Hoch über der Feltmark, zwischen den Rauchsäulen, die aus den zahlreichen Schornsteinen der Beskir-Festung aufstiegen, kreiste ein Rabe. Ein Rabe, so sagt man, kann mehr als hundert Meilen am Tag zurücklegen, und dieser hatte genau dies gerade getan. Er war über die hohen Gipfel des Tusk-Gebirges geflogen und hatte die Feuerriesen gesehen, wie sie die Steilhänge erklommen hatten, während die Schwertträger der Tuskeri Baumstämme und Felsen ebendiese Hänge hinabrollten, um die Riesen zurück zu zwingen. Der Rabe hatte ein schwarzes und unergründliches Auge auf die Skelle gerichtet, wie sie sich in ihren Marschen versammelt und Bluteide geschworen hatten, während sie sich auf den Krieg vorbereiteten. Er war einige Zeit der Küstenlinie gefolgt, wo Langboote, die größte Flotte ihrer Zeit, sich vom Wind westwärts tragen ließen – zu dem einen Ort in Bretagard, an dem man sich in schweren Zeiten zusammentat.

Bretagard-Festung
Bretagard-Festung | Bild von: Jung Park

Der Rabe landete auf einem reetgedeckten Dach in einem der Innenhöfe jenseits der dicken Mauern, die die Festung umgaben. Unter ihm stachen zwischen den anschwellenden Geräuschen von Waffen, die an Wetzsteine gepresst wurden, und Bürsten auf Metall zwei Stimmen hervor. Der Rabe hielt, wie es seine Natur war, inne und lauschte.

„Wir haben die östlichen Gemeinden verloren und bald den ganzen Aldergard“, sagte der Ältere. Sein Haar und Bart waren von der Farbe frisch gefallenen Schnees. Alles andere an ihm war ledrig, abgerissen, verhärmt. Auf dem Rücken trug er einen Schild aus einem Material, das im richtigen Licht zu schimmern schien. „Ich habe noch nie so viele Trolle an einem Ort gesehen. Und sie arbeiten auch noch zusammen.“

Der Jüngere lachte. „Die Kannah haben Schwierigkeiten mit ein paar Hagi? Einer der meinen hat gestern einen Dämon zur Strecke gebracht. Nun sind alle jungen Leute ganz versessen darauf, der Nächste zu sein, dem dies gelingt.“ Aus der Schläfe dieses Mannes ragte etwas eigenartig Knöchernes heraus – als hätte ein Säbelzahntiger versucht, ihm in den Schädel zu beißen und auf halbem Weg den Fangzahn verloren.

„Wenn das so ein Fest ist, was tust du dann hier?“, grummelte der Ältere.

Der andere zuckte die Schultern. „Der Anführer eines Clans hat gewisse Verpflichtungen, weißt du?“

Zwei Wachen nahmen vor dem Paar ihre gekreuzten Speere beiseite und stießen schwere Holztüren auf. Jeder der Krieger musste sich mit seinem ganzen Gewicht gegen sie lehnen, ehe sie ächzend nachgaben.

„Arni Hornbraue von den Tuskeri und Fynn Fangzahnträger von den Kannah“, bellte eine der Wachen. An einem Tisch im Inneren saßen vier Gestalten. Inga Runenauge, die Anführerin der Omensucher, war bereits eingetroffen, und diese Festung gehörte Sigrid der Götterbegnadeten. Die anderen beiden – eine dunkelhäutige Frau und ein Elf mit roten Zöpfen – waren Fremde.

Fynn, der Ältere der Neuankömmlinge, griff nach der Axt an seinem Gürtel. „Bei Komas Atem! Was macht der hier?“

Die Wachen, die gerade damit beschäftigt gewesen waren, die Türen wieder zu schließen, griffen hastig nach ihren Waffen. Doch Sigrid hob die Hand. „Inga?“

Runenauge erhob sich von ihrem Platz. „Dies ist Tyvar aus Skemfar, und Kaya von … anderswo. Sie sind Freunde. Und im Augenblick brauchen wir alle Freunde, die wir kriegen können.“

„Kein schlangenküssender Elf wird mich je zu seinen Freunden zählen“, knurrte Fynn. „Und am allerwenigsten ihr Prinz.“

Fynn Fangzahnträger
Fynn Fangzahnträger | Bild von: Lie Setiawan

Er hatte seine Waffe noch nicht gezogen, doch er sah aus, als wäre er bereit dazu. Tyvar hingegen hatte sich noch nicht einmal von seinem Platz erhoben. „Es sind nicht nur die Menschen, die sterben werden, wenn die Elfen in den Krieg ziehen. Doch ich schätze, dass du es sein wirst, der meinen Bruder zum Schweigen bringt, sobald er an der Spitze einer Armee hier eintrifft.“

„Oh, ich bringe ihn zum Schweigen. Für immer.“

„Genug“, herrschte Sigrid Fynn mit rauer Stimme an. „Ich habe dich nicht in meine Festung eingeladen, damit du meine Gäste beleidigst, Fynn. Ich habe dich eingeladen, um zu besprechen, wie unsere Leute die nächste Woche überleben.“

Zähneknirschend ließ Fynn sich in einen der Stühle an der langen Tafel fallen. Arni schloss sich ihm an. „Also! Ich nehme an, es gibt irgendeine Art von Plan, und er erfordert doch sicher gewaltige, tollkühne und wagemutige Taten? Wenn ich das richtig verstehe, sind unsere Aussichten nicht sehr gut.“ Darüber machte er sich augenscheinlich keine sonderlich großen Sorgen.

Sigrid lächelte schmallippig. „Trolle, Dämonen, Riesen – sowohl Frostriesen als auch Feuerriesen – wüten im gesamten Reich. Und nun höre ich Berichte von Draugr, was bedeutet, dass die Toten Marn, Karfells untote Armee, zurückgekehrt sind. Ja, ich würde sagen, unsere Aussichten sind schlecht. Doch wir haben Waffen, mit denen wir kämpfen können.“

„Mehr als einen vorlauten Elfen?“, murmelte Fynn.

„Ja“, sagte Kaya. Unter dem Tisch holte sie ein Schwert hervor, das wirkte, als wäre es aus Glas geschmiedet worden. In der durchscheinenden Klinge schimmerten leuchtende Blau- und Grüntöne, die sich vor ihren Augen gleichsam kräuselten. Mit einem dumpfen Klirren legte Kaya das Schwert auf den Tisch.

„Ist das …“, setzte Fynn an.

„Das Schwert der Reiche“, sagte Sigrid in gemessenem Ton.

„Koll muss das verdammte Ding endlich fertiggestellt haben“, sagte Arni und pfiff anerkennend durch die Zähne.

„Das hat er“, sagte Sigrid. „Doch das Geheimnis, wie er es geschmiedet hat, hat er mit ins Grab genommen.“

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen zwischen ihnen. Fynn war der Erste, der es brach. „Doch ohne dieses Wissen ist es nicht mehr als eine Klinge. Sicher, eine aus Thyrit, aber keine Anzahl guter Schwerter kann einen Doomskar aufhalten.“

„Es gibt noch jemanden, der es führen kann“, kam eine Stimme aus einer dunklen Ecke des Raumes, von dort, wohin das Licht der Feuerschalen nicht vorzudringen vermochte. Eine fünfte Gestalt trat aus den Schatten: ein alter Mann in einem langen, schweren Reisemantel. Auf seiner Schulter saß ein Rabe. „Der Gott, für den dieses Schwert bestimmt war. Halvar, Gott der Schlachten.“

Strategische Planung
Strategische Planung | Bild von: Donato Giancola

Seine Augen leuchteten in demselben Licht, das im Inneren der Klinge eingefroren war. Vor Alrund war selbst Fynn sprachlos.

