„Gib im Wald gut auf dich acht, Arlinn“, sagt er.

Die Stimme ihres Vaters ist stark und fest – trotz des leichten Knirschens, das an eine Eiche gemahnt, deren Äste unter Druck ächzen. Dort steht er in seiner Werkstatt – sie kann es jetzt so deutlich sehen –, umgeben von dem Werk seiner beiden Hände. Heilige Symbole übersäen die Wände wie Motten, die um eine Laterne schwärmen. Er blickt nicht zu ihr auf.

Als sie blinzelt, ist er fort.

Jahre später, nach ihren Reisen durchs Multiversum, hat sie endlich den Mut gefunden, nach Hause zurückzukehren. Findling und Flitzer kennen die Bürde dessen, was sie vorhat. Und natürlich bleibt ihr noch immer das Rudel, sollten ihre menschlichen Eltern sie zurückweisen. Es ist allgegenwärtig und seine Treue hart errungen. Sie bietet ihm Führung, und es gibt ihr ein Gefühl der Zugehörigkeit. Darin liegt Stärke.

Also bahnt sie sich ihren Weg den Hügel hinauf zur alten Schmiede.

Doch dort ist nichts. Nur eine leere Hülle begrüßt sie: schwarze Grundmauern, die aus der Erde ragen. Eine Wand, an die sie als Kind gekritzelt hat.

Die Dorfbewohner erkennen sie nicht, weshalb sie zögern, ihr zu erzählen, was geschehen ist. Aber letztlich findet sie es doch heraus.

Ein Feuer. Irgendein Unglück in der Schmiede vermutlich. Das ganze Haus war in Flammen aufgegangen. Was für eine Schande – nun ja, nichts zu machen.

Sie blinzelt. Zurück in die Gegenwart.

Duell um die Vorherrschaft
Duell um die Vorherrschaft | Bild von: Ryan Pancoast

Tovolar ist vor ihr. Ganz gleich, wie sehr sich seine Gestalt ändert, sein Blick bleibt der gleiche: lodernd, schnell umherhuschend, hell wie Flammen. Er bleckt die Zähne. Ein Lächeln, so glaubt sie.

Dies ist nicht das erste Mal. Da war ein anderes Mal gewesen, vor vielen Jahren, als sie sich mit ihren Brüdern im Halbkreis versammelt hatten. Sie versuchte, ihn zu töten, und scheiterte. Er versuchte, sie zu halten, und scheiterte. Er trug den Pelz des weißen Hirschs. Der Kampf ruinierte diesen Pelz, erinnert sie sich vage. Sie hatte ihn Tovolar in einem Anflug von Zorn von den Schultern gerissen. Auch sie war zornig gewesen.

Doch nicht so zornig wie jetzt.

Arlinn Kords einziger Gedanke kreist darum, das Lächeln aus Tovolars Gesicht zu fegen.

Voran. Kräftige Beine schleudern sie durch die Luft. Ihre Kiefer sind bereit, sich um seine Kehle zu schließen. Stattdessen treffen sie auf einen Unterarm, der gerade noch rechtzeitig gehoben wird. Blut füllt trotzdem ihren Mund – dickflüssig und reich an Kupfer. Ihre Nüstern beben, als Tovolar sich bewegt und ihren eigenen Schwung nutzt, um sie zu Boden zu werfen.

Doch einen hungrigen Wolf hält nichts lange unten. In dem Augenblick, als ihre Hinterläufe den Boden berühren, ist sie bereits wieder auf den Beinen und macht erneut einen Satz auf ihn zu.

Er breitet die Arme aus. Die Narbe auf seiner Brust ist auch in dieser Gestalt zu sehen. Als sie blinzelt, ist da kein Weiß in seinem Pelz, und die Wunde blutet rot, rot, rot.

„Komm heim“, sagt er.

War es das, was er auch damals gesagt hatte?

Es spielt keine Rolle.

Ein Heulen entringt sich ihrer Kehle. Sie dringt erneut auf ihn ein, schlägt mit den Krallen nach ihm. Die Muskeln in ihrer Brust und ihren Armen ächzen.

Er bewegt sich nicht. Krallen zerfetzen Fleisch und Fell, reißen ihn erneut auf, und dennoch hört er nicht zu lächeln auf. Wieso?

