unter den Pfoten. Irgendwo, wo es nach Kiefern riecht.
Sie fühlt sich allein.
Sie weiß, dass sie es nicht ist.
Das Licht voraus ist Beweis dafür.
Berittene Katharer lösen sich aus der Menge und machen sich, die Schwerter und Lanzen zum Üben von Gerechtigkeit bereit, in die Höfe und Gärten auf. Chandra und Adeline begleiten sie. Adeline steigt auf ihr Ross und hilft Chandra, hinter ihr aufzusitzen.
Reihen mit goldenen Waffen bewehrter Wachen stellen sich ihrem Ansturm entgegen. Ihre Rüstung dient mehr der Zierde als einem schützenden Zweck. Pfeile und Bolzen prasseln auf die erste Verteidigungslinie nieder: Bauern mit behelfsmäßigen Schilden und alte Soldaten neben ihnen. Die Erwiderung folgt auf dem Fuße. Arlinn nimmt einen Bogen auf und lässt selbst einige Pfeile von der Sehne schnellen. In all dem Aufruhr ist es schwer zu sehen, wo ihre Pfeile landen, doch irgendjemand trifft den Gegner.
„Ich wusste gar nicht, dass du eine so gute Schützin bist“, sagt Kaya.
Arlinn wirft ihr einen Blick zu. Kayas Augen schimmern leicht silbern. Da ist ein seltsamer Geschmack auf Arlinns Zunge, und ein hohes Pfeifen, das sie nicht zu deuten weiß.
„Ich kann nicht immer meine Zähne zur Jagd einsetzen“, sagt Arlinn. „Ist alles in Ordnung?“
Ein Wurfspeer kommt auf Kaya zugeflogen, gleitet geradewegs durch sie hindurch und scheppert dann nutzlos gegen eine geköpfte Statue. „Hier gibt es Geister, Arlinn. Und sie sind äußerst zornig.“
Arlinn kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Gut. Meinst du, du kannst sie überreden, uns zu helfen?“
„Ich versuche, sie freizulassen“, sagt Kaya. Sie erwidert das Lächeln – doch etwas anderes zieht ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie sieht in Richtung des Lichts. „Warte. Ich glaube, ich bin nicht allein. Irgendjemand ruft nach mir.“
Arlinn wirft einen Blick über die Schulter. Das Licht muss aus dem Ballsaal stammen – aus den offenen Gängen nicht allzu weit entfernt. Und diese Wachen müssen ja von irgendwoher kommen.
Was genau geht da drinnen vor sich?
„Wer?“
„Ich glaube
Wärme breitet sich in Arlinns Brust aus, so kräftigend wie ihr Lieblingsbier. „Umso besser.“
Kaya nickt. „Geh du weiter vor. Ich kümmere mich um unsere Rückendeckung. Es ist Zeit, dass die Voldaren ihre Schuld begleichen.“
Und ebenso wie die Geister muss Arlinn sich das nicht zweimal sagen lassen. Sie vertraut Kaya. Sie vertraut Teferi. Sie vertraut Chandra und Adeline. Und – möge Avacyn ihr gnädig sein – sie vertraut Sorin. Wenn die Zeit gekommen ist, Innistrad zu retten, wird er das Richtige tun. Dessen ist sie sich sicher.
Es ist nur so, dass sie gern selbst dort wäre – nur für alle Fälle.
Die Wachen wirken bereits abgerissen. Gegen sie zu kämpfen, ist mühselig – das sind Kämpfe gegen Vampire immer –, aber leichter, als es sein sollte. Glänzende Glassplitter ragen aus ihrer bleichen Haut und sie sind derart aus dem Gleichgewicht, dass Arlinn kaum einen Treffer einsteckt, als sie sich ihren Weg durch sie bahnt. Blut macht die Marmorböden des Voldaren-Anwesens glitschig – und diesmal gehört es den Blutsaugern selbst.
Es sind nicht nur die Vampire, die fallen.
Auch die Statuen sind umgestürzt – polierter Stein, von Rissen durchzogen.
Die Brunnen mit Blut sind in Stücke geschlagen und Priester arbeiten gemeinsam daran, die Befleckten zu läutern.