„Halvar ist unser Mann“, sagte Kaya. „Doch es wird etwas Mühe erfordern, ihn herzuschaffen.“

Arni, der sich davon erholt hatte, einem der Götter Kaldheims begegnet zu sein, legte die Füße auf den Tisch. „Eine gefährliche Queste also. Jetzt kommen wir zum spannenden Teil.“

Halvar, so hatte Alrund ihnen erzählt, hielt sich unweit der Beskir-Feste auf. Immerhin war er der Gott der Schlachten, und Schlachten tobten überall um sie herum. Er war kaum einen Rabenflug entfernt.

Ich wünschte nur, der alte Mann hatte das nicht wörtlich gemeint, dachte Kaya, griff nach einer Handvoll schwarzer Federn und drückte fester zu.

Der Rabe, der auf Alrunds Schulter saß, hieß Hakka. So viel wusste Kaya. Alrund hatte ihnen nicht die Namen jener riesigen Raben verraten, die sie nun über den Himmel trugen, während unter ihnen mit jedem Schlag der großen schwarzen Schwingen weite Gebiete aus Grasland rasch vorbeizogen. Oder womöglich hatte er das doch getan. Zugegebenermaßen hatte sich Kaya während der Vorstellungen kaum auf irgendetwas konzentrieren können. Diese großen, glasigen Augen hatten unweigerlich immer wieder ihre Aufmerksamkeit gefesselt. In ihnen spiegelten sich zweifellos Klugheit und Neugier wider. An die großen, gebogenen Schnäbel, die sie zweifellos entzweibeißen konnten, wollte Kaya gar nicht erst denken. Auf dem einen Raben ritten Sigrid, Fynn und Inga, auf dem anderen Arni, Kaya und Tyvar.

„Seht nur!“, hörte sie Tyvar über den tosenden Wind hinweg rufen.

Das Erste, was sie sah, war der Riss in der Welt. Ein Streifen aus eisigem Weiß durchschnitt die bernsteinfarbenen Felder unter ihnen. Auch die Perspektive wirkte falsch, als hätte jemand eine andere Welt über diese gelegt. Dampf wallte auf, als die Luft jenes gefrorenen Ortes auf die Bretagards traf, und an den Rändern der Öffnung schleppten sich dürre, verwesende Gestalten in das Reich der Menschen hinein. Vor ihnen, auf einem weit ausgebreiteten Teppich aus gelblichem Gras, erstreckte sich eine Streitmacht aus Tausenden von schlurfenden Gestalten. Draugr hatten sie sie genannt. Ein Zombie mit einem anderen Namen. Über den Fußsoldaten ragten einige gewaltige, von langem, strähnigem Haar bedeckte Gestalten auf: Torga-Trolle, erkannte Kaya, obwohl diese hier so aussahen, als hätten sie schon bessere Tage erlebt. Es war von hier oben aus schwer zu sagen, doch sie hatten den gleichen unsteten Gang wie die Fußtruppen. Also auch Untote.

Sie alle – Draugr und Torga, groß und klein – schlurften in dieselbe Richtung: auf eine massiv gebaute Holzbrücke zu, die einen breiten Fluss mit Stromschnellen überspannte. Am anderen Ufer konnte Kaya einen Weiler aus winzigen Hütten, Kopfsteinpflasterpfade und ein Wasserrad ausmachen. Sie sah keine Menschen, doch angesichts dessen, was da auf ihre Türschwelle zukam, ergab dies durchaus Sinn. Der Weiler wirkte wundersam heil und unberührt. Die einzelne Gestalt auf der Brücke hatte dafür gesorgt.

Von hier oben aus wirkte Halvar wenig beeindruckend. Er strahlte nicht wie Alrund jenes gruselige Götterlicht aus, und verglichen mit dem Riss in der Welt, aus dem blaues, grünes und violettes Licht gen Himmel sprühte, wirkte er beinahe unbedeutend. Eine aus dieser Höhe winzig anmutende Gestalt in einer matten Eisenrüstung. Vor ihr, am diesseitigen Ende der Brücke, türmten sich hüfthoch erschlagene Draugr auf.

„Wir müssen zu der Brücke“, rief Kaya und hoffte, dass Tyvar sie hörte und der riesige Vogel, auf dem sie saßen, sie irgendwie verstand. Auf keinen Fall würde sich die Zeit zurückdrehen lassen, um die untote Armee wieder in ihre gefrorene Welt zu treiben, doch das Schwert der Reiche hing auf ihrem Rücken. Wenn sie Halvar erreichen konnten, konnten sie zumindest dafür sorgen, dass es nicht noch schlimmer wurde.

Doch Tyvars Blick war, als der Elf sich zu ihr umdrehte, auf etwas anderes geheftet. Ein Schatten streifte über sie hinweg, und dann wurde das glänzende schwarze Gefieder des Vogels merklich dunkler, als sich etwas zwischen sie und die Sonne über ihnen bewegte.

„Pass auf“, sagte Tyvar, kurz bevor der Hieb sie erwischte. Ein knirschendes Geräusch, das Kreischen eines Vogels, und plötzlich wurde Kaya aus ihrem Sitz in die leere Luft geschleudert.

Den Rest sah sie im Fallen in einzelnen, voneinander losgelösten Augenblicken: der Rabe, dessen Flügel in eine unnatürliche Haltung gebogen waren. Tyvar und Arni, die beim Herabstürzen mit den Armen ruderten und nach einem Halt suchten, den es nicht gab. Und über ihnen allen eine gewaltige, gehörnte Gestalt mit ledrigen, zerrupften Schwingen, die eine schwer aussehende Axt mit langem Griff trug.

Varragoth, Bluthimmel-Stammvater
Varragoth, Bluthimmel-Stammvater | Bild von: Tyler Jacobson

Sie hatte ihn noch nie aus so großer Nähe gesehen. Selbst als sie tiefer und tiefer fiel, weg von dem Dämon, konnte sie das Gewirr aus Fleisch in der Farbe frischer Striemen ausmachen, das in Form eines wilden Bartes von seinem Gesicht herabhing, und sie sah Jahrtausende der Gefangenschaft in diesen irren Augen brodeln. Varragoth holte erneut aus und trieb seine Axt in die Seite des Raben, und dann überschlug sich Kaya taumelnd immer wieder, während ihr der Wind in den Ohren heulte und sie fiel und fiel. Und fiel.

Denk nach.

Denk nach, denk nach, denk nach!

Sie blickte nach unten und kniff die Augen vor dem Wind zusammen. Unter ihr schäumte und toste der Fluss. Aus dieser Höhe ins Wasser zu fallen, wäre nicht viel besser, als wenn sie auf Stein aufprallte. Sie konnte den Sturz jedoch überleben – ihre Fähigkeit, aus ihrem Körper hinaus und wieder in ihn hinein zu schlüpfen, würde dafür sorgen. Doch konnte es Tyvar? Das wusste sie nicht. Sie konnte sich nicht darauf verlassen. Kaya spannte den Körper an und streckte Arme und Beine aus, um ihren Fall zu verlangsamen. Sie versuchte, sich auf den Himmel um sich herum zu konzentrieren, anstatt auf den Boden unter ihr, der rasch näher kam. Arni, wie sich herausstellte, war recht dicht bei ihr. Er war keine fünf Schritt von ihr entfernt und brüllte irgendeinen wahnsinnigen Kriegsschrei, während er in den Tod stürzte. Tyvar war etwa zwanzig Schritt von ihr weg, und all seine sonstige Anmut und seine übliche Grazie waren nutzlos, während er vollkommen unkontrolliert durch die Luft wirbelte.

