HUATLI

Huatli war acht.

Winzige Staubkörnchen trieben träge im Licht der Nachmittagssonne, die das Übungsgelände im Schatten Tocatlis in ein orangefarbenes Leuchten tauchte. Ein Dutzend anderer Kinder saß mit hölzernen Übungswaffen in den kleinen Händen neben ihr auf den steinernen Fliesen. Sie war jung genug, um Tausende von Fragen stellen zu wollen, aber alt genug, um zu wissen, dass sie den geeigneten Zeitpunkt dafür abzuwarten hatte. Und so hockte sie da, umklammerte ihre Zehen mit den Fingern und wartete darauf, dass der Priester des Imperiums der Sonne seinen Monolog beendete. Er dozierte vor den zukünftigen Kriegern über den dreifaltigen Aspekt der Sonne und tat dies auf die langweiligste und eintönigste Weise, die Huatli je untergekommen war. Sie kannte all die Geschichten auswendig. Sie liebte Geschichten.

„Was befindet sich auf der abgewandten Seite der Sonne?“, entfuhr es ihr.

Der Priester blinzelte.

Huatli drückte mit den Händen fest ihre Füße und hielt seinem Blick trotzig stand.

Der Priester seufzte. „Huatli, eines Tages wirst du mit der Klinge in der Hand kämpfen und mit der Macht der Sonne sprechen. Es spielt keine Rolle, was sich auf ihrer abgewandten Seite befindet.“

Huatli hasste es, wenn man ihre Zukunft erwähnte. Sie erhielt gesonderte Lektionen von den Priestern und Schamanen, weil sie gut darin war, Geschichten zu erzählen, doch es ärgerte sie, dass sie ihre Zeit nicht mit den anderen Kriegern in der Ausbildung verbringen konnte.

„Aber ich möchte wissen, was auf der anderen Seite ist“, sagte sie und tat ihr Bestes, ihre Beschwerde als aufrichtige Neugier auszugeben.

Die anderen angehenden Krieger sahen ungeduldig zu. Huatli wurde rot.

„Huatli soll unsere künftige Poetin des Krieges sein“, sagte Inti, ihr Vetter, mit einer Stimme, die kühner klang, als es die eines Achtjährigen hätte sein dürfen. „Gibt es denn keine Geschichten über die andere Seite der Sonne, die sie kennen sollte?“

Die übrigen Kinder nickten zustimmend.

Der Priester wirkte reichlich pikiert. Er schaute zur Kampfausbilderin, doch diese zuckte nur mit den Schultern. Er runzelte die Stirn und sah Huatli in die Augen.

„Es gibt keine Geschichten über die andere Seite der Sonne.“

Die anderen jungen Krieger stießen gemeinsam ein enttäuschtes „Ohhhh!“ aus.

Der Priester seufzte. „Benennt die Dinge, die ihr sehen könnt. Rühmt euch der Dinge, die ihr erreicht habt, und verschwendet keine Zeit an das Unbekannte.“

Huatli war verwirrt. „Aber was, wenn ich es wirklich wissen will?“

Der Priester blickte mit jener Art von Erschöpfung zur Kampfausbilderin, die nur Erwachsenen vorbehalten ist, welche von Kindern umgeben sind.

Die Kampfausbilderin klatschte mit erfahrener Autorität in die Hände und sprach zum Rest der jungen Krieger: „Schüler! Bildet Paare und übt eure Bewegungsabläufe! Der Erste, der niedergeschlagen wird, hat Putzdienst!“

Der Rest der Kinder rappelte sich auf und rannte zum anderen Ende des Übungsgeländes. Endlich vom Stillsitzen während des langen Vortrags erlöst schwatzten alle aufgeregt durcheinander. Huatli blieb wie angewurzelt auf ihrem Platz sitzen und starrte den Priester unverwandt an.

Er seufzte und blickte sie mit milder, väterlicher Strenge an. „Wir spüren, dass du eine Gabe für Worte hast, Huatli. Wenn du eine Kriegspoetin des Imperiums der Sonne wirst, dann werden deine Worte zur Wahrheit.“

Das Mädchen legte verwirrt die Stirn in Falten. „Heißt das, dass ich mir Dinge ausdenke?“

„Nein. Es bedeutet, dass du jemandes Wahrheit aussprichst, wenn du Geschichten erzählst. Es ist deine Pflicht, seine Erfahrungen zu kennen und auf eine solche Weise zu vermitteln, dass dein Volk die Handlungen deiner Hauptfigur nie vergisst.“ Der Priester war unerbittlich. „Wenn du das Leben eines Kriegers zum Wohl des Imperiums lebst, wirst du alles klar sehen. Du musst die einzelne Stimme werden, die von der Spitze eines Berges herabruft. Die Stimme des Imperiums. Die Stimme von allem, was zählt.“

Huatli biss sich auf die Unterlippe. Sie war sich nicht sicher, ob sie gern eine Stimme auf einer Bergspitze sein wollte. Sie dachte an den Priester und an die Kampfausbilderin, an ihre Tante und an ihren Onkel und an Inti. Sie dachte an all die Menschen des Imperiums und wie sie eines Tages den Wahrheiten lauschten, die sie verkünden würde.

Das Imperium ist das, was zählt, versicherte sie sich selbst. Nicht das, was irgendwo hinter der Sonne liegt.


Angrath und Huatli standen auf einer Lichtung und gingen in die Hocke, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, als die Erde unter ihnen heftig erbebte. Sie sahen zu, wie die goldenen Türme Orazcas höher und höher über das Blätterdach des Tals unter ihnen aufzusteigen begannen. Die Türme schienen im Größerwerden die Stadt in die Höhe zu ziehen, Bäume abzuknicken und gewaltige Mengen Erde und Felsen zur Seite zu schieben.