Die Wandbehänge, die Kronleuchter, die edlen Teppiche und die extravaganten Möbelstücke – allesamt sind sie ruiniert. Ein sengender Zorn lodert im Herzen Innistrads. Die Rufe, die den Gang hinunterhallen, sind nicht einfach Kampfgebrüll – sie sind viel mehr. Ein Geheul in Todesqual, das Bejahen des Lebens, das kathartische Wehklagen jener, die viel zu lange in Angst gelebt haben.
Vampire haben diesen Ort auf dem Rücken der Sterblichen errichtet.
Und Sterbliche werden ihn auseinanderreißen.
Als sie schließlich in den Ballsaal eindringen, spürt auch Arlinn den gerechten Zorn in sich aufwallen. Das Tier in ihr kämpft gegen seine Leine an. Tovolar würde ihr raten, sie auf diese Blutsauger zu hetzen.
Sie will ihm nicht zustimmen.
Noch nicht.
Doch im Ballsaal angekommen verliert sie um ein Haar die Beherrschung.
Sigardas blutige Schwingen zu sehen, ihre Wildheit, mit der ihre Sichel vampirische Köpfe erntet – Arlinn weiß nicht, was sie davon halten soll. Der Anblick ist so schaurig wie belebend. Ein kupferner Geschmack klebt an Arlinns Gaumen. Die Kirche kann so blutrünstig sein wie jedes Rudel Werwölfe.
Und da sind auch die anderen: mehr Wachen, einige mutig genug, Sigarda direkt anzugreifen, und die Festbesucher, die beim Anblick der Eindringlinge zu Bestien werden. Als sie den Raum nach dem Schlüssel absucht – und Sorin –, ist es beinahe zu viel, was es zu verarbeiten gilt: zerrissene Kleider, Fledermäuse, die zusammen mit Blütenblättern aus Blut durch die Luft wirbeln, das zersplitterte Buntglasfenster, zerschlagene Brunnen und entzweigebrochene Büfetttische.
Und es sieht nicht so aus, als würde es in absehbarer Zeit leichter werden.
Doch irgendwie muss sie zu ihnen durchkommen.
Weiter voran, weggeduckt unter einer geschwungenen Klinge, dann mit den Klauen Spitze und Seide zerfetzt, um ihren Angreifer anzugehen, einen aufgekratzten Duellanten der Markovs. Es ist nicht ihr erster Kampf gegen seinesgleichen. Elegantes Schwertspiel kann einen weit bringen, doch Arlinn braucht kein Schwert zum Kämpfen.
Das Blut, das aus seiner Seite strömt, hält ihn nicht auf. Noch nicht. Er muss sich vollgefressen haben, bevor all dies begonnen hat: Er riecht nach vielen Leben, die miteinander verwoben sind, und seine Lippen sind blutverschmiert. „Niemand hat diese Modesünden eingeladen.“
Sein nächster Schlag ist schnell. Hätte er irgendjemand anderen angegriffen, wäre er vermutlich zu schnell gewesen, um noch darauf zu antworten. Doch Arlinn ist nicht allein, und die Wogen der Magie, die den Hieb verlangsamen, sind der Beweis dafür. Sie hat genug Zeit, ihm das Knie in den Magen zu rammen. Der Vampir gurgelt, als die Luft aus ihm herausgepresst wird, und sein Schwert fällt klirrend zu Boden.
Sie könnte ihn töten. Ihm die Kehle herausreißen. Zweifellos verdient er es, nach all dem, was er vermutlich getan hat. Eine Existenz als Vampir bedingt das Leid anderer.
Doch das würde Tovolar tun.
Arlinn hebt den Duellanten über den Kopf und schleudert ihn gegen eine Säule.
Wenn er auch nur einen Funken Verstand hat, wird er sich nicht wieder mit ihr anlegen.
Sie hat keine Zeit zu sehen, ob er es tut. Wieder auf ins Gewühl, wo sie ihr Bestes versucht, die Erinnerungen an das Erntezeitfest zu verdrängen. Dies hier wird nicht so enden. Es darf nicht so enden.
Die beste Möglichkeit, all dem ein Ende zu setzen, ist es, den Schlüssel zu finden. Doch wo ist er? Sie nimmt Witterung auf und hofft, seinen Geruch wahrzunehmen, doch da ist zu viel Magie. Vermutlich Sigardas – sie strömt in Wellen von ihr aus, während sie sich des Löwenanteils der Wachen erwehrt.