Sie griff nach Arni und streckte einen Arm durch den Riemen, mit dem sein Breitschwert auf seinem Rücken festgeschnallt war. „Spann deinen Körper an und streck die Arme aus!“, schrie sie über den rauschenden Wind hinweg.

Das tat er, und sie tat es ihm gleich, und sofort fielen sie schneller in Richtung von Tyvar. Das Gras unter ihnen war nicht länger eine vage gelbe Fläche, sondern wankende Halme. Sie konnte die klobigen Stahlklingen der Draugr erkennen und ihre Rüstungen, die noch immer Frost säumte. Fast hatten sie den Fluss erreicht. Sie durfte ihn nicht verfehlen – es musste genau jetzt geschehen.

Etwa fünf Sekunden, bevor sie auf der Oberfläche aufgekommen wären, prallten sie mit Tyvar zusammen. Eine weitere Sekunde, um die Energie aufzubauen, die sie benötigte, und noch eine, um sie alle instabil werden zu lassen. Die letzten drei Sekunden waren gerade genug Puffer.

Dunkelheit und Kälte verschluckten sie – und es war nicht nur das eisige Wasser, das sie umspülte. Die Kälte füllte Kaya aus, die Kälte war sie. Kein warmes Blut, das durch ihre Adern floss, keine Luft in den Lungen, kein stetiger Herzschlag, der sie mit jedem Pochen daran erinnerte, dass sie am Leben war. In diesen wenigen Augenblicken wusste Kaya, wie es war, tot zu sein und als ein Geist im Diesseits zu verharren.

Mit Mühe stellte sie die Körper von ihnen allen wieder her, und plötzlich riss sie die Strömung mit. Kaya hatte keine Ahnung, wo oben und unten war oder wohin sie schwimmen sollte. Alles, was sie tun konnte, war, sich an Arni und Tyvar zu klammern und sie alle zu einer einzigen, ertrinkenden Masse zu vereinen. Sie öffnete die Augen. Überall um sie herum war tosendes Wasser. Sie vermeinte, aus dem Augenwinkel gesehen zu haben, wie sich in der Dunkelheit des breiten Flusses etwas regte: ein schlanker, geschmeidiger Körper in den Wogen.

Arni war es, der nach dem Ast am Ufer griff, und mit Kayas Hilfe zogen sie Tyvar aus dem Wasser. Er rang noch immer um Atem und schlang die Arme um sich selbst, als würde er erfrieren. Sie hatten Glück gehabt, schätzte sie, dass die Draugr zu allen Seiten zu überrascht waren, um ihnen zuzusetzen, ehe sie sich aufgerappelt hatte.

Grausame Draugr
Grausame Draugr | Bild von: Grzegorz Rutkowski

Kaya wich dem ersten Stich aus und parierte den zweiten. Sie schlug einen Schwerthieb beiseite, der für Tyvar bestimmt war, und trennte den Arm des Draugr am Ellenbogen ab. „Steh auf, Junge!“

Die Untoten waren langsam, doch sie waren viele, und zu allen Seiten bemerkten sie nun, dass sich Feinde in ihrer Mitte befanden. Kaya spaltete einen weißen, frostbeuligen Schädel mit einer ihrer Handäxte und zog ihre Waffe gerade rechtzeitig wieder frei, um einen Speerstoß abzuwehren. Sie machte einen Schritt zurück, stolperte beinahe und sofort war Arni vor ihr, um mit großen, weiten Schwüngen seines Breitschwerts Gliedmaßen abzuhacken. Wird dieser Kerl jeden Tag körperlos?, dachte Kaya verblüfft.

Arni stieß seine Klinge einem Draugr zwischen die Rippen. Die Kreatur holte ungeschickt und zwecklos mit den Klauen nach ihm aus, während Arni sich zu Kaya umwandte. Und ohne Zweifel: Er grinste. „Geht ihr beiden schon einmal vor. Ich beschäftige diese Gesellen. Das ist das Geringste, was ich tun kann, nachdem du meinen Fall mit deiner gruseligen Magie aufgehalten hast.“

Ein Krieger gegen all diese Draugr. Das waren keine guten Aussichten. Doch andererseits wirkte er wie jemand, der es gern drauf ankommen ließ.

Kaya zog Tyvar auf die Beine, und gemeinsam rannten sie auf die Lücke zu, die Arni geschlagen hatte. In der Ferne konnte sie die Brücke sehen – beinahe dicht genug, um sie zu berühren, mit nichts als einer Armee aus Untoten zwischen ihnen. Wenn sie instabil geworden wäre, hätte sie vorstürmen können, doch sie war während ihrer Landung lange Zeit feinstofflich gewesen und wusste nicht, wie viel ihr Körper noch aushalten konnte. Und sie musste auch an Tyvar denken.

Wenigstens schienen die Draugr in seinem Bereich des Feldes weniger dicht. Gemeinsam rannten sie und hielten nur inne, um Rippen zu zertrümmern oder eine gefrorene Gliedmaße abzuhacken, während das Schwert der Reiche die ganze Zeit über in seiner Scheide auf Kayas Rücken tanzte. Hinter ihnen konnte sie in der Ferne Standarten der Menschenclans erkennen, die auf die Ränder der Draugrhorde prallten, doch es war nicht genug Zeit gewesen, mehr als ein paar kleine Trupps zusammenzutrommeln, während mit jedem verstreichenden Augenblick mehr und mehr Draugr aus dem Riss strömten.

Über dem Feld voller Toter hing ein Geräusch, das Kaya noch nie zuvor gehört hatte. Mit anderer Tonhöhe und anderem Klang hätte es der Ruf irgendeines Nachtvogels oder das Heulen eines Schattenwolfs sein können. Es hatte diese wilde und schaurige Eigenschaft an sich, während es über die Ebene hallte, und Tyvar erstarrte.

„Das ist kein Draugrhorn“, sagte er atemlos.

Es erklang erneut, und Kaya folgte ihm zu einem sanften Hügel etwas abseits. Eine Reihe aus Gestalten begann sich zu bilden: Die meisten trugen Schilde aus Bronze, die mit der grünen Patina des Alters bedeckt waren. Einige hielten Speere, andere Schwerter. Kaya musste nur Tyvar ansehen, um zu wissen, wer sie waren: die Elfen Skemfars, die in den Krieg zogen.

Harald, König von Skemfar
Harald, König von Skemfar | Bild von: Collin Estrada

„Tyvar, wir haben keine Zeit hierfür. Wir müssen in Bewegung bleiben“, sagte Kaya, doch Tyvar war wie festgewurzelt.

„Kaya, die Menschen sind nicht die einzigen Opfer von Thibalts Verrat“, sagte er und drehte sich zu ihr um. „Ich kann nicht zulassen, dass meine Leute für seine Lüge kämpfen und sterben. Mein Bruder steht an der Spitze dieser Armee. Ich weiß, dass ich ihn zur Vernunft bringen kann.“

Trotz all seines Hangs zur Prahlerei hatte Tyvar doch ein gutes Herz. „Na gut, Junge. Dann spute dich mal.“

„Kommst du zurecht?“

Kaya grinste und versuchte, zuversichtlich auszusehen. „Ich habe mir einen Ruf als Untotenjägerin aufgebaut. Ich komme schon klar.“

Er nickte. Und damit lief er los.

