Episode 5: Die zwei Wächterinnen
Als Nissa sich wappnete, gegen diejenigen zu kämpfen, die sie einst für Verbündete gehalten hatte, fragte sie sich, ob es nicht ein verhängnisvoller Fehler gewesen war, Zendikar jemals zu verlassen.
Jace und Nahiri standen vor ihr und atmeten schwer nach ihrem wilden Lauf durch die Singende Stadt. Hinter ihr standen die Elementare des Kazandu-Waldes. Dutzende um Dutzende.
Wäre Nissa nie Planeswalkerin geworden, hätte sich ihre Brust nun nicht vor Schmerz und Schuld über vergangene Fehler und verlorene Freundschaften zugeschnürt. Sie würde nicht um Gideons Tod trauern. Oder um den Verlust von Chandras Liebe.
„Wie
Der Beutel mit dem Lithoform-Kern hing an ihrer Hüfte. Er pulsierte stumm durch den Stoff hindurch.
Nissa ballte die Fäuste.
Andererseits … Wäre sie nie aus Zendikar fortgegangen, hätte sie nie etwas riskiert, versagt und es dann erneut versucht. Sie stünde nicht hier vor der Singenden Stadt, um ihre Heimat zu verteidigen, da niemand anders es vermochte.
„Zendikar ist, wo ich hingehöre. Es ist das Herz meiner Macht und meiner Stärke“, sagte Nissa. „Ich kenne alle Pfade und weiß, wie ich sie nutze. Ihr beide jedoch …“ Sie dachte an das Farnelementar, das Nahiri achtlos in der Himmelsfestung von Akoum getötet hatte, und sie spürte den Zorn der Armee der Elementare Kazandus hinter sich anschwellen. „Ihr werdet niemals verstehen. Verlasst meine Heimat.“
Jace versuchte, ihr Vernunft einzureden, doch Nissa schenkte ihm keine Beachtung. Nahiri war es, auf die sie ihre Aufmerksamkeit richtete, als die Lithomagierin rief: „Das hier ist meine Heimat, Baumbewohnerin!“
Ein instinktiver Ruck ging durch die Armee aus Elementaren, die dichter an Nissa heranrückten, jedes einzelne von ihnen bereit, sie mit ihrem Leben zu verteidigen.
Einen Augenblick lang war Nissa von Dankbarkeit gegenüber diesen Verkörperungen Zendikars überwältigt, die sie in ihrem Exil gefunden und bei sich aufgenommen hatten, als sie einsam gewesen war.
Jace wurde still. Er wirkte einen magischen Schutzzauber.
Elementare, diese Splitter von Zendikars Herz und Seele, die Nissa trotz ihrer Fehler und des Schadens, den sie angerichtet hatte, beistanden.
Nahiri hob die Hände und die Steine der Singenden Stadt erzitterten.
Elementare, die sie gelehrt hatten, was es bedeutete, Teil einer Familie zu sein … Zu begreifen, was eine Familie überhaupt war. Die ihr nun selbstlos und ungefragt zu Hilfe eilten. Ihr. Nicht Nahiri.
Was würde Gideon tun?, dachte Nissa.
Er würde dir sagen, dass es Zeit ist, eigene Entscheidungen zu treffen.
„Verteidigt Zendikar“, sagte sie mit einer Stimme leiser als ein Flüstern zu den Elementaren. Doch sie hatten sie gehört. Sie verstanden.
Und wie eine Welle, die ans Ufer brandete, taten sie, worum Nissa sie gebeten hatte.
Nahiri hatte stets an die Macht der Steine geglaubt, an ihre Kraft und daran, dass sie letztlich alles überdauerten. Doch als Aberdutzende von Elementaren um sie herum ausschwärmten, regten sich zum ersten Mal seit Jahrhunderten Zweifel an der Macht ihrer Lithomagie.
Wie auch Nissa bewegten sich die Elementare mit unfassbarer Geschwindigkeit.
Einen Wimpernschlag, bevor ein gewaltiges Elementar, das wie ein Stampfer aussah, in sie hineinrannte, ließ Nahiri eine Steinsäule aus dem Boden sprießen. Das Elementar brüllte auf und fegte die Säule mit seiner blättrigen Pranke beiseite. Es schnaubte sie an, und Nahiri schrie zurück. Sie breitete die Arme aus und rief nach dem Stein, gerade als das Ding zum Sprung ansetzte. Eine Granitfaust, die aus dem Boden emporfuhr, drosch es fort.
Nahiri lächelte.
