Was bisher geschah: Die Stunde der Offenbarung

Und so brach die Stunde der Offenbarung über das Land herein und die Zeit der Verheißung, zu der alle Fragen Antworten finden sollten, begann. Und siehe, das Tor zum Jenseits öffnete sich, und hinter seinen glänzenden Mauern zeigte sich das wahre Antlitz der kommenden Flut.


Liliana zog den Fuß vor dem schwappenden Tiefrot des Luxa zurück. Razakeths Spott dröhnte ihr in den Ohren, und sie seufzte.

Ich bin zu alt für diesen Unsinn.

Sie straffte die Schultern und schüttelte sich das Haar aus dem Gesicht. Das, was sie in diesem Augenblick verspürte, war weder Furcht noch Aufregung. Es war gespannte Erwartung. Alles in allem waren die ersten beiden Dämonen leicht zu besiegen gewesen. Das Überraschungsmoment und die Plötzlichkeit ihrer Angriffe hatten ihr zum Vorteil gereicht.

Welch ein Glück, dass sie die beste Verstärkung des gesamten Multiversums im Rücken hatte.

Jace? Kannst du mich hören? Wie aus weiter Ferne nahm sie eine Antwort in ihrem Verstand wahr.

Lili? Wo bist du? Wir kommen! Die Menge

war zu groß, ich weiß. Ich bin am Flussufer vor dem Tor. Jace, es ist Razaketh, er ist

„Wo bist du, Hexe?“

Erneut erklang die donnernde Stimme des Dämons.

Um sie herum ging ein Raunen durch die verbliebene Menschenmenge. Jene, die nicht davongelaufen waren, standen wie angewurzelt da und zitterten vor Furcht und Unsicherheit darüber, was nun gerade vor sich ging.

Liliana runzelte die Stirn. Sie wusste, dass er jemand war, der mit ihr spielen wollen würde. So leicht jedoch würde sie sich nicht zu voreiligen Handlungen hinreißen lassen.

„Liliana, ich weiß, dass du hier bist ...“

Sie verschmolz mit den Umstehenden, während ihr Blick die dunkle Gestalt verfolgte, die träge ihre Kreise hoch über dem Fluss zog. Razaketh flog zu dem offenen Tor und musterte die Menge.

Liliana spürte, wie ihre Hand zuckte.

Überrascht blickte sie nach unten.

Ihre Handbewegung war ... unwillkürlich ... gewesen.

Liliana hob die rechte Hand vors Gesicht, während eine Woge aus Grauen ihr die Brust zuschnürte.

Ihre eigenen Finger winkten ihr zu.

Liliana stieß ein lautes Geräusch des Abscheus aus und schüttelte ihre Hand.

Es war eine Einschüchterungstaktik. Nichts weiter. Sie weigerte sich, sich zu fürchten. Liliana stieß die Hand nach unten in Richtung des Kettenschleiers, der unter der linken Seite ihres Kleids verborgen war.

Der Dämon über dem Tor lachte.

„Da bist du ja.“

Seine Worte sandten ihr einen Schauer den Rücken hinunter.

Aus dem Augenwinkel sah Liliana den Rest der Wächter näherkommen. Sie sahen nach den Kämpfen in der Arena mehr als zerschunden aus. Jace bewegte sich an Lilianas Seite, doch sie hob warnend eine Hand. Die anderen vier nahmen um sie herum Aufstellung und starrten zu dem Dämon hinauf.

„Ich weiß nicht, wozu er fähig ist“, sagte Liliana mit drängender, tiefer Stimme. „Aber er ist mächtig. Wir sollten ...“

Jäh unterbrach sie sich. Der Dämon senkte die Schwingen. Seine Worte – sanft, gleichmäßig, ruhig – säuselten über die Menge hinweg..

„Komm zu mir.“

Kaum waren seine Worte an ihr Ohr gedrungen, spürte Liliana, wie ihre Schultern herabsackten und ihr Gesicht schlaff wurde. Die verschlungenen Tätowierungen, die ihre Haut bedeckten, leuchteten unter dem Ruf des Dämons auf, und sie schrie in der Abgeschiedenheit ihres eigenen Verstandes, als ihr Körper ohne ihr Zutun oder ihre Erlaubnis in den Fluss aus Blut watete.

Bild von Titus Lunter
Bild von Titus Lunter

In ihrem langen Leben hatte Liliana eine ganze Reihe von Folterungen durchgestanden. Sie hatte gekämpft, verloren, war gealtert und hatte willentlich ihre Seele verkauft ... und mehr. Doch nichts war so unerträglich oder erzürnend wie der Verlust der Kontrolle über sich selbst. Sie hatte geglaubt, den Preis zu kennen, als sie vor Jahrzehnten diese Kontrakte mit ihren Dämonen eingegangen war, aber Liliana hatte sich nie wirklich darum geschert, wie diese Sache wohl ausgehen mochte.

