In einer anderen Zeit gab es keine Drachen. In einer anderen Zeit war Narset die Khanin eines Klans, der als die Jeskai bekannt war. In einer anderen Zeit spürte sie ein großes Potenzial in sich – eines, das sie nie entfalten sollte, denn in jener anderen Zeit fiel sie durch die Hand Zurgo Helmbrechers, des Khans der Mardu. Doch jene andere Zeit ist für immer in den endlosen Ewigkeiten verloren. Diese neue Zeit ist alles, was bleibt. In dieser Zeit ist der Himmel Tarkirs voller Drachen. Es gibt keine Khane. Es gibt keinen Klan namens Jeskai, und Zurgo ist ein Glockenschläger. Doch eines bleibt unverändert: Narset besitzt eine geheime Macht, die in ihr brennt – ein ruheloses Potenzial, das an ihrem Innersten zerrt und unbedingt entfesselt werden will.


„Du musst lernen, nachzugeben.“ Die Worte ihrer Mutter geisterten Narset im Kopf herum, als sie zauderte, in die Ewigkeiten einzutauchen.

Oh, wie sehr sie sich wünschte, sie könnte tun, was da von ihr verlangt wurde! Wie sehr sie sich wünschte, alles vergessen zu können, was war, und den Sprung ins Unbekannte zu wagen. Die Härchen auf ihrer Haut sträubten sich voll ungeduldiger Erwartung, und ihr kribbelten die Beine von jener alten Rastlosigkeit, die sie schon ihr ganzes Leben lang kannte. Nur war sie nun noch viel stärker als sonst. Es war, als würde ihr Körper ihr mitteilen, dass dies der Ort war, den zu erreichen ihr bestimmt war, der Ort, auf den sie ihr ganzes Leben lang hingesteuert hatte.

Niemals zuvor hatte sie irgendetwas so sehr gewollt, wie diesen nächsten Schritt zu gehen.

Es gab so vieles dort draußen. So viel Neues. So viel zu lernen. So viel zu sehen.

Warum ging sie ihn dann nicht? Was hinderte sie daran?

Ojutai.

Der Gedanke an ihn riss sie beinahe wieder ganz zu sich selbst zurück.

Er war der Grund, weshalb sie sich so am Alten festklammerte. Er war der Grund, weshalb sie so viele Jahre ausgeharrt und gegen ihre Rastlosigkeit angekämpft hatte.

Ojutai. Ihr Lehrmeister. Ihr Drache.

Auf diese Weise hatte sie lange nicht an ihn gedacht.

Sie wünschte, sie könnte all die Scherben einsammeln und wieder zu dem zusammensetzen, was sie vorher einmal gewesen waren. Vorher, als sie noch nicht gewusst hatte, was sie nun wusste. Vorher, als er alles gewesen war, als er alles gewusst hatte und als er sich noch an das Versprechen gehalten hatte, es ohne Ausnahme mit ihr zu teilen.


„Frisches Obst! Äpfel, süß wie Honig!“

„Möhren, frisch vom Feld! Es ist sogar noch Erde dran! Seht her!“

„Warmes Brot! Nichts geht über ein Brot geradewegs aus dem Ofen!“

Die lauten Rufe der Händler, die grellen Farben ihrer Auslagen und die viel zu süßen Düfte der Waren waren wie Mauern, die den Markt zu eng, zu voll, zu beklemmend wirken ließen. Die Muskeln in Narsets Beinen zuckten, und es fühlte sich an, als würden ihr die Lungen zerquetscht. Sie zupfte an ihrer Robe, die sie zu erdrosseln drohte. Ihre Mutter musste sie zu eng geschnürt haben.

„Steh doch still“, schalt ihre Mutter sie von oben. „Du wirst noch etwas umwerfen.“ Sie begutachtete die Äpfel auf einem Haufen, der zu hoch war, als dass Narset die oberste Spitze hätte sehen können.

Narset versuchte, still zu stehen, doch sie konnte nicht. Die Rastlosigkeit in ihrem Inneren trieb sie dazu an, in Bewegung zu bleiben. Manchmal, wenn sie sich so fühlte, versuchte sie, sich abzulenken. Sie zählte Dinge oder hielt nach Mustern Ausschau oder versuchte, die Mienen der Menschen um sie herum zu ergründen. Doch sie kannte den Markt zu gut. Sie kannte seine Zahlen, und sie kannte seine Besucher. Sie hatte bereits ein gedankliches Inventar angelegt. Der Mann am Stock humpelte heute weniger und verlagerte mehr Gewicht auf sein schlimmes Bein. Narset vermutete, dass die Salbe, die er letzte Woche beim Kräuterkundigen gekauft hatte, seine Schmerzen linderte. Wie immer hingen ein Dutzend Fleischstücke am Stand des Metzgers, jedes im Schnitt von achtzehn Fettbändern durchzogen. Die durchschnittliche Anzahl der Fettbänder änderte sich so gut wie nie, obwohl es manchmal größere Abweichungen gab. Der Händler am Kürbisstand hatte eine ungerade Anzahl an Flecken auf seinen Ärmeln, und drei lose Fäden hingen von seiner Robe. Sie war wohl an seinem Karren hängen geblieben, und er musste daran gezogen haben, um sich zu befreien. Und es waren achtundsechzig Äpfel auf dem Haufen vor Narset, zumindest seiner Größe nach zu urteilen, die sie zwar nicht ganz erfassen, aber dennoch ausreichend genug abschätzen konnte. Es würden noch siebenundsechzig sein, sofern ihre Mutter sich jemals für einen von ihnen entscheiden sollte.