Es ist keine Zeit zum Grübeln: Jetzt ist er an sie herangekommen und springt sie an. Ihre Rippen stöhnen und drohen zu brechen. Er wird nicht lockerlassen. Sie stemmt die Füße fester in den Boden. Wenn er sie hochheben will, muss er eine Menge dafür riskieren. Von hier aus kann sie nach seinem Rücken schlagen. Blut strömt ihm über den Pelz, und jede neue Wunde treibt sie tiefer in die Abgründe der Wildnis.

Doch ebenso, wie er sie nicht aufhalten kann, so kann sie ihn nicht aufhalten. Nur drei Schläge finden ihr Ziel, ehe er sie über seinen Kopf hebt und gegen einen in der Mitte gespaltenen Baumstumpf schleudert. Kerzen fliegen durch die Luft, aufgewirbelt von dem Aufprall. Feuer leckt an den Stellen, die das Holz an ihr nun aufgekratzt hat.

Er ist ein Narr, wenn er glaubt, sie halten zu können. Ungeachtet dessen, dass sich ein Stück Holz in ihre Schulter gegraben hat. Arlinn stemmt die Füße gegen eine Hälfte des Stumpfes und ihre Schultern gegen das andere. Ein Knurren verleiht ihr genug Kraft, um auszubrechen. Sie zieht sich das Holz aus der Schulter und rammt es geradewegs in Tovolars Bein.

Damit gelingt es ihr zumindest, das Lächeln verschwinden zu lassen. Ein gewaltiges Heulen erfüllt das Festgelände – ein Heulen, das das Chaos des Kampfes durchdringt. Als er das Holz mit seiner riesigen Pranke mit zitterndem Griff umklammert, erkennt die Bestie in Arlinn Kord mit einer gewissen Genugtuung, dass sie ihn ganz durchbohrt hat.

Doch der Sieg ist nur von kurzer Dauer. Zähne graben sich ihr in die Schulter, und eine schwere Last drückt sie nach unten. Es ist zu viel, um alles im Auge zu behalten. Sie geht zu Boden: Ihr Kopf schlägt krachend gegen den weggeworfenen Helm einer toten Wache. Ihre Ohren sausen. Einen Augenblick lang kann sie nichts hören – nicht das Schreien der fliehenden Festbesucher, nicht Adelines gerufene Befehle, nicht das Tosen von Chandras Flammen.

Und nicht das Schnauben der Wölfe, die über ihr aufragen.

Wie vertraut ihre Gesichter sind! Wie oft hat sie sie schon während einer Jagd gesehen! Da ist Rotzahn, die mit erhobenen Lefzen ihrem Namen alle Ehre macht; da ist Findling an ihren Füßen; da ist Flitzer, der seine Kiefer schon fest um ihre bereits verwundete Schulter geschlossen hat. Schnauzen, die sie so oft beim Spielen beobachtet hat, dringen nun mit der furchterregenden Präsenz von Raubtieren auf sie ein.

Und dann ist Tovolar wieder über ihr.

Sie versucht, aufzustehen. Schwindel lässt sie zurückfallen, gefolgt von dem Gefühl, dass ihre Schulter zu zerreißen droht. Übelkeit verstopft ihr die Kehle.

Sein Mund bewegt sich. Sie kann nicht hören, was er sagt – das Dröhnen in ihren Ohren klingt zu sehr nach dem Läuten von Kirchturmglocken.

Was für eine sonderbare Kirche dies ist – mit Schreien als Hymnen und dem Schmutz des Schlachtfelds als Räucherwerk.

Sie schließt die Augen.

Die Große Kathedrale in Thraben. Worrin hinter seinem Schreibtisch. Die Welt wurde im Dunkel geboren, und ins Dunkel sehnt sie sich zurück. Aus diesem Grund müssen wir uns um unser eigenes Licht kümmern.

Er war es, der sie für die Erzmagier empfohlen hatte.

Was würde er nun von ihr halten? Hatte sein Geist es gewusst, als er sie gesehen hatte?

Das Dröhnen erstirbt. Tovolar spricht – sie kann ihn hören, als wäre er in einem anderen Raum –, doch mehr noch als das hört sie die Wölfe. Ein tiefes Grollen, das für gewöhnlich ihrer nächsten Mahlzeit gilt.

Doch es ist nicht ganz dieses Grollen, oder?

Sie öffnet erneut die Augen.

