Recht ist die Bezwingung des Chaos durch die Ordnung. Man kann nicht das eine ohne das andere haben. Jeder einzelne Tag in Adelines Ausbildung hat ihr dies vor Augen geführt: Katharer müssen stets für Gerechtigkeit sorgen, denn der natürliche Zustand der Welt ist das Chaos. Tief im Bauch der Bestie, umgeben von einem Mahlstrom aus Entropie: Dort fühlen sich Katharer am wohlsten, denn dort werden sie gebraucht.

So sagt man zumindest. Adeline beginnt sich zu fragen, wie viel von dem, was man sie gelehrt hat, Wunschdenken gewesen ist.

Es gibt Leute, die Hilfe brauchen, hat sie gedacht, und das ist zu ihrem einzigen Gedanken geworden, zum Einzigen, was sie durch die Nacht gebracht hat, zum Einzigen, was sie weiter hat atmen lassen. Ein heiliger Schwur, die Bewohner Innistrads zu schützen, verleiht ihrem Schwertarm selbst dann noch Kraft, wenn ihr Körper sich erschöpft zeigt.

Chandra ist im Chaos zu Hause. Als die Klaue einer Vampirin über Adelines Schild kratzt, ist Chandra da. Sie springt über einen Tisch, um einen besseren Angriffswinkel zu erhalten. Ihre Blicke treffen sich über die Schulter der Blutsaugerin. Irgendwie – trotz der Schreie, trotz des Fluchens, trotz des Todesröchelns um sie herum – grinst Chandra.

Eine Flammensäule verzehrt die Vampirin. Nur ein Häufchen Asche bleibt von der Frau übrig. Ihr Schmuck prangt darauf. Adeline atmet aus.

Chandra grinst. „Hammer und Amboss klappen gut, was?“

Ihre Worte werden jäh abgeschnitten, als Adeline sie zu sich heranzieht und gerade noch rechtzeitig den Schild hebt. Eine Weinflasche zerbirst an Hartholz und Stahl. Rote Schlieren überziehen das heilige Symbol, das ihrem Angreifer entgegenblickt, und Rot überzieht auch Adelines Helm.

„Das macht mich dann wohl zum Amboss“, sagt Adeline.

Ein schnelles Drücken ihres Handgelenks – durch die Rüstung hindurch kaum spürbar – bezeugt Chandras Dankbarkeit. „Na, nun kling doch nicht so niedergeschlagen. Wir schaffen das.“

Adeline zieht sich zurück. Ein mit einem Kerzenhalter bewaffneter Diener taucht aus dem Gewühl auf. Chandra schießt eine Sekunde, bevor er sie erreicht, Flammen auf ihn ab. Der Kerzenleuchter fällt klappernd zu Boden. Flammen lecken an den Tischläufern, und das ist schlecht, wenn man bedenkt, wie viele Duelle gerade auf den Tischen stattfinden. Es müssen mindestens ein Dutzend sein – und nicht alle von ihnen zwischen Mensch und Vampir.

Wie es scheint, nutzen ein paar der Blutsauger die Gelegenheit, alte Schulden zu begleichen. In dem kurzen Augenblick, in denen Adeline ihnen zusieht, beobachtet sie eine gut gekleidete Frau, die einen Mann aufspießt, ehe sie ihn zu sich heranzieht, um ihn zu küssen. Die Spitze ihrer Klinge ragt aus seinem Rücken. Irgendwie lächelt er.

Wo sie auch hinsieht, bietet sich ihr das gleiche Bild. Ein Junge auf einem abgerichteten Schwein schließt sich zwei berittenen Katharern an, und sie alle drei versuchen, es mit einem Falkenrath aufzunehmen, dessen Wangen von frischem Blut ganz rot sind. Da ist ein Dämon, der mit einer Säule nach einer Gruppe Bauern schlägt, und Sigarda ist da, um die behelfsmäßige Keule abzufangen. Eine Wache schlägt einem Krieger sauber den Kopf von den Schultern und wirft ihn einem Kind mit blutverschmiertem Mund zu, das ihn wie ein braves Hündchen aus der Luft fängt.

Rot sprüht aus der Kehle der Wache. Sie fällt zu Boden, und ihr gestohlenes Blut rinnt über den glatten Marmorboden. Hinter ihm zieht eine violett leuchtende Kaya ihr Messer zurück.

„Irgendeine Spur von Arlinn?“ fragt Adeline.

Kaya schüttelt den Kopf. „Wir halten die Front.“

„Äh, Kaya, für den Fall, dass du es nicht bemerkt hast: Das ist weniger eine Front, sondern eher ein“, setzt Chandra an.

Sie hält erneut inne. Dieses Mal, weil über ihnen dreien eine Säule ins Wanken gerät. Adeline eilt heran, um sie zu retten – und es gelingt ihr, wenn auch nur, weil die Säule eine ganze Sekunde lang in ihrer Bewegung erstarrt. Das Werk des Zeitmagiers. Chandra hat in der Tat mächtige Freunde.

„Gut aufgepasst, Adeline. Das sehe ich auch so“, sagt Teferi. Er duckt sich unter einer Axt weg und tippt mit seinem Stab die Seite der Wache an, die lange genug erstarrt, damit die Katharerin ihr den Garaus machen kann. „Alle verstreuen sich. Wir können das nicht mehr lange durchhalten.“

„Arlinn weiß, was sie tut“, sagt Kaya. „Sie wird es zu Ende bringen –“

„Avacyn kämpfte stets mit ihren Schwestern an ihrer Seite. Wir sollten sie nicht allein lassen“, sagt Adeline. „Sie braucht Hilfe.“

„Wir können niemanden entbehren“, sagt Chandra. „Wir haben Gesellschaft.“

Und die haben sie: Ein Dutzend gedrungener Vampirwachen marschiert mit geschlossenen Schilden geradewegs auf sie zu. Selbst unter den besten Umständen eine harte Nuss. Chandra schleudert ihnen Flammen entgegen, doch sie zögern nur einen Augenblick lang.