Ihre Mutter zeigte sich jedoch unentschlossen: Ihre Finger glitten von Apfel zu Apfel und prüften die Auswahl, ohne sich dabei jedoch irgendwie festzulegen.

Sie wird nie einen nehmen, dachte Narset. Wir werden hier nie weggehen. Panik umfing sie, ihr Blick verschwamm, sie hatte ein Dröhnen in den Ohren und Schweiß bildete sich ihr auf der Stirn. Fieberhaft suchte sie nach etwas anderem, was sie abzulenken vermochte, doch sie konnte nichts Hilfreiches erkennen. Mit ihren acht Jahren war Narset nicht groß genug, um über irgendeinen der Marktstände oder über die anderen Marktbesucher hinwegsehen zu können. Es war, als stünde sie in einem nie enden wollenden Irrgarten aus großen, schwitzenden und stinkenden Menschenbäumen.

Sie war gefangen.

  

Bild von Daniel Ljunggren

Sie versuchte verzweifelt, die dicke, klebrige Luft in ihre Lungen zu saugen, doch es schien einfach nicht genug davon zu geben. Ihr ganzer Körper kribbelte und juckte. Es fühlte sich an, als wollte ihre Haut sie warnen, nicht länger hier zu bleiben; wenn Narset sich nicht rührte, würde ihre Haut eben ohne sie gehen und dann stünde sie nackter als nackt da. Sie musste gehen. Sie musste hier fort.

„Nimm doch diesen.“ Narset deutete auf den nächstbesten Apfel.

Ihre Mutter beugte sich vor, um ihn zu begutachten. „Nein, nein. Der ist doch ganz angeschlagen.“ Sie wedelte ablehnend mit der Hand. „Und hör auf, so herumzuzappeln, Narset.“

Narset beachtete die Maßregelung nicht. „Dann diesen.“

„Der hat eine schlechte Stelle.“ Ihre Mutter sah kaum hin. Ihre Finger tanzten über das Obst ganz an der Spitze des Berges.

Wenn ihre Mutter einen Apfel von ganz oben wollte, dann sollte sie eben so einen bekommen. Narset sprang. „Dann diesen!“ Sie deutete auf einen der obersten Äpfel – und sein langer Stiel verfing sich kurz an ihrem Ärmel.

Das, was als Nächstes geschah, spielte sich ab, als wäre der Strom der Zeit plötzlich zäh wie Molasse. Der Apfel kippte zunächst nach vorne und dann wieder zurück. Narset griff nach ihm, um ihn festzuhalten, doch sie war nach ihrem Sprung schon wieder auf dem Weg nach unten, und als ihre Finger den Apfel berührten, zogen sie ihn mit sich. Er schwankte für einen Moment und begann dann, hinabzukullern.

„Nein!“ Von irgendwo über sich hörte sie den verzweifelten Aufschrei des Apfelhändlers.

Sie griff nach seinem kostbaren Handelsgut, als es vom Haufen hüpfte und dem Boden entgegenfiel.

Sie konnte seine Flugbahn vorhersehen. Sie hatte das Fallen von Gegenständen schon vor Längerem genau studiert, und ihre Hand schloss sich gerade noch um den Apfel, ehe er am Boden aufprallen konnte.

„Ha! Ich hab ihn!“ Sie hob den Arm und präsentierte den Apfel – während um sie herum Dutzende andere zu Boden prasselten, durcheinanderrollten und über den Boden sprangen.

„O nein.“ Das hätte nicht passieren sollen, dachte Narset. Nicht wenn der Haufen so sorgfältig aufgeschichtet gewesen wäre, wie sie angenommen hatte. Falls es jedoch nur fünfundsechzig Äpfel waren, dann hätte der Haufen sehr wohl auch von allein ins Rutschen geraten können, was dieses jetzige Verhalten erklärt hätte.

„Mein Obst! All mein kostbares Obst! Es ist ruiniert!“, zeterte der Händler.

„Es tut mir leid. Es tut mir so leid.“ Ihre Mutter huschte gebückt umher und sammelte die Äpfel in Griffweite auf. „Sie sind unversehrt. Seht Ihr?“ Sie hielt einen hoch. „Alles ist gut.“

Der Händler lief um den Stand herum. „Sie haben Druckstellen.“

„Wie viele sind es?“, fragte Narset. „Denn wenn es nur fünfundsechzig waren, dann hättet Ihr ...“

„Du!“ Der Händler wirbelte zu Narset herum. „Weg von meinem Stand!“

Narset machte einen Satz zurück und stieß gegen die Ecke des Standes. Noch ein Dutzend Äpfel fiel zu Boden.

„Weg hier! Verschwinde!“, schrie der Händler.

Narset blickte zu ihrer Mutter. „Ich versuche doch nur, das alles zu erklären. Er hat sie falsch aufgeschichtet.“

„Wie kannst du es wagen, mir die Schuld daran zu geben?“, keifte der Händler. „Ich schichte schon seit Jahrzehnten Äpfel auf! Seit Jahrzehnten! Und dann kommst du daher und machst die Ernte eines ganzen Tages auf einen Streich zunichte.“

„Aber, mein Herr ...“

Die Hand ihrer Mutter an ihrem Arm brachte sie zum Schweigen. „Bitte“, sagte ihre Mutter. „Du musst lernen, nachzugeben.“

„Aber ...“

„Warte draußen.“ Ihre Mutter deutete zum Ausgang des Marktes. „Ich werde versuchen, das hier zu klären.“

Narset machte sich nicht die Mühe, ihr zu sagen, dass sie genau das doch bereits versucht hatte: die Sache zu klären. Sie wollte nicht mehr weiterstreiten, denn ihre Mutter hatte jene Worte ausgesprochen, auf die sie schon so verzweifelt gewartet hatte. Endlich war es ihr erlaubt, dem viel zu engen Markt zu entfliehen. Sie durfte nach draußen.