Zorn war kein Gefühl, dass Liliana häufiger erleben wollte. Es war wie ein zu heißes Bad, eine ungezügelte Flamme, ein kratziges Kleid, das sich nicht ganz wie eines von ihren anfühlte. Als der Dämon Razaketh nun jedoch ihren Körper vorwärtsdrängte, wollte Liliana ihren Zorn so offen vor sich hertragen wie ein Banner. Sie badete in seiner lodernden Wut und kämpfte mit aller Macht ihres Verstandes darum, die Kontrolle über den eigenen Körper wiederzuerlangen.

Doch es nützte nichts. Ganz gleich, wie sehr sie sich auch mühte, erreichte ihr Hass nie ihr Gesicht. Ihr Zorn zerrte nie an ihren Muskeln. Liliana hatte keinerlei Kontrolle über das Einzige, was tatsächlich ihr gehörte.

Verdammt sei das alles bis in die tiefsten Tiefen der Hölle!

Sie tobte und schrie in ihrem Verstand, doch das Band zwischen ihrem Willen und ihren Gliedmaßen blieb gekappt.

Chandra und Nissa streckten die Hände aus, um Lilianas entschwindenden Körper zurückzuhalten, und ein Gleißen nekromagischer Energie stieß sie zurück. Die beiden Frauen zuckten zusammen und zogen die Hände weg, ehe die Kraftwelle aus Verfall und Verwesung sie erreichte.

Liliana konnte Jace in ihrem Verstand rufen hören, und Gideons Stimme hallte ihr in den Ohren wider, aber ihre Aufmerksamkeit blieb fest auf Razaketh vor ihr gerichtet.

Geh zu ihm, war der einzige Befehl, dem ihr Körper gehorchte. Der Kettenschleier blieb an ihrer Seite verstaut. Der Dämon war zu nahe und ihre Verbündeten nicht in der Lage, ihren Drang, in den Fluss zu gehen, irgendwie aufzuhalten.

Sie wollte dem Dämon die Augen herausreißen und sie ganz verschlingen. Liliana kreischte Obszönität um Obszönität in ihrem Verstand und hoffte, die Kaskade aus Flüchen würde den Dämon dazu bringen, seinen Griff zu lockern.

Doch das tat er nicht.

Liliana watete in das Blut des Luxa. Es fühlte sich heiß, zäh und durch und durch widerwärtig an. Ihr Körper ging weiter, und sie watete tiefer und tiefer in den Fluss. Bis zu den Hüften. Bis zur Taille. Bis zur Brust.

Lilianas Gedanken wurden von zornigem Protest zu einem endlosen Schrei.

Sie spürte, wie ihr Bein irgendetwas Totes unter der Wasseroberfläche streifte. Ein Fisch trieb an ihrer Schulter vorbei. Der Fluss war voller kürzlich verendeter Tiere, alle durch das Blut von Razakeths Ritual erstickt. Nichts konnten in dem blutigen Morast überleben.

Jaces Stimme in ihrem Verstand wurde leiser. Sie war zu weit weg, zu tief im Fluss.

Liliana holte Luft und spürte, wie ihr Kopf unter die Oberfläche sank.

Die Flüssigkeit war dick und süßlich und heiß auf ihrer Haut.

Ihr Herz schlug schnell und eingeschüchtert.

Ich werde mich nicht fürchten. Er ist schwächer als ich, und ich kann das überstehen.

Eine Stimme krächzte in ihrem Verstand: „Du kannst das hier nur überstehen, wenn du ihn tötest.“

Der Rabenmann.

Liliana schrie. Verschwinde! Nicht jetzt! Ich will nichts von dir hören!

„Du bist nur frei, wenn du jeden deiner Dämonen tötest, Liliana. Erst dann werde ich dich verlassen.“

Liliana hatte keine Zeit, das zu durchdenken.

Ihr ging die Luft aus.

Ihr Drang, kräftig einzuatmen, wuchs und wuchs, obwohl sie wusste, dass sie einfach nur im Blut ersaufen würde, doch die Kontrolle des Dämons war stärker als sämtliche ihrer eigenen Impulse – selbst als der, der sie zum Atmen verleiten wollte.

Gerade als sie sicher war, das Bewusstsein zu verlieren, schwamm ihr Körper an die Oberfläche, und sie schnappte nach Luft.

