Das Heulen des Dings im Knoten war wie nichts, was Will je zuvor erlebt hatte, und das Gebrüll grub seine Verheißung von jeder nur denkbaren Art von Gewalt und Tod tief in das Herz des Jungen. Mit jedem verstreichenden Augenblick schleppte die Kreatur sich ein klein wenig weiter aus dem Vortex aus Macht heraus. Über Will und Rowan stürzte ein Dachbalken herab und prallte mit einem unheimlichen Geräusch zu Boden – nur wenige Armlängen von ihnen entfernt.

„Und sie dachten, ich würde nie etwas aus mir machen! Dass ich nicht hierhergehöre – zu ihren ach so mächtigen Orakeln!“, keckerte Extus. Er wirbelte umher und gestikulierte wild in Richtung der ihn umgebenden Statuen. „Und wo sind sie jetzt? Wer hilft euch in eurer Zeit der Not?“

Extus’ Gelächter wurde wilder, als die Axt des Blut-Avatars eine der Statuen traf und das Abbild eines der früheren Orakel in zwei Hälften spaltete. Der Kopf und die ausgebreiteten Arme stürzten vornüber und zerbarsten am Boden.

Will half Rowan auf die Beine. Ihrer beider Roben waren getränkt von dem Blut, das den Raum füllte – mehr Blut als in hundert Kämpfen hätte vergossen werden können. „Er wird die Schule vernichten“, sagte Will und versuchte, seine Stimme am Zittern zu hindern.

Irgendwie wirkte Rowan allerdings gar nicht verängstigt. Vielmehr sah er eine Konzentration in ihrem Blick, die er im Unterricht, im Lernraum oder in ihrem gemeinsamen Zimmer noch nie zuvor bemerkt hatte. Zum ersten Mal verstand er nun etwas, was seine Schwester anbelangte: Dies war es, wo ihre Talente lagen. Mitten in den Sturm hineinzulaufen.

„Nicht, wenn wir es verhindern können“, sagte sie. Er nickte.


Draußen hallte das entsetzliche Gebrüll über den gesamten Campus. Es fand Dekanin Uvilda, die eine Gruppe entwischter Prismari-Schüler in eine Dimension führte, welche nur in Notfällen betreten werden durfte. Uvilda drehte ob des Geräuschs den Kopf, erschauerte und beschleunigte ihr Zauberwirken. Es fand Plink und Auvernine, die durch einen dunklen Tunnel voller Wurzeln und Erde krochen, während über ihnen Drachenfeuer alles an der Oberfläche in Asche verwandelte. Es fand Lukka, selbst wenn es all seiner Konzentration bedurfte, die vielen Magierjäger am Kämpfen zu halten, die an mehreren Fronten in Gefechte verwickelt waren. Es ist also getan, dachte er.

Lukka grinste zu Mila hinunter. „Wie es aussieht, hat Extus erreicht, was er wollte.“

Sie erwiderte den Blick nicht, sondern starrte nur mit weit aufgerissenen Augen und gesträubtem Nackenfell zum Himmel hinauf. Einen Moment später machte sie einen Satz unter ein eingestürztes Vordach. Lukka begriff nicht, was sie da vorhatte – nicht, bevor es im Zweifelsfall zu spät gewesen wäre –, doch er vertraute ihr genug, um ihr blindlings zu folgen.

Das Drachenfeuer versengte die Pflastersteine, auf denen er gerade noch gestanden hatte, und färbte den Weg schwarz. Der Schwarm Magierjäger in der Nähe ging beinahe sofort in Flammen auf. Die Kreaturen kreischten und fauchten, als sie starben. Zahllose Eindrücke sengenden Schmerzes zuckten gleichzeitig durch Lukkas Verstand, und er trennte die Verbindung, bevor er überwältigt wurde.

Jene Magierjäger, denen es gelungen war, dem Angriff des Drachen zu entgehen, schauderten und zuckten, als ihr Verstand wieder ihnen gehörte. Sie klackerten mit ihren unzähligen Zähnen, streckten die leuchtenden Fühler aus und wandten sich der nächsten Quelle magischer Nahrung zu: Oriq-Agenten. Neue Schreie erfüllten die Luft, als die Kreaturen über die Oriq herfielen.