Also müssen Arlinns Augen diese Aufgabe übernehmen.
In dem Moment, in dem sie Olivia erspäht, trifft die Kavallerie ein. Katharer brechen auf blutbefleckten Kriegsrössern durch die Fenster. Magiestöße werden auf die Ahnin der Vampire abgefeuert, als einige der Priester den Rittern folgen.
Und als die Priester sehen, wer sich da mit ihnen im Raum befindet, brechen sie in Jubel aus.
Olivia jubelt nicht. „Ihr
„Der Schlüssel! Her mit ihm!“, antwortet Arlinn. Einhundert Stimmen fallen ein:Her mit ihm, her mit ihm, her mit ihm!
So viele, dass die Wände zu beben beginnen.
Her mit ihm, her mit ihm, her mit ihm, her mit
Moment. Das sind nicht nur die Stimmen der Armee. Und das Summen in der Luft – etwas geht da vor sich. Überall um sie herum verdichtet sich die Luft selbst zu etwas anderem. Etwas Altem.
Geister. Arlinn kann nun ihre Umrisse sehen: Diener und Ritter, Adlige und Bauern. Es müssen Hunderte sein, die sich alle gleichzeitig materialisieren – geisterhafte Flammen, die vor Zorn gleißen.
Ihr habt uns getötet.
Die Stimmen der Toten tragen weit.
Ebenso wie ihre Waffen, wie Arlinn erfreut feststellt. Wie eine Woge aus spektraler Macht prallen die Geister auf ihre einstigen Unterdrücker. Und aus der Menge sticht ein bekannter Kopfschmuck heraus: Katilda. Man muss Arlinn nicht bedeuten, ihr zu folgen: Der Pfad vor ihr leuchtet in einem fahlen Grün, wie Moos in Vollmondnächten.
Arlinn stürmt die Stufen hinauf.
Olivia schwingt sich in die Luft – oder versucht es zumindest. Sie kommt nicht sehr weit, bevor sich eine vertraute Silhouette hinter ihr bildet. Kaya versenkt einen spektralen Dolch in Olivias Schleppe. Gewöhnlicher Stoff würde zerreißen. Und auch dieser magische Stoff tut das – und wie Blut aus einer Wunde brechen die darin gefangenen Geister daraus hervor.
Olivias Schrei ist entsetzlich. Sie schlägt um sich und bringt Kaya ins Taumeln. Wenn sie auf den Fliesen aufschlägt, wird da Blut sein.
Arlinn kann kein Risiko eingehen. Sie macht einen Satz in die Luft, fängt Kaya im Fallen auf und landet nur einen Augenblick später. Doch das ist lange genug, damit Olivia fliehen kann. Arlinn blickt gerade rechtzeitig auf, um zu sehen, wie ihre zerfetzte Schleppe in einem Gang verschwindet.
„Überlass uns das Kämpfen hier“, sagt Kaya. „Geh.“
Arlinn erlaubt sich einen flüchtigen Blick über die Schulter – auf die Engel, die Sterblichen, die Unsterblichen, die Geister. Irgendwo in dem lärmenden Gemenge befindet sich Sorin. Von hier aus kann sie ihn nicht sehen. Sie hat keine Zeit, nach ihm zu suchen.
Sie nickt. „Pass auf sie auf.“
Das ist eine große Bitte, und das weiß sie. Hier werden heute Menschen sterben. Sie wünschte, sie müssten es nicht.
Doch alles, was Arlinn tun kann, ist, dafür zu sorgen, dass ihr Opfer nicht umsonst sein wird.
„Es hätte nicht so kommen müssen.“
Die langsam gesprochenen, sorgsam gewählten Worte hallen durch die Kammer. Sie setzen sich überlegen gegen das Blubbern und Brodeln von Blut durch. Vielleicht hat Sorin deshalb bereits so viel Zeit damit verbracht, dieser Stimme zu lauschen. Einst hat sie ihm Geschichten erzählt.
„Du hast recht“, ruft er zurück. „Großvater, du weißt, dass das töricht ist. Sie benutzt dich nur.“
Seine eigene Stimme klingt hier seltsam. Auf der Plakette draußen steht „Sanguitorium“ – ein alberner Name, aber ein treffender. Hier müssen die Voldaren ihre Vorräte für schlechte Zeiten aufbewahren.