Huatli stockte der Atem.

Die Stadt war noch wesentlich schöner, als sie es sich erträumt hatte ... und sie sah ganz anders aus als die Stadt in ihrer Vision.

Der Boden hörte auf zu beben, und sie blinzelte eine Träne fort. Die Stadt war da. Große Bögen mit haushohen Reliefs, ein labyrinthartiges Gebilde voll von mehr Gold, als sie je zuvor erblickt hatte. Der ganze Ort schien vor Magie zu pulsieren. Sie waren noch immer eine beachtliche Strecke–vielleicht einen halben Tagesmarsch–von der Stadt entfernt, aber näher, als je ein Mitglied des Imperiums der Sonne Orazca seit Jahrhunderten gekommen war.

Der Minotaurus zu ihrer Linken schnaubte vor Aufregung. „Das wurde aber auch Zeit.“ Er begann, in ungeduldiger Entschlossenheit den Hügel hinunterzustapfen.

Huatli erinnerte sich ihrer Aufgabe und rannte ihm nach.

Ihre Gedanken rasten. Sie hatte die Stadt gefunden, doch bedeutete das, dass sie zurückkehren musste? Sollte sie nicht zuerst das Innere erkunden, um die Immerwährende Sonne selbst zu finden? Huatli versuchte, ihre Verzückung im Zaum zu halten, aber es war vergeblich: Ein dümmliches Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus.

„Also hat man dir wie einem Botenjungen aufgetragen, die Goldene Stadt zu finden?“, meinte Angrath abschätzig.

Huatli wurde zurück in die Wirklichkeit gerissen. Sie ließ ihr Lächeln verschwinden. „Mein Imperator hat mich mit dieser Aufgabe betraut. Sie ist die Heimat unserer Vorfahren, und wir sind die rechtmäßigen Herrscher Ixalans.“

Das Blätterdach schloss sich über ihnen. Zweige streckten sich hoch droben einander entgegen, und die Geräusche von Insekten und Vögeln fluteten Huatlis Ohren, kaum dass sie in den Schatten des Dschungels getreten waren.

Angrath musterte Huatli. „Und was hast du davon?“

„Ich erhalte meinen rechtmäßigen Titel“, sagte sie. „Ich habe seit meiner Kindheit darauf hingearbeitet, die Poetin des Krieges zu werden.“

Angrath schnaubte.

Huatli schaute finster drein. „Was?“

„Ein Titel schenkt dir nicht die Freiheit.“

Er riss mithilfe einer seiner Ketten einen Ast beiseite, der ihnen den Weg versperrte. Huatli war gereizt. „Du kannst das nicht verstehen. Es wird meine Pflicht sein, von den Siegen meines Volkes zu berichten.“

Angrath sah sie über die Schulter an. „Dazu brauchst du einen Titel? Du denkst wie eine Ameise.“

Huatli war mehr als beleidigt, doch sie biss die Zähne zusammen. Sie wusste aus erster Hand, wie wankelmütig die Stimmung dieses Mannes sein konnte, und sie wollte diesen sonderbaren neuen Verbündeten nicht zu einem weiteren Angriff anstacheln.

„Was meist du damit, dass ich wie eine Ameise denke?“, fragte sie betont ruhig.

Angrath ließ die Schultern kreisen und mit einer ruckartigen Neigung seines Kopfes seinen Stiernacken knacken. „Du willst nur zur Spitze des Ameisenhaufens klettern und dich selbst zu der Aussicht von dort beglückwünschen.“

„Nennst du gerade das Imperium der Sonne einen Ameisenhaufen?“

Der Minotaurus lachte. Es war ein tiefes, kehliges Geräusch, das Huatli an das Kreischen eines Langhalses erinnerte. „Das Imperium der Sonne besteht aus Ameisen auf einem Ameisenhaufen, genau wie die Flussherolde und Torrezon und jede andere Gruppe von Tölpeln auf dieser Welt.“

„Na, immerhin beleidigst du uns jetzt alle gleichermaßen.“

Angrath griff nach oben und zog den Stängel einer riesigen Blüte zur Seite, damit Huatli darunter hindurchgehen konnte. „Mein Volk schätzt Freiheit mehr als alles andere. Wir würden dafür töten, Planeswalker, und jeder versteht, warum.“ Er warf ihr einen ernsten Blick zu. „Du hast dich an etwas gebunden wegen nichts als halbvergessener Sagen.“

„Sagen?“, blaffte sie. „Du sprichst über meine Geschichte. Du sprichst über alles, wofür ich lebe. Ich habe mein Leben dem Finden der richtigen Worte gewidmet, dem Ausdruck unserer gemeinsamen Gefühle, der Bewahrung der Geschichte des Imperiums der Sonne–voll Stolz und Wahrheit.“

Der Minotaurus kicherte. Huatli biss sich auf die Zunge. Er lächelte sie so freundlich an, wie das einem Minotaurus möglich war. „Und was ist mit den Flussherolden? Verdient es ihre Geschichte nicht, dass man sich an sie erinnert?“

„Nun ... ja. Ich schätze schon. Aber die Poetin des Krieges studiert sie nicht ... “

„Ihr tötet euch gegenseitig, um herauszufinden, wer mächtig genug ist, darüber zu entscheiden, was Geschichte ist. Ihr streitet und geifert, um darüber zu entscheiden, wer herrschen soll, aber niemand ist wahrhaft frei. Wer seid ihr, dass ihr behauptet, recht zu haben, ihr Narren?“

Huatli war hin und her gerissen.