Doch als sie Nissa erblickte, entglitt ihr ihr Lächeln. Die Elfe schwebte auf einem Gewirr aus Ranken in der Luft, die Arme ausgestreckt, umwirbelt von Schlieren grüner Energie. Und hinter ihr
Hinter ihr war ein Elementar, das seinesgleichen suchte. Es war massig, geformt wie ein Adler, doch mit einem Leib aus sich windenden Jaddi-Wurzeln. Es entdeckte Nahiri und stürzte sich rasend vor Wut mit weit aufgerissenem Schnabel und ausgestreckten Klauen auf sie.
Nahiri rief nach den Steinen, doch schon gruben sich ihr die Klauen der Kreatur in die Schultern. Nahiri schrie vor Schmerz und Überraschung gleichermaßen auf. Das Geschöpf schlug mit den Flügeln – einmal, zweimal – und hob an, sie mit sich fortzutragen.
Den Teufel wirst du, dachte Nahiri und stieß die Handgelenke nach vorn. Innerhalb von Augenblicken versenkten sich dreißig glühende Schwerter in den Jaddi-Adler. Er kreischte auf und ließ Nahiri fallen. Sie rollte sich zur Seite und auf die Beine, nur um sich einem riesigen Elementar ganz aus Wasser gegenüberzusehen, voller Algen und Fischen, die in ihm schwammen.
„Das ist doch nicht dein Ernst“, zischte Nahiri und sprang aus dem Weg, als das Elementar zu einem wässrigen Tritt gegen ihren Kopf ansetzte.
Und so ging es immer weiter.
Nahiri erhaschte aus dem Augenwinkel, wie Jace fluchte und Illusionen von Feuer und Eldrazi-Brut heraufbeschwor, vor denen die Elementare instinktiv zurückwichen. Sie war beeindruckt. Er nutzte Zendikars Furcht gleichsam als Waffe und als Schild. Seine List verschaffte ihm genug Zeit, dem Ansturm aus Schnäbeln und Mäulern, Klauen und Dornen auszuweichen.
Doch Nahiri wusste, dass es ihnen gerade so gelang, dem erbarmungslosen Angriff standzuhalten.
Wie schafft die Baumbewohnerin dies nur alles?, dachte sie.
Und einen grässlichen Moment lang fragte sich Nahiri, ob Nissa recht hatte. Wenn die Elementare die Verkörperung der Welt selbst waren, hatte Zendikar der Elfe eine Armee zur Seite gestellt, um zu kämpfen. Nahiri indes kämpfte mit nichts.
Nein, nicht mit nichts. Sie hatte Kraft und Entschlossenheit. Sie beherrschte den Stein. Sie hatte jahrtausendelang überlebt. Sie war die Wächterin des alten, des wahren Zendikars. Sie war die Beschützerin des Ursteins und des Fundaments dieser Welt.
Und sie würde diesem Wahnsinn Einhalt gebieten.
Mit einer fließenden Bewegung stieß Nahiri ein Elementar, das ganz aus Regen und Herbstlaub bestand, mit einer Steinhand zurück. Sie straffte die Schultern, stellte sich breitbeinig hin und zielte.
Nahiri ließ die Hände mit einemKlatschen zusammenfahren.
Und schleuderte fünfzig glühende Schwerter auf die Elfe.
Nissas Augen weiteten sich überrascht, doch ehe die Klingen sie erreichten, erschien der riesige Adler aus Jaddi-Wurzeln erneut – Nahiri konnte nicht sagen, von woher – und wischte alle fünfzig Waffen mit einem einzigen Schlag seiner Schwingen davon.
Verdammt, dachte Nahiri und rief erneut nach dem Stein. Sie versuchte, Felsblöcke auf Nissa zu schleudern, den Boden um die Elfe herum dazu zu bringen, sie zu verschlingen, mehr Schwerter zu werfen. Doch Nissas Elementare verteidigten sie erbittert, als wären sie mehr als nur tumbe Werkzeuge. Als wüssten sie, dass sie um ihr Leben kämpften.
Wie kann irgendjemand ein gutes Leben führen, wenn die Welt zerbrochen ist und leidet?, dachte Nahiri stirnrunzelnd. Sie griff ein weiteres Mal an. Und noch einmal. Und noch einmal.
Als ein riesiger Greif, der offenbar aus den zersprungenen Polyedern und dem Moos der Singenden Stadt bestand, ein Dutzend Steinspeere schluckte und sie anzugrinsen schien, erkannte Nahiri, dass sie eine andere Taktik brauchte.
Sie rannte.
Nahiri spurtete hakenschlagend und parierend um die nach ihr ausholenden Tatzen, die zuschnappenden Zähne und die stechenden Dornen der Elementare herum und wich so einem echten Gefecht aus. Sie hielt nicht an, bis sie die gewaltigen Marmortore der Singenden Stadt erreicht und sich durch diese hindurchgezwängt hatte.
Sie musste den Kern beschützen. Und die Steine in dieser uralten Stadt konnten ihr dabei helfen.