Es war nicht zwingend eine Lüge, die sie ihm erzählt hatte, doch all dies wäre wesentlich leichter gewesen, hätte es sich bei den Draugr um Untote einer körperloseren Art gehandelt. Kaya bahnte sich ihren Weg voran, schlug sich durch, wo es nötig wurde, und rannte, wo dies nicht der Fall war. Das Klirren von Metall auf Metall war nun überall um sie herum, ebenso die fernen Schreie von Männern und Frauen, und sie hörte ihr Herz lauter und lauter in ihren Ohren schlagen. Alles schien langsamer als gewöhnlich zu geschehen, und jeder Atemzug fühlte sich an wie eine Stunde, ein Jahr.

Das Stampfen eines Fußes, das den Boden selbst erzittern ließ, riss sie aus ihrer Trance und brachte sie auf der Stelle zum Erstarren. Zwischen Kaya und ihrem Weg zur Brücke stand einer der Torga-Trolle, die sie aus der Luft gesehen hatte. Aus nächster Nähe nahm sie nun den beinahe süßlichen Geruch von Verwesung wahr und sah, wo einst moosbewachsenes Fell brüchig und weiß geworden oder ganz ausgefallen war. Etwas hatte eine gewaltige Wunde in die Flanke der Kreatur geschlagen: Deutlich erkannte Kaya drei steinerne Rippen und ein kränklich blaues Licht, das von irgendwo aus dem Inneren des Trolls drang. Seine Augen waren milchig und tot, doch ihr Blick heftete sich dennoch auf sie. Der Troll atmete scharf aus, und eine Wolke aus weißem Nebel wallte zischend zwischen zwei geschwärzten Hauern hervor.

Gerade als er sich auf sie zubewegen wollte, ertönte links von Kaya ein platschendes Geräusch. Dort in der Luft sah sie das unfassbarste Ding schweben: einen Delfin. Eigentümlich majestätisch, beinahe rein inmitten all des Chaos und des Gemetzels. Er kam in einem Bogen durch die Luft auf sie zu, grauhäutig und geschmeidig. Er musste aus irgendeiner der Stromschnellen im Fluss neben ihr gesprungen sein, erkannte Kaya. In einer fließenden Bewegung bauschte sich die glänzende Haut in Form eines Umhangs auf, und die Kreatur landete auf nun menschlichen Beinen. Der Umhang legte sich um schlanke, braune Schultern. Vor Kaya und dem Troll stand eine Frau mittleren Alters mit wildem, ungezähmtem Haar. Sie sagte nichts und hob nur die Hände. Als ihre Augen in wechselndem, vielfarbigem Licht aufleuchteten, wurde Kaya bewusst, dass sie eine der Göttinnen Kaldheims ansah.

Cosima, Göttin der Reisen
Cosima, Göttin der Reisen | Bild von: Andy Brase

Hinter ihr erhob sich eine Wand aus Wasser aus dem Fluss, weiß und wie ein wildes Tier um sich schlagend. Sie wusch über den untoten Torga und eine Handvoll Draugr hinweg. Die Woge trug sie alle davon, während sie sich über das Feld wälzte – eine weitere Kämpferin in dieser irren Schlacht auf ganz Bretagard.

„Und wer bist denn bitteschön du?“, fragte Kaya überwältigt. Sie schmeckte Salz in der Luft.

Die Frau vor ihr strich sich das Haar aus dem Gesicht. Ihre Augen hatten wieder eine dunkle, erdige Farbe angenommen. „Vor nicht allzu langer Zeit warst du auf meinem Schiff. Wie hat es dich behandelt?“

Cosima. Göttin der Meere. „Oh. Äh, unsere Bekanntschaft war nur von kurzer Dauer.“

„Sie ist flatterhaft“, sagte Cosima nachdenklich. Sie zog ein langes, gebogenes Schwert unter ihrem Umhang hervor. „Nun denn. Alrund hat mich nicht zu einer Plauderei hierhergeschickt.“

Kaya nickte nur. Eine krasse Meeresgöttin. Na schön. „Wir müssen Halvar erreichen.“

„Geh voran“, sagte Cosima.

Weitere Draugr hatten sich vor ihnen versammelt, und sie fielen vor ihnen wie Weizen durch die Sense. Jetzt waren sie ganz nah, keine hundert Schritt mehr entfernt. Sie sah Halvar am Brückenkopf stehen, wie er Draugr mit Hieben mit seinem Schildarm in die Fluten des weißen Flusses unter ihnen fegte. Sie hatte es beinahe geschafft.

Sie bemerkte den Schatten über ihr erst, als er sie in Dunkelheit tauchte. Plötzlich zerrte etwas heftig an Kayas Lederrüstung und riss sie gerade rechtzeitig zur Seite, um der hässlichen Eisenaxt auszuweichen, die sich dort, wo sie eben noch gestanden hatte, in den Boden bohrte.

Cosima, die sie aus dem Weg gezogen hatte, half ihr nun auf die Beine. Zwischen den beiden und der Brücke war – zehn, zwölf Schritt hoch, mit Wirbeln aus grauem Fleisch, die sich ihm aus Armen, Brust und Gesicht wanden und rankten – Varragoth und zeigte ein entsetzliches, eingefrorenes Grinsen. Er schlug einmal mit den Schwingen und ließ sich dann am Boden nieder.

„Letztes Mal hatte er noch keine Flügel“, murmelte Cosima.

„Diese Klinge. Ich weiß, was du da hast“, zischte er mit einer Stimme wie Rost und Blut. „Ich schwöre bei den endlosen Leben, die ich geraubt habe, dass du mich nicht noch einmal in dieser verlassenen …“

Die erste geworfene Axt traf ihn an der Augenbraue, trennte ein Horn ab und ließ siedendes, teeriges Blut aus der Wunde hervorblubbern. Die zweite Axt – die, die Kaya in der Hand behielt, anstatt sie zu schleudern – traf ihn am Knie. Varragoth heulte vor Schmerz auf und griff nach ihr, doch Kaya tänzelte aus seiner Reichweite. Es gelang ihr dabei sogar, sich die zweite Handaxt aus seiner Stirn zu schnappen, als er sich vornüberbeugte. „Ich weiß, dass du irgendeine Schauergeschichte bist, die die Leute ihren Kindern erzählen, aber ich komme nicht aus dieser Gegend“, sagte Kaya, sobald sie sich in einem sicheren Abstand befand.

Varragoth brüllte entrüstet auf und machte einen Satz auf sie zu. Ein einziger Schlag dieser riesigen Flügel trug ihn über die halbe Distanz. Sie landete zwei saubere Treffer, doch keiner schien ihn sonderlich zu verlangsamen.

Kaya duckte sich unter einem Axthieb hinweg und spürte den Luftzug über ihr Gesicht peitschen. Dann war Cosima da, die ihre Klingen in großen, weit ausladenden Hieben schwang, die Varragoths eiserne Rüstung wie Wasser durchdrangen. Sollten die Wunden den Dämon beeinträchtigen, so ließ er sich nichts davon anmerken.