Sie fragte sich, für wen sich Angrath hielt, dass er so freimütig mit ihr sprechen konnte. Er war plump und kurz angebunden, aber er sagte die Wahrheit. Er wusste Dinge, die Huatli noch nie in Erwägung gezogen hatte. Wenn er von einer anderen Welt kam, waren die Dinge dort wahrscheinlich anders. Huatli fühlte sich wie ein halsstarriges, ungestümes Kind, das von seiner eigenen Wichtigkeit überzeugt war. Ihr gefiel nicht, dass sie es besser wissen sollte, denn–ehrlich gesagt–woher? Der Pfad, den sie im Laufe ihres Lebens beschritten hatte, war von Mauern gesäumt, die viel zu hoch waren, als dass sie hätte über sie schauen können.

Ein Schauer lief ihr den Rücken hinunter.

Angrath hielt vor ihr an. Er blickte zu Huatli zurück.

„Hast du das auch gespürt?“

Sie nickte. Ein kleines Kribbeln bewegte sich ihr den Hals hinunter, und trotz der Hitze des Dschungels fröstelte sie.

Angraths Ohr zuckte. „Folge mir“, sagte er.

Bei der Sonne, er ist so ungehobelt, dachte Huatli gereizt.

Der Minotaurus erstarrte, und Huatli spürte ein plötzliches Aufflackern von Hitze vor ihnen. Der Minotaurus wirkte einen Zauber. Nein, etwas anderes. Als ein Leuchten wie von warmen Kohlen Angraths Körper von innen zu erhellen begann, erkannte sie, dass er gemeint hatte, sie solle ihm auf eine Weise folgen, die sie bislang nur einmal ausprobiert hatte.

Huatli konzentrierte sich. Sie versuchte sich zu erinnern, wie sie auf die andere Seite der Sonne schauen konnte.

Und dann traf es sie urplötzlich, und das Gefühl ließ ihre Haut kribbeln und schnürte ihr die Brust zu. Es war beängstigend und vertraut zugleich, so als würde sie einen Rückwärtssalto wagen oder schwimmen, ohne dabei den Boden zu berühren, und Huatli sah zu, wie ihre Haut im strahlenden Licht des Nachmittags zu leuchten anfing. Ihre Wahrnehmung war kurz abgedämpft, und Huatli beugte sich nach vorn in ein anderes Reich. Jetzt erkannte sie alles wieder, den hellen Sturm aus Farben und Licht, und Angrath war dort vor ihr. Er ging weiter und steuerte auf einen Ausgang zu.

Huatlis Füße verließen den Boden des Dschungels und traten ins Nichts. Ihr Körper hielt zusammen, doch Materie hatte hier weder Gewicht noch Zweck. Zu beiden Seiten sah sie blaue Strömungen, und jeder Schritt pulsierte mit einer Energie, wie sie sie nie zuvor gespürt hatte. Zeit war hier bedeutungslos.

Angrath gab ihr mit einer Geste zu verstehen, nach einem Portal vor ihr Ausschau zu halten. Der Minotaurus war noch immer von einem magischen Effekt umgeben, dessen Hitze und Licht einem seit Stunden angefachten Herdfeuer ähnelte, und Huatli begriff, dass sie zu hell strahlen musste, als dass er sie direkt anschauen konnte.

Sie schaute durch das in die Luft gezeichnete Fenster.

Dort war es auf eine Weise kalt, wie sie es noch nie gekannt hatte. Berge griffen nach sich auftürmenden Wolken, und weiße Flocken fielen stumm aus dem bedeckten Himmel.

Huatli war wie erstarrt. Sie beugte sich vor und wurde sofort–und brutal–zurückgerissen.

Sie bahnte sich einen Weg durch Raum und Farbe und zurück in das Gewebe der Existenz. Sie fiel zurück in die klamme Schwüle und den feucht-erdigen Geruch des Dschungels und landete unsanft auf dem Rücken.

Der ihr inzwischen bestens vertraute Kreis in einem Dreieck schimmerte über ihrem Kopf.

Angrath stand in ihrer Nähe. Da er stärker an diesen magischen Ausstoß gewöhnt war, hatte er sich besser dafür gewappnet. Er sah mit seinem eigenen leuchtenden Dreieck über sich und einem „Ich habe es dir ja gesagt“-Ausdruck im Gesicht auf sie herab.

„Wir müssen dem, was uns auf dieser Welt festhält, schon näher gekommen sein“, knurrte er.

Huatli atmete zitternd aus. „Was war das für ein Ort?“

„Kaldheim“, sagte Angrath gepresst. „Eine andere Welt. Verstehst du jetzt, was ich meine?“

Huatli schüttelte den Kopf.

Angrath schnaubte.

„Freiheit beginnt mit dem Wissen, wann man gefangen ist.“

Der Nachmittag wurde zum frühen Abend, und Huatli und Angrath gingen Seite an Seite. Sie legten ein gutes Tempo vor, denn Huatli wusste, wie man den Regenwald mit Leichtigkeit durchqueren konnte. Je näher sie der Stadt kamen, desto stärker veränderte sich die Umgebung um sie herum. Die Blätter der Bäume glitzerten golden, und Risse im Erdreich erzeugten tiefe Klüfte, die zu tiefer gelegenen, goldenen Durchgängen führten.

Huatli war über die Heftigkeit der Schauer besorgt, die sie durchfuhren. Angrath murmelte etwas darüber, dass die Immerwährende Sonne vermutlich die Magie von Planeswalkern beeinflusste, und Huatli seufzte. So viele Gruppierungen glaubten zu wissen, was die Immerwährende Sonne eigentlich tat. Sie konnten auf keinen Fall alle recht haben. An einem Punkt fragte Huatli, wohin Angrath zuerst gehen wollte, sobald er die Welt verlassen konnte. „Ich möchte meine Töchter sehen“, lautete seine knappe Antwort.