Jace hatte noch nie zuvor so viele Elementare in so vielen verschiedenen Gestalten gesehen. Würden sie ihn nicht angreifen, hätte er fasziniert sein müssen.
Doch sie griffen ihn an, und es bedurfte all seines Könnens und all seiner List, um ihren Hieben auszuweichen und ihnen im Gegenzug keinen Schaden zuzufügen. Er wusste, dass er Zendikar kein Leid zufügen durfte, wenn er Nissa als Freundin und Verbündete zurückgewinnen wollte.
Er musste den Lithoform-Kern an sich bringen. Er musste einen Weg finden, Frieden zwischen den beiden Wächterinnen Zendikars zu stiften.
Aus dem Augenwinkel sah er Nahiri in die Singende Stadt hasten. Er wusste, dass das, was auch immer die Lithomagierin vorhatte, künftigen Friedensgesprächen im Weg stehen würde.
Jace riss beide Hände nach oben und erzeugte eine Illusion: eine Nebelbank, dichter als gewöhnlich, dicht genug, um in ihr untertauchen zu können und das Elementar aus Algen und Efeu vor sich zu verwirren. So erkaufte er sich etwas Zeit.
Im Schutz des Nebels eilte Jace los.
Nur Augenblicke, bevor ein ohrenbetäubendes, zerstörerisches Brüllen hinter ihm erschallte, schlüpfte er in die Singende Stadt. Er drehte sich um und sah, wie eine riesige Mauer aus Stein die Marmortore der Stadt zerschmetterte und den Ausgang versperrte.
Jace war im Inneren gefangen, und die schaurige Melodie begann erneut ihr Summen.
Nahiri konnte hören, wie die Elementare gegen die Mauern der Singenden Stadt hämmerten. Ihre Matschfäuste und Moosflügel konnten jedoch wenig gegen die Steine ausrichten. Das Geräusch erfreute sie.
Nissa konnte ihre behelfsmäßige Festung nicht vernichten. Nicht solange Nahiri sich in ihrem Inneren befand und sie mit ihrer Lithomagie zusammenhielt.
Dennoch jagte ihr der Gedanke, dass all diese Monstrositäten der Natur sie angriffen, einen Schauer über den Rücken. Von Mauern und der geisterhaften Melodie unsichtbarer Stimmen umgeben zu sein, kehrte ihr schier den Magen um. Es erinnerte sie zu sehr an die Gefangenschaft im Höllenkerker.
Sie hob die Arme und rief Muttergestein und Sandstein herbei. Und wie in einem Tanz ließ sie sie aufsteigen, sich verflechten, stärker und härter werden als die ursprünglichen Mauern der Singenden Stadt und baute sich so ein unzerstörbares Bollwerk auf den Ruinen.
Ihr tat vor Anstrengung alles weh, doch sie weigerte sich, zuzulassen, dass die törichte Elfe den Kern in die Finger bekam. Nicht, wenn sie so kurz davor stand, Zendikar zu heilen und es wieder zu jener stabilen, ausgeglichenen Welt zu machen, die sie einst gekannt hatte.
Im Inneren ihrer Festung war das Hämmern der Elementare nur noch gedämpft zu hören, und der Gesang der Stadt wurde zu einer schwachen Melodie. Nahiri atmete aus. Endlich war sie für einen Augenblick allein.
„Nahiri.“
Verdammt. Sie wusste, wer es war, noch bevor sie sich umdrehte. Sie erkannte den Klang von Jaces Schritten auf den Steinen, doch bis jetzt hatte sie ihn nicht bemerkt gehabt.
Sie wandte sich um und sah Jace auf sich zukommen.
„Wenn du versuchst, den Kern zu stehlen“, sagte Nahiri mit tödlicher Ruhe, „dann füge ich dich meiner Sammlung an Wandbehängen hinzu.“
Das brachte ihn dazu, anzuhalten.
„Ich will nicht gegen dich kämpfen“, sagte er und hob beschwichtigend die Hände. Aber
„Oh, sie wird zuhören“, erwiderte Nahiri mit aufsteigender Wut. „Sie wird zuhören und zuhören, und wenn es Zeit ist, eine Wahl zu treffen, wird sie sich entscheiden, die Welt zersplittert und in Trümmern zu belassen.“ Sie ballte die Fäuste und begann, das Dach ihrer Festung abzubauen, um den freien Himmel sehen zu können.
Sie richtete den Blick nach oben und rief die Polyeder, die sie vor einer Ewigkeit erschaffen hatte – jeden einzelnen, der um die Singende Stadt herum verstreut war. Es waren Dutzende. „Nein, Jace. Der Kern zeigt auf einer anderen Welt keine Wirkung. Er bleibt hier.“
„Ich will nicht gegen dich kämpfen“, sagte Jace erneut. In seiner Stimme war keine Angriffslust. Doch sie hörte das, was er nicht aussprach. Den stummen Teil dieser Aussage: Aber ich werde es tun.