Nicht, dass es jemals schlechte Zeiten für die Voldaren gegeben hätte.
Als Sigarda sich in die Luft geschwungen hat, ist Edgar geflohen. Er kennt den Zorn eines Engels besser als jeder andere. Sorin ist ihm gefolgt. Zu diesem Zeitpunkt sind Arlinn und ihre Gruppe bereits durch die Türen gebrochen gewesen. Sie würden sich um den Schlüssel kümmern.
Doch niemand anders kann sich Edgar Markov stellen.
Und da sind sie nun, inmitten der verschlungenen Bottiche des Sanguitoriums. Irgendwo zwischen diesen roten Säulen wartet sein Großvater auf ihn. Lauernd.
„So siehst du die Dinge also?“
Sorin lässt die Klinge in seiner Hand kreisen. „So spitzfindig? Das ist unter deiner Würde, Großvater.“
Er hört den Schlag kommen, kurz bevor er ihn erreicht. Die leisen Geräusche, die Edgars Rüstung macht, als dieser sein Gewicht verlagert, verraten ihn. Sorin weicht nach rechts aus. Edgar schwingt ein Regal voller Flaschen wie einen Kriegshammer. Sie zersplittern, als sie auf dem Boden aufschlagen. In Edgars Blick liegt nichts als Verachtung, als er Sorins trifft.
Ist es das, wozu die Linie der Markovs geworden ist? Ein verwirrter alter Mann, der mit Möbeln nach seinem Enkel schlägt?
„Nimm wenigstens eine anständige Waffe“, blafft Sorin. Der Hieb, den er gegen Edgar ausführt, ist wild und unbeholfen.
Und lässt sich leicht kontern. Edgar fängt Sorins Handgelenk ab, und seine Finger sind wie ein Schraubstock. Schmerz schießt Sorins Arm hinauf, als die dünnen Knochen in seinem Unterarm brechen. „Was weißt du schon von Anstand, Sorin? Es ist ja nicht so, dass du dich jemals darum bemüht hättest, Teil dieser Familie zu werden.“
Anstatt eine Antwort abzuwarten, schleudert Edgar Sorin davon. Sorin kracht gegen einen der Bottiche, und das Holz hinter ihm zersplittert. Blut rinnt ihm über die ohnehin schon klebrige Haut.
„Hast du irgendeine Vorstellung, was ich alles für dich geopfert habe?“, fragt Edgar. Er nähert sich und hebt einen Finger, als schelte er ein Kind. „Wie viel wir alle für dich geopfert haben?“
Sorin führt sich eine wie eine Trinkschale gewölbte Hand an die Lippen. Wenn er schon in Blut getränkt ist, kann er sich das wenigstens zunutze machen. Besser, als den Wahnvorstellungen seines Großvaters zu lauschen. Olivias Herrschaft über Edgar muss tiefer gehen, als Sorin gedacht hat, wenn sein Großvater solcherlei Dinge sagt. Sie sind vielleicht nicht immer miteinander ausgekommen, doch Edgar ist nie ein Narr gewesen.
Und dennoch …
Dies können nicht allein Olivias Worte sein.
„Als hätte ich nie Opfer um deinetwillen gebracht“, antwortet Sorin. Das Schwert steht jetzt außer Frage. Als er sich aufrappelt, greift er nach dem Erstbesten, was er finden kann: einem Stück Rohr. Es erfordert nahezu keine Anstrengung, es aus seiner Halterung zu reißen – jetzt, da solch mächtiges Blut durch seine Adern fließt. Und besser noch: Mehr Blut spritzt auf ihn.
Solche Macht muss er sich zum Vorteil machen. Mit ungeahnter Geschwindigkeit greift Sorin an. Edgars Rüstung ächzt und gibt unter der Wucht des Schlags nach. Seine Rippen knacken.
Und dennoch weicht er nicht zurück. Das gequälte Keuchen, das ihm entfährt, klingt beinahe
„Nur zu, Junge, erzähle mir von deinen Opfern“, sagt er. „Was hast du für Haus Markov gegeben? Für Innistrad?“
„Ich habe Avacyn erschaffen –“
Edgars Hand erstickt jede Erwiderung. Hinter diesen Augen brennen alchimistische Feuer und in seiner höhnisch verzogenen Lippe zeigt sich Abscheu.