Da ist er, wie er sich das Stück Holz aus dem Bein zieht. Blut trieft ihr auf die Schnauze.

„Heim

Dies ist nicht daheim.

Sie versucht, sich aufzurichten, versucht, ihren Kopf gegen seinen zu rammen, doch Findlings Zähne schnappen nach ihr und er stößt sie zurück.

„Müssen nicht kämpfen“, sagt er.

Engel, steh mir bei. Sie will sich übergeben. Ihre Zunge ist wie Blei in ihrer Schnauze. Die Wolfssprache ist auch ohne eine Kopfverletzung schwer zu verstehen.

„Schließ dich der Jagd an“, sagt er. „Das ist es, wer du bist. Verstehst du das nicht? Du musst dich nicht mehr verstecken.“

Jetzt streckt er eine Pfote nach ihr aus. Alles in ihr will sie wegschlagen. Alles, was er erreicht, ist, ihr zu zeigen, dass er sich beherrschen kann, aber sich dafür entscheidet, es nicht zu tun. So kann er in seiner Gestalt sprechen.

„Die Kircher hasst diesen Teil von dir“, sagt er. „Doch ich nicht. Das Rudel nicht.“

Und in diesem Augenblick – vielleicht durch göttliche Vorsehung – wird Arlinn etwas klar.

Geduld ist nicht bei ihrem Rudel.

Arlinn schluckt Galle herunter. Wenn sie es versuchtJa, sie riecht, dass Geduld in der Nähe ist. Die Witterung ist schwach im Vergleich zu dem Blut und dem Schweiß des Kampfes, doch sie ist da. Arlinn schwirrt noch immer der Kopf, aber wenn sie es versucht, kann sie sich konzentrieren, und –

da. Im sterbenden Licht des Tages wartet Geduld auf sie. Sie sitzt abseits der anderen, gerade außerhalb der Reichweite von Arlinns rechter Hand, doch als sich ihre Blicke treffen, beginnt Geduld, sich auf sie zuzubewegen.

Tovolar ist beharrlich. „Sag mir, dass du heimkommst. Sofort. Sag mir, dass du heimkommst, und ich lasse dich gehen.“

Weiches Fell an ihrer Handfläche. Ihr Magen beruhigt sich, nur für einen Augenblick.

„Arlinn. Bitte. Wir wollen, dass du bei uns bist. Du gehörstzu uns.“

Erneut schließt sie die Augen. Da: das Buntglas der Kathedrale.

Das Licht verändert sich. Eine Lichtung im Wald, und darauf die vier Wölfe.

Sie tritt vor, ins Licht, und sie umringen sie.

Arlinn öffnet die Augen. Jetzt begreift sie: Er wird nicht nachgeben, solange sie nicht sagt, was er hören will.

„Ich bin daheim“, sagt sie. Selbst diese drei Worte klingen undeutlich, selbst dies erfordert große Anstrengung, doch es gelingt ihr.

Es ist keine Lüge.

Die Wälder sind ihre Heimat, die Wölfe sind ihre Heimat, die Kirche ist ihre Heimat – all das ist es.

Selbst als er ihr aufhilft, selbst als er sie fest umarmt – selbst dies ist Heimat. Einer jungen Arlinn, die sich gerade erst verwandelt hatte, hatte diese Geste einst die Welt bedeutet. Und das tut sie noch immer, da sie nun weiß, dass noch so viel Sanftheit in ihm ist.

Doch die Wildheit, die Gnadenlosigkeit – sie haben die Oberhand gewonnen. Welche Güte er nun auch immer zeigen mag, kann nicht fortwischen, was er heute getan hat. Der Tovolar, der sich um sie gekümmert hatte, ist zu jenem Tovolar geworden, der Unschuldige angreift. Und sie hat sich von ihm entfremdet.

Und dennoch weiß sie, dass er sich nicht von ihr entfremdet hat.

Von Schwindel geplagt und blutend, wie sie ist, wird sie nicht viel Zeit oder Gelegenheit erhalten, einen besseren Angriffswinkel zu bekommen. Es ist hinterhältig. Manch einer mag sogar sagen, es ist falsch.

Doch wenn es diesem Angriff ein Ende setzt, gibt es nichts Richtigeres auf dieser Welt.

Sie gräbt die Klauen tief in seine Brust.

Tovolar krümmt sich. Die Erkenntnis kommt langsam, und wenn überhaupt, so drückt er sie noch enger an sich.