„Bitte“, sagte er.
Doch Nahiri war fertig. Fertig mit diesen schwachen Planeswalkern, die vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen konnten. Ihre Hände zitterten vor Erregung, und sie nutzte diese Energie, um die Polyeder vom Himmel herabzuholen und über Jace schweben zu lassen.
„Nahiri“, sagte Jace bestürzt. Die Polyeder näherten sich ihm und begannen, sich um ihn zu drehen und ihn in ihrem Kreis festzusetzen. „Bitte hör zu!“
Nahiri hatte lange genug zugehört. Angespornt von ihrer Wut und ihrem Schmerz erhob sie sich in die Luft. Mit einem Fingerzeig umströmte blaue Energie ihre Hände, die sie auf die Polyeder richtete, damit Jace in ihrem gefährlichen Ring in der Falle saß. Dann befahl sie dem Ring, sich zu schließen.
Sie wollte, dass ihr Gesicht das Letzte war, was er je sehen sollte.
Dann bemerkte sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Sie kannte die Form, die Haltung, die kühle und stumme Gefahr.
Nahiri drehte sich um und stand ihrem alten Mentor gegenüber. Ihrem Erzfeind. Sorin.
Er stand auf der Mauer der Festung, vielleicht vier Schritte von ihr entfernt. Auf Augenhöhe. Sein langer schwarzer Mantel wehte hinter ihm. Er lächelte.
„Was hast du hier zu suchen?“, stieß Nahiri zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Sorin antwortete nicht. Er hob lediglich die Hand auf jene gefährliche Weise, die ihr nur allzu vertraut war. Jene kleine Bewegung, die einem entsetzlichen Angriff vorausging.
Nein, nicht auch noch du. Nahiri bleckte die Zähne und schrie. Sie ließ einen gewaltigen Fuß aus Stein aus dem Boden wachsen und geradewegs gegen Sorins Brust treten.
Sorin verschwand in einem Wirbel aus Steinen, und Nahiri atmete aus. Dann, einen Augenblick später, war er wieder da. Er lächelte noch immer. Als wäre nichts gewesen.
Nahiri blinzelte verwirrt. Sie griff nach den Steinen unter Sorins Füßen und bemerkte, dass sie sein Gewicht nicht trugen.
Das ist eine Illusion, begriff sie. Es ist Jace.
Doch diese Erkenntnis kam einen Wimpernschlag zu spät. Ein Nebel wallte um sie herum auf, zu dicht, um hindurchzusehen. Sie hörte, wie ihre Polyeder krachend zu Boden fielen.
Plötzlich waren ihre Gedanken nicht mehr ihre eigenen.
Es hat geklappt!, dachte Jace, als die Polyeder zu Boden fielen. Er konnte spüren, wie sich Nahiris Verstand gegen ihn sträubte. Er hasste, dass es dazu hatte kommen müssen, doch er hatte kaum eine andere Wahl gehabt.
Das schaurige Summen der Singenden Stadt schwoll an.
Ich sollte mich beeilen. Er war sich nicht sicher, ob er Nahiris Verstand beherrschen und gleichzeitig einen Stillezauber aufrechterhalten konnte.
Nahiri schwebte zu Boden und er befahl ihr, reglos zu bleiben. Vorsichtig näherte er sich ihr.
Er griff in den Beutel an ihrer Hüfte.
Er nahm den Lithoform-Kern.
Er glühte wie ein Leuchtfeuer in seiner Hand und pulsierte sanft mit der Verheißung von Macht.
Der geisterhafte Gesang der Stadt wurde lauter, und Jace verspürte plötzlich ein seltsames, unerklärliches Verlangen.
Er sah sich selbst den Kern führen und Widrigkeiten beheben, ohne mit anderen streiten oder kämpfen zu müssen. Ohne dass er sich oder seine Freunde in Gefahr bringen musste.
Mit dem Kern konnte er mit einem einzigen Gedanken mühelos die Welt verändern. Alle Welten.
Nein. Das bin nicht ich. Jace verdrängte die Versuchung.
Er stöhnte auf, als Nahiris Verstand mit neuer Kraft gegen seine Kontrolle anzukämpfen versuchte. Ihr stand die Wut ins Gesicht und in jede Falte ihres gelähmten Körpers geschrieben, während sie sich gegen ihn wehrte. Fast entwand sie sich seinem Griff, doch Jace bekam sie im letzten Augenblick erneut zu packen.