Huatli war von seiner Verletzlichkeit verblüfft. „Wie lange hast du sie schon nicht mehr gesehen?“

„Vierzehn Jahre“, knurrte Angrath. Einen Augenblick lang war Huatli angerührt. Sie wollte gerade ihrer Anteilnahme Ausdruck verleihen, als sie von Angraths Zusatz unterbrochen wurde: „Sie würden mit Vergnügen das Blut deines Imperators trinken, du Närrin.“

Wenn es irgendetwas gab, was Huatli von dieser Welt vertreiben konnte, dann war es ohne jeden Zweifel Angraths Persönlichkeit.

Sie erreichten ein Gebäude, das sich aus dem Boden erhob: ein mittelgroßer Tempel. Ein breites Relief zierte seine Vorderseite: eine Fledermaus, deren furchterregende Fratze aus dem Stein gemeißelt worden war. Die Verzierung legte nahe, dass dies kein Teil Orazcas war, sondern ein Grabmal, das in der Nähe der Stadt angelegt worden war. Es wirkte wie aus der Zeit gefallen und seltsam deplatziert in diesem Dschungel. Es war beeindruckend. Fremdartig.

Huatli hielt an.

Sie erinnerte sich an eine alte Geschichte, die von vielen längst vergessen worden war. Nicht so von ihr. Nicht so von der Poetin des Krieges des Imperiums der Sonne.

„Die Fledermaus des Ostens“, flüsterte sie.

Angraths Ohr zuckte. „Was für eine Fledermaus?“

Huatli deutete auf das Gebäude vor ihnen. Es war von Ranken überwuchert und von der Zeit verwittert, und die Vordertür war aufgebrochen. „Es gibt eine Legende, die besagt, dass die Fledermaus des Ostens Aclazotz traf ... “

Der Minotaurus knurrte. „Wie wurde die Fledermaus in der Legende aufgehalten?“

„Sie hat sich selbst in einen Zauberschlaf versetzt.“

Huatli ging auf den Eingang zu, entzückt von der Aussicht darauf, den Tempel erkunden zu können. Wenn Orazca erwacht war, dann vielleicht auch die Fledermaus ...

„Was tust du denn?“, rief Angrath.

Ich sehe mir an, was auf der anderen Seite der Sonne liegt, dachte Huatli grinsend bei sich.

Sie näherte sich der Öffnung im Tempel und fuhr entsetzt zurück, als eine bleiche, weiße Hand aus seinem Inneren herausgestreckt wurde. Huatli erstarrte, als eine zweite Hand, die aussah, als würde sie zu einer Frau gehören, vorsichtig nach der goldenen Steinplatte griff.

Sofort wirkte Huatli stumm einen Zauber, um einen Dinosaurier in der Nähe herbeizurufen. Ihr Herz pochte laut, als sie den Ruf aussandte, und sie sah zu, wie die Hand die Platte anhob und vom Eingang des Tempels wegwuchtete.

Huatlis Panik verschwand, als die Gestalt ins Sonnenlicht hinaustrat, und ihr Mund klappte vor Staunen auf.

Zweifellos handelte es sich bei der Frau um eine Vampirin, deren lange Locken und jugendliches Gesicht das tödliche Wesen ihrer Art Lügen straften. Sie war von durchschnittlicher Größe, vielleicht etwas kleiner als Huatli selbst, doch ihre Haltung hatte etwas Nobles.

Huatli verschlug es den Atem. Sie warf Angrath einen Blick zu, als erwartete sie, dass er auf die Vampirin zustürmen und sie zu töten versuchte, aber er war ebenso gebannt wie sie selbst.

„Du bist Sankt Elenda“, sagte Angrath abwesend. „Du bist diejenige, über die die Vampire immer sprechen.“

Huatli war kurzzeitig verstört, dass Angrath eine Legende kannte und sie nicht.

Die Frau bewegte sich gemächlich, aber zielstrebig und blickte mit einem Lächeln auf den Lippen von Angrath zu Huatli.

„Endlich ist Orazca erwacht.“

Ihre Stimme war hell und leise. Eine Glocke, die eine lange Stille durchbrach.

Huatli unterdrückte ihr Staunen und griff nach ihrer Klinge. Ein lautes Heulen erklang in einiger Entfernung, und Huatli drängte ihren herbeigerufenen Dinosaurier dazu, sich in Vorbereitung auf einen Angriff zu ducken. Sie wusste, wie das mit Legenden so war. Sie wusste besser als jeder andere, wie Geschichten begannen und sich entwickelten. Beinahe alle Sagen entsprangen einer Wahrheit, und Huatli schlussfolgerte schnell, dass die Legende von der Fledermaus des Ostens vor Jahrhunderten mit ebenjener Vampirin begonnen haben musste.

Die Vampirin blieb entspannt. Sie sah Huatli in die Augen. Ihr Gesicht war der Inbegriff der Ruhe.

„Warum willst du die Waffe zücken?“, fragte sie mit aufrichtiger Neugier.

Huatli runzelte die Stirn. „Ich werde nicht zulassen, dass die Legion der Dämmerung die Stadt einnimmt. Ihr Eindringlinge verdient ein Schicksal schlimmer als der Tod.“

Die Stirn der Vampirin legte sich in Falten. Ihre Lippen teilten sich, und sie wirkte verletzt. Ihre Stimme war ein Flüstern wie von einer anderen Welt. „Wir sind nun Eindringlinge?“

„Ich kenne alle Geschichten meines Volkes über dich und deine Legion des Zwielichts“, zischte Huatli. „Möchtest du sie hören?“

Huatlis Zorn brach sich Bahn. Sie rezitierte ein Gedicht, das sie erst vor zwei Jahren geschrieben hatte, und labte sich an den bitteren Formulierungen.