Sie hatte den Fluss durchquert und war ans gegenüberliegende Ufer gekrochen. Sie blickte nach oben und blinzelte durch verklebte Wimpern zum Fuß der Nekropole hinter dem Tor zum Jenseits. Razaketh stand über ihr auf einer steinernen Plattform. Sein Gesicht war so höhnisch und unausstehlich, wie Liliana es in Erinnerung hatte.

Ein Teil von ihr fühlte sich wie eine Närrin. Kein anderer Dämon hatte diese Kontrolle über ihren Körper gehabt. Wie sollte sie gegen jemanden kämpfen, der sie wie eine Marionette an Fäden durch die Gegend führen konnte? Mit welcher Art von Taktik sollte sie dagegen ankämpfen?

Razaketh schaute zu ihr hinunter. Sein Gesicht glich dem eines Reptils und war undurchschaubar, doch er wirkte zufrieden, seiner Schuldnerin gegenüberzustehen. Wo Kothophed und Griselbrand distanziert waren, war er verspielt.

„Welch angenehme Überraschung“, gurrte der Dämon.

Er bedeutete Liliana mit einer Kopfbewegung, aus dem Schlick zu kommen, und ohne Zögern gehorchte ihr Körper und kniete im Morast. Ihr Kleid klebte an ihr, und das Blut begann in der Hitze der Sonnen zu gerinnen.

Liliana spürte, dass ihr in dieser Haltung bald die Füße verkrampfen würden, doch sie konnte sich nicht rühren. Stattdessen konzentrierte sie sich auf ihren Atem, der keuchend in einem Rhythmus ging, der nicht der ihre war, und sie versuchte, ihre Panik in Zielstrebigkeit zu verwandeln.

Der Dämon trat vor und betrachtete sein Opfer. „Das Alter hat dir nie gestanden.“

Razaketh grinste echsenhaft. Liliana wollte ihm den Hohn aus dem Gesicht schlagen.

„Ich freue mich, dass du die Vorteile unseres Abkommens zu nutzen wusstest“, sagte der Dämon und beäugte das Blut auf Lilianas Kleid. „Bitte verzeih die Unordnung, die ich gemacht habe. Ein lieber Freund trug mir eine Aufgabe an, die ich zu erfüllen hatte.“

Razaketh blickte zur zweiten Sonne. „Du hattest großes Glück, zum richtigen Zeitpunkt eingetroffen zu sein. Du kannst das Schauspiel miterleben! Ich selbst bin schon sehr gespannt darauf. Es ist auch für mich eine Überraschung, musst du wissen.“

Hätte Liliana ihn anspringen können, hätte sie es getan. Ein leises Plätschern von Regen ertönte plötzlich ganz weit hinten in ihrem Verstand –

Liliana! Wir sehen dich. Wir kommen!

Nie zuvor war Liliana so erleichtert gewesen, Jaces Stimme in ihrem Kopf zu hören. Razaketh schien es nicht bemerkt zu haben, und sie war kurzzeitig dankbar dafür, keine Kontrolle über ihre Mimik zu haben.

Nichtsahnend fuhr der Dämon fort, mit ihr zu spielen. „Bitte verzeih den Zwang, Liliana, aber ich schätze es, wenn mein Hündchen kommt, wenn es gerufen wird. Und du bist doch ein braves Hündchen, nicht wahr?“

Er streckte träge einen Finger aus und krümmte ihn.

Liliana spürte, wie ihr Kopf nickte. Ihre Muskeln spannten sich und verkrampften, als sie versuchte, dem Drang zu widerstehen, doch ihr Kopf neigte sich nach vorn ... dann wieder zurück ... nach vorn ... und zurück.

Razaketh lächelte und ließ die Hand sinken. „Gut.“

Er verstummte und betrachtete sie einen Augenblick. Ein selbstzufriedener Gesichtsausdruck verzog die Schuppen in seinem Gesicht, während er über seinen nächsten Befehl nachdachte.

Belle!

„Wuff“, erwiderte Liliana mit einer Stimme, die die Sonne selbst hätte zu Eis gefrieren können.

Razaketh gab ein leises Geräusch von sich, das seine Unzufriedenheit verriet.

„Du solltest Verträge wirklich lesen, bevor du sie unterschreibst, weißt du? Die Leute verstecken alle möglichen garstigen Klauseln im Kleingedruckten. Die anderen Mitverfasser waren ziemlich geradeheraus in ihrem Stil, aber ich habe gern ein wenig mehr Flair in meinen Übereinkünften.“

Razaketh klopfte sich gegen das Kinn, und ohne Vorwarnung ballte sich Lilianas rechte Hand zur Faust und schoss auf ihr Gesicht zu. Kurz vor ihrem linken Auge hielt sie an. Ihr Gesicht war in ausdrucksloser Gehorsamkeit erstarrt, doch innerlich wand sie sich.