„Lass mich raus aus dieser Festung. Beseitige die Wand vor dem Eingang“, befahl er ihr.
Nahiris Verstand bäumte sich gegen den Befehl auf, doch er konnte das Geräusch umstürzenden Steins in der Ferne hören – ebenso wie den lauter werdenden Angriff der Elementare.
Jace keuchte. Sie sollten gemeinsam versuchen, eine Lösung für Zendikar zu finden, anstatt gegeneinander zu kämpfen.
Er konnte den Kern gleich jetzt nach Ravnica bringen. Er sollte es tun. Nahiri behauptete, der Kern würde nur auf dieser Welt Wirkung zeigen, doch er wollte diese Annahme auf die Probe stellen – weit weg von dieser bereits verwundeten Welt.
Er wusste auch, dass er Nissas Vertrauen auf ewig verspielt haben würde, wenn er mit dem Kern verschwand, ohne ihr Bescheid zu geben. Er wünschte sich sowohl ihre Freundschaft und er brauchte sie zudem in den noch folgenden Kämpfen an seiner Seite.
Jace wickelte den Kern in seinen Mantel und hastete, so schnell sein erschöpfter Leib es ihm erlaubte, aus der Singenden Stadt. Der geisterhafte Gesang wurde nun lauter und stahl sich in seine Knochen. Jace rannte schneller – schneller gar, als er es selbst für möglich gehalten hatte. Er musste den Ausgang erreichen, bevor Nahiri zu sich kam und ihn wieder versiegelte. Er musste Nissa erreichen.
Er durchquerte die Marmortore einen Wimpernschlag, bevor ihm die Kontrolle über Nahiris Verstand entglitt und Steinwände sich donnernd um die uralte Stadt erhoben.
Sicher auf der anderen Seite, dachte er mit einiger Zufriedenheit.
Er sah die riesige Gliedmaße aus Wurzeln und grünen Knospen erst, als sie schon über ihm war. Als das Elementar ihn mit einer von vier gewaltigen Händen zu Boden drückte, über ihm aufragte und die Sonne verdunkelte. Jace schnappte nach Luft, als er Ashaya erkannte.
„Ich muss mit Nissa sprechen“, rief er. Doch Ashaya erhöhte nur den Druck auf sein Brustbein.
Jace ballte die Faust und erschuf eine Illusion von wildem, alles verzehrendem Feuer um sich herum und hoffte, so für genug Ablenkung zu sorgen, um entkommen zu können.
Doch Ashaya ließ sich nicht täuschen.
Das Elementar griff ruhig in Jaces Mantel und zog den Lithoform-Kern heraus.
„Warte“, stöhnte Jace. Doch das Elementar wartete nicht.
Es musterte das Artefakt einen Augenblick lang und warf es dann über die Schulter.
Und in Nissas wartende Hände.
Sie sollte es vernichten.
Das war Nissas anfänglicher Gedanke, als sie den Lithoform-Kern zum ersten Mal in Händen hielt.
Hör mir zu.
Dieser Gedanke war nicht der ihre, auch wenn die Stimme vertraut klang. Sie blickte dorthin, wo Jace sich in Ashayas Griff wand. Sein Gesichtsausdruck war flehend.
Zögernd erlaubte sie Jace Zutritt zu ihrem Verstand.
Nissa, bitte. Wir müssen damit aufhören, dachte Jace. Ruf die Elementare zurück.
Wenn wir aufhören, wird Nahiri den Waffenstillstand nutzen, um uns zu überwältigen. Du hast doch gesehen, wie skrupellos sie ist.
Ein lauter Knall ertönte, als die Mauern um die Stadt herum sich neu auszurichten begannen. Oben auf dem steinernen Chaos erschien Nahiri. Sofort strömten die Elementare auf sie zu.
Bitte, dachte Jace. Gehen wir nach Ravnica. Wir können den Kern dort gemeinsam studieren.
Was lässt dich glauben, dass wir Ravnica nicht aus Versehen auslöschen?, erwiderte Nissa. Ich habe gesehen, welchen Schaden der Kern anrichten kann. Wir sollten ihn vernichten.
Nahiri sagt, dass er außerhalb von Zendikar keine Wirkung zeigt. Es ist am sichersten, ihn dort zu testen.
In der Ferne setzte Nahiri Elementare mit konzentrierten, präzisen und wütenden Bewegungen in steinernen Gefängnissen fest. Nissa stockte der Atem, als vier undurchdringliche Steinwälle sich um ein Flusselementar erhoben.
Nahiri ist nicht gerade für ihre Liebe zur Wahrheit bekannt, Jace.
Mit zusammengebissenen Zähnen streckte Nissa die Hände aus und schleuderte eine Welle grüner Energie geradewegs auf Nahiri.
Hör mir zu.