„Innistrad ist meine Heimat, Tovolar“, sagt sie. „Und solange ich atme, werde ich es beschützen.“

Ein Luftholen ist die einzige Antwort: Sein Griff wird bösartig, als sich seine Klauen in ihre bereits verletzte Schulter bohren.

Sie steht nur da, die Hand noch immer in ihm vergraben. „Brich den Angriff ab.“

Verteidigung des Celestus
Verteidigung des Celestus | Bild von: Andrey Kuzinskiy

Wie seltsam es ist, sich seine Augen auf diese Weise verdunkeln zu sehen. Er ist zäh genug, um zu überleben – dessen ist sie sich beinahe vollkommen sicher –, und sobald die Schamanen sich seiner annehmen, wird er es auch – doch nie zuvor hat sie ihn so erschüttert gesehen. Nicht einmal beim ersten Mal, als sie auf der Lichtung gekämpft hatten. Sie hat ihn nicht einfach nur körperlich verwundet. Irgendetwas in ihm ist zerbrochen, etwas, was sie von hier aus nicht spüren kann.

„Du hast gelogen“, sagt er heiser.

„Brich den Angriff ab“, wiederholt sie.

Er kneift die Augen zusammen. Sie fragt sich, was er wohl sieht. Ist es das Mädchen, das er an jenem Tag in den Wäldern gefunden hatte, oder etwas anderes – etwas, was ihn zu diesem Ausmaß an unvorstellbarer Grausamkeit getrieben hatte?

Was auch immer es ist: Es bringt ihn zur Vernunft. Mit einem erstickten Glucksen sagt er: „Na schön.“

Sie lässt ihn herunter, zieht die Hand zurück und achtet darauf, dass er aufrecht sitzt. Die anderen würden ihn bei lebendigem Leib verschlingen, wenn sie ihn vornübergebeugt vorfinden.

Er blickt sie erneut an, und sie schüttelt den Kopf.

Bald darauf wird das Heulen lauter: ein Ruf zum Rückzug, den nur die Wölfe verstehen.

Er bittet sie nicht, ihm zu folgen.


Wie Ameisen, die über eine Leiche krabbeln – nur rückwärts –, verlassen die Wölfe die blank genagten Überreste des Erntezeitmassakers.

Der Name ist bereits geboren. Auf den Lippen der Katharer, die nun zerschunden und zerschlagen dastehen, auf den Lippen der Hexen, die die Körper nach jenen absuchen, die ihre Hilfe brauchen, ist das Wort bereits geformt: Massaker.

Arlinn kann es sich nicht allzu lange ansehen. Es ist zu sehr wie die Drangsal. Schlimmer, in gewisser Weise, da all die kindlichen Dekorationen nun wie nach einem Sturm verstreut liegen. Geschnitzte Kürbisse, die unter den Leichen zerdrückt wurden. Apfelwein, der ungehindert in Blutlachen rinnt. Liebevoll errichtete Stände, entzweigebrochen von den Leibern ihrer Besitzer.

Vor weniger als einer Stunde war dies ein Ort der Hoffnung gewesen.

Was ist er nun?

Arlinn schluckt. Sie will helfen. Ihr Platz ist an der Seite der Hexen und Katharer, die sich um die Gefallenen kümmern, doch wenn Katilda ihren Ritus nicht vollendet, wird niemand mehr da sein, dessen man sich annehmen kann. Die zerbrochenen Abbilder um sie herum sind eine grimmige Erinnerung daran.

Innistrad überdauert.

Sie muss weitermarschieren.


Während sich die Hexen und die verbleibenden Wächter um die Verwundeten kümmern, lächeln die Kerzengelichter noch immer ihr seltsames Lächeln und weisen den Toten den Weg.

Und es sind so viele Tote.

Katildas Fest war auf die schlimmstmögliche Weise ein riesiger Erfolg. Eine solche Menge an Leichen auf einmal ausgebreitet zu sehen, ist für Arlinn geradezu undenkbar gewesen. Ihre Eltern würden das nie glauben. Sie hätten nie hieran teilgenommen, sondern die Nase gerümpft und gemurmelt, Sicherheit sei nur in der Abgeschiedenheit zu finden. Damals wie jetzt weiß sie, was das wirklich bedeuten soll: dass Sicherheit und Furcht ein und dasselbe sind.