Lukkas Augen weiteten sich, während er dem Gemetzel zusah. Mila machte einen Schritt vorwärts, doch Lukka hielt sie mit einem raschen mentalen Befehl zurück.

Dies war nicht länger sein Kampf.

Er rief Mila an seine Seite und rannte in die Dunkelheit.


Will duckte sich, als weitere Trümmer um ihn herum zu Boden fielen. Gerade als eine weitere Statue zerschellte, sah er sie: eine Lücke in all dem Chaos. Er holte tief Luft und versuchte, sich an die Einzelheiten des iterierten Kondensationszaubers zu erinnern. Mit einem konzentrierten Kraftakt erzeugte er einen wirbelnden Vortex aus rasiermesserscharfen Eissplittern und schleuderte ihn Extus entgegen, der noch immer vor dem Blut-Avatar stand. Der Oriq hatte die Arme ausgebreitet und schien außer seinem eigenen Sieg nichts um sich herum wahrzunehmen.

Bevor das Eis ihn erreichte, zuckte ein Blitz durch die Splitter, zersprengte sie und stob selbst danach in alle Richtungen auseinander. Rowan hatte die Lücke auch gesehen gehabt. „Bleib aus dem Weg“, rief sie.

„Wir müssen zusammenarbeiten!“, rief er zurück. „Alles, was wir tun müssen, ist …“

Herabstürzender Schutt, der ihn an der Schulter traf und ins Straucheln brachte, schnitt ihm das Wort ab und brachte ihn zu Fall.

„Will!“, rief Rowan und rannte auf ihn zu.

Es war unmöglich zu erkennen, ob ihr Bruder verletzt war: Überall war Blut. Es bedeckte den Boden und ihre Roben und hatte die Wände und Statuen bespritzt.

Sie hatte ihn beinahe erreicht, als das gewaltige Schwert der Kreatur sich in den Stein vor ihr grub – dicht genug, dass sie den Rost und das zernarbte Eisen aus äonenalten Kämpfen darunter sehen konnte. Mit ihrem eigenen wütenden Schrei drückte sie die Hände gegen die Klinge, nutzte das Schwert kurzerhand als Blitzableiter und ließ eine Ladung durch es hindurch und in die Hand des Ungetüms fahren. Das Ungeheuer zog einfach nur sein Schwert aus dem Boden und schleuderte sie zurück.

Rowan zog sich zu einer der Wände zurück. Ihr Blick wanderte zwischen Extus, der Kreatur, die er beschworen hatte, und Will, der nun grässlich reglos am Boden lag, hin und her. Es war zu viel. Sie blinzelte die Tränen fort, die sich in ihren Augen sammelten, und spürte eine kalte Wut von irgendwoher in sich aufsteigen – Zorn, der die Furcht und den Schmerz mühelos bezwang. Sie konnte nicht gewinnen, doch sie konnte demjenigen, der dies getan hatte, Schmerz zufügen.

Ehe sie dem Anführer der Oriq jedoch einen weiteren Blitz entgegenschleudern konnte, schweifte ihr Blick zu dem Knoten, der da in der Luft hing. Noch immer schillernd, selbst in Scharlachrot. Noch immer schier berstend vor Macht.

Rowan holte tief Luft, schloss die Augen und streckte die Sinne aus.


Das Gebäude um ihn herum erbebte, der Blut-Avatar aus der alten Welt brüllte mit beispielloser Wut, und für Extus war die Welt endlich in Ordnung. Langsam wandte er sich um und nahm den Anblick der in sich zusammenstürzenden Halle der Orakel in sich auf. Sie waren Narren gewesen, ihn zu übergehen. Es hatte viele Jahre gedauert, das zu beweisen, doch als eine weitere Statue zu Boden fiel und in tausend Stücke zersprang, sagte er sich, dass es das lange Warten wert gewesen war.