Nahiri stieß einen Kampfschrei aus und blockte Nissas Energie mit einer gewaltigen Steinmauer.
Die Wächter. Wir können das Ding verwenden, dachte Jace und stemmte sich gegen Ashayas Wurzeln. Es gibt etwas, was du nicht weißt. Mir
Die Wächter haben versagt. Wir hätten die Dinge beschützen sollen, die wir lieben, aber wir konnten nicht einmal einander beschützen. Nissas Herz schmerzte bei der Erinnerung an Gideons lächelndes Gesicht und diese zarten, hoffnungsvollen Augenblicke mit Chandra. Wie sie sich zumindest für eine kleine Weile unter den anderen Planeswalkern gefühlt hatte, als gehörte sie irgendwohin. Ihr wart wie eine Familie für mich.
Dreißig Schritt entfernt bahnte sich Nahiri ihren Weg vorwärts, näher dorthin, wo Nissa stand, während Elementar um Elementar den erbitterten Angriffen der Kor zum Opfer fiel.
Nein, nein, nein. Nissa durfte diesen Kampf nicht verlieren. Der Kern in ihrer Hand wurde wärmer.
Hör mir zu.
„Ich höre dir zu, Jace!“, rief sie. „Du hörst mir nicht zu!“
Nicht ihm. Mir.
Der Kern flackerte drängend in ihrer Hand. Nissa verstand, warum die Stimme so vertraut klang. Da war etwas in ihrem Tonfall – als hätten der Puls, die Schwingungen und der Atem Zendikars, die sie so gut kannte, Worte gefunden.
Wer bist du?, fragte sie.
Ich bin ich. Ich bin du.
Fünfzehn Schritt entfernt ließ Nahiri einen Steinfuß auf ein überraschtes Erdelementar krachen. Es fiel zerbröselnd auf die Knie.
Nissa schleuderte ein Knäuel Ranken auf Nahiris Knöchel. Warum sprichst du erst jetzt?, fragte sie den Kern.
Nahiri wich den Ranken mit einer eleganten Drehung im Sprung aus und landete geschmeidig auf den Füßen.
Da war ein leises Grollen im Rhythmus des Landes. In der Luft. Nissa erkannte, dass Zendikar lachte. Das dumpfe Keckern aus dem Kern passte zum Puls des Landes.
Wie?, fragte sie. Das war unmöglich. Verwirrend. Nissa hatte jetzt keine Zeit für ein neues Rätsel. Nahiri war nahe und kam immer näher.
Doch wenn dies Zendikar – wirklich Zendikar – war
Nissa, bitte! Lass mich den Kern nehmen, dachte Jace. Nissa schenkte ihm keine Beachtung.
Der Gegenstand in deiner Hand ist ein sehr alter Teil von mir. Er ist voll von Macht, erklärte die Stimme aus dem Kern.
Nissa runzelte die Stirn und setzte zu einem weiteren Angriff auf Nahiri an. Warum? Warum sollten die alten Kor so etwas erschaffen?
Um Schaden ungeschehen zu machen.
Zehn Schritt entfernt wehrte Nahiri den zweiten Rankenangriff mit einem Wall aus Sandstein ab. Sie schritt weiter vorwärts und hielt etwa sechs Schritt von Nissa entfernt an.
„Gib mir den Kern, Nissa!“, rief sie.
Wirst du mir helfen, Jace?, dachte Nissa. Jace nickte knapp, doch selbst aus der Ferne konnte sie erkennen, dass er etwas vorhatte.
Einen Augenblick später spürte sie, wie sich Ranken aus Macht in ihren Kopf stahlen. Binnen eines entsetzlichen Augenblicks begriff sie, dass Jace versuchte, von ihrem Verstand Besitz zu ergreifen.
Sie kappte ihre geistige Verbindung und bat Ashaya stumm, dafür zu sorgen, dass Jace sich nicht bewegen konnte. Das Elementar gehorchte und legte alle vier Gliedmaßen auf den Magier. Jace stöhnte.
„Ich kannte diese Welt, als sie noch heil war“, rief Nahiri. „Und du klammerst dich an ihre zerbrochenen Scherben!“
Nissa musterte ihre Gegenspielerin, unsicher, was sie sagen sollte. Nahiri war von Staub bedeckt und blutete, doch ihre Entschlossenheit und Wut waren unerschütterlich. In diesem Moment wurde Nissa bewusst, wie allein sie war.
Was würde Gideon tun?, dachte sie und fing sich dann wieder. Nein, was würde ich tun?
Vertraue auf deine Stärke, flüsterte die Macht in ihren Händen.