Bild von Florian de Gesincourt

Sie machte sich davon, unter den missbilligenden Blicken der anderen Händler und Marktbesucher, die das Debakel mit angesehen hatten. Sie duckte sich unter dem Melonenstand hindurch, sprang über drei Brotkörbe und flog durch den halb offenen Vorhang, bevor irgendjemand sie aufhalten konnte.

Sie war frei.

Frische Luft füllte ihr die Lungen, und ihr wurde leichter ums Herz.

Die Sonne auf der Haut, der leichte Geruch der Fische im nahen Fluss und die schier unermessliche Weite vor ihr waren die reinste Vollkommenheit. So sollte es sein. Narset rannte los. Das tat sie immer. Sie konnte gar nicht anders, als loszulaufen, wenn vor ihr unerforschtes Land lag. Sie war noch nie auf der anderen Seite des Marktes gewesen. Hier war ihr alles fremd. Die Aufregung darüber trieb sie den Fluss entlang. Ihre Rastlosigkeit verwandelte sich in Entzücken. Der Wind fuhr ihr durch das dichte Haar und kühlte ihr die Kopfhaut, während ihre Füße mit jedem Schritt die Steine kennenlernten. Sie betrachtete das Fließen des Flusses und prägte sich die Muster der Strömungen und Strudel ein. Sie erfasste Anzahl und Art sowohl jener Pflanzen, die gerade blühten, als auch solcher, die noch kein Blütenkleid trugen. Ihr Geist schwirrte von den ganzen Einzelheiten dieser neuen Welt, die sich da vor ihr ausbreitete, und er sog gierig jede noch so kleine Feinheit in sich auf.

Das war es, was sie tun musste: hinausgehen, finden, lernen, entdecken, rennen, suchen ...

„Suche Erleuchtung.“

Die Stimme erschreckte sie. Es klang, als hätte ihr jemand ins Ohr geflüstert. Ein Schauder lief ihr über den Rücken, und sie wurde langsamer.

„Hallo?“ Sie spähte über die Schulter. Dort war niemand. Sie sagte sich, es müsse wohl nur der Wind gewesen sein. Nichts weiter. Sie hielt wieder mit dem rauschenden Wasser Schritt.

„Strebe nach Weisheit“, klang ihr die Stimme erneut im Ohr.

Narset schnappte nach Luft und fuhr so schnell herum, dass sie beinahe in den Fluss gefallen wäre.

„Wer ist da?“ Folgte ihr jemand?

Doch da war nichts außer den niedrigen Büschen, die das Ufer säumten, die Wiese auf der anderen Seite, und dahinter ... „Warte.“ Das konnte nicht sein ...

Narset taumelte zurück und kämpfte mit ausgestreckten Armen um ihr Gleichgewicht. Doch. So war es. Sie wusste genau, was sie da vor sich sah, obwohl sie es noch nie zuvor erblickt hatte. Dort in der Ferne war die größte aller Zufluchten: Drachenauge! Und oben auf ihrer Spitze thronte der Drachenfürst Ojutai, der Große Lehrmeister. Sie erkannte ihn in dem Moment, in dem sie ihn erblickte, obgleich er nur eine Gestalt in der Ferne war. Sein schlanker, starker Körper hob sich vor der Sonne ab.

Bild von Filip Burburan

„Sammle Wissen.“

Das war seine Stimme! Narset wankte. Es war Ojutais Stimme, die sie da im Ohr hatte. Doch wie konnte das sein? Er war so weit entfernt. Und sprach er nicht die Drachensprache?

„Finde die Wahrheit.“

Nachdem sie begriffen hatte, was sie da wahrnahm, hörte sie die Stimme so, wie sie war. Sie war wesentlich vielschichtiger als alles, was ihr bis dahin jemals untergekommen war: eine Verschmelzung aus Knurren, Klicken, Glucksen, Kratzen, Schnappen, Stöhnen, Krächzen, Schnauben und vielleicht auch einem Brüllen. Doch aus irgendeinem Grund ergab das einen Sinn; ihr hungriger Geist konnte die Bedeutung entschlüsseln.

Als sie den Geräuschen lauschte, die aus der Ferne zu ihr getragen wurden, erkannte sie, dass er eine Lehrstunde für sie abhielt. Narset hatte von den Lektionen gehört, die der Drache jeden Tag von seinem Hort aus erteilte, doch sie hatte nie geglaubt, jemals einer zu lauschen.

„Haha!“ Sie warf die Arme in die Luft, während ihr Innerstes vor Freude schier zersprang. „Das ist so großartig!“

Der Drache wandte den Kopf in Narsets Richtung, und sie duckte sich unwillkürlich. Sah er sie an?

„Und so beginnt es“, sagte er.

Sprach er mit ihr?

„Ich kann dir den Weg zeigen.“

„Mir?“

„Du bist auf der Suche nach Wissen. Auf einer Reise zur Weisheit“, sagte Ojutai.