Ihr Eltern liegen falsch.

Jeder bleibt für sich, jeder denkt an sich: Das ist es, wodurch Innistrad überhaupt erst an diesen Punkt gelangt ist. Vampire, die auf dem Rücken der Sterblichen der Ewigkeit entgegenklettern, Werwölfe, die jene jagen, die sie beschützen sollen. Zwiespalt hatte dies verursacht. Hätten die Wölfe begriffen, wie wichtig das Gleichgewicht aus Tag und Nacht ist, hätten sie stattdessen des Fest beschützen können.

Doch dieser Gedanke schmerzt.

Sie prescht weiter. Die Zeit zum Trauern wird später kommen. Die Zeit, der Toten zu gedenken und ihren Familien zu erklären, was vorgefallen war. Damit all dies einen Sinn bekommt, muss der Ritus vollendet werden.

Die, die sich unter dem Celestus versammelt haben, müssen erfahren, dass es etwas wert gewesen war.

Ihr Körper schmerzt, ihre Vorderpfoten und Schultern kreischen bei jedem langen Schritt, doch sie stürmt unbeirrt weiter voran – der einzige Wolf auf dem Weg zum Celestus. Blende das Weinen aus, blende die Schreie aus – lauf einfach.

Doch es gibt eine Stimme, die sich nie vollkommen ausblenden lässt.

„Arlinn!“

Chandra ist es, die da ruft. Adelines Schimmel taucht zu ihrer Rechten auf und galoppiert um sein Leben in Richtung des Celestus. Vor ein paar Stunden noch hätte sie es verabscheut, ausgerechnet von einem Pferd überholt zu werden, doch nun verspürt sie nichts als Erleichterung.

Denn Chandra streckt eine Hand aus. „Du bist ziemlich zerrupft. Komm mit uns!“, ruft sie. „Teferi ist bereits mit ein paar der anderen vorgegangen. Wir müssen sie einholen!“

Die Hand ausstrecken. Beieinander bleiben.

Das ist die einzige Möglichkeit.

Arlinn verwandelt sich in ihre Menschengestalt und ergreift Chandras Hand.


Als Erstes begrüßt sie Gesang. Arlinn kann die Worte nicht verstehen, doch der Klang hat die Gestalt von hoch aufragenden Eichen und alten Flüssen. Ein Leuchten zieht sich an den Armen des Celestus entlang, und während Arlinn sich an Adeline lehnt, denkt sie bei sich, dass sie wie die Zangen ihres Vaters aussehen, frisch aus dem Feuer.

Zerstörung des Abbilds
Zerstörung des Abbilds | Bild von: Cristi Balanescu

Ein albernes Grinsen stiehlt sich auf ihr Gesicht. Aber vielleicht ist das auch nur der Blutverlust.

„Chandra, sieht das nicht aus wie

„Ja, es sieht so aus, als wären sie fast fertig“, antwortet sie. Es hat keinen Sinn, sie zu verbessern. Arlinn blickt nach vorn.

Chandra hat recht: Was auch immer dort geschieht, muss beinahe vollendet sein. Angesichts der dicht gedrängten Menge, die sich um die zentrale Plattform versammelt hat, ist es schwer, Einzelheiten auszumachen, doch das ist eher Anlass zur Freude denn zur Sorge.

Sie gehen geradewegs in die Menge hinein. Adelines Rüstung und Chandras Flammen dienen als Zeichen ihres Standes, und Feuerzungen verkünden sowohl, dass die Leute sich fernhalten sollen, als auch, dass der Kampf noch nicht vorüber ist. So schwindelig, wie ihr ist, kann Arlinn nur teilweise die Gesichter um sich herum erkennen, doch in ihrer aller Augen leuchtet Hoffnung.

Und dann bewegen sie alle ihre Münder im Gesang.

Was für eine seltsame Kadenz er hat: an- und abschwellend, trotzig und schaurig. Lang gezogene Silben kriechen ihr in die Ohren, tanzen dort und nehmen Arlinns Gedanken mit sich. Wenn dies Magie ist, dann ist sie in der Tat alt. Nun lässt sie sich in ihren Adern nieder.