Sein Lächeln erstarb, als die Stimme des Blut-Avatars brach und das wütende Gebrüll jäh verstummte. Extus drehte sich auf dem Absatz um und erstarrte. Die Kreatur zuckte und bäumte sich auf. Das Leuchten des Knotens hinter ihr flackerte wild. Dieses Effekt hatte Extus schon oft gesehen: bei seinen zahllosen Fehlschlägen. Das kann nicht sein.

Er hatte seine Berechnungen geprüft. Das musste klappen: Jeder einzelne Knoten auf Arcavios barg genug Energie, um jeden bekannten Zauber anzutreiben. Wie also konnte das nicht ausreichen? Und dann sah er ihn: einen Strudel geisterhaften Zinnoberrots, der aus dem Nexus trieb, als würde er aus ihm herausgezogen. Eine irregehende Ranke aus purer Macht.

Er folgte ihr zu ihrem Ursprung, zurück zu dem jungen blonden Mädchen in der Ecke des Raumes, das ihn nun mit wilden, hasserfüllten Augen ansah. Blitze zuckten auf und knisterten über das Haar und die Haut des Mädchens, als die Energie des Knotens in es hineinfuhr.

Extus starrte zurück – zu entgeistert, um sich zu rühren.

Auf überhaupt gar keinen Fall konnte es irgendeine klägliche Erstsemesterin sein, die seine Pläne zunichtemachte.

Oder?

Rowan rang nach Atem, als die Luft um sie herum vor Energie zischte und fauchte. Sie spürte, wie Macht sie durchströmte – Macht, die sie sich nie erträumt hatte. In diesem Augenblick fühlte es sich so an, als könne sie alles erreichen. Berge würden vor ihr zu Staub zerfallen, Städte brennen, Ozeane kochen. Sie öffnete die Augen und keuchte, als sie den Raum wie durch einen roten Schleier wahrnahm. Ihr Blick fiel auf Will, der noch immer reglos am Boden lag. Eine neue Woge aus Zorn und Trauer brandete auf, als sie sich Extus zuwandte.

Der Anführer der Oriq stand vor dem zuckenden Blut-Avatar und beobachtete sie. Wartete.

Rowan ließ sich von der Energie aus dem Knoten durchströmen. Jede Ader in ihr erwachte vor Macht. Sie bemerkte kaum, wie ihre Füße den Boden verließen und wie der Wind um sie herum wehte, als würde die Luft selbst sie fürchten. Und das sollte sie lieber auch, dachte Rowan. Alles sollte das. Sie atmete tief ein, verwandelte die Luft in ihren Lungen in weißglühendes Feuer, öffnete dann den Mund … und schrie. Das Feuer rauschte wie ein Stern auf Extus zu – wie ein Blitzschlag aus dem Himmel. Er streckte eine Hand aus und murmelte einige Worte, doch was auch immer er tat, reichte nicht aus. Der Zauber prallte auf ihn und schleuderte ihn durch die Luft, während seine Robe zu rauchen anfing. Er prallte gegen die gegenüberliegende Wand und rutschte reglos und stumm an ihr herab.

Als Nächstes wandte Rowan ihre Aufmerksamkeit dem Blut-Avatar zu. Das Ungetüm zuckte noch immer an Ort und Stelle, erbost, dass sein Wüten vorzeitig unterbunden worden war. Stück um Stück hob sich eines seiner Schwerter in Rowans Richtung, doch das spielte keine Rolle. Mit der Macht in ihren Fingerspitzen konnte sie den Avatar vernichten und Extus mit ihm und jeden, der ihnen nachfolgte. Jeden, der versuchte, ihr wehzutun, jeden, der versuchte, Will wehzutun – sie alle würden brennen.