„Ja“, sagte Narset. Er verstand sie. Der Große Lehrmeister verstand, was sie ihrer Mutter so lange vergeblich zu erklären versucht hatte.

„Du bist an den rechten Ort gekommen. Ich weiß alles, was es zu wissen gibt.“ Stolz plusterte der Drache sich auf. „Und ich werde jene lehren, die willens sind zu lernen.“

Sie wusste, dass es seltsam war, das zu glauben, doch sie konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass seine Worte für sie und nur für sie bestimmt waren. „Ich bin willens.“ Narsets Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Ich möchte alles lernen.“ Sie heftete den Blick auf seine Silhouette, und obwohl er kaum mehr als ein Fleck am Horizont war, fühlte sie sich Ojutai in diesem Moment näher als je einem anderen Wesen. „Ich möchte Eure Schülerin sein“, sagte sie. „Bitte lasst mich von Euch lernen.“

Der Drache nickte.

Sie hatte es gesehen. Es war kein Trugbild. Ojutai, der größte Drache der Welt, hatte ihr seine Zustimmung gegeben. Sie würde seine Schülerin sein und er ihr Lehrer. Und sie würde alles lernen, was es zu lernen gab.


Und sie hatte gelernt. Sie hatte so vieles gelernt.

Von diesem Tag an blickte Narset den Ausflügen zum Markt erwartungsvoll statt bedenkenreich entgegen. Ihre Mutter fand es angenehm, dass Narset draußen wartete, wo sie keine Sachen umstoßen und ihre Familie mit mehr Äpfeln beglücken konnte, als diese jemals hätte essen können. Ihr war nur wichtig, dass Narset am Ende des Tages half, die vollen Taschen nach Hause zu tragen. Es war ihr gestattet, am Ufer entlang bis zur Biegung des Flusses zu laufen, die sich als ganz wunderbarer Aussichtspunkt erwies. Von hier aus konnte sie Ojutais Silhouette gänzlich unverhüllt sehen und seine Stimme laut und deutlich über das Wasser schallen hören.

In den nächsten drei Jahren studierte, lernte und übte Narset unter dem Großen Lehrmeister aus der Ferne. Sie lernte viel über die uralte Weisheit der Drachen und den schier unerschöpflichen Quell ihres Wissens. Sie lernte, dass Ojutai von allen Drachen im Land der älteste, der weiseste und der mächtigste war. Und er war ihr Lehrmeister.

Mit dem Drachen als Mentor studierte sie den Aspekt der Listigkeit seines Volkes und schärfte ihren Geist, indem sie Denkaufgaben und Rätsel löste. Auch ihren Leib ertüchtigte sie, indem sie Ojutais Silhouette beobachtete und seine Bewegungen nachahmte. In jedem freien Augenblick übte sie und steigerte rasch Stärke, Ausdauer, Gleichgewichtssinn und Geschicklichkeit. Die Taschen, die sie vom Markt nach Hause trug, erschienen ihr bald so leicht, als wären sie mit Watte gefüllt. Und wenn sie gewollt hätte, dass sie noch leichter werden, so hätte sie einen Zauber sprechen können, um es geschehen zu lassen. Ihr wissbegieriger Geist erfreute sich an der Komplexität des Zauberwirkens. Es gab so viele Punkte zu beachten, so vieles, das man im Auge zu behalten hatte, so viele Konzepte und Ebenen, mit denen man eng vertraut sein musste. Und sie stürzte sich auf diese Aufgabe. Sie lernte, über die Magie der Welt zu gebieten, wie es die Drachen von Tarkir schon seit Jahrhunderten taten.

Bild von Lake Hurwitz

Die Rastlosigkeit war bald beinahe vergessen – doch nicht alles davon. In Narsets Innerem rumorte es immer noch, wenn sie daran dachte, wie weit die Drachenaugenzuflucht entfernt war. Obwohl sie wusste, dass sie Ojutai auf viele Arten nahe war, so blieb die rein weltliche Entfernung, die sie trennte, dennoch gewaltig. Sie sehnte sich danach, eines Tages an der Seite des Großen Lehrmeisters in seinem Hort zu lernen, und jeden Tag sandte sie ihm stumme Bitten.

„Ojutai, mein Drache.“ Aus ihrer Haltung am Ufer in einem einarmigen Handstand richtete sie den Blick auf Ojutais Gestalt. „Mein größter Wunsch ist es, alles zu lernen, was Ihr mich lehrt.“ Sie nahm all ihren Mut zusammen, um die nächsten Worte auszusprechen. „Ich bin so weit gekommen, doch ich weiß, dass ich noch so viel mehr lernen würde, wenn ich wahrlich an Eurer Seite wäre. Helft mir, den Weg zu Euch zu finden, und ich werde auf ewig Eure ergebenste Schülerin sein.“

„Grüße, Schülerin.“ Die Stimme erschreckte sie. Das war nicht Ojutais Stimme. Das war überhaupt nicht die Stimme eines Drachen. Sie kam von irgendwoher in der Nähe ihrer Füße.

Hätte sie ihre Konzentration und ihren Gleichgewichtssinn nicht so hervorragend geschult, wäre sie umgekippt. Doch so gelang es ihr, ihre innere Mitte nicht zu verlieren und sich in eine stehende Position zu begeben, wobei lediglich ihr linkes Fußgelenk ein wenig unter ihr nachgab. Sie funkelte ärgerlich zu ihrem Knöchel hinunter und verfluchte ihn leise. Er war ein Schwachpunkt, der ihr bei ihren Übungen oft den Dienst versagte.