Zufrieden mit seiner Vorführung zwang Razaketh Liliana endlich, die Faust wieder herunterzunehmen. Als ihr Körper gehorchte, tastete Lilianas Verstand sich zurück zum Fluss und versuchte einzuschätzen, wie viele tote Dinge in dem Blut hinter ihr erstickt und begraben waren.

Razaketh richtete sich auf und warf sich in die Brust. „Wohlan, Hexe. Sag mir, weshalb du hier bist.“

Liliana gewann unvermittelt die Macht über ihren Unterkiefer zurück. Sie wackelte ein paarmal mit ihm hin und her. Der Rest von ihr war für sie noch immer unerreichbar, doch zumindest ihre Worte waren endlich wieder ihre.

Sie wählte sie sorgsam.

„Du hast noch fünf Minuten zu leben“, sagte sie im Brustton der Überzeugung. „Du wirst zusehen, wie ich dich töte.“

Razaketh lachte. „Fünf Minuten. Wie präzise.“

Lilianas Gesichtsausdruck änderte sich nicht. „Ich bin außerordentlich pünktlich.“

„Das bezweifle ich.“

„Ich habe Griselbrand und Kothophed getötet“, erwiderte sie mit dem Hauch eines Lächelns. „Es war ganz leicht.“

Razaketh schnaubte abschätzig. „Sie waren Dummköpfe.“

Liliana lächelte. „Da magst du recht haben.“

Der Dämon musterte sie.

„Ich werde dich nicht töten. Aber ich könnte dich verstümmeln“, sinnierte Razaketh und spielte mit einem Messer, das an seiner Hüfte hing. „Ich könnte es dich selbst tun lassen.“

Liliana neigte ein winziges Stück den Kopf. „Vier Minuten.“

Razaketh lachte.

Jaces Stimme erklang erneut in Lilianas Verstand.

Beweg dich nicht.

Liliana seufzte innerlich. Soll das ein Scherz sein?

Eine Pause. Vielleicht.

Liliana lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück auf dem Dämon, der über ihr aufragte.

Eine eigentümliche Stille hatte sich ausgebreitet.

„Hast du wirklich nur eine leere, belanglose Drohung? Ich bin fast ein wenig enttäuscht.“ Razaketh schüttelte theatralisch den Kopf.

Erneut durchzuckte Jaces Stimme Lilianas Verstand, diesmal von Panik durchsetzt. Warte, Chandra, stürme nicht vor

„Vier Minuten sind ziemlich lange, nicht wahr?“, meinte Liliana mit einem scheuen Lächeln.

Der Dämon runzelte die Stirn.

Liliana grinste. „Wie wäre es mit ... jetzt?“

Von irgendwo hinter Razaketh aus umfing ein Flammenstrahl den Kopf des Dämons.

Razaketh schrie.

Erleichterung erfasste Liliana, als sie die Kontrolle über ihren Körper wiedererlangte. Sie sprang auf die Füße, während das Blut aus dem Fluss noch immer an ihr heruntertroff, und hielt Ausschau nach dem Ursprung des Feuers. Chandra schleuderte einen Flammenstoß auf Razakeths kreischenden Leib. Der Dämon wand sich. Sein Schwanz schlug heftig um sich, während er versuchte, sich seinen Weg durch das Feuer zu kämpfen.

Der Dämon breitete die Flügel aus und schwang sich in die Luft. Er stieß mit voller Geschwindigkeit auf Chandra herab, rammte ihre Seite und schleuderte die Pyromagierin mit einem schmerzhaften Klatschen gegen die Wand der Nekropole.

Liliana streckte die Hand zum Fluss aus und sammelte ihre Kraft, doch Razaketh drehte sich schnaubend zu ihr um.

„Das hättest du wohl gern“, brüllte der Dämon und Liliana spürte, wie ihre Schulter sich ausrenkte.

Sie schrie augenblicklich auf, teils vor Schmerz, teils vor Wut, und dann spürte sie, wie ihr die Stimme entrissen wurde. Razaketh stand mit ausgestreckter Hand und gerunzelter Stirn da und übernahm erneut die Kontrolle über sie.

Plötzlich aufgepeitschter Sand, Steine und Binsen prallten gegen die Flanke des sich konzentrierenden Dämons. Ein gewaltiges Elementarwesen erhob sich aus dem Ufer des Flusses. Als es heranwuchs, rannen kleine Bäche von Wasser, das von dem Blutzauber unberührt geblieben war, von ihm herunter.

Nun da Razakeths Konzentration ein weiteres Mal gestört worden war, erschauderte Liliana ob der zurückgewonnenen Herrschaft über ihren eigenen Körper.