„Deine kleine Spielzeugsoldatin? Ja, dessen bin ich mir bewusst. In den letzten tausend Jahren hast du von wenig anderem gesprochen. Und auch diese Idee hast du aus meiner Forschung abgeleitet. Ich frage mich, ob du jemals einen eigenen Gedanken hattest. Und zudem frage ich mich, ob sich eine deiner Ideen jemals für dich ausgezahlt hat.“
Als ob er das wüsste. Als ob er je das Ausmaß von Sorins Qualen begreifen könnte.
Edgar hebt ihn hoch – eine Hand reicht dazu aus. Das ist ein Fehler. Sorin schlägt mit dem Eisenrohr gegen Edgars Kopf. Rot sickert es aus dem nun gesprungenen Schädel seines Großvaters. Der alte Mann lässt seine Beute fallen und zuckt vor Schmerzen zurück.
Irgendetwas wallt in Sorin auf.
Es gibt andere Welten. Es gibt andere Pläne.
Wieder und wieder diese Worte, ein Chor, der in seinem Kopf widerhallt, eine Anrufung an einen dunklen Gott. Und ja, was sie bringt, ist in der Tat dunkel. Wie das Kreischen einer entfesselten Bestie ist sein Schrei, als er wieder und wieder ausholt. Sein Großvater weicht weiter und weiter zurück. Eisen zerschmettert Glas. Wasserfälle aus Blut ergießen sich auf den Boden – Blut, das einst in Adern floss, Blut, das sich einst nach mehr sehnte, Blut, das nun sterben will.
„Ich dachte, du verstehst“, grollt Sorin. „Ich dachte, du siehst, Großvater, dass unser Dasein mehr als opulente Feiern und exzessive Verschwendungssucht umfasst. Ich dachte, du siehst das!“
Wieder und wieder schlägt er zu. Und wieder. Das Eisen ist bereits ganz verbogen. Er geht tief in die Hocke – da ist ein weiteres Rohr, ein viel größeres, das ihm bessere Dienste leisten wird. In dem Augenblick, in dem er danach greift, macht Edgar einen Satz vorwärts. Sein Großvater greift nach seinem Haar und seinen Handgelenken wie ein Bauer, der ein verirrtes Lamm aufhebt.
„Du bist ein Kind. Du warst schon immer ein Kind“, intoniert er. „Es ist wahrlich eine Schande. Vor Jahrhunderten machte ich dir ein Geschenk. Und nun muss ich den Rest meiner Tage in dem Wissen verbringen, dass du es vergeudet hast.“
„Ich habe nie darum gebeten –“, setzt Sorin an.
„Mein lieber Junge, das macht es ja zu einem Geschenk.“
Edgar schleudert ihn mit dem Gesicht voran in einen der Bottiche. Blut dringt in seine Nasenlöcher – Blut und Holzsplitter.
Erinnerungen löschen die Wirklichkeit aus. Er ist ein junger Mann, den man in die Versammlungshalle seiner Familie gerufen hat. Sein Großvater sitzt am Kopf der Tafel. An der Decke ist ein Engel gefesselt, dessen Blut in ein Weinglas tropft.
Alle sind da. Seine Tanten und Onkel. Seine Eltern. Sie alle legen die Hände auf ihn und sagen, dies wäre nur zu seinem Besten. Zum Besten der Familie. Wenn sie das Dunkel überstehen wollen, müssen sie ein Teil davon werden. Die Hungersnot hat alle Dinge verzehrt, die Menschen essen – also können sie keine Menschen mehr sein. Das ist vollkommen vernünftig,
Ihm ist schwindelig.
Sein Kopf prallt erneut gegen das Holz, ein roter Spritzer auf den Erinnerungen.
„Innistrad gehört uns“, sagt sein Großvater. Er klingt irgendwie älter, müder, und die Worte passen nicht zu den Bewegungen seiner Lippen. „Es ist nur recht und billig, dass wir darüber herrschen.“
Die Welt um ihn herum macht einen Satz. Etwas schneidet ihm in die Kehle. Er spürt, wie ihm Blut das Schlüsselbein hinunterrinnt. Das Herz hämmert ihm gegen die Rippen.