Dichter und dichter zur zentralen Plattform. Sie können sie jetzt sehen, sehen die Masken des Morgenlicht-Zirkels, der sich nach hier und da bewegt. Fünf am Rand der Plattform trommeln zum Gesang, fünf dazwischen führen einen wirbelnden Tanz an. In der Mitte zwei: Katilda, deren Maske einen Großteil ihres Gesichts verdeckt, hält den Mondsilber-Schlüssel wie etwas Heiliges und Reines in der Hand. Kaya, die bereitsteht, sucht den Horizont nach ihnen ab.

Als Kaya sie erblickt, winkt sie mit den Armen und bedeutet ihnen, sich zu ihr zu gesellen.

Die Holzbrücke öffnet sich vor ihnen. Chandra ist als Erste vom Pferd abgestiegen und hilft Adeline rasch herunter. Sie beide versuchen, Arlinn beim Absteigen zu stützen. Mit einer Katharerin zur einen und einer Pyromagierin zur anderen Seite hat Arlinn kaum Platz zum Schwanken. Umso besser.

Ein Schritt. Noch einer. Das Holz unter ihnen gibt ächzend ein wenig nach, und auch dies ist Teil dieses schaurigen Gesangs des Waldes – jenes Gesangs, der nun in ihren Lungen wohnt.

Ein Schritt. Noch einer. Was würden die Engel von all dem halten? Was würde die Kirche denken? Dies ist keine Hymne, kein Gebet – dies ist etwas anderes, wenngleich nicht weniger Wirkliches. Wie kann es sein, dass ihr die Worte so bereitwillig über die Lippen kommen, obwohl sie sie noch nie zuvor gehört hat? Sind sie ihr all diese ganze Zeit über in die Knochen eingraviert gewesen?

Ein Schritt. Noch einer. Die Hexen sind vor ihnen versammelt. Alle wenden sie sich gleichzeitig Chandra, Adeline und Arlinn zu. Blicke treffen sich unter gekrümmten Zweigen und Knochen. Silber wirbelt in der Iris der Hexen – ja, dies ist in der Tat alte Magie.

Alle gleichzeitig sprechen die Hexen in ihrer gemeinsamen Stimme: „Arlinn Kord.“

Sie schluckt.

Chandra und Adeline werfen sich über Arlinns Schultern hinweg einen Blick zu. Gemeinsam helfen sie ihr zum Altar. Vor ihr steht eine goldene Schale, bereit für Sonnenlicht und Honig, umgeben von getrockneten Kräutern und alten Knochen.

Der Blick von ganz Innistrad lastet auf ihr.

„Ich bin gekommen“, antwortet sie. Es fühlt sich an, als sei dies das einzig Richtige, was sie sagen konnte.

„Kind von Blut und Fang. Du stehst an der Grenze der Dämmerung, wo Tag und Nacht einander begegnen. Du wirst uns deine Stärke leihen.“

Ich bin schon seit langer Zeit kein Kind mehr, sagt sie beinahe, doch man darf alte Riten nicht unterbrechen. Katilda muss mehr über sie gewusst haben, als sie gedacht hatte. „Was braucht ihr?“

Sie wendet sich an Katilda, denn obwohl die Menge nun mit einer Stimme spricht, ist sie sich sicher, dass Katilda die Fäden zieht. Alles riecht nach ihr.

„Wirst du dein Blut für den Tag vergießen? Werden deine Fänge jene beschützen, die in Furcht leben?“

Ihr Blick huscht von einer Hexe zur nächsten, zu Teferi und Kaya, zu Chandra und Adeline. Niemand scheint genau zu begreifen, was genau dies alles bedeutet.

„Das werde ich“, antwortet sie. Dessen ist sie sich gewiss.

Geheimnisse des Schlüssels
Geheimnisse des Schlüssels | Bild von: Alix Branwyn

„Salbe das Sonnengold-Schloss.“

Blut und Fang, richtig? Noch immer von Schwindeln geplagt und gegen den Altar gelehnt berührt Arlinn die schmerzende Wunde an ihrer Schulter. Sie schmiert das Blut an die Innenseite der Schale, deren Oberfläche sich überraschend warm anfühlt. Als Nächstes nimmt sie eines der Kräuter und beißt hinein. Ein bitterer Geschmack füllt ihren Mund. Eine willkommene Abwechslung nach dem Geschmack nach Metall. Dann legt sie das Kraut auf den kleinen Blutfleck.

Die Schale beginnt zu summen.