Hinter ihm ließen sich weitere Gestalten mit dunklen Flügeln vom Himmel herab und landeten zwischen ihnen und der Brücke. Kaya versuchte, der bleiernen Schwere in ihren Gliedern keine Beachtung zu schenken und verlagerte den Griff um ihre Handäxte. Es war keine Zeit, sich um das Sorgen zu machen, was auch immer sich hinter Varragoth befand. Wenn sie nicht an ihm vorbeikam, spielte nichts anderes eine Rolle.

Sie und Cosima drängten gemeinsam vorwärts. Die Meeresgöttin griff tief an, Kaya hoch. Cosima wurde von einer Rückhand mit der stumpfen Seite der dämonischen Streitaxt getroffen und zurückgeschleudert, doch Kaya hackte ihre eigene Axt in Varragoths Schulter. Weder taumelte er, noch wich er zurück. Stattdessen griff er nach einem ihrer Beine. Wäre sie nicht instabil geworden – nun eine beachtliche Anstrengung, selbst für einen kleineren Teil ihres Körpers –, hätte er sie gegen den Boden gedroschen und ihr das Rückgrat gebrochen.

Sie befreite sich stolpernd und stand gerade rechtzeitig auf, um einem neuerlichen Hieb der Axt auszuweichen. Wie lange konnte sie das noch durchhalten? Hinter ihm bahnten sich weitere massige, gehörnte Gestalten einen Weg durch die Horden von Draugr. Es ist noch nicht zu spät, sagte eine leise Stimme in ihr. Du kannst jederzeit weggehen.

Kaya verlagerte ihr Gewicht zu einer gut ausbalancierten Haltung und holte tief Luft. Ja, das konnte sie. Doch das hieß nicht, dass sie es auch würde.

Der erste von Varragoths Dämonen stieß Draugr aus dem Weg und trat aus der Menge. Hinter ihm waren noch mehr, und wer wusste schon, wie viele hinter diesen lauerten. Sie ging leicht in die Knie, machte sich erneut zu einem Satz nach vorn bereit – und wurde von einem vertrauten Geräusch unterbrochen: einem Stoß in ein Horn. Diesmal viel näher.

Kriegshorn-Ruf
Kriegshorn-Ruf | Bild von: Bryan Sola

Sie prallten sowohl auf die Draugr als auch auf die Dämonen – von Osten her, wo sich die aufgehende Sonne auf ihren Rüstungen und Schilden spiegelte und das uralte Messing einen Augenblick lang wie neu erscheinen ließ. Elfen, begriff Kaya. Eine Reihe Pikenträger pflanzte die Hefte auf den Boden und bildete eine Mauer zwischen Kaya und den Dämonen. Sie halfen ihr.

„Brauchst du Beistand?“, erklang eine Stimme hinter ihr.

Tyvar saß auf etwas, was für Kaya wie eine Art Rentier aussah. Es war mit derselben Art von grünlicher Messingrüstung wie der Rest der Elfen ausgestattet worden. Neben Tyvar ritt ein weiterer Elf, größer und schlanker, mit dem gleichen roten Haar, aber einer Ernsthaftigkeit in seinen Gesichtszügen, die sie an Tyvar nie gesehen hatte.

„Kaya, wenn ich vorstellen dürfte: Harald, König der Elfen von Skemfar, Vereiniger der Stämme des Waldes und der Schatten. Außerdem mein älterer Bruder“, sagte Tyvar grinsend.

„Eure Majestät, ich bin überaus erfreut, Euch kennenzulernen.“

Ehe Harald antworten konnte, ertönten ein metallisches Knirschen und ein Schrei. Varragoth hatte die Reihe durchbrochen, einen der elfischen Pikenträger zertrampelt und einen zweiten mit seiner Axt gespalten. Zahlreiche Piken steckten in den Lücken in seiner Rüstung, doch es schien ihm nichts auszumachen. Ermutigt rückten nun auch die anderen Dämonen vor, kreuzten die Klingen und hämmerten mit entsetzlicher Stärke auf Schilde ein.

Tyvar spornte sein Rentier an und stieg anmutig hinter den Elfen ab, die dem dämonischen Ansturm Einhalt zu gebieten versuchten. Er legte die Hände auf die Rüstung an ihrem Rücken, und Kaya sah zu, wie die Panzerung zu wachsen begann und ihre Umrisse sich perfekt den Körpern darunter anpassten, während das Metall sich ineinanderfaltete, um dicker zu werden. Ein Dämon wagte eine Finte an dem Schild vorbei und zog sein Schwert über die verstärkte Brustplatte eines Elfen, wo es beim Abprallen jedoch nur einen Funkenregen erzeugte. Das nenne ich einen guten Freund, dachte Kaya.

Weitere Elfen strömten hinter Harald herbei und füllten die Lücken in der Reihe auf. Kaya erlaubte es sich, einen Augenblick durchzuatmen.

„Also“, sagte sie zu dem Elfenkönig. „Euer Bruder ist …“

„Ein Narr“, sagte Harald knapp. „Und ein Angeber. Aber kein Lügner. Er hat mich davon abgehalten, hier einen Fehler zu begehen. Und dafür bin ich dankbar.“

„Ich bin auch ziemlich dankbar.“

„Er sagt, du musst die Brücke erreichen.“ Harald streckte ihr eine Hand hin. „Ich kann dich dorthin bringen.“

„Was wird aus Tyvar?“

Sie blickten zurück zum Kampf, zu den Elfen, die auf die Dämonen und die Draugr trafen. Tyvar, dessen Arme nun in dieser alten Messingfarbe erstrahlten, tänzelte um einen wütenden Varragoth herum. Es gelang ihm tatsächlich, über einen weiten, ausladenden Hieb hinwegzuspringen, um dem Dämon mit einer metallischen Faust einen Schlag auf den Kiefer zu versetzen.

„Ich bin sicher, er hat den Spaß seines Lebens. Nun komm“, sagte Harald.

Er zog sie auf das Rentier. Augenblicklich stürmte es vor, und sie musste sich an der Taille des Elfenkönigs festklammern, um nicht abgeworfen zu werden.

Die Kreatur bewegte sich mit der Anmut und der Ruhe eines ausgebildeten Streitrosses durch die Schlacht. Manchmal beugten sich Draugr, die nicht mit der elfischen Armee kämpften, vor und holten nach ihnen aus. Kaya schlug die ungelenken Versuche mit der Handaxt beiseite. Zu einer Seite des Schlachtfelds hin spannte ein Dämon die Sehne seines knorrigen schwarzen Bogens. Bevor er jedoch schießen konnte, machte Harald eine Handbewegung, und aus dem Bogen sprossen Blumen und Ranken, die sich im Nu um die Arme des überraschten Dämons und seine Kehle hinauf wanden.

Ehe Kaya sichs versah, hatten sie die Brücke erreicht. Wäre der Haufen fächerförmig aufgeschichteter Draugrleichen nicht gewesen, die den Zugang versperrten, hätte diese Brücke überall stehen können. Inmitten des sie umgebenden Pandämoniums wirkte sie vollkommen gewöhnlich. Auf den ersten paar Bohlen stand ein Mann in einfacher, zweckmäßiger Rüstung, der so erschöpft aussah, wie sie sich fühlte, und der einen mit Stahl eingefassten Holzschild trug. Als das Rentier nähertrappelte, blickte er zu ihnen auf. „Ihr seid nicht hier, um zu versuchen, die Brücke zu überqueren, oder?“

„Nein. Bist du Halvar?“, fragte Kaya.