„In die Schatten des Ostens gehüllt kamen sie,
den Schatz zu suchen, der in der Zeit verloren war.
Die Dornenrose, verkrustetes Blut, das „Adanto“ auf unseren Süden schmierte.
Trinker des Lebens, Verschlinger der Namen.“

Angrath zitterte vor Ärger und Ungeduld. „Wir haben keine Zeit zum Plaudern, Huatli. Wir müssen die Immerwährende Sonne an uns bringen, damit wir von hier fortgehen können.“

Elenda schenkte Angrath keine Beachtung. Sie war nun von einer Aura aus Zorn umgeben. Sie war sichtlich angespannt. Der Blick ihrer goldenen Augen huschte zwischen Huatli und Angrath hin und her. „Weshalb ist die Legion des Zwielichts hier?“,

spie Huatli boshaft aus. „Um sich das zu nehmen, was ihr nicht zusteht. Was hast du denn gedacht, weshalb sie sonst hier wäre?“

„Um das eine zurückzuholen, das unseres ist“, erwiderte Elenda in gemessenem, aber ärgerlichem Ton. „Und alles andere in Frieden zu lassen. Dies war unsere heiligste Aufgabe.“

Angrath knurrte. „Das musst du dringend dem Rest deiner Spießgesellen sagen. Huatli, lass uns gehen.

Huatli schenkte Angrath keine Beachtung und lockerte den Griff um ihre Klinge. Sankt Elenda stand angespannt wie eine Dschungelkatze da, als wollte sie jeden Augenblick mit geschmeidiger Anmut und messerscharfen Krallen angreifen.

Die Vampirin bleckte die Zähne. „Ich habe die Kirche mit dem Wissen um das Ritual verlassen, meine Bürde anzunehmen, und sie nutzten das, um zu Eindringlingen zu werden?“

Huatli warf ihr einen stechenden Blick zu. „Was hätten sie denn mit deiner Gabe anfangen sollen?“

„Sie sollten Demut lernen.“

Huatli sperrte den Mund auf. Die Legion des Zwielichts? Demütig?

Sie sollten die Erlösung für uns alle finden“, fuhr Elenda fort. „Ich sehe, ich muss sie lehren, was sie vergessen haben.“

Elenda richtete sich auf, und ein Schatten fiel über ihr Gesicht. Sie trat vor, vorbei an Huatli und Angrath, und verschwand in einem dunklen Riss in der Luft.

Einen Augenblick später kehrte das Sonnenlicht zurück, bernsteinfarben und in Sprenkeln durch das Blätterdach über ihnen, und die Vampirin war fort.

Huatli blinzelte und suchte nach einem Hinweis darauf, wohin sie gegangen war. „Ach komm schon“, seufzte sie enerviert.

„Können wir jetzt gehen?!“, grollte Angrath missmutig und schlug mit einer seiner Ketten auf einen Baum in der Nähe ein. Der Stamm wurde durch den Aufprall gespalten und krachte zu Boden. Dutzende kleiner Tiere und Insekten stoben auseinander.

Huatli blickte den Minotaurus finster an. „Was soll das denn? Du erregst nur unnötig Aufmerksamkeit!“

„Du lässt dich zu leicht ablenken. Durch das Gespräch mit der Vampirin haben wir Zeit verloren!“

„Sie ist eine lebendige Heilige, der ich meine Meinung sagen wollte!“

Der Austausch von Geschichten ist mir meine Zeit nicht wert!“

Angrath schlug mit einer Kette in Richtung ihres Gesichts, ein Hieb, dem sie nur mit Mühe ausweichen konnte. Die Hitze versengte ihr die Wange.

Obgleich ihre Reflexe und ihre Ausbildung es ihr erlaubten, einen Satz nach hinten zu machen, sich aufzurichten und mit unglaublicher Schnelligkeit die Klinge zu ziehen, hatte er sich, als sie ihre Aufmerksamkeit endlich auf einen Gegenangriff lenken konnte, bereits umgedreht und eine erstaunlich weite Strecke in Richtung der Türme Orazcas zurückgelegt.

Angrath (der ungehobelte, unverbesserliche, verdrießliche Angrath) wollte vor ihr dort ankommen.

Und das würde Huatli nicht zulassen.


JACE

Jaces Innerstes war in Gefühlen ertränkt, mit alles erstickender Kraft zusammengequetscht und auf einer Leine im Wind zum Trocknen aufgehängt worden. Das Wort Erschöpfung beschrieb das, wie ausgelaugt er sich fühlte, nicht einmal ansatzweise.

Er setzte voller Bedacht einen Fuß vor den anderen, als er die Stufen nach Orazca hinaufstieg. Er war sich Vraskas Gegenwart hinter ihm nur allzu sehr bewusst. Jace war zu müde, um sich dafür zu schämen, dass er sich nicht im Griff hatte. Körperliche Leiden manifestierten sich in unbändigen Fieberschauern. Da machte es nur Sinn, dass die Leiden des Geistes eines Telepathen sich ... genau so zeigten. Als Auswurf. Als brutales Ausscheiden mentaler Magie.

Ein Großteil seiner Aufmerksamkeit war damit beschäftigt, eifrig jene Flut an Erinnerungen zu katalogisieren und zu bewerten, die noch immer auf ihn einströmte. Der Schacht seines Verstandes war nun unermesslich tief, mit Texturen so verschieden und endlos wie die der Welt um ihn herum. Er musste sich auf irgendetwas konzentrieren. Wenn er das nicht tat, war er sich sicher, erneut von Trauer überwältigt zu werden.

(Das Aufblitzen einer Erinnerung: Er selbst mit zwölf, in der Ecke seines Zimmers sitzend, in eine Wolldecke gehüllt und eine Träne wegwischend, nachdem das Haustier der Familie gestorben war.)