Adeline nimmt ihre Kampfhaltung ein.

Recht ist die Bezwingung des Chaos durch die Ordnung. Ein Katharer wird am dringendsten im Mahlstrom gebraucht.

Eine der Wachen schleudert einen Wurfspeer.

Adeline hebt den Schild.

Doch da ist kein Aufprall.

Ein gewaltiger Wolf wirft sich vor sie. Der Wurfspeer kann die Muskeln an den Flanken nicht durchdringen und prallt wirkungslos ab. Der Wolf dreht sich zu den Vampiren. Das Knurren, das seine Kehle verlässt, ist so tief, dass Adeline es in den Lungen spürt.

Eine Tatze schlägt auf den Marmorboden. Dann: ein Heulen.

Vier weitere Wölfe – diese sind von herkömmlicher Größe – springen durch die Fenster. Und sie sind nicht die einzigen. Es müssen Dutzende von Wölfen sein – einige so groß wie übermannshohe Felsbrocken –, die nun durch die Fenster und die offenen Türen herbeiströmen.

Doch warum? Warum sind sie hier? Vor nicht allzu langer Zeit haben die Wölfe Menschen auf dem Erntezeitfest in Stücke gerissen. Warum retten sie sie nun?

„HabtHabt ihr die eingeladen?“, fragt Chandra.

Wie als Antwort dreht sich einer der Wölfe zu ihnen um. Ein Arm ragt seitlich aus den gewaltigen Kiefern. Nein –seinen Kiefern. Adeline kennt diese Narben.

Das ist Tovolar.

„Bist du zum Helfen hier?“, fragt Teferi.

Der Wolf nickt. Kaya deutet auf eine bestimmte Tür.

„Sie ist da langgegangen“, sagt sie.

Kaum hat sie zu Ende gesprochen, ist Tovolar auch schon fort und springt über die Überreste des Kronleuchters in die Richtung, in der er Arlinn vermutet.

Während der Drangsal ist es schwer abzuschätzen gewesen, wer Freund und wer Feind ist. Die Grenzen sind verschwommen. Aus Menschen, die man sein Leben lang gekannt hat, sind Tentakel und Panzer hervorgebrochen.

Dies hier ist nicht so schlimm wie die Drangsal – doch Adeline ist sich dennoch nicht sicher, was sie von dem Wolf zu halten hat.


Sorin Markov ist mit der Finsternis vertraut. Tausende Jahre lang ist die Finsternis seine treueste Gefährtin gewesen. Und nun, da er in eine Grube voll Blut hinabsinkt, erkennt er, dass sie vielleicht die einzige Freundin ist, die ihm noch bleibt.

Die anderen Planeswalker von zuvorsind tot oder fort oder nur noch Schatten ihres einstigen Selbst.

Nahiri. Ein Mädchen, dem er einst vertraut hat. Eine Frau, die ihn in Stein gesperrt und ihn gezwungen hat, dabei zuzusehen, wie die Welt um ihn herum zerbrochen ist.

Avacyn, seine wohl kostbarste Schöpfung. All seine Hoffnung für die Zukunft in einem einzigen, perfekten Gebilde. Sie zu vernichten, hat wehgetan … Richtig wehgetan. Selbst Vampirkräfte werden diese Wunde in seinem Herzen nicht schließen können.

Und nun

Blut rauscht ihm gegen die Lider. Wenn er den Mund öffnet, wird da jede Menge zu trinken sein, jede Menge, was ihm Kraft geben könnte. Doch selbst wenn er sich hier wieder herausziehen würde, was ist ihm noch geblieben? Siebentausend Jahre des Daseins lasten auf seinem Leib. Er sinkt tiefer in die blutigen Tiefen.

Was ist ihm noch geblieben?

Er müht sich, an etwas zu denken. Da muss etwas sein. Leute wie er sehen das große Ganze, nicht nur die kleinen Einzelteile. Das hat sein Großvater ihn gelehrt.

Sein Großvater, der selbst jetzt noch um das grausige Privileg kämpft, eine Voldaren zu heiraten. Sein Großvater, der ihn aus eben diesem Grund hier hineingeschleudert hat. Von all den Wunden, die Sorin erlitten hat, hat Edgar ihm die erste zugefügt – und dennoch hat Sorin ihn tausende Jahre lang geliebt.

Hat das auch zum Plan seines Großvaters gehört? Sorin nur dann zu benutzen, wenn es ihm gelegen kommt? All diese langen Unterhaltungen, als würde er duldsam die Teegesellschaften ertragen, wie sie ein Kind in seinem Kopf ausrichtet?

Das große Ganze, nicht nur die kleineren Einzelteile.

Ja, er sieht es jetzt.

Sorins Brust schmerzt.

Er öffnet den Mund.

Blut – süß, klebrig, berauschend wie Wein – strömt in ihn hinein. Sehnen verbinden sich wieder. Knochen schnappen knackend in ihre angestammte Lage zurück. Wunden wachsen zu. Seine Muskeln schwellen an vor gestohlener Lebenskraft. Sie haben gedacht, dieser Keller würde ihn ertränken, doch er macht ihn nur stärker.

Sorin beginnt zu klettern.

Es dauert länger, als ihm lieb ist. Mit jedem neuen Ausstrecken seiner Hand heilt sein Körper sich weiter, flickt sich mehr und mehr wieder zusammen. Er ächzt. Doch er stürzt sich voll und ganz in die Aufgabe, in die Anstrengung, die er unternimmt, und als er den Rand der Grube erklommen hat, gibt es keinen Platz mehr für Zweifel.

Der Ballsaal. Dorthin ist sein Großvater – Edgar – gegangen.