„Aye. Das bin ich. Ich erkenne dort den König von Skemfar. Zu wem macht dich das dann?“

„Ich bin Kaya. Ich habe etwas, von dem ich glaube, dass es dir gehört.“

Sie zog das Schwert aus der Scheide auf ihrem Rücken, und im seltsamen Licht des Doomskars schimmerte es noch umso mehr. Kaya warf ihm das Schwert zu, das sich in der Luft einmal um die eigene Achse drehte und schließlich in seiner Hand landete, als habe es schon immer dort hingehört.

„Das Schwert, das Koll schmiedete – bevor er fiel.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich hätte nie gedacht, dass es ein Elf sein würde, der es mir zurückbringt.“

„Und ich hätte nie gedacht, dass ich einmal einem der Usurpatorengötter helfen würde“, blaffte Harald. „Doch offenbar bist du der Einzige, der dieses Chaos ins Reine bringen kann.“

Halvar nickte. „Ja. Mit diesem Schwert kann ich das, denke ich. Aber ich brauche Zeit.“

„Die können wir dir verschaffen“, sagte Kaya.

„Haltet die Brücke, bis ich die Reiche wieder trennen kann.“

„Was ist nur so wichtig an dieser verfluchten Brücke?“, fragte Harald. „Was genau befindet auf der anderen Seite?“

„Menschen“, sagte Halvar schlicht. Dann setzte er sich mit überkreuzten Beinen nieder und legte sich das Schwert quer über den Schoß.

Kaya glitt vom Rücken des Rentiers. Die Draugr hatten die elfische Armee an ihrer Flanke anscheinend endlich bemerkt und setzten sich zur Wehr. Sie waren zahlenmäßig weit überlegen, und der Unterschied wurde nur umso größer, je mehr aus dem Riss in der Welt strömten. In der Ferne sah sie die Banner der Tuskeri, der Beskir, der Omensucher und der Kannah, aber sie waren weit von Kayas jetzigem Standort entfernt. Halvar auf der Brücke hatte sich tief in sich selbst zurückgezogen. Seine Augen waren geschlossen, und das Schwert begann, aus sich heraus zu leuchten.

Die Draugr in der Nähe hatten sich zu Reihen formiert und marschierten in gleichmäßigem Tempo auf Kaya und Harald zu. Über den Draugr konnte sie weitere untote Trolle aufragen sehen, die in ihre Richtung schlurften. Das Fleisch eines von ihnen hatte sich so weit zurückgezogen, dass es den Blick auf einen blanken, von Eis verkrusteten Schädel freigab. Über all dem gewannen Dämonen auf ledrigen Schwingen an Höhe.

„Das ist reinste Torheit“, murmelte Harald und nahm die Zügel fester in die Hand, als das Rentier Gefahr witterte und hin und her tänzelte.

„Ja“, sagte Kaya und zog die Handäxte, die Tyvar ihr gegeben hatte, aus dem Gürtel. „Wahrscheinlich.“ Allerdings würde sie nirgendwo anders hingehen.

Sie sah zu, wie sich die Dämonen auf diesen schwarzen Schwingen in die Lüfte erhoben – und dann erblickte sie es. Ein sich auftürmendes und ausbreitendes Muster am Himmel, als würde die Luft selbst dünn werden. Es tat sich langsam auf und göttliches Licht brach daraus hervor – ein weiterer Riss in der Welt. Wie der, aus dem die Draugr herausgeströmt waren. Doch etwas war an diesem anders. Dort, wo der Himmel straff gespannt war, konnte sie etwas erkennen, was sich wie eine Hand gegen Stoff gegen die Rückseite des neu entstehenden Risses drückte. Mit einem Geräusch wie Donner brach er auf.

Komas Windung
Komas-Windung-Spielstein | Bild von: Simon Dominic

Das Ding, das sich aus dem Riss wälzte, hatte Eigenschaften, die Kaya durchaus zuzuordnen verstand – flache Nüstern, einen gewundenen Körper, gebogene Fangzähne voller Gift –, doch in dieser Größe wirkten sie fremdartig und grotesk. Es war nicht nur gewaltig, es war wie ein ganzer eigener Kontinent. Nicht einfach nur eine Schlange, sondern die Schlange. Alle anderen waren dagegen nur eine schaler Abklatsch, eine schlechte Kopie. Sie sah groß genug aus, um sich um jeden der Zweige des Weltenbaums winden zu können. Und das tut sie wahrscheinlich auch, dachte Kaya.

„Bei den Einir“, flüsterte Harald neben ihr. „Koma. Die Kosmosschlange.“

Selbst die Schwerkraft schien sich vor dem Ding zu fürchten: Es bewegte sich beinahe neugierig durch die Luft und warf im Vorübergleiten einen Schatten auf das halbe Schlachtfeld. Kaya sah, wie es einen stämmigen Dämon aus der Luft schnappte, als wäre er ein Moskito. All das Chaos der Schlacht verebbte. Es wurde still, als sie alle – Untote, Elfen und Menschen – ob des Vorüberziehens der Schlange innehielten.

Als sie den Riss nach Karfell erreichte hatte, hielt die Schlange an. Diese riesigen, klaffenden Nüstern zuckten einmal, dann zweimal. Mit entsetzlicher und jäher Geschwindigkeit tauchte sie in den Riss in der Welt und zermalmte mit einem beiläufigen Schwanzschlag Dutzende von Draugr in der Nähe. Endlose Windungen der Schlange glitten in die eisige Kluft, bevor sie schließlich verschwunden war.

Kayas Erleichterung war so groß, dass sie kaum die anderen Wesen bemerkte, die aus der Öffnung strömten, die Koma gerade aufgerissen hatte. Sie sahen aus wie Engel, mit großen, gefiederten Schwingen aus Weiß und Schwarz und Braun und Rot, gepanzert und bewaffnet, und viele von ihnen brüllten mit plötzlicher und erschreckender Wut. Keine Engel, wie sie einen Augenblick später erkannte. Walküren. Inga hatte ihr von ihnen erzählt. Gerechte Richter, Wächter über die heldenhaften Seelen, die auf ewig in Starnheim kämpften und schmausten. Sie fuhren von oben auf die Dämonen nieder. Gefiederte Schwingen verfingen sich in ledrigen Membranen, als sie gemeinsam aus der Luft herabstürzten oder von klirrendem Stahl abprallten.

Starnheims Heere
Starnheims Heere | Bild von: Johannes Voss

Nur eine Gestalt unter ihnen hatte keine Flügel: Sie hing vielmehr vom Arm einer Walküre herab, die sie abwärts in Kayas Nähe trug. Kurz bevor sie den Boden erreicht hatte – vielleicht in einer Höhe von zehn Schritt –, ließ die Gestalt los. Die Luft um sie herum schien sich zu verhärten und sich dann zu festen, spiegelnden Splittern aus … irgendetwas … zu verdichten. Mit der Geschwindigkeit eines Jongleurs griff die Gestalt nach dreien von ihnen und warf sie. Jeder von ihnen grub sich in die Brust eines massigen untoten Torga. Die Trolle gingen jedoch nicht einfach zu Boden – sie zersprangen wie Glas unter einem Hammerschlag.

„Netter Kniff“, sagte Kaya. „Wer bist du?“

Die fremde Gestalt wirbelte zu Kaya herum und hielt einen weiteren Spiegelsplitter in der Hand. Kaya hob instinktiv die Hände. Sie hatte gesehen, was diese Splitter anrichten konnten.

„Wer bist du?“, fragte das fremde Geschöpf. Es bemerkte nicht den Draugr hinter sich, der ein zerschundenes und uralt aussehendes Großschwert schwang. „Hinter dir!“ Kaya verlagerte den Griff um ihre Axt und warf.