Rowan sog erneut die Macht des Knotens in sich auf, und es war, als würde sie frisches klares Wasser trinken. Lichtbögen versengten ihr Arme und Gesicht und schickten Ströme aus Schmerz durch ihren Körper, doch das war ihr gleich. Warum auch nicht? Sie war das mächtigste Wesen in diesem Raum, in dieser Schule, womöglich auf dieser ganzen Welt. Sie streckte eine Hand nach dem Blut-Avatar aus, griff nach den vertrauten Blitzen und plötzlich durchfuhr sie eine Woge aus Todesqualen.

Ihr Keuchen wurde von Gelächter begleitet. Sie blinzelte gegen den Schmerz an, und sah, wie es Extus irgendwie gelang, sich aufzurappeln.

„Hast du wirklich geglaubt, du bist stark genug, all diese Macht zu besitzen?“, höhnte Extus. „Hast du gemeint, du bist ihrer würdig?“

Rowan schenkte dem Oriq keinerlei Beachtung. In Wahrheit hörte sie ihn kaum: Sie war einzig darauf konzentriert, jene Macht zu beherrschen, die nun in ihrem Inneren tobte. Die Luft um sie herum zischte und zuckte wie ein Nest voller Vipern.

„Ich habe mein ganzes Leben lang an meinen arkanen Künsten gearbeitet“, murmelte Extus. „Du bist nichts weiter als ein Kind. Eine überhebliche Närrin. Und nun … eine Motte im Licht.“

Die Ranke aus Macht, die sie aus dem Knoten gezogen hatte, kräuselte sich erneut, und Rowan wurde vor lauter Schmerz weiß vor Augen. Sämtliche Kraft verließ plötzlich ihre Glieder, und schlaff plumpste sie aus der Luft, um mit einem dumpfen Klatschen auf dem blutigen Steinfußboden zu landen.

Extus lachte. „Dein Ehrgeiz ist bewundernswert. Doch ich bin zu weit gekommen, um mich jetzt von deinesgleichen aufhalten zu lassen.“ Ohne sich die Mühe zu machen, sein Werk zu vollenden, wandte er sich ab und hob das schwere Buch auf, das er zuvor bei sich gehabt hatte.

Die Zeit dehnte sich um Rowan: Sie fühlte sich aufgebrochen, leer, ausgehöhlt. Die Macht des Knotens durchströmte sie noch immer und ließ ihre Gliedmaßen zucken und tanzen, während sie einfach nur dalag. Ihr Bewusstsein schien gerade außerhalb ihres Körpers zu schweben – in der Nähe ihres Bruders, der auf sie zukroch, indem er sich über den blutbefleckten Boden schleppte. Will war am Leben.

„Rowan“, zischte er durch zusammengebissene Zähne. „Steh auf.“

Sie versuchte, sich daran zu erinnern, wie man sprach, doch es gelang ihr lediglich, etwas Luft hervorzupressen.

„Bitte“, sagte er und wollte sie berühren. Als ein verirrter Funke von ihrer Haut sprang, zog er seine ausgestreckte Hand zurück. „Du musst aufstehen.“

Rowan hustete und öffnete die Augen. „Es tut mir leid.“

„Es ist schon gut, Rowan. Steh einfach auf.“ Will kroch dichter heran und legte sich einen ihrer Arme um die Schultern. Er keuchte, als weitere Funken aufstoben und ihn zwackten, aber er ließ nicht los. „Wir werden das schon schaffen.“

„Es tut mir leid wegen des Streits. Beim Magierturm-Turnier. Und in der Bogenspitze. Es tut mir wirklich leid.“

„Mir tut es auch leid“, sagte Will. Ächzend zog er sie auf die Beine und machte sich auf den Weg in Richtung der Tür. Hinter ihrem Bruder sah Rowan den Anführer der Oriq ein schweres, blutbeflecktes Buch hochheben und mit einer Formel beginnen.

Gemeinsam humpelten sie zur Tür, ehe Will plötzlich innehielt und sich ihr ruckartig zuwandte. „Er ist wie ein Maskottchen.“

„Wovon sprichst du?“ Rowan legte die Stirn in tiefe Falten.