Die Erinnerungen kamen noch immer, aber nun konnte er sie beherrschen und für sich behalten. Keine weiteren psychischen Lecks. Nichts mehr, was Vraska sehen konnte (den Göttern sei Dank!). Es war ihm peinlich, wie viel sie gesehen hatte, doch er erkannte mit wachsendem Trost, wie viel davon sie tatsächlich nachempfinden konnte.

Auch sie war gefoltert worden. Sie wusste es.

Jace war dankbar für diesen Augenblick geistloser Wiederholungen beim Erklimmen der Stufen, um sich auf seine mentale Ordnung konzentrieren zu können. Ein Schritt nach dem anderen, während er zur Stadt hinaufstieg. Linker Fuß. Rechter Fuß. Linker Fuß.

Die lange Treppe aus massivem Gold wand sich an der Seite des gerade freigelegten Gesteins Spitzkehre um Spitzkehre entlang. Bei seinem Aufstieg, bei dem Vraska dicht hinter ihm war, sah er dicke Goldadern im Fels. Jeder Schritt, den er machte, fühlte sich sonderbar unbehaglich an, als würde er sich die Füße an jemand anderes Schatz abstreifen. Gold war formbar und weich, und er fragte sich, ob die Stadt irgendeine magische Möglichkeit gefunden hatte, dem Zahn der Zeit entgegenzuwirken.

Der Gedanke an Gold förderte vage Andeutungen an Erinnerungen zutage, die erst noch entdeckt werden mussten.

(Goldene Schuppen. Sandstein. Hitze. Rauer Sand auf den Lippen und in den Augen und in der Kehle. Gebrochene, dem Untergang geweihte Freunde. Er versuchte, in den Geist eines Drachen einzubrechen, zu spüren, was er plante, ihn davon abzuhalten, Leid zuzufügen, und dann, für einen kurzen Augenblick, hatte er es geschafft, hatte er den Plan und das große Ziel gesehen–)

Diese Erinnerung war schwieriger zu verarbeiten. Jace versuchte, sich an die Einzelheiten zu erinnern.

(Der Drache hatte seine Anwesenheit bemerkt und wollte sie ihm durch das Lesen seiner eigenen Gedanken vergelten. Doch etwas mischte sich ein, gerade als der Drache in seinen Verstand einzudringen gedachte, und alles wurde dunkel.)

Kein Glück. Jace runzelte verdrossen die Stirn. Er wollte sich an die Teile dazwischen erinnern. Er wollte den Namen des goldenen Drachen wissen. Er brannte darauf, das alles so zusammenzusetzen, dass es einen Sinn ergab.

Doch der Gedanke an den einen Drachen brachte ihn auf einen anderen.

(Ugin entfaltete sich in einer großen Höhle. „Viel Glück, Jace Beleren“, hatte er zum Abschied gesagt und seinen gewaltigen, silbernen Schwanz um sich geschlungen.)

Jace blinzelte. Ugin. Dieser Name war ihm ganz leicht eingefallen, aber die Erinnerung fühlte sich seltsam an. Er tastete in seinen Gedanken nach der Unterhaltung und erspürte ihre Kanten und untersuchte ihre Ränder mit der gleichen Sorgfalt wie damals, als Alhammaret vor Jahren mit seinen Erinnerungen gespielt hatte. Traue in der Gegenwart von etwas, was älter ist als du selbst, nie deinen Erinnerungen. Jace verzog das Gesicht bei dem Gedanken, dass er niemals daran gedacht hätte, dieser Sache sofort nachzugehen, wenn er sich nicht zuvor daran erinnert gehabt hätte, wie schmerzhaft diese Lektion für ihn gewesen war.

Dort. Ein kaum wahrnehmbarer Auslöser. Eine Linie, die darauf wartete, übertreten zu werden, ein Hauch von verschleiernder mentaler Magie, die der Geisterdrache ihm eingepflanzt haben musste, ohne dass er es bemerkt hatte. Der Zauber, den Ugin zurückgelassen hatte, war ein einfacher Befehl. Wenn jemand versuchen würde, meine Gedanken zu lesen und diese Begegnung mit Ugin zu finden, würde diese Erinnerung verschleiert werden und ich würde augenblicklich die Welt verlassen, auf der ich mich gerade aufhalte, um woanders hinzugehen. Hierher. Nach Ixalan.

Jace war beunruhigt. Warum sollte Ugin diese Erinnerung vor ihm verbergen? Warum sollte er ihm befehlen, ausgerechnet hierher zu kommen? Sollte ich ein Köder sein?

... Und was habe ich im Verstand des goldenen Drachen gefunden, bevor er den meinen auslöschte?

Er schob die Erinnerungen an den goldenen Drachen und den Geisterdrachen vorerst beiseite und beschloss, ausführlich darüber nachzugrübeln, sobald es die Zeit zuließ.

Er und Vraska erreichten mit brennenden Oberschenkeln und mit vor Anstrengung klopfenden Herzen nach dem schier endlosen Aufstieg die Spitze der Treppe. Vraska beugte und streckte ihre Fußgelenke und hielt sich dabei an einer goldenen Säule fest.

Sie standen am Rand eines weiten Platzes, auf dessen gegenüberliegender Seite sich ein gewaltiger Turm befand. Von allen Seiten waren sie von goldenen Durchgängen umgeben–ein glitzerndes Labyrinth.