Sie verschwendete keine Zeit und renkte sich stöhnend die Schulter wieder ein, um gleich darauf die Hand nach dem Fluss auszustrecken. Dunkle Energie durchströmte sie, als sie ihren Zauber wob.

Verletzt und überrascht hieb Razaketh mit den Klauen um sich, um sich von dem Elementar zu lösen und in die Luft zu schwingen. Hinter ihm half Nissa Chandra auf die Füße und behielt ihr Elementar im Auge. Als Razaketh einen gewaltigen Brocken Erde aus dem Leib des Elementars riss, streckte er eine Klaue nach Liliana aus, um die Kontrolle über sie wiederzuerlangen.

Die Anstrengung zahlte sich nur halb aus: Lilianas Beine gaben unter ihr nach, aber ihr Körper gehörte weiterhin ihr.

Das Elementar drang auf den Dämon ein, und Razaketh wandte sich mit seiner ganzen Wut wieder der Kreatur zu. Er fetzte Schlammklumpen und Binsen aus ihren Flanken. Er knurrte und spie und fügte ihr mit seinem Schwanz einen tiefen Riss in der Seite zu. Als er eine Faust hob, um ihr den entscheidenden Schlag zu versetzen, wurde er wieder in Flammen getaucht: Chandra war zurück auf den Beinen und schleuderte eine Salve aus Feuerbällen auf den Dämon.

Liliana spürte, wie ihre rechte Seite taub wurde, und sie fiel zu Boden.

Razaketh hatte eine Hand nach ihr ausgestreckt, die andere drückte Nissas Elementar zu Boden.

Liliana keuchte und spürte Sand zwischen den Zähnen. In der Ferne sah sie, wie das Elementar endgültig den Kürzeren gegen den Dämon zog. Nissa hatte sich hinter einen anderen Teil der Nekropole zurückgezogen – sie hatte eindeutig Schwierigkeiten, genug Mana aufzubringen, um die Existenz des Elementars zu speisen. Razaketh war inzwischen aufgeflogen und wich Chandras Flammen mit Leichtigkeit aus.

Jace! , schrie Liliana in ihrem Verstand.

Doch als sich das Wort formte, hielt sie inne.

Ihr Atem war angehalten worden.

Sie versuchte, Luft einzusaugen, doch ihr Zwerchfell bewegte sich nicht.

Liliana versuchte es noch einmal und stellte fest, dass sie nicht in der Lage war, zu atmen.

Razaketh war vor ihr gelandet. Nun stand er von ihr abgewandt da und blickte Chandra provozierend an.

Liliana bemerkte Chandra in der Ferne hinter ihm, wie sie auf ihn zielte. Sie erkannte, dass Chandra nicht sehen konnte, dass sie hier am Boden lag.

Liliana konnte nicht atmen. Sie konnte sich nicht bewegen. Und die Pyromagierin visierte den Dämon an, der direkt über ihr stand.

JACE!

Jaces Stimme, hektisch und abgelenkt, erklang in ihrem Verstand. Gideon, links von dir!

Liliana zuckte zusammen, als sie spürte, wie eine unsichtbare Hand nach ihrer Schulter griff. Jace musste Gideon getarnt haben, um ihn dichter zu ihrer Position bringen zu können.

Sie sah zu, wie Gideons Sural in ihr Blickfeld peitschte und drei dicke Striemen in Razakeths Rücken hieb. Der Dämon heulte vor Schmerz auf, und Liliana atmete tief und verzweifelt Luft und Sand ein. Sie stützte sich auf die Ellenbogen und rang um Atem.

Gideons Stimme dröhnte ihr in den Ohren. „Mach es schnell.“

„Das habe ich vor“, krächzte Liliana.

Sie spürte wie helle, unvertraute Magie die Luft um sie herum erfüllte. Gideon hatte seine Unverwundbarkeit auf sie ausgeweitet und so eine sichere Barriere zwischen ihr und dem Dämon erschaffen.

Einen Augenblick später war alles um sie herum in Feuer getaucht.

Liliana konnte nun sehen, dass sich Gideon über sie geduckt und seine Magie um sie beide gewoben hatte: eine goldene Kuppel, die sie von dem Inferno abschirmte.

Razaketh stolperte vorwärts durch die Flammen und schlug um sich, ehe ein zweites Elementar sich auf ihn warf. Es drückte den Dämon zu Boden, und Razaketh brüllte auf, während seine Haut unter Chandras pyromagischen Angriffen Blasen zu schlagen begann.

Liliana stand auf. Mit Gideon im Rücken, der noch immer seinen Schild aufrechterhielt, ging sie vorwärts. Liliana spürte eine dritte Art von Magie – Jace musste sie für Razaketh unsichtbar gemacht haben.