Doch Will schüttelte den Kopf, während er Rowan ansah. „Er ist wie ein Maskottchen! Wir müssen ihn einfach … abfangen!“

„Wie beim Magierturm?“ Vielleicht verwirrte der Knoten ihr noch immer den Verstand, aber sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach.

„Wie beim Magierturm“, sagte Will. „Vertrau mir einfach.“

Rowan setzte zu einer Antwort an, doch die Worte versiegten ihr im Mund, als Garruks Gesicht in ihren Gedanken aufflackerte. Damals hatte sie nicht sehen können, was Will gesehen hatte. Und es war Will, der letztlich eine Möglichkeit gefunden hatte, Garruk zu befreien und ihn als Verbündeten zu gewinnen. Will. Ihr Will. Ihr stiller, schlauer, mürrischer Bruder. Er hatte so oft recht. Vielleicht hatte er auch dieses Mal recht.

„Rowan?“

Rowan zupfte an den letzten Funken Magie in sich und verzog unter den neuerlichen Schmerzen das Gesicht. „Ja. Also gut. Dann zeig mal, wozu das ganze Büffeln gut ist.“

Will grinste und wandte sich Extus und dem Blut-Avatar zu. Rotes Licht wirbelte um seine Hände. Es war keine Eismagie, die er wirkte – so viel wusste sie –, aber die Luft um ihn herum kühlte dennoch merklich ab. Das rote Licht formte sich zwischen seinen Händen zu einem pulsierenden Kreis aus Macht, und mit einer letzten Kraftanstrengung entfesselte er den Zauber.

Plötzlich legte sich ein roter Ring aus Licht um den behelmten Kopf des Avatars.

„Er mag groß sein“, sagte Will mit zusammengebissenen Zähnen und vor Anstrengung zitternden Händen. „Aber er ist eine beschworene Kreatur. Was bedeutet, dass wir ihn mit diesem Zauber beherrschen können!“

Die Kreatur indes wirkte nicht sonderlich beherrscht. Sie brüllte erneut und zwang Rowan, sich die Hände auf die Ohren zu pressen. Unter dem Blut-Avatar verformten sich Extus’ Finger zu Klauen, während seine eigene Magie als schwarzer Nebel von ihm aufstieg, Der rote Schein um den Kopf des Blut-Avatars schien zu flackern. Es hieß nun Will gegen Extus, wie Rowan erkannte. Jeder der beiden legte seine Kraft in den Zauber, und Will verlor. Doch ihr Bruder war nicht allein.

Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter, und er blickte überrascht auf. „Rowan, was …?“

„Konzentriere du dich auf den Zauber. Sorge dafür, dass alle Einzelheiten stimmen. Ich kümmere mich um den Rest.“

Vielleicht unterschied sich ihre Magie inzwischen zu stark voneinander, um so nahtlos ineinanderzugreifen wie zuvor. Doch wo Will an Präzision und Kontrolle gewonnen hatte … Nun ja, sie war mittlerweile sehr viel stärker geworden. Rowan ließ den Rest ihrer magischen Kräfte in ihren Bruder fließen. Funken stoben und tanzten ihr über die Hände, als ihre Macht in ihn strömte. Er keuchte, doch nur einen kurzen Augenblick lang. Dann stieß Extus einen erstickten Schrei aus, und der rote Schein legte sich nun endgültig um die Kreatur.

„Ihr Blagen!“, rief Extus. „Wie könnt ihr es wagen …“

Der Blut-Avatar schnitt ihm das Wort ab, indem sich eine seiner gewaltigen Hände mit einem garstigen Knirschen um ihn zur Faust schloss. Danach war Extus still.

„Es hat geklappt!“, rief Will. „Rowan, es hat geklappt!“

Rowan jedoch wankte. Sie hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Der gesamte Raum schien sich zu drehen. Sie war ausgebrannt, jeglicher Magie entleert. Alles lief wie in Zeitlupe ab: Der rote Schein verlosch flackernd. Der Blut-Avatar brüllte wütend auf, als eine seiner Hände zurück in den Knoten gezogen wurde. Sein blutgetränkter Leib streckte sich und bäumte sich unnatürlich auf, da die Beschwörung nun ihr grausames Ende erreichte. Mit einem letzten entsetzlichen Grollen schwang er sein gewaltiges Schwert. Wills Augen weiteten sich, und Rowan war zu schwach, um ihn daran zu hindern, sie aus dem Weg zu stoßen.