Einen Schritt nach dem anderen. Es ist der Pirschgang eines Raubtiers, in dem er die Hallen des Sanguitoriums durchquert, die Nase eines Raubtiers, die ihn durch die murmelnden Gänge leitet, der Instinkt eines Raubtiers, der ihn unterwegs ein Breitschwert aufheben lässt.

Schon bald dringen die Geräusche an sein Ohr: das Scheppern von Metall, das Stöhnen der Sterbenden, das Schlagen von Engelsflügeln. Jedes davon erzürnt ihn. Ebenso erzürnend ist das Heulen von Wölfen auf dem Gebiet der Voldaren.

Nun ja, zumindest wäre es noch vor wenigen Tagen erzürnend gewesen.

Nun überkommt ihn eine grimmige Zufriedenheit. Jahrhundertelang haben die Vampire geplant und Ränke geschmiedet, Kehlen herausgerissen und Herzen durchstochen – alles nur für ein klein wenig mehr Macht. Es ist bloß natürlich, dass die Wölfe – echte Rudeltiere – nun gekommen sind, um sie aufzuscheuchen.

Ihm kommt der Gedanke, dass seine Familie in diesem Ballsaal ist, und ihm kommt der Gedanke – entfernt, wie ein Flüstern durch gepolstertes Tuch –, dass es ihn nicht mehr kümmert.

Sorin tritt in den Mahlstrom. Ein Pfeil pfeift über seine Schulter. Er fängt ihn ab und stößt ihn einer heranstürmenden Voldaren-Wache in die Kehle. Der Mann ringt um Atem. Sorin dreht den Schaft des Pfeils.

„Leise“, sagt er.

Der Mann sackt zusammen, als Sorin den Pfeil herauszieht. Es kümmert ihn nicht sehr. Er sucht bereits den Raum nach Edgar ab. Olivia spielt kaum noch eine Rolle. Sie mag es gewesen sein, die die Hochzeit arrangiert hat, doch Edgar hat eingewilligt. Edgar hat dafür gekämpft. Edgar hat seinen eigenen Enkel für etwas so Simples, so Vergängliches, so Ersetzbares wie Macht verstoßen.

Er sieht sich nach Edgar um.

Dort – auf dem Weg zu Teferi und dessen Gefährten, flankiert von Markov-Duellanten. Edgar schwingt sein Breitschwert wie ein viel jüngerer Mann und keckert vor Vergnügen. Hat er schon immer so gebrechlich gewirkt? Sein Fleisch so träge, seine Augen so giftig?

Da sind die, die versuchen, zwischen Sorin und Edgar zu gelangen. Eine törichte Art, das eigene Todesurteil zu unterschreiben. Gliedmaßen fallen von ihnen ab wie Laub von Herbstbäumen. Sorin marschiert weiter.

Edgar schlägt nach Teferi. Der Zeitmagier verlangsamt den Hieb, doch nur unwesentlich – er schafft es gerade eben, ihn zu blocken. Die Katharerin nimmt es mit zwei der Duellanten auf, und die Flammen der Pyromagierin lecken an Edgars edlen Gewändern. Zwei Geister manifestieren sich gerade rechtzeitig, um die Duellanten zu töten.

Das Blatt wendet sich. Edgar muss das so mühelos spüren wie Sorin.

Das Gesicht, das Sorin einst für gütig und weise gehalten hat, verzieht sich angewidert. „Du schon wieder?“

Sorins Angriff kommt zu schnell, als dass die Menschen ihm folgen können, und ebenso Edgars Parade. Schwerter klirren wieder und wieder aufeinander, Hände schwirren umher und Funken stieben um sie herum. Sorins Ansturm ist bösartig, unerbittlich, gänzlich uninteressiert an Frieden oder einer Klärung der Lage durch Worte. Edgar mag mächtig sein, doch das Studium der Klinge ist schon seit langer Zeit Sorins liebste Beschäftigung.

Die, die Edgar zu Hilfe eilen, finden ein rasches Ende. Sorin denkt nicht daran, mehr als ein flüchtiges Auge auf seine Umgebung zu haben, doch er weiß, dass die anderen sie in Schach halten.

Letzten Endes ist es Edgar, der als Erstes aus dem Getümmel stolpert. Er taumelt nach hinten und sein Schwert fällt klappernd wie ein Spielzeug zu Boden.

„Sorin“, sagt er. „Du musst verstehen …“

Sorin legt die Spitze seines geliehenen Schwertes an Edgars Kehle. „Ich verstehe, Edgar. Das große Ganze, nicht die kleinen Einzelteile. Opfer. Macht. Ich verstehe nun mehr als deutlich, was du von mir hältst.“

Und er versteht, wie leicht es wäre, diesen Mann hier und jetzt zu töten. Eine einfache Bewegung seines Handgelenks ist alles, was nötig wäre. Ein kurzer Augenblick des Widerstands, ein ersterbendes Röcheln – das wäre alles.

Doch etwas lässt ihn innehalten.

Vielleicht die unsichtbare Hand eines Engels von vor langer Zeit.

Sorin runzelt die Stirn. „Schaff dich fort. Geh mir aus den Augen.“

Trotz all seiner Prahlerei und all seiner Macht lässt sich Edgar das nicht zweimal sagen. Wie ein furchtsames Kätzchen huscht er davon. Sorin schert es nicht, wohin. Stattdessen ruht sein Blick auf dem Ort, an dem sein Großvater gerade noch gewesen ist – dem Ort, an dem er hätte sterben können.

„Geht es dir gut?“

Vermutlich die Pyromagierin. Die Besorgnis in ihrer Stimme überrascht ihn. Es hat nie den Anschein erweckt, als würde sie ihn mögen.

„Ja“, lügt er. Sorin wischt seine Klinge ab. Als er endlich aufblickt, bemerkt er, dass die anderen ihm weiträumig aus dem Weg gehen. Vampirleichen bedecken den Boden wie die Überreste eines Festmahls.