Das fremde Geschöpf nahm mit einem Zucken den Kopf aus der Flugbahn der Waffe. Die Axt grub sich in das skelettierte Gesicht des Draugr und warf ihn zu Boden. Einen Augenblick später atmeten Kaya und die Person, die von ihr soeben gerettet worden war, erleichtert auf.

„Ich bin Kaya“, sagte sie. „Hast du einen Namen?“

„Niko. Niko Aris.“

Das klang nicht nach dem Namen eines Bewohners Kaldheims. „Schön. Wir machen uns später näher miteinander bekannt.“

Splitter-Spielstein
Splitter-Spielstein | Bild von: Aaron Miller

Kaya wandte sich erneut der Menge aus Draugr und Dämonen zu. Irgendetwas stürmte durch die Menge auf sie zu und schleuderte leichenhafte Soldaten in die Luft, während es sich einen Weg auf sie zu bahnte. Varragoth – wer auch sonst? – brach aus den Reihen der Draugr hervor und sah mehr wie eine wilde Bestie und weniger wie ein Dämonenjarl aus. Die Eisenrüstung, die er getragen hatte, war verbogen, voller Dellen und Risse, und seine Axt hatte er irgendwo unterwegs verloren. Er blutete aus einem Dutzend verschiedener Wunden, doch er stand noch immer aufrecht. An seinen Rücken geklammert, mit rotem Haar, das dunkel war von Blut, und leerem Blick klammerte sich Tyvar.

Harald zischte ein Wort, und Schlangen wuchsen aus dem Boden. Ihre Schuppen zierten die gleichen Runensymbole, die sie auf Tyvars eigener Magie gesehen hatte. Sie wanden sich um Varragoths Beine und hielten ihn fest – bis er sie mit bloßen Händen entzweiriss. Niko warf einen Spiegelsplitter auf den Dämon, doch er parierte diesen mit einer der Eisenplatten, die noch immer an seinem Arm befestigt waren, und das Ding prallte wirkungslos ab.

Als Varragoth näher heranstapfte, sah Kaya, wie Tyvar seine Messingklinge in den Flügel des Dämons rammte. Varragoth schrie vor Schmerz und Wut auf und versuchte, nach Tyvar auf seinem Rücken zu greifen – und löste einen Wimpernschlag den Blick vom Rest der Gruppe. Und dies war genau die Gelegenheit, die Kaya gebraucht hatte.

Ja, sie versuchte sich jetzt als Heldin. Kaya hatte allerdings eine lange Zeit als Meuchlerin zugebracht.

Die Bewegung war geschmeidig, leicht, beinahe mühelos. Sie erforderte keine magischen Kräfte oder Instabilität. Kaya schlüpfte heran, vorbei an Varragoths freiem Arm, und hieb ihm sauber eine Axt durch die Kehle. Der Dämon stolperte vorwärts, und beide Hände fuhren an den Schwall teerigen Blutes, der plötzlich aus seinem Hals sprudelte. Er machte noch einen Schritt, streckte eine Klaue aus – und brach zusammen.

Kaya hatte nicht einmal Zeit, um auszuatmen. Hinter ihnen erklang plötzlich ein Geräusch wie Wasserrauschen. Über ihnen kräuselte sich eine Welle aus Farben über den Himmel: dieselben göttlichen Töne von Grün und Blau und Violett, die die Götter umgaben. Sie sah zu, wie die Woge über den gewaltigen Riss auf dem Schlachtfeld wusch – der, aus dem noch immer Draugr quollen. Langsam, wie eine heilende Wunde, wurde der Riss kleiner und schloss sich.

Kaya wusste nicht, ob die Draugr Untote ohne Verstand waren, doch zumindest waren sie tumb. Sie bemerkten nicht, dass ihrer Verstärkung der Weg abgeschnitten worden war. Überall auf dem Feld sah sie Dämonen, die nicht mit den Walküren kämpften, in die Luft aufsteigen, als Panik endlich ihren Blutdurst stillte. Sie drehte sich um und sah Halvar dort stehen. Das Schwert der Reiche deutete geradewegs in den Himmel. Licht strömte in einem gleißenden Kaleidoskop aus ihm heraus. Hinter ihm bemerkte sie eine Bewegung hinter einem der Fenster im Dorf jenseits der Brücke. Dort starrte das runde Gesicht eines Kindes mit großen Augen und offenem Mund heraus und sah zu, wie der Gott der Schlachten die Risse in der Welt flickte. Ja, dachte Kaya. Das wird eine ziemlich gute Saga.

Halvar, Gott der Schlachten
Halvar, Gott der Schlachten | Bild von: Lie Setiawan

„Gegen Ende“, sagte Tyvar, während sie das nun stille Schlachtfeld überquerten, das von zahllosen Stiefeln schlammig getrampelt war, „habe ich höchstselbst fast einhundert Draugr und drei Dämonen niedergestreckt. Doch ich schätze, dass man sich noch lange Zeit von dir erzählen wird. Die Frau, die Varragoth bezwungen hat. Die Töterin des Bluthimmel-Stammvaters. Ach, ich kann es beinahe hören!“

„Nun ja, achte nur darauf, dass sie die Einzelheiten richtig erzählen“. sagte Kaya. Ihr tat alles weh und jede Faser ihres Körpers war erschöpft, aber sie konnte sich dennoch ein Grinsen nicht verkneifen.

„Tatsächlich“, sagte Tyvar und blieb stehen, „bin ich mir nicht sicher, ob ich hier sein werde, um sie zu berichtigen.“

Kaya hob eine Augenbraue. „Gehst du irgendwohin?“

„Ich möchte gern das sehen, was es zu sehen gibt – da draußen in deinem Multiversum.“

„Oh? Ich dachte, das Weltenwandeln interessiert dich nicht?“

Tyvar zuckte die Schultern. „Ich habe wohl zu voreilig geurteilt. Und du hast mich eines Besseren belehrt. Ich weiß nicht, was aus unseren Welten geworden wäre, wenn du nicht hier gewesen wärst. Chaos und Zerstörung, vermute ich. In größerem Ausmaß. Vielleicht gibt es eine Welt – und Menschen – da draußen, die meine Hilfe brauchen. So wie Kaldheim deine Hilfe brauchte.“

„Wolltest du nicht, dass man sich an dich erinnert? Du lässt all den Ruhm zurück“, sagte Kaya.

„Ach, darüber mache ich mir keine Gedanken mehr. Ich glaube nicht, dass die Menschen jemals vergessen werden, was du hier getan hast“, sagte er. Das vermochte sie noch immer völlig zu verblüffen – diese verfluchte Aufrichtigkeit, die er zeigte. Es war so arglos, dieses Kind. Ein offenes Buch. Doch er hat mich gerettet. Mehr als einmal. Sie schätze, es würde ihm schon nichts zustoßen.

„Nun“, meinte sie. „Vielleicht sehen wir uns irgendwann da draußen.“

„Das werden wir“, sagte Tyvar, zuversichtlich wie immer. „Und nächstes Mal werden es meine Taten sein, die in die Geschichtsbücher eingehen.“

Sie gelangten an irgendeine Art Scheideweg – zumindest das, was einst einer gewesen sein mochte. Nun war er mit den Trümmern des Krieges übersät: Schwerter und Speere, Äxte und Helme und überall Leichen. Draugr, ja, aber auch Menschen und Elfen. Ein Augenblick der Stille hing in der Luft.