Genau wie der Celestus. Gewaltige Zahnräder erwachen ächzend zu neuem Leben. In der Höhe regen sich die Schatten, während sich die Arme dem Rost und den Wurzeln entgegenstemmen, die sich an ihnen festklammern. Der Boden unter ihr bewegt sich, doch Arlinn behält die Hände auf dem Altar. Und das ist gut so, denn sonst würde sie stürzen.

Kaya legt den Mondsilber-Schlüssel ab, als Katilda es ihr bedeutet.

„Der Zirkel bietet Wurzel und Seele dar.“

Sie hebt eine knorrige Wurzel auf – das Ding ist so groß wie Arlinns Arm und vermutlich so alt wie Innistrad selbst. Manchmal erkennt man Alter, wenn man es sieht. Ehe Arlinn sich fragen kann, woher die Wurzel kommt, schnippt Katilda mit dem Finger gegen die Spitze. Die Wurzel zerfällt augenblicklich zu Asche. Katilda schmiert die Asche auf die Innenseite der Schale, genau gegenüber von Arlinns Blut.

Das wären also die Wurzeln. Doch wie steht es mit einer Seele? Arlinn gefällt nicht, wie sich das anhört.

Gerade will sie fragen, als Katildas Blick sich auf sie heftet. Die Aura, die von ihr ausgeht – hier wird es keine Fragen, keine Unterbrechungen geben. Der Ritus muss fortgesetzt werden.

Und es sind Katildas Augen, die sie verraten: Ein silbernes Leuchten überzieht sie und strömt dann aus ihnen heraus. Der Mund der Hexe klafft auf, und auch da ist der Strom aus Silber – beide verbinden sich und fließen in die Schale.

Die anderen Hexen legen die Arme um Katilda, um sie zu stürzen, als ihr Körper erschlafft. Furcht breitet sich in Arlinns Brust aus. Das ist nichtvon Dauer, oder? Ihr Blick huscht von den Hexen zu Katilda. Ihr Mund formt die Worte: Ist das richtig?

Doch sie erhält nie eine Antwort.

Denn Kaya blickt zu etwas hinauf, und ein Schatten ragt hoch über dem Altar auf.

Etwas riecht nach Tod.

Es geschieht schneller, als das menschliche Auge es wahrzunehmen imstande ist, doch glücklicherweise gerade schnell genug für Arlinn: Ein Streifen aus Rot und Gold fährt wie ein Blitz vom Himmel herab, und Katilda wird von seiner unglaublichen Farbe verschluckt. In dem Streifen: Olivia Voldaren. Sie ist nicht zu verwechseln. Sie würde niemals wollen, dass man sie verwechselt. Die Hand, die sich nach dem Mondsilber-Schlüssel ausstreckt, ist mit dem Siegel der Voldaren versehen, ebenso wie der Rest ihrer Rüstung.

Und auf keinen Fall dürfen sie zulassen, dass sie den Schlüssel an sich nimmt.

Arlinn macht einen Hechtsprung darauf zu und drückt ihn fest an ihren Bauch, als sie am Boden auftrifft. Das Zischen ihrer Haut ist ein kleiner Preis für seine Sicherheit. Olivia hat sich bereits wieder zum Himmel aufgeschwungen. Katildas Körper hängt leblos in ihren Armen. Olivia schnaubt höhnisch zu ihnen herab. Ihre Schultern heben und senken sich unter ihrem grässlichen Gelächter.

„Wie es scheint, sind wir in einer Sackgasse angelangt“, sagt sie. „Ich habe eure Hexe, ihr habt meinen Schlüssel.“

Arlinn richtet sich auf die Knie auf, den Schlüssel noch immer fest in der Hand. Irgendetwas an ihm fühlt sich anders an – kälter. „Keines davon gehört dir.“

„Ganz im Gegenteil“, erwidert Olivia. „Dieser Schlüssel gehört sehr wohl mir. Und du musst verstehen, ich brauche ihn sehr dringend. Was ich nicht brauche, ist eine schrumpelige alte Hexe.“

Augenblicklich ist Kaya an Arlinns Seite. Sie freut sich über die Gesellschaft, selbst wenn die Neuigkeiten, die Kaya überbringt, ihr einen Schauer über den Rücken jagen. „Irgendetwas geschieht mit Katildas Seele. Ich sah, wie sie während des Ritus ihren Körper verließ, und dann…“

„Und dann?“ fragt Arlinn.