„Sorin, ich weiß … das muss schwer für dich gewesen sein, aber du hast das Richtige getan“, sagt Teferi.

Sorin will ihn anfunkeln. Wie kann er das wissen? Wie kann er urteilen? Und dann wird es ihm bewusst: Auch Teferi ist alt. Auch Teferi hat Verluste erfahren und hat Dinge jenseits seiner Vorstellungskraft gesehen.

Und die anderen mögen kurzlebiger sein, doch da ist etwas, was sie alle voneinander begreifen und kennen. Die Rastlosigkeit. Die Wanderlust.

„Danke.“

Das ist alles, was er zu sagen imstande ist.


Arlinn Kord träumt von Wäldern.

Sie träumt von Zweigen unter ihren Tatzen, von Herbstlaub, das träge um sie herum herabfällt, vom Wind in ihrem Fell.

Findling und Geduld laufen Schulter an Schulter mit ihr. Flitzer saust voraus. Sie ist sich sicher, dass Rotzahn irgendwo hinter ihnen ist.

Schmerzen in ihrer Brust.

So frei sie sich auch mit den Wölfen an ihrer Seite fühlt, so ist die Wahrheit doch nicht zu leugnen. Sie sind fort.

Sie ist allein.

„Arlinn.“

Wölfe haben viele Arten zu sprechen, doch ihr Name war den Mäulern selbst ihrer engsten Gefährten stets fremd geblieben. Arlinn runzelt die Stirn. Sie will langsamer werden, doch ihr Rudel treibt sie weiter voran.

„Arlinn, es ist Jagdzeit.“

Es fühlt sich furchtbar an. Als wäre ihr Kopf die Glocke der Kathedrale und die Stimme der Klöppel.

Sie will anhalten.

Doch dann – eine Wärme. Etwas an ihrer Seite, etwas Festes, dessen Herz rasend schnell schlägt. Wärme auf ihrem Gesicht. Ein vertrauter Geruch.

Der Hirsch kann warten.

Als sie die Augen öffnet, ist das Erste, was sie sieht, Tovolar – noch immer die Wunden von ihrer letzten Begegnung tragend. Die Weichheit des Ausdrucks in seinem Gesicht lässt seinen mächtigen Körper sanfter wirken.

„Du bist hier?“, fragt sie.

„Du hast um Hilfe gerufen“, kommt die Antwort rau durch seine Schnauze.

Und als sie sich regt, erkennt sie, dass sie nicht allein sind. Auch Findling ist an ihrer Seite – sie alle. Erleichterung und Freude überlagern die Schmerzen ihrer Verletzungen, und sie wirft die Arme um sie. Ihr Rudel! Und sie sind ebenso froh, sie zu sehen, schlecken ihr übers Gesicht und stupsen sie mit ihren Schnauzen an.

Doch die Umarmung soll nicht lange dauern. Mit Freude kommt Klarheit und mit Klarheit die Erinnerung.

Olivia ist es, die ihr diese Wunden zugefügt hat. Und Olivia ist diejenige mit dem Mondsilber-Schlüssel.

Findling und Geduld helfen ihr auf die Beine. Sie verwandelt sich erneut. Sie weiß, dass ihre menschliche Nase ihr hier nicht helfen wird. Oder ihr menschliches Gehör. Sie braucht die Wölfin.

Doch eines nagt an ihr: die beinahe verlegene Art, wie Tovolar die Schultern unbeholfen sacken lässt.

„Tovolar“, sagt sie, „das ändert nichts zwischen uns. Was du getan hast…“

„Heute Nacht klären wir diese Sache“, sagt er. In dieser Gestalt ist es schwer, Worte zu formen, doch Tovolar kann sich nicht so leicht verwandeln wie sie. „Sprich mit mir, wenn alles vorbei ist. Wir klären das wie Rudelgefährten.“

Arlinn überzieht eine Gänsehaut. Tovolar ist nicht Teil ihres Rudels – diese drei sind es. Doch das muss fürs Erste reichen, oder? Wenn die Voldaren die vollkommene Herrschaft über alle anderen Vampire – und die Engel – erlangen, ist das auch für die Wölfe nicht gut.

Sie würdigt ihn keiner Antwort. Olivias Geruch hängt an diesem Ort, ihr Blut auf dem Marmor ist frisch und einladend. Es wird ein Leichtes sein, sie aufzuspüren.

Arlinn muss Tovolar nicht bitten, ihr zu folgen.

Auch die Wölfe nicht. Gemeinsam rennen die fünf durch die Gänge des Voldaren-Anwesens. Ihr Blut rauscht ihnen in den Ohren. Es schmerzt. Natürlich tut es das.

Doch das ist nichts im Vergleich zu dem, was geschehen wird, wenn Olivia die Kontrolle über Innistrads Engel erhält.

Ihre Spur führt sie nicht zurück zum Ballsaal, sondern irgendwohin weiter oben. Treppen sind auf vier Pfoten schwerer zu erklimmen. Sie erdulden das. Es ist kein Raum für etwas anderes.

Bald darauf dringt Edgars Stimme aus einem Gang zu ihnen.

„Du hast versprochen, dass du alles unter Kontrolle hast.“

„Hatte ich auch. All dieserDieser Unsinn

Die Wölfe biegen in den Gang ein. Da, an dessen Ende, umgeben von Statuen ihrer selbst, steht Olivia Voldaren. Edgar Markov steht neben ihr, von Blut bedeckt und außer Atem. Olivias Gesicht lodert vor Zorn, und ihre Hand fliegt erneut an ihr Schwert. Edgar greift nach ihrer Schulter.

„Olivia, es ist vorbei“, sagt er.

Sie schlägt seine Hand fort. „Du rührst mich nur an, wenn ich dir gestatte, mich anzurühren.“

Die Wölfe kommen näher. Arlinn kommt mit einem tiefen Grollen in der Kehle vor ihnen zum Stehen. Olivia weiß, was sie will. Tovolar schnappt nach Edgar – doch ein scharfes Kläffen von Arlinn lässt ihn innehalten.