„Beindruckend.“

Narset wirbelte herum und stand keine Armeslänge von einer stattlichen Avior entfernt.

„Ich wäre an Euer Stelle nicht zu streng zu diesem Knöchel“, sagte die Avior und nickte in Richtung von Narsets linkem Fuß. „Oft stellen sich die Dinge, die wir als unsere verhasstesten Unvollkommenheiten betrachten, als unsere größten Stärken heraus.“

Narset stand der Mund offen. Die Avior trug eine Robe, die ihr bekannt vorkam: die Robe einer Drachensprecherin!

„Ich sehe, dass ich Euch gestört habe, und ich bitte um Vergebung“, sagte die Avior. „Ich unterbreche sonst nicht die Übungen der Schüler, doch diese dringende Nachricht kommt von ...“

„Ojutai.“ Narset sagte den Namen des Drachen, ohne darüber nachzudenken, doch als er ausgesprochen war, setzte Gewissheit ein. Die Robe des Drachensprechers war nicht nur irgendeine Robe. Der Schnitt des Stoffes, die Verzierungen – das war unverwechselbar. Sämtliches Blut wich ihr aus dem Kopf, als sie sich tief verbeugte. „Drachensprecherin Ishai.“

Bild von Zack Stella

„Ah, Ihr wisst also, wer ich bin.“ Narset blickte auf und sah, wie die Avior ihren Kopf neigte. „Beeindruckend – aufs Neue.“

Narset erhob sich und konnte sich gerade noch zügeln, auf die elegante Avior zuzustürmen und sie zu umarmen. „Ihr seid ... Ihr seid seine ... und Ihr seid, nun, Ihr seid hier und Ihr sprecht mir mir. Ojutais Drachensprecherin spricht mit mir!“ Sie jauchzte und hielt sich dann die Hand vor den Mund. Sie konnte nicht glauben, welches Geräusch ihr da vor Ojutais Drachensprecherin entfahren war.

Die Avior stieß ein kurzes, herzliches Lachen aus. „Ja, Schülerin, ich bin hier und spreche mit Euch. Ojutai ...“ – sie sprach den Namen mit dem korrekten drachischen Akzent aus und lupfte die Schwingen, um die richtige Betonung hineinzulegen – „... hörte von Eurem Übungsfleiß. Das haben wir alle. In der Drachenaugenzuflucht redet man kaum noch von etwas anderem.“

„Drachenaugenzuflucht.“ Narsets Kopfhaut kribbelte, ihr Gesicht fühlte sich erst heiß und dann kalt an – und danach beides gleichzeitig. Ihr wurde schwindelig und sie taumelte.

„Atmet, Kleines.“ Ishai – Ojutais Drachensprecherin! – hob eine Schwinge an, um Narset zu stützen.

Narset tat, wie ihr die Avior geheißen hatte, und nahm einen langen, tiefen Atemzug. Nach und nach hörte die Welt auf, sich zu drehen.

Ishai klopfte Narset sanft und aufmunternd auf die Schulter. „Es erfüllt mich mit großer Freude, Eure Begeisterung zu sehen. Und Ojutai wird sie umso mehr freuen. Falls Ihr denn zustimmt, mich zu begleiten.“

„Zur ... zur Drachenaugenzuflucht?“, flüsterte Narset.

„Ja“, sagte Ishai. „Um vom Großen Lehrmeister zu lernen.“

„Ist das Euer Ernst?“ Narset blickte Ishai in die Augen.

Die Avior hielt ihrem Blick stand. „Natürlich.“

Das war echt. Es geschah wirklich. Endlich war der Augenblick gekommen: Endlich würde sie zur Spitze des Berges reisen. Endlich würde sie ihrem Lehrmeister von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Endlich würde sie alles lernen, was es zu lernen gab.

Mehr als ein Nicken brachte Narset nicht zustande.


Ihr erstes Treffen war genau so verlaufen, wie sie es sich immer erhofft und erträumt hatte – ohne Abstriche. Als Ojutai sie begrüßte, erwiderte Narset den Gruß auf Drachisch, und der Große Lehrmeister lächelte. Sie sollte ihn im Lauf der nächsten Jahre noch viele weitere Male lächeln sehen. Während sie zusammen mit den anderen Schülern in der Drachenaugenzuflucht lernte, ruhte sein Blick oft auf ihr. Sein Blick verlieh ihr Kraft, sodass sie immer dann am besten war, wenn er ihr zusah. Und er lächelte, wenn sie gut war.

Oft glaubte sie, seine Worte wären nur für sie allein bestimmt. Es war, als wären sie beide in eine Unterhaltung vertieft, der alle anderen nur wie zufällig lauschten. Niemand sonst konnte darauf hoffen, die wahre Bedeutung dessen zu begreifen, was zwischen ihnen vorging, denn niemand hatte einen Geist, der ihrem und Ojutais glich – nicht einmal die Himmelsweisen. Narset wollte nicht überheblich sein. Das waren schlichtweg Tatsachen. Ihr Geist glich mehr dem eines Drachen denn dem eines Menschen. Sie lernte mehr und schneller als jeder andere Schüler in der Zuflucht, und je mehr sie lernte, desto näher fühlte sie sich ihrem Lehrmeister.