„Zu lange schon hast du dich durch deine Bitterkeit, deinen Verfolgungswahn leiten lassen. Sie haben dein Potenzial aufgezehrt. Alles, was nun noch übrig ist, ist diese traurige, zerschundene Hülle. Ein kleiner Junge, der um seinen Großvater weint.“
Die Erinnerung verschwimmt noch immer mit der Gegenwart. Eine Hand an der Rückseite seines Kopfes. Das Weinglas vor ihm. Er will nicht trinken, doch sie zwingen ihn. Der Rand des Glases drückt ihm schmerzhaft gegen das Zahnfleisch.
Der schreckliche, verlockende Geschmack von Blut. Wärme strömt durch jede Ader in seinem Körper. Ein schmutziges Gefühl, das er nie wieder ganz loswerden wird, doch im Lauf der Zeit wird es ein Teil von ihm. Im Lauf der Zeit wird er so tun, als hätte er das gewollt. Im Lauf der Zeit wird er so tun, als wäre das immer Teil des Plans gewesen. Im Lauf der Zeit wird er es als Beleidigung sehen, wenn man ihn für einen Menschen hält.
Für einen Sterblichen.
„Trinke und werde ewig.“
An diesem Tag hat sein Niedergang begonnen. Ihrer aller Niedergang. Einige mögen vielleicht sagen, sein sich entfachender Funke sei ein Segen gewesen. Er hat es anders empfunden. Sorin hat nie an die Gnade von Göttern geglaubt oder an Religion an sich – da er selbst eine erschaffen hat, hat er alle romantischen Anwandlungen darüber verloren. Doch er weiß, dass es dennoch wahr ist: An jenem Tag sind sie in Ungnade gefallen.
Daher ist es merkwürdig, dass er sich nun so fühlt, als fiele er.
Doch als er die Augen öffnet, ergibt das alles Sinn.
Sein Großvater steht am Rand einer gewaltigen Grube und blickt voller Abscheu auf ihn herab.
Und Sorin Markov fällt noch immer.
Die Geschichte sieht zu, wie Arlinn durch die Gänge des Voldaren-Anwesens läuft – doch es ist nicht Arlinns Geschichte. Hier gibt es keine Spur von Auerbrück: kein grob geschmiedetes Eisen, keine avacynischen Symbole, keine Nachbarn mit Geschichten, die älter sind als die Bäume. Hier gibt es goldene Kronleuchter, hier sind nur die Wappen der Voldaren, hier ist alles älter als die Bäume. Selbst die Bewohner.
Und diese Bewohner beobachten, wie sie hinter Olivia herjagt. Da sind die Festbesucher, und die, die zu trunken sind von Blut, um zu wissen, wohin sie gegangen sind. Sie schubst sie so leicht zur Seite, als teilte sie ein Weizenfeld. Da sind die Wachen, die sich ihr vehementer in den Weg stellen wollen. Arlinn tut ihnen den Gefallen nicht. Ihre Schläge und Pfeile kommen, einer nach dem anderen, und bei einem nach dem anderen huscht sie zwischen ihnen hindurch oder stößt sie zur Seite, sobald sie nahe genug heran ist. Selbst Vampire fallen, wenn sie das Gleichgewicht verlieren. Sie müssen nicht lange am Boden bleiben – nur lange genug, damit sie vorbeikann. Die Geister hinter ihr werden den Rest erledigen.
Doch da sind auch andere Blicke.
Olivias, vom Ende des Ganges, die sie herausfordern, ihr zu folgen.
Und die Porträts.
Davon gibt es hier jede Menge. Dutzende in diesem Bereich allein, vielleicht Hunderte von ihnen im gesamten Gebäude. Arlinn hält sich nicht damit auf, sie zu zählen. In unbeschreibliche Gewänder gehüllt, mit Dienern auf den Schößen, die Münder von Blut verschmiert: Diese Leute, die da auf sie starren, haben in eine andere Welt gehört. Für sie hat ihr Dasein bedeutet, anderen etwas wegzunehmen. Das ist es, was Macht für einen Vampir ist: sich die meisten Dinge von den höchsten Orten nehmen zu können.
Dies ist keine Welt, zu der Arlinn gehören will.