Das Schwert grub sich mit ungeheurer Wucht in den Boden und ließ den Raum erzittern. Mit einem Geräusch wie Donner wurde der Blut-Avatar zurück in den Knoten gezerrt. Das Schwert schleifte über den Stein – und auf der anderen Seite war ihr Bruder, der erschlafft und betäubt dalag. Rowans Freude, dass ihr Bruder am Leben war – nicht zu Brei zermalmt oder in Stücke gehackt –, machte plötzlich einen Satz und versiegte dann vor Schreck: Unterhalb des Knies war sein rechtes Bein verschwunden.

Als wäre die Anwesenheit des Ungetüms das Letzte gewesen, was den Raum zusammengehalten hatte, begann er nun auseinanderzubrechen. Dachbalken fielen wie Keulen herab, und die Steindecke, die sie gestützt hatten, krachte in schroffen Blöcken zu Boden. Der Boden unter ihnen zitterte und erbebte wild, während Rowan versuchte, ihren Bruder zu erreichen. Sie war so nahe – sie konnte seinen glasigen, leeren Blick erkennen –, als der Boden endgültig wegbrach. Rowan und Will taumelten und wurden vorwärts geschleudert. Sie fielen ins Nichts, bis sie unvermittelt von einer leichten, sanften Berührung aufgefangen wurden. Sofort wirbelte Rowan herum. Irgendwie schien eine Wolke aus Nebel sie beide in der Luft zu halten.

„Da“, sagte Will und deutete schwach zur Tür des Raumes. Rowan blickte zur Quelle der Magie, dort, wo die Dekane Nassari und Lisette am verwüsteten Eingang standen. Mit vor Konzentration zerfurchter Stirn schickten sie Magiestöße durch die Luft, die herabfallende Steine und Trümmer beiseite fegten. Der Nebel trug sie hinauf zu Dekanin Lisettes ausgestreckter Hand. Rowan, die einen Arm um Will gelegt hatte, griff mit der anderen Hand danach, aber sie konnte sie nicht ganz erreichen – bis sich eine Ranke aus Lisettes Ärmel stahl und sich eng um Rowans Taille schlang.

Ächzend wurden sie beide in den Eingang gehievt. Allen vieren gelang es, unter der Tür wegzuspringen, gerade als der Raum vollends in sich zusammenstürzte und sich mit einer Wolke aus Steinen und Staub und Schutt füllte.

„Wir haben es geschafft“, murmelte Will. „Wir haben es geschafft, Ro.“ Flatternd schlossen sich seine Augen. Er sah entsetzlich bleich aus.

„Halt still“, sagte Lisette und beugte sich über ihn. „Du stehst unter Schock.“

„Kommt er wieder in Ordnung?“, fragte Rowan.

Die Dekanin schien ihr nicht zuzuhören. Sie biss ein Stück irgendeiner Wurzel ab, spie es in eine kleine Schale und zerdrückte es mit der Hand. Beinahe sofort begann die Masse, in einem seltsamen grünen Licht zu schimmern.

„Er wird überleben“, sagte Nassari und legte eine Hand auf Rowans Schulter. „Nach allem, was ihr beide durchgemacht habt, solltet ihr dankbar sein.“

Was sie durchgemacht hatten. Rowan blickte zurück zu dem Wall aus Trümmern, der nun die Türen zur Halle der Orakel versperrte. Es gab keine Spur vom Leuchten des Knotens mehr, doch sie hätte schwören können, dass sie noch immer sein Rufen spürte.