Bild von Chase Stone

Als sie nun Rückschau betrieb, erkannte sie ihre Zeit in der Zuflucht als die beste ihres Lebens. Sie war glücklicher gewesen als je zuvor. Sie war gefordert, geachtet und erfüllt. Ihre Rastlosigkeit hatte sie nicht länger heimgesucht; stattdessen hatte sie Frieden gefunden. Und auch wenn sie nicht wirklich in Bewegung war, wusste sie, dass sie einen Pfad beschritt, der sie dorthin brachte, wohin es ihr bestimmt war, um zu dem zu werden, was sie immer hatte werden sollen. Ojutai führte sie. Und kein Tag verging, an dem sie dem Drachen nicht für dieses Geschenk dankte.

Narset machte schneller Fortschritte als jeder andere Schüler und kletterte in den Rängen der Drachenaugenzuflucht rasch nach oben – von den untersten Balkonen zu den höchsten Terrassen, bis Ojutai sie eines Tages zu sich hinauf ins Allerheiligste seines Hortes rief. Er unterbrach die Lektionen dafür und bat um ihre Anwesenheit, nachdem sie einen Übungskampf gegen einen ihrer Mitschüler namens Taigam gewonnen hatte. Als sie die letzten Stufen hinaufstieg, spürte sie, wie sich Taigams Blick in ihren Rücken brannte. Er war schon viel länger in der Zuflucht als sie. Sie wusste, dass er sich danach sehnte, an ihrer Stelle zu sein, doch sie wusste auch, dass er niemals dort hingelangen würde, ehe er nicht gelernt hatte, die Absichten hinter seiner Suche selbst zu läutern – bis er begriff, nach Weisheit anstatt nach Macht zu streben.

Sie schob den Gedanken an Taigam beiseite und reinigte ihren Geist, bevor sie Ojutais Hort betrat. Dies war der bedeutsamste Schritt, den sie je getan hatte.

„Meine Schülerin Narset. Es ist Zeit. Dein Durst nach Wissen ist deine größte Stärke. Du bist stark geworden und mächtig und weise, denn du hast nie aufgehört, nach Erleuchtung zu suchen.“ Der Drache beugte sich zu ihr herunter. Sie wusste, was nun kommen würde, und einen glanzvollen Augenblick fühlte sich alles perfekt an. „Ich verleihe dir nun den Titel ‚Meisterin‘, den du zweifellos verdient hast, und all die Ehre und die Verantwortung, die er mit sich bringt.“ Ojutai neigte den Kopf und legte seine gewaltige Klaue auf ihre Schulter.

Narset neigte als Antwort den Kopf und griff mit ihrer kleinen Hand nach der Drachenklaue, wobei sie keine Anstalten machte, die heiße Träne fortzuwischen, die ihr die Wange hinabrollte. Mit fünfzehn Jahren war sie die jüngste Meisterin, die Ojutai je zu einer solchen ernannt hatte. Sie war ganz oben angekommen.

Sie wandte sich um, um von der Spitze der Drachenaugenzuflucht hinabzublicken, hinab auf die Welt dort drunten. Das war das erste Mal, so erkannte sie unvermittelt, dass sie nicht zu Ojutais Hort aufblickte.

Es fühlte sich seltsam an.

Die Schüler unter ihr jubelten – zumindest die meisten von ihnen. Die Himmelsweisen umflogen sie in einer feierlichen Formation. Und Ojutais helle Zauber tanzten und funkelten am Himmel.

Bild von Willian Murai

Das war es nun. Sie hatte es getan. Sie war am Ende angekommen ...

Plötzlich begann etwas tief in Narsets Ohren zu dröhnen.

Es gab keinen Ort mehr, an den sie noch hätte gehen können.

Es gab nichts mehr zu lernen.

Ihr Gesicht wurde fahl und der Augenblick verlor seinen Glanz. Und mit einem Mal saß sie in der Falle. Ihr Blick verschwamm, und Schweiß stand ihr auf der Stirn. Es war wieder wie bei ihren Marktbesuchen.

Ojutai blickte mit Stolz in den Augen zu ihr herunter. Sie wusste, was er von ihr erwartete: dass sie etwas sagte, ihm dankte, den besonderen Moment beging. Doch sie konnte nichts weiter tun, als dem Drang zu widerstehen, einfach davonzulaufen. Und obgleich der Gedanke sie erschreckte, konnte sie nicht anders, als dem Drachen die Schuld daran zu geben. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass dieser Augenblick anders hätte ausfallen sollen. Dass es noch mehr geben musste. Er hatte versprochen, dass er alles wusste, doch alles konnte nicht einfach so aufhören. Sie wollte aufschreien. Ihre Reise konnte nicht zu Ende sein.

Nun fragte sie sich: Hatte er gewusst, was sie tun würde? Der weise Ojutai, der Große Lehrmeister – hatte er geahnt, dass sie davonlaufen würde? Sie hatte das nicht gewollt. Sie hätte ihn nie absichtlich verlassen. Das wollte sie ihm sagen. Das hätte sie ihm nun auch gesagt, wenn sie nur hätte glauben können, dass er zuhören würde.

„Es tut mir leid“, flüsterte sie über das Wasser.

Keine Antwort.


Obwohl Narset von dem Tag an, da die Rastlosigkeit wiederkehrte, fast ein Jahr gegen sie ankämpfte, wurde sie nur umso schlimmer. Ihr Inneres war in Aufruhr wie ein wilder Sturm, der sie in Stücke riss. Sie musste in Bewegung bleiben. Sie musste weiter. Da sie nicht höher klettern konnte, entschied Narset, den Berg hinabzusteigen.