Und dennoch ist sie von ihr umgeben, hier, an diesem Ort, der aus dem Tod erwachsen ist.
Und als sie Olivia endlich in einer Sackgasse einholt, erkennt sie, dass in diesem Gang nichts außer ihr selbst am Leben ist.
Keine anderen Soldaten. Keine anderen Wandler. Nicht einmal ihre Wölfe.
Das Pochen von Arlinns Herzen gleicht einer Kriegstrommel, einem Kampfschrei, einem Auflehnen gegen den Tod. Olivia öffnet den Mund, um etwas zu sagen, doch dieser Mund hat bereits zu viel gefressen. Arlinn kann kein weiteres Wort mehr gutheißen. Mit einem menschlichen Heulen holt sie aus. Ihre scharfen Nägel zerreißen den feinen Stoff von Olivias Kleid und das Fleisch darunter. Der Geruch nach Blut lässt Arlinn wilder werden – ihre Zähne sehnen sich danach, zu Fängen zu werden –, doch sie kann sich noch nicht in sich verlieren.
Zu viel steht auf dem Spiel.
„Du“, höhnt Olivia. „Warum musstest du kommen?“
Es gibt natürlich eine Antwort – weil Olivia den Schlüssel gestohlen hat –, doch Arlinn verspürt nicht das Bedürfnis, mit ihr zu diskutieren. Sie dringt weiter auf sie ein, mit wildem Hieb um wilden Hieb. Olivia hat den Schlüssel irgendwo in ihrer Schleppe versteckt. Arlinn kann ihn riechen. Ihre Ahnin wird den Preis für ihren Diebstahl bezahlen.
Und wie es scheint, ist sie nicht bereit dazu. Das ist nur verständlich: Vampire bezahlen nicht einfach so für etwas. Ob ihres Tunnelblicks hat Arlinn die unnatürliche Architektur der Gänge nicht berücksichtigt. Irgendwie haben sie sich von einer Sackgasse in etwas völlig Neues verwandelt. Schlimmer noch: Hier stehen Rüstungen.
Und Waffen.
Wie das vergoldete und mit Edelsteinen besetzte Schwert, das Olivia sich nun nimmt.
Arlinn kann ihren Hieb nicht rechtzeitig zurückziehen, und Olivia ist nur zu begierig darauf, ihn zu parieren. Stahl frisst sich in Arlinns Finger. Es schmerzt weniger, als sie erwartet hat. Der Kampfrausch dämpft alle unwichtigen Empfindungen. Und doch reicht der Anblick ihrer eigenen, hervorlugenden Knochen aus, um sie langsamer werden zu lassen.
„Gib uns den Schlüssel“, sagt Arlinn.
„Uns?“, sagt Olivia. „Ach, welch armes kleines Hündchen.“ Eine Pirouette verschleiert den nächsten Schlag, und Arlinn pariert einen Wimpernschlag zu spät mit dem Unterarm. Olivia treibt die Schwertspitze mit bösartigem Vergnügen in Arlinns Brust. Metall reibt knirschend gegen Arlinns Schlüsselbein, während Olivia ihr die Wange tätschelt. „Du bist hier ganz allein.“
Arlinn ist sich nicht sicher, was schlimmer ist: der Schmerz, der sich nun nicht mehr ignorieren lässt, oder Olivias hasserfüllte Stimme. Die Ränder ihres Blickfelds färben sich rot. Der Wolf in ihr ruft nach Freiheit. Arlinn wird ihn nicht erhören. Nicht jetzt. Sie muss einen kühlen Kopf bewahren.
Doch ehe Arlinns kühler Kopf einen Ausweg ersinnen kann, stößt Olivia sie mit fieser Freude von der Spitze ihres Schwertes. Arlinn geht auf die Knie, und ihre Wunde weint in den Teppich. Die gemalten Vampire sehen mit unveränderter Belustigung zu, wie Olivia – ihre Ahnin – keckert.