Fünf Wochen später, als das Läuten der Glocke das Ende der ersten Stunde verkündete, fühlte es sich für Will beinahe so an, als würden die Dinge wieder ihren gewohnten Gang aufnehmen. Er hatte sich daran gewöhnt, etwas langsamer durch die Korridore des Schulgebäudes voranzukommen – mithilfe seines Gehstocks und dem Geflecht aus Eis und Stahl, das sich nun unter seiner mit Stoff umwickelten Kniescheibe befand. Er hatte das Angebot von Dekanin Lisette für einen Ersatz aus lebendigem Holz abgelehnt. Er würde sein Bein nie zurückerhalten, und dies fühlte sich mehr wie ein Teil von ihm an. Außerdem war es eine gute Übung: Den ganzen Tag lang musste er einen Teil seines Verstandes dazu bringen, sich darauf zu konzentrieren, das Eis um den metallenen Rahmen neu zu formen und gefrieren zu lassen. Zudem war es eine gute Ablenkung von den zahllosen Nadelstichen, die über den Stumpf zu huschen schienen.

Die Nachricht von seinem und Rowans Kampf gegen Extus und den Blut-Avatar hatte sich über den gesamten Campus verbreitet, und plötzlich wurde Will wesentlich mehr Aufmerksamkeit zuteil. Die anderen Schüler drückten sich gegen die Wand, wenn er vorbeikam, und ihr Flüstern und ihre Blicke folgten ihm. Das erinnerte ihn beinahe an Zuhause – und oftmals vermisste er die Anonymität der ersten Tage an dieser Schule.

Schließlich erreichte er sein Zimmer. Als er nach dem Knauf griff, schwang die Tür auf, und Rowan kam abrupt zum Stehen, um nicht gegen ihn zu prallen. Sie trat einen Schritt zurück, um Will ins Zimmer zu lassen.

Will räusperte sich. „Wie fühlst du dich?“

Rowan zuckte mit den Schultern. „Noch nicht wieder ganz bei Kräften, aber besser. Und du?“

Will tippte mit dem Finger auf den Griff seines Stocks. Die Runen, bei deren Anbringung Quint geholfen hatte – einfache Zeichen für Kraft und Stabilität, im Gegensatz zu den komplexeren, zu denen sein Freund ihn hatte überreden wollen –, leuchteten kurz über die gesamte Länge des Beins bis hin zum Spreizfuß an seinem unteren Ende auf. „Ich gewöhne mich daran“, sagte er lächelnd.

„Wie sind die Schmerzen?“

„Jeden Tag ein bisschen besser.“ Allerdings fand er die Phantomschmerzen, die von Muskeln zu kommen schienen, die nicht länger da waren, nach wie vor unheimlich.

„Ich frage mich, was die Leute zu Hause hierzu sagen werden. Kannst du dir das vorstellen?“

„Nicht wirklich. Aber vielleicht sollten wir dorthin gehen, sobald das Semester vorbei ist.“

„Wozu warten? Wir könnten gleich aufbrechen.“

„Wir haben immer noch Unterricht.“

„Wir haben einen Blut-Avatar erledigt“, sagte Rowan. „Was soll man uns hier denn noch groß beibringen?“

„Wir haben einen Blut-Avatar mit einem Zauber erledigt, den wir hier gelernt haben“, entgegnete Will. „Und wir wissen immer noch nicht, warum unsere Zauber sich nicht miteinander verbinden. Oder warum wir nur gemeinsam weltenwandern können. Es gibt noch so vieles, was wir hier lernen können.“

Rowan verdrehte die Augen und grinste. „Na schön. Ich schätze, es wäre schon nett, dich nicht den Rest meinen Lebens mit mir mitschleifen zu müssen. Und wenn du mich jetzt entschuldigen würdest…“

„Ja, ja“, sagte Will. „Grüß Plink und Auvernine von mir.“

Sie schlüpfte an ihm vorbei und hielt im Gang inne, um sich zu ihm umzudrehen. Will bemerkte, wie viel schmaler sie aussah. Wie der Schatten unter ihren Wangenknochen so viel dunkler schien als zuvor, als wäre etwas Lebenswichtiges geradewegs aus seiner Schwester herausgesaugt worden. Doch das Lächeln, das sie ihm schenkte, war warm und aufrichtig. „Du weißt, dass ich dich liebhabe, oder?“