Der Abstieg ging viel schneller, als sie erwartet hatte. Als sie erst einmal zu laufen begonnen hatte, zügelte sie sich nicht mehr. Und als sie unten anlangte, lief sie immer weiter, da ihre Beine nicht aufhören wollten, sie hinfortzutragen.

Sie hielt nicht an, bis sie eine verborgene und versiegelte Tür in der Flanke des Berges entdeckte. Selbst dort verweilte sie nicht lange. Sie wirkte einen Zauber, der die Tür öffnete. Dahinter fand sie einen Durchgang und Stufen, die nach unten führten. Sie stieg sie hinab. Und als sie auf einer Plattform endeten, von der aus weitere Stufen nach unten führten, nahm sie auch diese.

Sie stieg hinab – immer weiter und weiter und weiter. Sie wand sich durch Durchlasse und kroch durch halb eingestürzte Tunnel. Sie wäre nur allzu gern tiefer und tiefer in den Bauch des Landes vorgedrungen, um die Felsen zu studieren und den Sand und den Lehm kennenzulernen, doch bald schon endete der Tunnel.

Zuerst regte sich ihre Rastlosigkeit, doch ehe sie ihre Klauen in Narset versenken konnte, sah sie, dass es doch noch Orte gab, an die sie gehen konnte. An den Wänden des Raumes stapelten sich Schriftrollen! Sie könnte sie lesen. Sie würden sie irgendwohin führen. Sie würden sie mehr lehren.

Als sie verzweifelt zur nächstbesten Schriftrolle hastete, wurde ihr halbwegs bewusst, wo sie sich wohl gerade befand. Das musste ein uraltes Archiv sein. Ein Ort, von dem sie nur aus Legenden erfahren hatte. Ein Ort, der von Ojutai für verboten erklärt worden war. Das kümmerte sie nicht. Das konnte sie nicht kümmern – alles, was sie verspürte, war der Drang, etwas zu suchen, zu entdecken, zu wissen.

Bild von Chase Stone

Mit gerade so viel Sorgfalt, wie ihr rasender Geist es zuließ, entrollte sie die längste der Schriftrollen. Sie war brüchig, aber unversehrt. Und sie war voller Worte – herrlicher Worte, die Geschichte, Wissen und Weisheit in sich trugen. Sie kniete sich auf den staubigen Steinboden, breitete die Worte vor sich aus und begann zu lesen. Sie fühlte sich, als wäre sie wieder in Bewegung.

Die alten Schriften beinhalteten Aufzeichnungen über Tarkirs Geschichte – allerdings war es eine Spielart, die sie so noch gar nicht kannte. Einiges davon stimmte zwar mit dem überein, was der Große Lehrmeister sie gelehrt hatte, doch da waren Teile, die hervorstachen und Widersprüche aufwarfen. Die Einzelheiten waren ganz verdreht: Klane, die Khanen dienten anstatt Drachenfürsten, und Zauber, die sie nicht erkannte. Und den Schriftrollen zufolge hatte es bereits vor Ojutai Drachen gegeben.

War der Große Lehrmeister nicht der älteste Drache Tarkirs? War er nicht der weiseste? War er nicht der, der alles wusste?

Der Gedanke setzte sich in Narsets Geist fest. Sie musste die Wahrheit erfahren. Sie musste wissen, ob es noch mehr zu lernen gab.

Als es keine Schriftrollen mehr in den Archiven des Drachenauges zu lesen gab, beschloss sie, anderswo nach weiteren zu suchen. Sie rannte die Stufen wieder hinauf und hinaus ins Licht – und sie prallte geradewegs gegen Taigams harte, muskelbepackte Brust.

„Ich wusste, dass du dort unten warst“, spie er aus.

„Lass mich vorbei.“ Narset hatte keine Geduld für seine Feindseligkeit. Nicht jetzt.

„Du weißt ebenso gut wie ich, dass dort unten Dinge sind, die nicht für Ojutais Anhänger bestimmt sind – ganz besonders nicht für jene, die Meister genannt werden.“ Er ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen.

„Taigam, geh mir bitte aus dem Weg. Ich muss fort.“ Die Rastlosigkeit tobte in ihrem Inneren. Der brennende Drang, die Wahrheit zu erfahren, war eine Kraft mit einem eigenem Willen, die sie vorwärtstrieb. Sie würde ihr nicht länger widerstehen können.

Bild von Jason A. Engle

„Ich habe keine andere Wahl, als dich wegen deines Frevels zu melden. Du hast Ojutai verraten. Du hast einen dunklen Pfad gewählt, und dafür wird der Große Lehrmeister dich bestrafen müssen.“

„Dann soll er das eben tun!“ Macht barst aus Narset hervor, als sie an Taigam vorbeischoss. Sie schenkte seinen Schreien keine weitere Beachtung.


Narset erinnerte sich genau, wie sie sich in diesem Augenblick gefühlt hatte. Es war das gleiche Gefühl, das sie in ihrer Kindheit unter dem Melonenstand hindurch, über die Brotkörbe und hinaus in die Freiheit getrieben hatte. Es war dasselbe Gefühl, das sie den Berg hinauf zur Drachenaugenzuflucht, durch ihre Lehrzeit und in Ojutais Hort geführt hatte. Und es war dasselbe Gefühl, das in ihrer Brust aufstieg und sie dazu drängte, nachzugeben, den Sprung zu wagen, fortzugehen.