Am Scheideweg wartete Inga Runenauge zusammen mit den anderen Anführern der Clans Bretagards: Arni, Sigrid und Fynn. Neben dem Anführer stand dieses schlanke, fremde Geschöpf. Das, das vom Himmel gefallen war. Niko war sein Name.

Auch Harald war in der Nähe, umgeben von einer Abordnung Ehrengardisten in Messingrüstung. Er und Fynn starrten einander mit offener Verachtung an, doch immerhin waren noch keine Waffen gezogen worden. Da der Doomskar nun vorüber war, waren die Götter verschwunden. Auf zu anderen Aufgaben und Pflichten – dieser Winkel Kaldheims war sicher kaum der einzige, der gelitten hatte, vermutete Kaya.

„Kaya. Tyvar“, sagte Inga grüßend. „Ihr scheint unverletzt.“

„Mehr oder weniger“, sagte Kaya.

„Das freut mich.“

„Wir haben die Reihen der Draugr durchbrochen und ihre Hauptstreitmacht vertrieben“, sagte Sigrid. „Unsere Kundschafter verfolgen die Ausreißer, aber wir werden sie nie alle finden. Sofern Draugr nicht während der wärmeren Jahreszeit schmelzen, werden wir uns noch Jahre mit ihnen herumschlagen. Doch das ist nichts im Vergleich zu den Dämonen, die entkommen sind.“

Sigrid die Götterbegnadete
Sigrid die Götterbegnadete | Bild von: Johannes Voss

„Auf ganz Bretagard sieht es so aus. Vermutlich in allen Reichen“, sagte Inga. „Die Risse waren lange Zeit offen. Unmöglich zu sagen, was da hindurchgekommen ist.“

„Ich für meinen Teil kann es kaum erwarten, das herauszufinden“, sagte Arni.

„Es ist, wie du sagst: Alle Reiche wurden durch das verändert, was hier geschehen ist. Die Elfen werden nach Skemfar zurückkehren, um sich um die ihren zu kümmern“, sagte Harald. „Es wird nicht leicht werden, selbst nach dem Ende des Doomskars. Doch die Zauber unserer Ahnen sind dazu und zu noch viel mehr in der Lage.“

„Ich schätze, bis dahin müssen wir miteinander auskommen“, sagte Fynn mit straff angespannten Kiefermuskeln.

„Was hast du nun vor, Kaya?“, fragte Inga. „Du musst noch immer ein Ungeheuer fangen, oder nicht?“

„Ja“, sagte Kaya. Sie hatte das Ding in der Höhle nicht vergessen, auch wenn ihre Reise mit den Omensuchern hundert Jahre her zu sein schien. „Aber es ist unmöglich zu sagen, wo es nach all dem hingeraten sein könnte. Und ich habe das Gefühl, dass es sehr viel weiter reisen kann als nur zu anderen Reichen.“

„Was liegt jenseits der Reiche?“, fragte Niko.

„Die Welten. Es ist alles ziemlich kompliziert“, sagte Kaya und winkte ab. Sie war zu müde, das alles noch einmal zu erklären.

Doch Niko trat mit einem seltsam neugierigen Ausdruck in den Augen vor. „Diese Welten. Heißt eine davon Theros?“

Kaya blickte überrascht auf. Es war schwer zu glauben, dass dieser Name hier und jetzt fiel – doch was an diesem Tag war schon leicht zu glauben? Noch wer von unserer Sorte, dachte sie und seufzte. „Wir sollten uns vermutlich unterhalten.“

Epilog

Esika lag im Sterben. Dazu hätte es eigentlich niemals kommen sollen – sie war eine Göttin. Tatsächlich war es ihre Hand gewesen, die die Götter ihrer Sterblichkeit, ihres Alterns und jenes letzten Hereinbrechens der Dunkelheit entledigt hatte. Es war Esika gewesen, die das Elixier der Göttlichkeit aus dem Harz des Weltenbaumes gebraut hatte, jenen Trank, der den Tod in Schach hielt, und dennoch konnte sie spüren, wie das Leben ihr entwich. Es lief ihr die Arme, den Körper, das Gesicht hinunter. Sie konnte die Beine nicht bewegen. Sie wäre mittlerweile zu Boden gefallen, würde das Ungeheuer, das ihr dies angetan hatte, sie nicht mit einer rohen, fleischfarbenen Klaue festhalten. Es neigte sie leicht zu einer Seite hin und begutachtete sie aus diesen dunklen, leeren Augenhöhlen. Es, dieses Ding, hatte sie in ihrem Heiligtum gefunden, jenem Ort, an dem sie das Harz erntete und das Kosmoselixier braute. Niemand – nichts – hatte sie je hier aufgespürt.

Esika, Göttin des Weltenbaums
Esika, Göttin des Weltenbaums | Bild von: Collin Estrada

Eine Stimme entrang sich der Kehle des Ungeheuers – eine eigenartige Verschmelzung aus Lauten und Tönen, als wären die Worte anderen Stimmen gestohlen und zu etwas Neuem geformt worden. „Nicht genug Hunger in dir. Nicht genug Furcht, um zu überleben. Aber bald.“

Dann ließ es sie fallen und schlich zurück zu dem Brunnen, der zum Herz des Baumes führte.

Esika versuchte, die Arm zu heben – sie war nie eine Kriegerin gewesen wie Halvar oder Toralf, doch sie würde mit allen Mitteln kämpfen, um den Weltenbaum zu verteidigen. Doch ihre Arme wollten ihr nicht gehorchen. Sie wollte schreien, um um Hilfe zu rufen, doch das Einzige, was sie hervorbrachte, war ein blubberndes, feuchtes Krächzen.

Hilflos sah sie zu, wie das Monster den Brunnen erreichte. Welches Gift würde es verwenden? Welche Verderbnis würde es in diesen heiligsten aller Orte pflanzen?

Thyrit-Heiligtum
Thyrit-Heiligtum | Bild von: Volkan Baga

Zu ihrer Überraschung holte es eine ihrer eigenen Flaschen hervor. Es musste sie ihr während des Kampfes abgenommen haben. Sie sah zu, wie es die Flasche in den Brunnen tauchte und sie dann gegen das Licht hielt. Im Inneren schimmerte das Harz des Weltenbaumes in allen Farben der Reiche. Das Schönste auf der Welt – auf jeder Welt, soweit es Esika betraf. Falls das Ungeheuer gerührt war, so zeigte es keinerlei Anzeichen davon.

„Probe entnommen“, sagte es mit diesem Flickwerk einer Stimme. „Ich bin zur Rückkehr bereit.“

Esika hatte keine Ahnung, mit wem es sprach.

Das Licht im Raum schien dahinzuschwinden oder vielleicht war es auch nur ihr Augenlicht, das erlosch. Plötzlich war da ein grelles, flackerndes Licht in der Mitte der Kammer – ein fauchendes, funkensprühendes rotes Leuchten, das als einzelner Stern begann und sich dann langsam zu einem Kreis ausdehnte. Der Kreis wurde größer – das war kein Omenpfad, wie sie nun sehen konnte. Es war Magie in einer Form, die sie noch nie zuvor erlebt hatte.

Von der anderen Seite des Portals erklang ein derart unweltlicher und sonderbarer Laut, dass sie ihn beinahe nicht als Stimme erkannt hätte: „Willkommen zurück, Vorinclex. Wir nähern uns immer weiter der Perfektion.“

Vorinclex, Monströser Plünderer
Vorinclex, Monströser Plünderer | Bild von: Richard Luong