Das ist Olivias Chaos. Sie hat die Gelegenheit, die Sache richtigzustellen.

Arlinn ist sich nicht sicher, was am Ende die Oberhand gewinnt: Olivias Groll oder ihre Ungeduld. Vielleicht ihre kriecherische Feigheit.

Doch sie lässt den Schlüssel los.

Er fällt unspektakulär klirrend zu Boden.

„Da. Nimm dein kleines Spielzeug, wenn es dir so viel bedeutet“, höhnt sie.

Arlinn schlägt den Schlüssel in einen Fetzen eines zerrissenen Vorhangs ein und nimmt ihn mit den Zähnen auf. Olivia hat sich bereits durch eines der Fenster davongemacht. Kurz darauf folgt auch Edgar. Tovolar macht einen Satz an der Mauer hoch und versucht, sie zu erreichen, doch er kommt nur mit den Schößen von Edgards Frack zwischen den Zähnen zurück.

Er blickt finster drein. Damit hat Arlinn gerechnet. Zweifellos hat er die Vampire in Stücke reißen und dieser Bedrohung für immer ein Ende setzen wollen.

Ein Teil von Arlinn will das auch.

Doch dafür wird später noch Zeit sein.

Als Arlinn sich in ihre Menschengestalt zurückverwandelt, erhascht sie Tovolars Blick.

„Wenn du Schwierigkeiten damit hast, wie ich die Dinge angehe, dann komm später zu mir“, sagt sie. „Mein Rudel und ich kümmern uns um dich.“


Der Mondsilber-Schlüssel verleiht müden Füßen neue Kraft. Den ganzen Weg von Stenzen nach Kessig machen sie keine Rast, keine Pause. Teferis Anstrengungen, sie schneller vorankommen zu lassen, erschöpfen ihn – als sie eintreffen, schläft er fest in der Kutsche.

Jeder Schritt ist hart erkämpft. Jeder Schritt ist ein Sieg.

Doch das alles wird nichts bedeuten, wenn der Ritus nicht vollendet wird.

Katilda versichert ihnen, dass dies noch möglich ist. Ihr Geist, der an den Mondsilber-Schlüssel gebunden ist, folgt ihnen auf ihrer Reise. Kaya leistet ihr die meiste Zeit über Gesellschaft, doch auch Arlinn hat Fragen an sie.

„Wie können wir sicher sein, dass es klappt?“

„Wie kannst du dir sicher sein, dass es das nicht wird?“, entgegnet Katilda.

Ein Dasein als Geist spornt einen wohl zu mehr Geheimnistuerei an und nicht zu weniger.

„Ich habe nur gern Gewissheit“, antwortet Arlinn. Sie gehen gemeinsam durch den Wald. Die meisten der anderen schlafen in der Kutsche. Adelines Streitross trägt das Joch, zusammen mit Kayas geliehenem Wallach. Sie sind die einzigen der Gruppe, die wach sind: die Katharerin, die Wölfin und der Geist. „Das kannst du mir kaum verübeln.“

„Du kennst dich selbst nicht sehr gut,“ antwortet Katilda. „Wenn du nur handeln würdest, wenn du dir sicher wärest, wärest du wohl kaum hier, oder?“

Man sagt, die schlimmsten Bisse fügt einem ein Welpe zu, den man selbst aufgezogen hat. Arlinn keucht.

Ihr Blick fällt erneut auf die Kutsche. Sie denkt an alle darin. Chandra hat sich auf einer der Bänke zusammengerollt, Kaya schläft im Stehen an die Wand gelehnt, Teferi hat die andere Bank genommen. Und überall auf dem Boden schlummern ihre Wölfe, friedlich und mit vollen Bäuchen.

„Warst du dir bei ihnen sicher?“

Die Frage reißt sie aus ihren Gedanken. Arlinn wirft Katilda einen Blick zu. „Natürlich. Das sind einige der stärksten Magier, die ich kenne. Wie könnte ich da nicht sicher sein?“

„Du weißt, dass ich nicht die Magier gemeint habe.“

Ein weiteres Keuchen. Hexen kann man auch nichts vormachen. „Sorin hatte seine eigenen Gründe, uns zu helfen. Er hat seine Fehler gemacht, aber letztlich liebt er Innistrad genau wie ich. Ich wusste, dass er das Richtige tun würde.“

Ungesagt bleibt, dass Sorin die Reise nicht mit ihnen angetreten hat. Da seien Dinge, um die er sich zu kümmern hat, hat er gesagt. Kryptisch wie immer. Sie vermutet, dass es dieses Mal nicht nur eine Verschleierung hinter einer brütenden Miene war. Er ist zurückgeblieben, um sich um die Gefallenen und Verwundeten zu kümmern. Jeder, der längerfristige Unterstützung braucht, zieht ein paar Monate lang in das Anwesen der Markovs ein. Er hat darauf beharrt, dass es wegen der medizinischen Schriften ist, zu denen er Zugang hat und von denen die anderen nur träumen können.

Und vielleicht ist das auch so.

Oder vielleicht ist es etwas anderes, und er will es einfach nicht zugeben.

Und daher: „Ich habe mich um andere Angelegenheiten zu kümmern.“

Der Gedanke daran lässt sie lächeln. Sie hat gewusst, dass irgendwo da drin ein Herz schlägt.

Doch das Lächeln schrumpft bei Katildas nächster Spitze: „Ihn meinst du auch nicht.“

Die Wälder sind wundervoll des Nachts, der Geruch der Kiefern klar und anregend wie ein guter Whiskey. Arlinn behält ihn noch etwas länger in der Nase.

„Der Tag wird kommen, an dem du diese Frage nicht mehr stellen musst“, sagt sie.

„Ein Tag, viele Jahre nach dem Erntezeitfest-Massaker“, sagt Katilda. Ihre spektrale Gestalt flackert.