„Wären wir einen anderen Weg gekommen, wären wir hier zweifellos verloren gewesen“, sagte sie und nahm einen Schluck Wasser aus der Flasche an ihrem Gürtel. „Danke, dass du diesen Wasserfall heruntergefallen bist.“

„Keine Ursache“, sagte Jace trocken. „Lass mich wissen, wenn ich mich einen weiteren hinabstürzen soll.“

Ein zentraler Turm zog ihren Blick auf sich. Vraska zog den Thaumaturgischen Kompass hervor. Er zeigte geradeaus. Sie steckte ihn wieder ein und sah zu Jace. „Das, was wir brauchen, ist da drin. Kannst du eine Illusion dorthin schicken, damit die Mannschaft weiß, wo wir sind?“

Jace hörte nicht zu. Eine geistige Präsenz hatte seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Er neigte den Kopf in die Richtung, aus der das psychische Rauschen zu kommen schien.

„Was ist los?“, flüsterte Vraska.

„Es ist groß.“

Jace hüllte sie beide in eine Illusion. Es ging jetzt leichter, sogar noch leichter als zu der Zeit, bevor er nach Ixalan gekommen war.

(Eine weitere Erinnerung: Stunde um Stunde Texte und Techniken büffeln, während sein jugendliches Ich bis spät in die Nacht aufblieb, um beim Schein einer Lampe zu lernen. Das Surren eines Magierrings draußen. Millards Prozedur. Situationsbedingte Manipulationen. Triciens Gesetz. Immer und immer wieder, bis die Namen, die Abläufe und die Ausführungen psychischer Manöver ihm so leicht fielen wie das Atmen.)

Vraska sah zu der Treppe, die sie gerade hinaufgestiegen waren, und keuchte überrascht.

Ein gewaltiger Dinosaurierkopf ragte über der Stadt auf.

Das Geschöpf breitete die Flügel aus und schwang sich in die Luft. Jeder Flügelschlag ließ die Blätter rascheln, und Jace staunte, dass eine solche Kreatur überhaupt fliegen konnte. Das Wesen segelte nach oben, räuberisch und wachsam, doch Jace blieb ruhig. Er und Vraska waren unter seiner Illusion sicher.

In diesem Augenblick bemerkte Jace eine Veränderung in sich selbst. Dem Jace von Zendikar und Innistrad und Ravnica hatte eine nervöse Energie innegewohnt: Er war beharrlich gelangweilt und entsetzlich introspektiv gewesen und sich ständig der klaffenden Lücke fehlender Erinnerungen am Horizont seines Verstands bewusst. Der Jace ohne Vergangenheit war präsent, aufmerksam und fühlte sich ungeachtet der Umstände wohl und bereit, sich all dem zu stellen, was ihm begegnen mochte. Er erinnerte sich daran, wie es war, beides zu sein, aber er erkannte, wie viel natürlicher Letzteres war. In der Spanne eines Augenblicks war er von sich selbst überrascht und begriff dann, dass seine jüngste Ernsthaftigkeit hier auf Ixalan nichts Künstliches war–ebenso wenig wie seine Selbstgewissheit etwas war, worauf er nur in einem Zustand der Amnesie zugreifen konnte. Das war es, was er schon immer gewesen war. Er hatte lediglich vergessen gehabt, wie es ging.

(Eine Erinnerung: Seine Mutter, die nach einem Arbeitstag nach Hause kam, in ihren Heilerkittel gekleidet, blickte aus dem Fenster auf einen Sturm, mit einer Tasse Kaffee in der Hand und einem leisen Lächeln auf dem müden Gesicht. Er hörte, wie Regentropfen auf das Dach trommelten. Die Luft roch nach nassem Zement und Heimat.)

Jace lächelte. Es gefiel ihm, dass er sich an seine Mutter erinnern konnte.

Ich hoffe, sie ist am Leben, dachte er bei sich.

„Er ist weg“, sagte Vraska und bannte den Zauber.

Jace erinnerte sich, wo er war, und hob die Illusion auf.

„Du hast diese Illusion viel schneller als früher gewirkt“, sagte sie.

Jace nickte mit verkrampftem Lächeln. „Ich kann mich jetzt an die Fähigkeiten erinnern, die mein Mentor mir beigebracht hat. Bis zu meiner Jugend habe ich mehr von ihm gelernt, als ich mir jemals selbst beigebracht habe.“

„Dein junges Ich kannte also feinere Techniken als dein erwachsenes Ich?“

„Und mein jetziges Ich hat das Wissen um beides. Das ist ... seltsam.“

Vraska schaute ihm in die Augen. „Du bist unglaublich. Das weißt du, oder?“

Jace erwiderte ihr Lächeln und spürte, wie seine Wangen warm wurden. „Ich tue mein Bestes.“

„Nun, dein Bestes ist unglaublich“, sagte Vraska und wandte sich dem Turm in der Mitte zu, um sich einem großen Tor zu nähern, das sich auf seiner Rückseite befand.

Liliana hatte Jace niemals gesagt, dass er unglaublich war.

Liliana hätte ihn nur verspottet. Sie hätte einen herablassenden Scherz gemacht, die Augen verdreht und ihn einen Angeber genannt. Sie hätte tagelang nicht mit ihm gesprochen. Sie würde den Körper eines Dämons mit den Kiefern eines Krokodils verschlingen und über das Geräusch des zerreißenden Fleisches lachen. Sie würde alle möglichen Dinge tun, aber sie würde ihn niemals unglaublich nennen.

Jace holte Vraska ein, und sie näherten sich dem Turm. Sie zog erneut den Thaumaturgischen Kompass hervor, dessen Nadel geradewegs auf die Hintertür des Bauwerks vor ihnen zeigte.

Der Himmel über ihnen wurde besorgniserregend schwarz, und Rauch wirbelte um die Spitze des Turmes. Jace und Vraska tauschten einen besorgten Blick aus.

„Sind die Vampire zuerst hier angekommen?“, frage Vraska.

Die sich dahinwälzenden, tintenfarbenen Wolken über ihnen gaben ihnen die Antwort.