Jace, du musst seine Kontrolle über mich unterbrechen.

Jaces Stimme klang verdrießlich. Was glaubst du denn, was ich in den letzten paar Minuten versucht habe?

Sie hatte keine Zeit dafür.

Lass die Unsichtbarkeit fallen und konzentriere dich auf seine Kontrollmagie, solange er abgelenkt ist!

Razakeths Blick wurde leer.

Ich hab ihn. Beeil dich, sagte Jace mit angestrengter Gedankenstimme.

„Vorwärts, Gideon!“, forderte Liliana.

Sie lief auf die Flammenwand zu, während Blut von ihrem Körper tropfte und zischte, als es den Boden berührte. Gideons Hand legte sich ihr auf die Schulter, um die Magie zu stärken, die sie beide schützte.

Hinter der Barriere aus Unverwundbarkeit erschien die Hitze des Flammenmeeres nur noch angenehm warm. Beinahe gemütlich. Liliana kniff die Augen wegen der Helligkeit zusammen und machte Razakeths Gestalt vor sich aus, die mit Nissas gewaltigem Elementar aus Sand und Wasser rang. Aufgrund der Feuersbrunst um ihn herum war das Fleisch des Dämons dunkel und versengt.

Liliana zog den Kettenschleier aus ihrem Kleid.

Das brauchst du nicht, sagte Jace in ihrem Verstand. Er wird dir nur wehtun

Liliana blickte ob Jaces Einwand finster drein.

Aber andererseits ... hatte er recht.

Sie brauchte den Schleier hierfür nicht.

Sollte der Dämon ruhig Zeuge werden, welchen Schrecken sie ganz allein verbreiten konnte.

Liliana ließ den Schleier zurück in ihr Kleid gleiten. Falls die Lage aussichtslos zu werden drohte, konnte sie ihn immer noch hervorholen, doch fürs Erste wollte sie ihre eigenen Fähigkeiten auf die Probe stellen. Der sterbende Dämon vor ihr ließ sie besonders nachsichtig werden.

„Razaketh“, rief Liliana.

Die Haut des Dämons, der vom Elementar in das weiche Flussufer gedrückt wurde, war von Brandblasen übersät. Sein Gesicht war verbrannt, zerschmolzen und faltig – eine Grimasse aus purem Zorn.

Liliana nahm das Kinn hoch und blickte auf Razaketh auf eine Weise herab, von der sie hoffte, dass er sie spüren konnte.

„Sieh zu, wie ich dich töte.“

Sie streckte die Hand aus und richtete ihre Kraft auf den Fluss.

Dieser begann zu schäumen und zu brodeln, und Razakeths Augen weiteten sich.

Tu es jetzt!, rief Jace in ihrem Verstand. Er kam ganz in der Nähe flackernd in Sicht, als er seinen Schleier fallen ließ, und seine Gedankenstimme war vor Anstrengung verzerrt. Liliana blickte ihn überrascht an: Der Gedankenmagier hatte sich dichter herangeschlichen, als sie gedacht hatte. Während Jace das Gesicht verzog, spürte Liliana ein Zucken in ihrer Hand, als Razaketh versuchte, die Kontrolle über sie zurückzuerlangen. Mit einer Handbewegung ergoss sich eine Menagerie des Todes aus dem Fluss aus Blut. Fische, Schildkröten, Flusspferde, Watvögel und ertrunkene Antilopen erhoben sich in einer sich windenden Masse aus dem tiefroten Luxa. Ihre Mäuler standen offen, ihre Zähne blitzten, und sie warfen sich aus dem Fluss und auf den verkohlten Leib des Dämons.

Liliana bewegte die Masse als wäre es ihr eigener Körper. Sie gebot über jede Finne, jede Klaue und jeden Zahn, der aus dem dicken Blut des Flusses hervorbrach. Sie fühlte sich unermesslich gut: grenzenlos, gestärkt und erweitert durch Wellen aus Fleisch, das dem Tod entrissen worden war. Sie war sich nicht sicher, wo sie aufhörte und die Hunderten von Toten begannen. Einen flüchtigen Augenblick lang erinnerte sich Liliana, wie es gewesen war, gottgleiche Macht zu besitzen.

Der Dämon hatte Mühe, sich aus dem Griff von Nissas Elementar zu befreien. Mit einem Brüllen und einem Aufbäumen wand er sich los, breitete die Schwingen aus – zerfetzt wie alte Leinwand auf einer verrottenden Staffelei – und stieg erneut in die Luft empor. Liliana schickte einen Stoß nekromagischer Energie hinter ihm her, und er zuckte, als er wieder zu Boden fiel. Sofort warf sich die Masse Untoter auf ihn. Fänge, Zähne und Hörner zerrten an seinem Fleisch.