„Er wird für das, was er getan hat, bezahlen“, sagt sie. Das ist die eigentliche Frage hier – dessen ist sie sich sicher. „Sobald alles getan ist, mache ich mich auf die Suche nach ihm.“

„Doch wie aber wird er bezahlen?“, fragt Katilda. „Welche Währung kann er uns für die Leben, die er genommen hat, geben? Du bist ein Mensch, der die Haut einer Bestie trägt. Er ist eine Bestie – ganz gleich, welche Gestalt er wählt.“

Das ist nicht die Unterhaltung, die sie führen will. Dennoch muss es ausgesprochen werden.

„Tovolar hat das Mondrenner-Heulerrudel aus Angst wieder zusammengeführt“, setzt Arlinn an. „Er wird dir sagen, dass es andere Gründe gab, doch am Ende war es Angst. Zu viele seiner Freunde sind auf demselben Grat gewandelt wie ich – und sie wurden getötet, ganz gleich, wie gut sie waren.“

Da ist ein Mann, der vor ihr durch den Wald stampft. Er redet nicht viel. Das muss er nicht. Sie verstehen einander.

Arlinn schiebt die Erinnerung beiseite.

„Als Werwolf ist man nie einfach man selbst. Es spielt keine Rolle, wer man ist. Die Leute mutmaßen Dinge über einen. Man ist für jeden Dorfbewohner verantwortlich, den irgendein Wolf jemals getötet hat, und das will man nicht sein. Man hat Angst. Man flieht. Man findet ein Rudel. Das Rudel verurteilt einen nicht für das, was man ist, und es sagt einem, dass es in Ordnung ist, das zu sein. Dass man so sein muss – sonst töten einen die Menschen. Und sie liegen damit richtig genug, dass die meisten Leute nicht zweimal darüber nachdenken.“

Auerbrück durch die Augen eines Wolfes. Ihre Eltern, die sich fragen, wohin sie gegangen ist. Ein Geheimnis, das sie nicht teilen kann.

„Erst wenn man etwas Distanz gewonnen hat, erkennt man, dass man sich geirrt hat. Es gibt einen anderen Weg. Es ist mitnichten ein leichter – man muss überdenken, was man von Menschen erwarten kann, und die Menschen müssen ihre Erwartungen an einen überdenken –, aber dieser Weg ist da. Wenn jeder einwilligen würde, auf eine andere Welt hinzuarbeiten, können wir Stein für Stein eine bauen. Und jeder von uns ist selbst einer dieser Steine. Es wird Jahre dauern. Jahrzehnte vielleicht. Doch wir können es schaffen. Aber wenn man ein Werwolf ist, sorgt man sich um das Hier und Jetzt. Was isst man? Wer jagt einen? Wie bleibt man tagsüber in Sicherheit? Es ist schwerer, das große Ganze zu sehen, und noch schwerer, sich darin wiederzufinden.“

Tovolar am Feuer, der sie anstarrt, als wäre ihr ein zweiter Kopf gewachsen.

„Ich sagte ihm all das schon vor Jahren. Ich sagte ihm, dass es einen anderen Weg gibt. Er hat mir nicht geglaubt. Für ihn werden sich Menschen niemals ändern. Sie werden uns immer für Monster halten. Warum sollten wir uns seine Vorstellung von Größe vorenthalten?“

Sie schluckt.

„So etwas wie das Erntezeitfest kommt nicht aus dem Nichts. Wenn man ihn fragen würde, würde er sagen, dass im Lauf der Jahre Hunderte von Wölfen mehr gestorben sind. Dass die Erntezeit nur der Anfang war.“

Schon in dem Moment, als sie die Worte ausspricht, schmecken sie abscheulich. Arlinn kann sich keine Weltsicht vorstellen, mit der sie weniger übereinstimmte. Und dennoch

„Du hast gefragt, wie da Gerechtigkeit aussieht. Um die Wahrheit zu sagen: Ich bin mir nicht ganz sicher. Wie bestraft man jemanden, der sein ganzes Leben in Angst und Zorn verbringt, ohne dieses Feuer weiter anzufachen? Ich will, dass er für das, was er getan hat, bezahlt. Doch ich will auch, dass er sich bessert. Ich will, dass er einsieht, dass es einen anderen Weg gibt. Dass wir gemeinsam an einem besseren Morgen arbeiten können – doch die Erntezeit hat uns um Jahrzehnte zurückgeworfen. Dieser Vorfall wird die Menschen eher dazu bringen, uns zu töten, und nicht weniger.“

Arlinn nimmt einen weiteren Atemzug kalter Luft. Er verschafft ihr weniger Klarheit, als ihr lieb ist.

„Du hast mich gefragt, ob ich mir sicher war, dass er kommen würde. Das war ich nicht“, gibt sie zu. „Aber ich dachte mir, wenn er käme, würde er sehen, dass wir alle zusammenarbeiten können. Ich wollte, dass er sieht, dass die Menschen dankbar wären, wenn er hilft. Dass er nicht kämpfen muss. Ich dachte mir, das ist wichtig.“

Katilda schwebt neben ihr her und blickt zum Mond hinauf. Eine lange Weile sagt keine von ihnen ein Wort. Die Last ihrer Ansprache legt sich ihr um die Schultern, schwerer als ein Bärenpelz. Um ehrlich zu sein, hat sie das alles nie zu Ende gedacht – sie hat nur gesagt, was sie im Herzen empfindet. Da nun auch ihr Verstand die Gelegenheit gehabt hat, es zu hören, verarbeitet er es noch.

Sie ist sich nicht sicher, ob sie jemals damit fertig werden wird.

„Glaubst du, es hat geholfen?“, fragt Katilda.