„Ich gebe zu, dass nichts von dem einen Sinn ergibt. Wölfe sind zwar nicht dafür bekannt, die Dinge zu Ende zu denken, aber dennoch seid ihr doch Rudeltiere, oder etwa nicht?“, meint Olivia. Dann schnalzt sie verächtlich mit der Zunge. „Nun ja. Die meisten von euch sind es.“
Eine weitere gekünstelte Geste. Arlinn wappnet sich. Und natürlich, mitten in der Bewegung schießt Olivia wie ein Armbrustbolzen auf sie zu. Dieses Mal duckt sich Arlinn, senkt die Schulter und hält dagegen. Es reicht, um Olivia aus dem Gleichgewicht zu bringen, wenn auch nur knapp. Arlinn versucht, nach ihr zu greifen, doch Olivas Klauen graben sich in Arlinns Bauch.
Das Atmen wird schwerer.
„Es ist nur zum Besten“, sagt Olivia. „Selbst fürdeinesgleichen. Die Menschen sind lustige kleine Spielzeuge, doch wann hat dich jemals einer verstanden?“
Arlinn legt eine Hand um Olivias Handgelenk. Blut steigt ihr die Kehle hoch, und sie spuckt es auf Olivias Kleid. „Vielleicht solltest du versuchen
Olivias angewiderte Miene ist beinahe all den Schmerz wert. Angeekelt stößt sie Arlinn wieder von sich. „Ich freunde mich nicht mit meinem Essen an“, sagt sie. „Und jetzt. Nur zu. Wenn du schon deinen tapferen kleinen Aufstand proben willst, dann mach es wenigstens richtig. Du weißt, was du bist, oder?“
Arlinn Kord, Tochter eines Schmieds und einer Bäckerin.
Das Denken ist schwer, das Denken ist schwer.
„Du weißt, warum du hier bist.“
Um den Schlüssel zu holen. Um Innistrad das Tageslicht zurückzubringen.
Um Rache für das Erntezeitfest-Massaker zu nehmen.
Olivia tupft mit einem Finger über die Schneide ihrer Klinge. Sie leckt ihn ab und runzelt dann die Stirn. „Du schmeckst scheußlich. So viel steht fest. Also. Wenn du das hier schon tun willst, warum lässt du dich nicht von der Leine, kleiner Welpe? In dieser Gestalt wirst du nie gewinnen.“
Sie hat recht. Arlinn hasst den Gedanken, doch sie hat recht.
Und vielleicht handelt es sich dabei um das letzte bisschen Zorn, das nötig gewesen ist, um sie zum Äußersten zu treiben.
Ihre Sinne schärfen sich. Ihre Stärke kehrt zu ihr zurück, als sie wächst, genug Stärke, um zu kämpfen. Zumindest fürs Erste. Ihr menschlicher Verstand verblasst und stürzt in den Wald hinein. Sie riecht Kiefern, schmeckt Blut. Ihr letzter bewusster Gedanke, gleich dem Schrei eines verirrten Wanderers: Das ist nicht die Art, wie wir unsere Probleme lösen. Doch da ist niemand im Wald, der ihn hören könnte. Nur der Mondsilber-Schlüssel, nur Olivia, nur die Gesichter, die zu ihr zurückstarren, sind noch da.
Sie wird von reinem Instinkt getrieben. Sie macht einen Satz, Olivia wirbelt davon. Ein goldener Blitz – da kommt wieder das Schwert. Arlinn fängt es mit bloßer Hand ab und wirft es beiseite. Mit der anderen Hand schleudert sie Olivia gegen eine Statue ihrer selbst.
Vorwärts, vorwärts, vorwärts. Sie hat den Schlüssel bei sich. Hol ihn zurück. Beende dies.
Doch da sind auch die Gesichter. Diese entsetzlichen Gesichter.
Arlinn weiß nicht, was sie dazu antreibt, es zu tun. Animalischer Zorn vielleicht – oder eine nur allzu menschliche Wut, die nur die Bestie zu entfesseln vermag.
Einen kurzen Augenblick wandert ihre Aufmerksamkeit zu den Gemälden – dazu, Furchen in die selbstzufriedenen Visagen zu graben, die Leinwand zu zerfetzen, bei ihrem Anblick vor Wut zu heulen.
Es sind so viele – und sie ist hier ganz allein.
Sie bemerkt nicht, dass Olivia hinter ihr ist, bevor es zu spät ist.
Wie ironisch – die steife Hand eines Vampirs gibt einen hervorragenden Pflock ab.
Ein trauriges Winseln verlässt Arlinns Kehle.
Sie fällt.