Chandra, Nissa und Gideon wandten sich von dem Gemetzel ab.

Doch Jace, der neben Liliana stand, konnte den Blick nicht abwenden.

Liliana spürte, wie er vorsichtig an ihrem Verstand kratzte und um Einlass bat. Liliana gefiel sein mentaler Blick. Sieh nur, Jace, dachte sie, was ich als Nächstes vorhabe.

Aus der Ferne hörte Liliana, wie Jace angewidert nach Luft schnappte.

Sofort zog er sich aus ihrem Verstand zurück, doch das war ihr gleich. Sie war beschäftigt.

Razaketh heulte vor Schmerz auf und wurde plötzlich brutal zum Fluss hin gerissen. Liliana knickte die Hand ab, und weitere zwei Dutzend Krokodile rissen die Mäuler auf und schleppten ihre Kadaver an Land. Sein Bein verfing sich zwischen den Kiefern einer der Bestien, und Razaketh versuchte, sich aufzurappeln und vom Fluss wegzukriechen, doch es war zu spät. Liliana löste ihren Griff um die anderen Kreaturen und lenkte ihre Kraft und ihren Verstand ganz in die Leiber der Krokodile hinein. Starke Muskeln und scharfe Zähne. Und ein untoter Hunger nach dem Fleisch der Lebenden.

Als ihr Bewusstsein zwischen den zwei Dutzend Krokodilen vor ihr aufgespalten war, knirschte sie mit den Zähnen und griff an. Ihre zwei Dutzend Mägen hungerten, und ihre zwei Dutzend Schlünde öffneten sich weit. Ohne Zögern oder Menschlichkeit verschlangen ihre zwei Dutzend Leiber das, was von Razaketh noch übrig war.

Sie labte sich, und er schrie.

Die Krokodile zerrten die Überreste des Dämons in den Fluss aus Blut und wirbelten tiefrote Spritzer in die Luft, als ihre Schwänze heftig auf die Wasseroberfläche eindroschen. Die Echsen drängten sich dicht zusammen und gruben die Zähne in das Fleisch des Dämons.

Liliana konnte spüren, wie sie satt wurde. Ihre zwei Dutzend Kiefer versenkten sich in Gliedmaßen und schüttelten sie wild, um sie abzureißen. Ihre zwei Dutzend Mäuler spien Blut aus und verschlangen verkohltes Fleisch. Es würde nichts übrig blieben, was ins Leben zurückstolpern konnte. Sie lachte, und die Krokodile brüllten mit ihr auf. Amonkhets Fluch würde diese Leiche nicht bekommen.

Während ihr urtümliches, aufgeteiltes Bewusstsein den Dämon bei lebendigem Leib verschlang, malmten ihre eigenen Zähne unbewusst mit.

Sie lachte und hörte schwach, wie Jace hinter ihr schwer würgte.

Liliana, das ist genug, flehte Jace. Liliana, er ist tot. Bitte hör auf.

Liliana schluckte in ihrem eigenen Körper und schmeckte nichts.

Sie keuchte vor Anstrengung.

Und sie strahlte übers ganze Gesicht.

Sie fühlte sich satt, erleichtert und geradezu entzückend ungeheuerlich. Sie wollte nicht aufhören.

Lili, genug.

Liliana senkte die Hand und zog sich aus den Leibern der Krokodile zurück. Sie machten einen kleinen Satz nach vorn und schwammen einen Augenblick später ihrem eigenen wiederbelebten Willen folgend flussaufwärts. Der Fluch des Umherirrens hatte von ihnen Besitz ergriffen.

Sie hatte es geschafft!

Liliana kicherte und fiel erschöpft in den Sand. Kein Wein war süßer als der der Unabhängigkeit, kein Sieg so betörend wie die Selbständigkeit. Liliana war kein sentimentaler Mensch, doch als sie dort am Ufer des Flusses lag und zum schimmernden Blau des Hekma hinaufsah, fühlte sie sich, als wäre alles möglich. Als könnte sie sich tatsächlich von der Kontrolle der anderen befreien und von all dem, was sie verachtete. Der Beistand der Wächter hatte ihr die nötigen Mittel an die Hand gegeben, um ihr Ziel zu erreichen. Genau so, wie sie es geplant hatte.

Der Wind frischte auf, und eine warme Brise wehte ihr das Haar aus dem Gesicht. Aus dem Augenwinkel sah sie Jace. Er stand neben ihr und starrte mit schwer zu deutender Miene zu ihr herunter. Liliana konnte riechen, dass er sich hinter ihr übergeben hatte.

„Ich habe es geschafft, Jace.“

Liliana kicherte erneut.