Und die Antwort ist so offensichtlich, wie sie schwer auszusprechen ist. Jede Silbe wird aus ihr herausgewrungen wie Wasser aus einem nassen Lumpen. „Ich weiß es nicht. Aber ich musste es versuchen.“

„Ich möchte dir einen Rat geben, Arlinn“, sagt Katilda.

Arlinn lässt die Schultern kreisen. „Nur zu.“

„Es ist bewundernswert, nicht den Mann hinter den Verbrechen zu vergessen“, sagt sie. „Doch du solltest auch nicht die Verbrechen selbst vergessen. Welche Hoffnung du auch immer in Tovolar gesetzt hattest: Er hat sie so oft verraten, wie er sie erfüllt hat. Eines Tages wirst du dich dem stellen müssen. Es wird nicht ausreichen, auf etwas Besseres zu hoffen.“

Erneut ist jedes Wort ein Nadelstich. Arlinn schließt die Augen. Der Boden ist kalt und federnd unter ihren Füßen. Es ist Nacht auf Innistrad, und sie sind auf dem Weg, es zu retten.

„Ich weiß“, sagt sie. „Ich weiß.“


„Also wir sind sicher, dass das klappen wird, ja?“, fragt Chandra.

Arlinn grinst. „Ja, wir sind sicher.“

Sie steht in der Mitte des Celestus. Die anderen haben sich unter einem seiner Arme versammelt. Katilda steht vor ihr. Sie ist in ihren angestammten Körper zurückgekehrt. In Arlinns Hand liegt das Sonnengold-Schloss – zusammen mit dem Blut und den Opfergaben von zuvor, ehe der Ritus zu jäh unterbrochen worden ist.

Der Mondsilber-Schlüssel – das Zeichen ihres Sieges – ruht in den Händen der Hexe. Ein schwaches magisches Leuchten umgibt sie.

„Wurzel und Seele, Blut und Fang“,intoniert sie. Und es ist nicht ihre Stimme, sondern die Stimme aller versammelter Hexen, die Stimme der Welt selbst. „Möge Innistrad vereint unter der Wärme der Sonne zusammenstehen.“

Angehoben durch die Magie des Morgenlichtzirkels schwebt der Mondsilber-Schlüssel auf das Sonnengold-Schloss zu. Arlinn hält es in die Höhe, ganz so, wie es ihr aufgetragen worden ist.

Ein Teil von ihr sorgt sich, dass der Schlüssel nicht passt – dass ihnen eine Nachbildung untergemogelt worden ist.

Doch die Sorge verfliegt, sobald Gold auf Silber trifft.

Ein Lichtblitz flutet über den Celestus, doch er macht ihr keine Angst. Er ist so warm wie Sonnenlicht, warm wie viele Versprechen, und Arlinns Haut saugt ihn gierig auf. Sie muss nicht einmal die Augen schließen. Überall um sie herum erwacht der Celestus dröhnend zum Leben und schüttelt jahrhundertealte Überwucherung von sich ab. Einige der Bäume klammern sich noch immer an die Arme, als diese sich zu drehen beginnen. Arlinn hat noch nie einen Baum über sich vorbeiziehen sehen, und der Anblick erfüllt sie mit einer kindlichen Freude.

Genau wie der Anblick ihrer Gefährten, die von einem Arm zum nächsten klettern, bevor sie doch herunterfallen. Es geschieht so langsam, dass sie nicht in Gefahr sind, besonders nicht, da Teferi in der Nähe ist, aber es ist dennoch lustig. Der Rand ist zum Glück sehr viel unbeweglicher.

Mit jedem Arm, der über ihnen hinweggleitet, wird das Licht um sie herum heller. Schließlich ist nur eine Säule übrig, die sich von dieser Plattform bis zum Mond selbst erstreckt. Es ist schwer, dem zuzusehen und sich nicht ewig zu fühlen.

Arlinn fällt nichts ein, was sie sagen könnte. Sie glaubt, es gibt einfach nichts zu all dem zu sagen. Manchmal muss man einfach schweigen und das würdigen, was geschieht – die Absurdität des Lebens selbst.

Die Tochter eines Schmieds steht neben einem uralten Konstrukt und sieht zu, wie der Tag auf Innistrad zurückkehrt.

Als das Licht verblasst – und es braucht eine lange Weile –, senkt sich der Mond bereits wie eine fallen gelassene Münze hinter die Wogen des Horizonts. Sie hört, wie Katilda neben ihr den Schlüssel aufhebt.

Arlinn hebt eine Augenbraue. „Brauchst du den nicht?“

Katilda blickt zum Himmel hinauf. „Wenn alles gut geht, nicht in den nächsten tausend Jahren. Ein anderer hier braucht ihn dringender.“

Es ist besser, nicht mit Hexen zu streiten. Als der Mond hinter dem Horizont versunken ist, geht Arlinn mit Katilda zum Rand des Celestus. Dort sitzen die anderen und lassen die Beine über die Kante baumeln.

Vor ihnen erstreckt sich schier endlos der Wald von Kessig. Sie kennt jeden Winkel so gut wie ihre eigene Haut. Sie weiß, wie es dort bei Nacht aussieht, am Morgen und in den kostbaren Stunden der Dämmerung, wenn jeder Zweig purpurn gefärbt ist.

Und dennoch lässt sie der neuerliche Anblick beinahe in Tränen ausbrechen.

Sie sitzt unter ihnen, ihren Freunden, und bald umringen sie auch ihre Wölfe. Geduld kuschelt sich in ihren Schoß. Auch Katilda gesellt sich zu ihnen.

Gemeinsam sehen sie dem ersten Sonnenaufgang auf Innistrad seit Monaten zu. Er ist genau wie alle anderen Sonnenaufgänge – und darin liegt seine Schönheit. Jeder Sonnenaufgang ist ein Geschenk. Er ist etwas, was allen Erwartungen trotzt, etwas, was beinahe unglaublich ist: Jeden Morgen krönt ein goldener Ball aus Feuer den Horizont, und das allein reicht aus, Licht in die Welt zu bringen.