„Ja“, sagte er. „Ich hab dich auch lieb.“

Als sie davoneilte, schloss Will die Tür hinter ihr und setzte sich auf sein Bett. Er war müde. Es war lange her, seit er das letzte Mal eine Nacht durchgeschlafen hatte. Noch ein weiteres Semester hier? Ein weiteres Jahr? Wer wusste schon, was die Zukunft bringen würde. Er schloss die Augen und streckte seine magischen Sinne aus, um die feuchten Tropfen zu spüren, die sich an seiner eisernen Prothese bildeten. Das oberste Prinzip: thermodynamische Umleitung. Finde die Wärme und verteile sie um


Kasminas Eule flog vom Fenster auf und glitt über Strixhaven. Die Schäden durch den Angriff waren so gut wie behoben worden, die Pflastersteine ersetzt und die Hecken neu gezogen. Das Einzige, was darauf hindeutete, dass der Angriff je stattgefunden hatte, war die Halle der Orakel, die noch immer in Trümmern lag, und das kleine Monument, das nun am Eingang zum Biblioplex thronte: eine Steinstatue, deren Gesicht sich stündlich änderte. Darunter befand sich eine Inschrift. Legenden sind in Strixhaven nie verloren. Sie werden nicht vergessen werden. Dieser Ort hatte schon Schlimmeres überstanden. Er würde auch in Zukunft Schlimmeres überstehen. Daran zweifelte Kasmina nicht.

Die Eule fand sie am Rand des Campus. Sie blickte über die Wildnis dahinter und ließ ihren Verstand in jenen Vogel gleiten, der Lukka gefolgt war. Der Bynder war mit Mila und ein paar der verbliebenen Oriq durchs Land gestreift – zweifellos Pläne schmiedend, während sie nach Nahrung und Unterkunft suchten.

Doch er war es nicht mehr wert, beobachtet zu werden. Nun war es Rowan – oder vielleicht auch beide Zwillinge –, die ihrer Aufmerksamkeit bedurften.


Liliana kleidete sich in ihrem Arbeitszimmer fertig an. Sie hatte Tage gebraucht, um von dem, was sich als Wald am Rand des Kontinents herausgestellt hatte, nach Strixhaven zurückzukehren, doch sie hatte es geschafft. Und nachdem die Dekane eingeräumt hatten, dass sie auf ihre Warnungen hätten hören sollen, hatten sie sie eingeladen, weiterhin auf unbestimmte Zeit Professorin an der Universität zu bleiben. Ganz ohne diese verfluchten Besprechungen der Lehrkräfte.

Sie hatte eingewilligt, aber nur unter einer Bedingung.

Wie sie sich nun im Spiegel ansah und ihre Uniform zurechtrückte, hatte sie Mühe, es zu glauben. Prüfungen. Schüler. Keine Dämonen mehr, keine dunklen Intrigen, kein Tod. Ihr Blick wanderte zum Schreibtisch, wo ihre Forschungstagebücher aufgeschlagen lagen. „Wie es scheint, trennen sich hier unsere Wege endgültig, alter Freund.“

Liliana klappte die Bücher zu und stellte sie in das Regal an der Wand Alles in allem wäre er stolz auf sie gewesen. Der Gedanke entlockte ihr tatsächlich ein Lächeln.

Als sie es endlich zu ihrer ersten Klasse schaffte, nahm sie sich einen Augenblick Zeit, um sich zu sammeln, bevor sie eintrat. Bei ihrem Erscheinen eilten Schüler zu ihren Plätzen, und die Geräusche von raschelndem Papier und beiläufigem Geplauder erstarben, als sie sich zu ihr umdrehten.

Liliana hielt am Schreibtisch vor der Klasse an. „Willkommen zum Einführungskurs in die nekromantischen Künste, Schüler“, sagte sie, und ihre Stimme hallte laut im Vorlesungssaal wider. „Mein Name ist Professorin Liliana Vess.“