„Ich habe ihn aufgegessen.“

Jace verzichtete auf eine Erwiderung.

„Die anderen beiden Dämonen waren sehr viel leichter. Sie konnten nicht das mit mir machen, was er mit mir gemacht hat. Und nun ist nur noch einer übrig, bevor ich endlich wieder nur mir gehöre.“

Die Erschöpfung forderte ihren Preis. Liliana wusste, dass ihre Worte wenig Sinn ergaben. Mühsam setzte sie sich auf.

„Hast du dich übergeben?“, fragte sie nach einem müden Atemzug.

Jace antwortete nicht.

Vorsichtig näherten sich Gideon, Nissa und Chandra. Sie hatten abseits gestanden und Lilianas Rache aus der Ferne zugesehen. Jetzt kamen sie näher, zerschlagen vom Kampf.

„Ich danke euch allen für eure Hilfe“, sagte Liliana mit einem flüchtigen, dankbaren Lächeln.

Gideon verschränkte die Arme. „Wir taten, was getan werden musste. Jetzt müssen wir uns auf die Ankunft Bolas’ vorbereiten.“

„Ja“, sagte sie und band ihr Haar mit einer Schleife ihres Kleids zusammen. „Aber zunächst ... brauche ich einen Augenblick, um zu Atem zu kommen.“

„Wir haben keine Zeit, uns auszuruhen“, sagte Nissa mit ganz und gar ungewohnter Gereiztheit. „Nach allem, was ich wahrnehmen kann, hat die Blutmagie, die Razaketh gewirkt hat, eine Kettenreaktion aus Zaubern in Gang gesetzt. ‚Die Stunden‘, die Nicol Bolas’ Rückkehr vorausgehen, mussten von dem Dämon eingeläutet werden.“

Liliana stellte sich auf wackelige Beine. Keiner der anderen bot an, ihr aufzuhelfen.

„Da Razaketh nun aus dem Weg ist, bereiten wir uns besser darauf vor, Bolas entgegenzutreten“, sagte Liliana.

„Das sehe ich genauso“, sagte Gideon, „aber wir haben uns eingemischt, um dich zu retten – trotz deiner Täuschung, was die Anwesenheit des Dämons anbelangt.“

„Und das hat sich doch ganz wunderbar gefügt, oder nicht?“, gab Liliana zurück.

Chandra hob die Hände, um die Unterhaltung anzuhalten. „Wir haben keine Zeit, um über das zu streiten, was geschehen ist. Wir müssen uns aufteilen und weiteres Unheil verhindern.“

„Ich ... finde auch“, sagte Nissa. Sie blickte zu Jace und verstummte, während die beiden eine stille, gedankliche Unterhaltung zu führen begannen

Gideon nutzte die sich auftuende Lücke im Gespräch.

„Wir müssen unsere Kräfte sammeln und sie uns gut einteilen. Wenn möglich sollten wir Nicol Bolas in einen Hinterhalt locken, wenn er ankommt. Lasst ihn uns überraschen anstatt andersherum.“ Dabei blickte Gideon Liliana an.

Liliana verdrehte die Augen. Sie empfand keine Scham darüber, wie sie den Dämon ausgeschaltet hatte, doch sie konnte auch nicht die Kälte verleugnen, mit der die anderen sie bedachten. Gideon versuchte erfolglos, ein Stirnrunzeln zu verbergen. Chandras Mund war vor Anspannung zu einer dünnen Linie zusammengepresst. Nissa blickte finster drein. Jace schien von allen am distanziertesten.

„Suchen wir uns einen besseren Ort, um uns auf die Ankunft von Nicol Bolas vorzubereiten“, sagte Gideon. Sie drehten sich um und gingen auf das Tor zu, ehe sie die Schwelle zurück nach Naktamun überquerten.

Nur Jace blieb zurück und blickte Liliana mit undurchsichtiger Miene an.

„Schau mich nicht so an“, sagte Liliana.

Jace blinzelte nicht. „Ich werde nicht tatenlos danebenstehen, wenn du noch mal so sehr die Beherrschung verlierst.“

„Es ging nicht anders.“ Liliana zuckte die Schultern.

Jace schüttelte den Kopf. „Es war zu viel.“

Liliana lächelte spöttisch. „Ich habe getan, was ich tun musste.“

Sie drehte sich um, strich sich das Haar aus dem Gesicht und ging los, um sich zu den anderen zu gesellen.

Jace stand noch einen Augenblick länger da. Er blickte zu den Blutlachen am Ufer des Luxa, und trotz der Nachmittagshitze und dem Schweiß auf seiner Stirn schauderte es ihn.


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Weltenbeschreibung: Amonkhet