Es ist der erste Sonnenaufgang seit Monaten. Er ist wie jeder andere. Und daher ist er umso perfekter.

Jubel bricht aus, als die Sonne sich endlich zeigt. Arlinn kann nicht anders, als einzufallen, da die Freude in ihrer Seele von dem gleichen Gold ist wie die Scheibe, die sie feiern. Selbst die Wölfe stimmen ein und heulen nun die Sonne an. Liebende küssen sich, Freunde fallen sich in die Arme. Uralte Lieder mit vertrauten Melodien erhellen die Gemüter der Anwesenden.

Und natürlich wird getrunken.

Irgendjemand drückt Arlinn einen Kelch in die Hand, beinahe ohne dass sie es bemerkt. Der Würzwein fühlt sich selbst durch das Gefäß hindurch warm auf ihrer Haut an und noch wärmer, als er ihr die Kehle hinunterfließt.

Doch dann ist da die Kälte, die der Erkenntnis folgt, dass die anderen fortgehen müssen.

In der versammelten Menge, die nun eine Feiergesellschaft ist, sucht sie nach ihren Freunden.

Chandra und Adeline kommen zuerst. Sie findet sie, ganz wie sie erwartet hat, unter den Zweigen einer Weide, zu der sie sich geschlichen haben. Ein Schleier aus Blättern verbirgt das Geheimnis ihres Wegstehlens. Arlinn kann von hier aus nicht hören, was sie sagen, und sie kann ihre Umarmung nur flüchtig erahnen. Es fühlt sich richtig an, den Abstand zu wahren. Chandra wird später nach ihr suchen, um sich zu verabschieden, doch fürs Erste ist es besser, ihnen diesen Augenblick zu gönnen.

Sie hat sich nur wenige Schritte entfernt, als sie Kaya hört. „Neugierig, was? Das hätte ich dir gar nicht zugetraut.“

„Ich wollte nur nach ihnen sehen“, sagt Arlinn.

„Sicher“, antwortet Kaya. Sie verschränkt die Arme und blickt in Richtung der Weide. „Hätte nicht gedacht, dass es ihr hier so gut gefällt.“

„Innistrad besteht aus mehr als Tod und Verderben“, sagt Arlinn. „Ich hoffe, dass auch du das erkannt hast.“

Kaya grinst. „Vielleicht. Oder vielleicht machen mir Tod und Verderben einfach nichts aus.“ „Es war schön, mit dir zusammenzuarbeiten, Arlinn.“

„Gleichfalls“, sagt Arlinn. „Hoffentlich war es nicht das letzte Mal.“

„Natürlich nicht. Hier gibt es eine Menge Geister mit offenen Rechnungen. Ich bin mir sicher, dass du schon bald meine Dienste in Anspruch nehmen musst. Aber denk dran: Ich arbeite nicht umsonst“, sagt sie.

„Sicher“, sagt Arlinn grinsend.

Doch Kaya verblasst bereits schimmernd.

Auch Teferi ist in der Nähe – und er ist nicht allein. Katilda ist bei ihm. Als sich Arlinn nähert, drehen sich beide zu ihr um. In Teferis Händen ruht der Mondsilber-Schlüssel.

„Ah, du bist es also, der den Schlüssel braucht“, sagt Arlinn.

Teferi grinst. „Sie war so freundlich, mir den Schlüssel zu leihen. Mondsilber hat eine Reihe faszinierender Eigenschaften, insbesondere für Zeitmagie.“

„Dann hoffe ich, dass er dir gute Dienste leistet“, sagt sie. „Aber denk daran, ihn zurückzubringen. Sonst setze ich mich auf deine Fährte.“

Teferi lächelt und umarmt sie. „Einer Wölfin auf meiner Fährte könnte ich niemals entkommen. Es war schön, dich zu sehen, Arlinn.“

„Und es war schön, dich zu sehen“, sagt sie.

Doch da hängt etwas in der Lift, etwas, was noch nicht gesagt wurde. Teferi hält sie auf Armeslänge von sich und sucht nach Worten.

„Schlechte Nachrichten?“, fragt Arlinn.

„Vielleicht. Du wirst wachsam sein müssen. In letzter Zeit hatten wir Schwierigkeiten. Alte Schwierigkeiten.“

„Wenn du das sagst, muss es ernst sein“, meint Arlinn. Sie hofft, dass ein bisschen Frohsinn hilft, doch Teferi zeigt sich nicht aufgemuntert.

„Ich weiß besser als die meisten, wie gefährlich diese Bedrohung ist. Sie heißen Phyrexianer. Wenn du seltsames schwarzes Öl siehst, Wesen aus Fleisch und Metallüberhaupt irgendetwas Seltsames, dann lass es den Rest von uns wissen. Ich hatte gehofft, wir würden während dieses Unterfangens einen Hinweis finden. Es hat sich gelohnt. Dieser Schlüssel ist vielversprechend.“

Teferi hat einst von einem Ort gesprochen, den er gekannt hat, von einem Ort, den er nicht hat retten können. Dem Ausdruck in seinem Blick nach stehen beide in Zusammenhang.

„Etwas kommt vielleicht. Achte darauf, dass du dafür bereit bist.“

„Das werde ich“, sagt sie. „Was auch kommt: Innistrad wird überdauern.“

Er lächelt ihr erneut zu, doch nur mit einem Bruchteil seines üblichen Schelms. „Es ist in guten Händen, nicht wahr? Pass auf dich auf, Arlinn.“

Bald verblasst auch er.

Sie kennt die Wälder Kessigs.

Doch dennoch rufen sie nach ihr, jetzt da das Licht durch die Blätter der immergrünen Bäume fällt. Schnee legt sich wie Blütenblätter über den Wald. Die Luft ist klar vom Duft nach Winter.

Und obwohl ihre Freunde bald fort sein werden, so bleibt Arlinn Kord ihr Rudel.