„Zerbrochen heißt nicht schwach, Nahiri“, erwiderte Nissa. „Zerbrochen heißt nicht, dass es keine Schönheit oder Erlösung gäbe.“
„Das sagt die Planeswalkerin mit dem zersprungenen Herzen“, gab Nahiri zurück, „die alles vernichtet, was sie berührt.“
Nissa schloss die Hand fester um den Kern. Die Worte trafen sie
Und in diesem Augenblick wusste Nissa genau, was sie tun würde.
Ich werde meine Heimat, meine Familie beschützen. Ich werde es wieder und wieder versuchen, bis es mir gelingt.
„Zerbrochen bedeutet nicht, dass ein Leben nicht lebenswert ist“, sagte Nissa. Sie richtete sich auf und blickte der Lithomagierin unbeirrt in die Augen. „Du bist, was Zendikar einst war, Nahiri. Ich bin, was es jetzt ist.“
Zweifel huschten über Nahiris Gesicht. Rasch verschwanden sie, und Nahiri schnaubte und hob die Hände.
Scharen um Scharen von Polyedern erschienen und schwebten hinter ihr in der Luft. Sie begannen zu tanzen und in einem komplexen Muster umeinander zu fließen. Energie schlug hinter ihnen Funken.
Jedes Elementar auf dem Schlachtfeld kauerte sich zusammen und schrumpfte davon. In diesem Moment verstand Nissa, dass Nahiri sie eher alle vernichten würde, anstatt einzugestehen, dass sie im Unrecht war. Sie würde die Essenz Zendikars ersticken, nur um sie zu zähmen. Wenn Nahiri das, was auch immer sie vorhatte, tun konnte, würde Nissa den Verlust eines weiteren Stücks von Zendikars zerschundener Seele betrauern.
Der Kern in ihrer Hand strahlte wie ein Leuchtfeuer.
Die Polyeder wirbelten schneller und schneller um Nahiri herum und sammelten Macht. Wie ein Sturm, kurz bevor er losbrach.
Was, wenn ich die Dinge so vernichte, dachte Nissa, wie Nahiri es tut?
Vertraue auf deine Stärke, flüsterte ihre Heimat.
Nissa schloss die Augen, holte tief Luft und stellte sich ein besseres Zendikar vor. Eines, das mehr war als die Wunden, die die Eldrazi ihm geschlagen hatten, und mehr als der daraus erwachsende Schmerz. Eines, aus dem nicht das Gift heraussickerte, das sie zurückgelassen hatten. Eine gesündere Welt, doch noch immer zersplittert und gefährlich und schön.
Der Kern in ihrer Hand wurde wärmer und summte. Sie spürte, wie sich Zendikars Leylinien vor ihr ausbreiteten. Und leicht, so leicht, verschmolz Nissas Magie mit der Macht des Kerns.
Sie setzte sie frei.
Ein Blitz. Ein dumpfes Grollen. Eine heftige Bö zerrte an Nissa und presste ihr die Luft aus den Lungen. Der Wind roch nach Asche und Regen. Nach Erde und Flüssen. Alte, schreckliche Magie.
Die Macht des Kerns prallte in einem Regen aus Funken und Energie auf die Polyeder. Das dumpfe Grollen wurde zu einem kreischenden Schreien. Das Licht gleißte. Die Luft strömte davon.
Und dann war da nichts mehr.
Nissa öffnete langsam die Augen. Die Stille und die plötzliche Leere um sie herum entsetzten sie. Selbst der Kern in ihrer Hand war verstummt und trüb geworden.
Der Anblick schnürte ihr die Kehle zu. Panik stieg in ihr auf.
Die Singende Stadt war fort. Zu Staub zerfallen. Ebenso wie ein großer Teil des Waldes. Nichts als Asche.
Auf dem Schlachtfeld lagen die Elementare reglos im Staub.
„Nein“, flüsterte sie und eilte zu dem, das ihr am nächsten war. Eine große Verkörperung eines Jaddi-Baumes, um dessen Gliedmaßen sich zarte, gelbe Blüten wanden. Sie fiel neben ihm auf die Knie und legte eine Hand auf seine raue Rindenhaut. „Nein.“ Nicht noch einmal.
Nicht noch einmal.
Das Elementar regte sich unter ihrer Berührung.
Es öffnete die Augen, blinzelte verschlafen und rappelte sich auf – zunächst unsicher, doch mit jedem verstreichenden Augenblick stärker und selbstsicherer. Es nahm ihre Hand und drückte sie, und Nissa konnte spüren, wie es größer wurde. Stärker.
Tränen stiegen Nissa in die Augen, als sich überall auf dem Schlachtfeld Elementare erhoben, sich den Staub abklopften und stärker, lebendiger wurden. Sie spürte, wie sie den Kern fallen ließ, hörte, wie er auf dem Ascheboden landete. Doch das spielte keine Rolle. Das uralte Artefakt war verstummt. Sein Licht war erloschen.