Kaya runzelt die Stirn. „Dann ist Olivia aufgetaucht. Was danach geschah, war schwer zu erkennen.“

Chandra ist die Nächste. Ihre Hände zucken, und ihr Blick ist auf die schwebende Vampirin geheftet. „Wir zünden sie an, oder?“

„Das können wir nicht. Wir könnten Katilda treffen“, antwortet Kaya.

Hoch oben stößt Olivia einen theatralischen Seufzer aus. Mit der vollen Anmutung einer äußerst gelangweilten Witwe zieht sie die Klauen über Katildas Brust. Blut spritzt auf die zusammengekauerten Hexen und die hypnotisierte Menge. „Es ist ein wirklich ganz einfacher Vorschlag. Und es langweilt mich, auf eine Antwort zu warten. Entweder gebt ihr mir den Schlüssel, auf dass ich meine Feierlichkeiten planen kann, oder ihr zaudert so lange, bis eure Freundin stirbt.“

Arlinn runzelt die Stirn. „Was, wenn wir den Ritus vollenden?“

„Haben wir Zeit dazu? Wissen wir, wie das geht?“, flüstert Kaya.

Zeit. Ihr Verstand wandert zu Teferi, der irgendwo hier ist, doch selbst wenn sie ihn findet, könnte er ihnen nicht genug Zeit verschaffen. Das Verlangsamen der Sonne ist keine kleine Aufgabe: Arlinn wäre nicht überrascht, wenn er davon ein paar Tage lang außer Gefecht gesetzt sein würde.

Es muss eine andere Lösung geben.

Ihr Blick fällt auf zwei der anderen Hexen. „Der Ritus“, kläfft sie.

Doch sie schütteln den Kopf. „Sie muss es tun“, antwortet eine. „Der Zauber ist zu alt für uns.“

Langweilig!“, ruft Olivia. Sie hebt die Hand zu einem weiteren Hieb –

Es ist einfach nicht genug Zeit. Nicht genug, um alles zu überdenken. Nicht genug, um einen anderen Ausweg aus all dem zu finden. Nicht genug für brutale Gewalt.

Innistrad muss überleben.

Arlinn schleudert den Schlüssel mit ihrem guten Arm.

Olivias Augen leuchten auf. Erneut geschieht es rasch: Sie pflückt den Schlüssel mit der freien Hand aus der Luft. Ihn anzusehen, facht das Feuer ihres Entzückens nur weiter an, selbst als Rauch aus ihren Fingerspitzen aufsteigt.

„Lass Katilda fallen!“, ruft Arlinn.

Entzücken wird zu Ekel. „Das ist keine Art, eine künftige Braut zu behandeln“, sagt sie.

„Eine Abmachung ist eine Abmachung“, sagt Kaya. Arlinn ist ein wenig überrascht, sie zu hören, überrascht, dass sie es ist, die versteht, aber sie nimmt die Hilfe dankbar an. „Rück sie raus.“

„Na schön“, antwortet Olivia. „Fang.“

Olivias Mitternachtsmahl
Olivias Mitternachtsmahl | Bild von: Chris Rallis

In den Zeiten, die nun kommen, wird Arlinn oft über diesen Augenblick nachdenken – und darüber, was sie hätte anders machen können. Hätte sie sich nur etwas schneller bewegt, wäre es dann so schlimm geworden? Hätte sie schneller gehandelt, hätte sie sich anders entschieden – was wäre geschehen?

Es ist eine Sache, aus großer Höhe herabzufallen, doch eine ganz andere, von einer Vampirin in die Tiefe geschleudert zu werden. Katildas Körper fällt mit atemberaubender Geschwindigkeit in Richtung des Altars.

Es gibt nur eine Sache, die Arlinn tun kann, um ihren Sturz abzufangen – sich dazwischen zu werfen –, doch auch das ist nicht genug. Knochen knacken, als sie gegen Arlinn kracht, und Arlinn wird gegen den Altar geschleudert.

Als die Welt aufhört, sich zu drehen, ist die Vampirin längst fort. Davongeflogen, wie es aussieht – ein ferner schwarzer Fleck vor den ohnehin schon dunklen Himmel.

Und mit ihr der Schlüssel.

Der Celestus schweigt.

Es ist Nacht auf Innistrad.

Es wird immer Nacht sein – von jetzt bis in alle Ewigkeit.