Vraska versuchte, das Tor aufzuschieben, doch es war fest verschlossen. Sie trat zurück und betrachtete das Muster auf der Tür.

„Das ist ein Labyrinth“, sagte sie gleichzeitig mit Jace. Sie blickten einander befremdet an.

Vraska machte eine Geste zu Jace. „Viel Spaß damit“, sagte sie. „Labyrinthe sind deine Sache.“

Jace begann, die Lösung des Labyrinths nachzuzeichnen: Eine blaue Linie folgte der Bewegung seiner Finger. Das brodelnde Schwarz droben am Himmel trieb ihn an.

„Das bin ich“, sagte er belustigt. „Jace Beleren: Lebender Gildenbund, Telepath, Illusionist und Labyrinth-Beauftragter.“

„Geht ganz leicht von der Zunge.“

Seine Finger hatten das Ende des Labyrinths in der Mitte der Tür gefunden. Jaces Mut sank. Er sandte seine Sinne aus, um wahrzunehmen, was sich auf der anderen Seite der Tür befand, und errichtete einen mentalen Schild um Vraska und sich herum.

„Was ist los?“, fragte sie. Jace bemerkte, dass sein Mund offen stand. Er deutete auf das Symbol an der Tür.

„Das ist das Symbol, das jedes Mal über unseren Köpfen auftaucht, wenn wir versuchen, diese Welt zu verlassen“, sagte er. „Das Symbol der Azorius.“

Vraska runzelte die Stirn. „Die Azorius sind auf Ravnica.“

Jaces Magen drehte sich um. Ein rasches mentales Abtasten verriet ihm, dass sich jemand in dem Raum befand. Er blickte Vraska mit einem Anflug von Panik an. „Gab es berühmte Planeswalker unter den Azorius?“

Vraska legte die Stirn in Falten. „Ich weiß es nicht. Es gibt nicht gerade eine saubere Liste von ihnen.“

„Es müsste jemand sein, der in der Organisation sehr weit oben steht. Jemand, der das Symbol als seine eigene Identität betrachtet“, sagte er und unterstrich seine Worte mit einer Geste in Richtung der Tür.

„Der Parun der Azorius war Azor.“

Jace untersuchte den Raum erneut und erstarrte. Er wusste nicht, wer sich im Inneren befand, aber er wusste, was dort war. Der Verstand dieses Wesens war vertraut, labyrinthartig–ein Verstand, wie er ihm bislang nur ein einziges Mal begegnet war.

War Azor eine Sphinx? In leisem Schrecken fragte er Vraska in Gedanken.

Sie blickte ihn besorgt an. Sie wusste, was Sphinxen für ihn bedeuteten. Sie tippte sich mit dem Finger gegen die Schläfe, und Jace lauschte ihr mental.

Nie wieder wird dir eine Sphinx wehtun, sagte sie entschlossen. Ein grausames, bernsteinfarbenes Leuchten blitzte in ihren Augen auf.

Jace hätte sie auf der Stelle umarmen wollen. Er erinnerte sich, was sie bevorzugte, und beließ es bei einem dankbaren Lächeln.

Ich bereite eine Versteinerung vor, meinte Vraska. Sag nur ein Wort und er ist tot.

Jace nickte. Beklemmung nagte an seinen Nerven, und sein Mund füllte sich mit metallisch schmeckender Angst.

Er drückte gegen die Tür und sah zu, wie sie sich quietschend öffnete. Staub rieselte herab, als sie den Blick auf die Kammer dahinter freigab.

Der Raum war lang gestreckt und von Ranken überwuchert. Ein gewaltiger Thron befand sich am anderen Ende, und eine riesige, leuchtende Scheibe war in die Decke eingelassen. Trockenes Gras und Stofffetzen lagen verstreut zu Füßen des Throns, und als Jace und Vraska die Tür öffneten, sahen sie, wie eine massige Gestalt das bärtige Haupt hob.

„Wer geht da?“, fragte die Sphinx mit einer kratzigen Stimme, die sie lange nicht mehr gebraucht hatte–es klang mehr wie das Grollen eines Tieres als nach menschlicher Sprache.

Vraska trat selbstsicher und ruhig vor, ganz die Kapitänin, die sie war. „Zwei Fremde auf dieser Welt. Sag uns deinen Namen, tritt aus dem Weg und händige uns die Immerwährende Sonne aus, wenn dir dein Leben lieb ist.“

Die Sphinx funkelte sie beide an. Sie war riesig, und ihrer Haltung war eine raubtierhafte Spannung zu eigen, die der Weisheit in ihrem Blick widersprach.

„Ich bin Azor, der Rechtsprecher“, knurrte er und nahm den Kopf schräg, während er Vraska anstarrte. „Und du wirst zum dritten Mal in deinem Leben eine Gefangene sein, Gorgo.“

Jace zog einen psychischen Schutzwall zwischen der Sphinx und Vraska hoch. Letztere war vor Überraschung über das geistige Eindringen der Sphinx verstummt, entsetzt, dass diese Kreatur ihre Gedanken las, ohne dabei auch nur mit der Wimper zu zucken.

Er gleicht Alhammarret so sehr, dachte Jace. Seine Brust zog sich wegen der schmerzhaften Erinnerung zusammen. Er unterdrückte seine Angst. Er wurde nicht von einer Sphinx beherrscht. Jetzt nicht mehr.

„Du wirst sie als Kapitänin ansprechen“, sagte Jace mit gemessenem Tonfall.

Die Sphinx knurrte und blickte an Vraska vorbei Jace an. „Und wozu macht dich das?“

„Ich bin Jace Beleren, der Lebende Gildenbund“, sagte er selbstsicher.

Die Schwingen der Sphinx zuckten. „Die Absicherung?“

„Der Pirat.“


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