Es hatte seinen Zweck erfüllt, erkannte Nissa lächelnd. Es hatte Schaden ungeschehen gemacht. Sie schloss die Augen und lauschte.
Sie hörte, wie Nahiri vor Schmerz stöhnend vom Boden aufstand. Keine fünf Schritte von ihr entfernt tat Jace das Gleiche. Weiter weg sprossen zarte Jaddi-Wurzeln in dem verwüsteten Wald. Noch weiter entfernt trat reiche, gesunde Erde an die Stelle der kranken Einöden, die nach dem Kampf gegen Emrakul übrig geblieben waren. Und noch weiter entfernt blühte Bala Ged erneut auf und spross. Der Wald kehrte mit einer Geschwindigkeit zurück, die nur Magie möglich machen konnte.
Zendikar heilte und verwandelte sich in etwas Gesünderes, Stärkeres als das, was es vor dem Kampf gegen die Eldrazi gewesen war. Die Narben waren noch zu sehen, doch sie waren nun nur noch Erinnerungen anstatt prägende Züge.
Zum ersten Mal seit langer Zeit stieß Nissa ein aufrichtiges Lachen aus, und sie hörte Zendikar mit ihr lachen.
Auf meine Stärke vertrauen, dachte sie.
Nissa rief ihre Ranken und grinste, als sie unter ihr wuchsen und sich wanden, um sie in die Luft zu heben. Sie machte sich nach Osten auf: Schnell wie der Wind folgte sie den Leylinien des Landes und flog durch den Wald auf Bala Ged zu. Sie reiste, wie nur sie es verstand. Sie rauschte voran, während Zendikar glücklich in ihren Ohren summte.
Nissa war endlich zu Hause.
Jace hob den lichtlosen Kern auf und sah zu, wie Nissa verschwand. Er erwog, ihr etwas zuzurufen, doch ihm war bewusst, dass es keinen Sinn hatte. Fehler waren heute hier gemacht worden, und ein Großteil davon durch ihn. Nun verstand er, wie sich Nissa nach dem Krieg auf Ravnica gefühlt haben musste.
Um ihn herum ragten Elementare auf, gesund und strotzend vor Lebenskraft. Doch eines nach dem anderen verschmolzen sie wieder mit dem Land oder verschwanden in den Jaddi-Bäumen.
Etwas streifte seinen Stiefel. Erschreckt trat Jace einen Schritt zurück und blickte nach unten.
Inmitten des Staubs und der Verwüstung um ihn herum sprossen Ranken und junge Triebe aus der Zerstörung. Sie wuchsen und gediehen mit erstaunlicher Geschwindigkeit.
Wie aufblühendes Leben nach der Turbulenz, dachte er. Er hatte von aufblühendem Leben gelesen, es aber nie mit eigenen Augen gesehen.
„Ist die Macht fort?“, fragte Nahiri, als sie sich ihm von hinten näherte und nach einer Ranke trat.
Jace brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, dass sie über den lichtlosen Kern in seiner Hand sprach. „Ich weiß es nicht.“
„Es war nicht an ihr, ihn zu verwenden“, sagte Nahiri mit Abscheu in der Stimme.
„Ich glaube, sie war genau die Richtige, die seine Macht einsetzen sollte“, erwiderte Jace.
Nahiri blickte finster drein.
„Wir müssen uns bei Nissa entschuldigen“, sagte er. „Wir waren im Irrtum.“
Nahiri blickte finster drein. „Du meinst, du kannst das wiedergutmachen?“, herrschte sie ihn an. „Mit einer Entschuldigung? Du hast dir heute Feinde gemacht, Jace. Doch das liegt in deiner Natur, nicht wahr? Wann immer du versuchst, etwas Gutes zu tun, machst du alles nur noch schlimmer.“
Jace antwortete nicht. Er versuchte, nicht zu streiten, als die alte Kor sich umdrehte und die Welt verließ. Er fing an, langsam zu begreifen, dass einige Kämpfe es nicht wert waren, ausgefochten zu werden.
Andere hingegen schon.
Nissa, dachte er. Es tut mir so leid. Ich hätte besser zuhören sollen.
Er hatte hier so viel Schaden angerichtet – sowohl an seiner Freundin als auch an dem Zuhause, das sie liebte. Und er wusste, dass die schlimmen Schuldgefühle, die ihn plagten, im Lauf der Zeit nicht verfliegen würden.
Daher hoffte Jace, als er mit dem toten Kern in seiner Hand im Staub Zendikars stand, während neues Leben seine zarten Triebe um seine Stiefel rankte, dass das, was Nissa gesagt hatte, wahr war.
Dass selbst zerbrochene Dinge Erlösung finden konnten.