Sie hasste dieses Gefühl. Alles, was es je in ihrem Leben getan hatte, war, ihr Leid zu bringen. Doch nie so viel Leid wie damals, als es sie dazu gezwungen hatte, die Wahrheit über Ojutai in Erfahrung zu bringen.

Nach dem Archiv der Drachenaugenzuflucht hatte Narset sich ihrer Rastlosigkeit völlig hingegeben und sie ganz über ihr eigenes Handeln bestimmen lassen. Sie gierte nach mehr. Nach immer mehr. Es gab noch mehr Wissen da draußen. Sie konnte es spüren, und sie wollte es so verzweifelt finden.

Sie fand die Archive unter dem Cori-Gebirge und der Flussradfeste, und in ihnen fand sie weitere Schriftrollen. Aus den Worten darauf setzte sie mehr und mehr von Tarkirs anderer Geschichte zusammen. Sie erfuhr von einem Geisterdrachen mit Namen Ugin, der der Quell aller Magie auf der Welt war und ebenso die Ursache für die Drachenstürme. Sie erfuhr von einer Zeit, in der die Klane Krieg untereinander führten und die Drachen Abstand zu ihnen hielten.

All das faszinierte sie.

Es hätte genug sein sollen, doch das war es nicht. Sie suchte weiter.

Und dann fand sie das Archiv unter Dirgur.

Anders als die anderen war dieses nicht gut erhalten. Es schien, als wäre es vor langer Zeit geplündert worden. Ein Teil von ihr hoffte, dass es leer sein würde, denn etwas sagte ihr, dass ihr das, was sie dort finden würde, nicht gefallen dürfte.

In der vierten Woche ihrer Suche stieß sie auf etwas, was die einzige Schriftrolle zu sein schien, die noch in diesem Archiv ruhte. Sie war tief unter der Erde hinter einer schweren Tür verborgen. Lange Zeit tat Narset nichts weiter, als ihren Fund anzustarren. Sie konnte kaum glauben, überhaupt auf etwas gestoßen zu sein. Dann endlich griff sie mit zitternden Händen und klopfendem Herzen nach der Schriftrolle.

Sie entrollte sie am Boden, erweckte ein kaltes Feuer auf ihren Fingerspitzen zum Leben, um Licht zu haben, und begann zu lesen.

Die Schriftzeichen waren hastig angefertigt und verschmiert, ganz als ob der Schreiber geahnt hätte, dass ihm nur sehr wenig Zeit blieb. Und während sie weiterlas, verstand sie auch den Grund dafür.

Die Schriftrolle war eine Aufzeichnung über ein Treffen der Khane vor langer Zeit.

Bild von Yeong-Hao Han

Sie erfuhr von der Hoffnung der Khane, die Drachen zu besiegen, um ihre Klane zu retten. Sie erfuhr von ihren Meinungsverschiedenheiten und ihren Plänen. Und sie erfuhr einen Namen: Sarkhan. Ein Mensch, ein Drache, ein Khan – einer, der den Geisterdrachen und somit auch die Drachen von Tarkir gerettet hatte. Und dann erfuhr sie noch eine letzte Sache. Eine letzte Wahrheit. Das Treffen hatte ein jähes Ende gefunden, als zwei Drachen mit ihrer Brut die versammelten Khane angegriffen hatten. Einer dieser Drachen war Ojutai gewesen.

Als sie den Namen ihres Lehrmeisters las, richtete sie den Rücken kerzengerade auf und ballte die Fäuste. Das brüchige Papier in ihren Händen zerfiel zu Staub. Und im selben Augenblick zersprang auch etwas in ihr. Sie spürte, wie es in ihrer Brust zerbrach wie ein aufgeschlagenes Ei. Was auch immer darin gewesen war, war heiß und zäh und strömte ihren Brustkorb hinab, um sich in ihrem gesamten Körper auszubreiten. Und dann wurde sie mit einer solchen Wucht zurückgerissen, wie sie sie nie zuvor gespürt hatte. Sie wurde von Tarkir fortgeholt.

Eine andere Welt breitete sich vor ihr aus. Eine neue Welt. Eine unentdeckte Welt. Sie barg ein Versprechen – ein Versprechen von Wissen, von Möglichkeiten, von Orten, die darauf warteten, besucht zu werden.

Sie war wundervoll.

Und um ein Haar wäre Narset dort hingegangen.

Doch im letzten Augenblick zog sie sich zurück.

Um Atem ringend und zitternd brach sie über der allerletzten Schriftrolle Tarkirs zusammen.


Noch immer konnte sie nicht erklären, warum sie nicht einfach gegangen war.

Seit jenem Moment hatte sie die Kraft beinahe jede Stunde eines jeden Tages an ihrem Innersten zerren spüren. Es wäre so leicht gewesen, sich ihr hinzugeben. So richtig. Doch sie hatte sich zurückgehalten. Stattdessen hatte sie jede Erdspalte und jeden Berggipfel Tarkirs durchkämmt, überzeugt davon, dass es noch mehr zu lernen und noch mehr zu finden geben musste.

Nun hatte der Kreis sich geschlossen. Sie hatte das ganze Land gesehen und war in all seine Geheimnisse eingeweiht worden. Sie saß wieder an der Biegung des Flusses.

„Wir müssen stets die Zeit finden, über das nachzusinnen, was wir gelernt haben.“ Die raue Stimme ließ Narset den Kopf heben.

Ojutai.

Ihr Drache, ihr Lehrmeister, hob sich dort vor den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne ab. Er hatte seinen üblichen Platz eingenommen, um die morgendliche Lehrstunde abzuhalten.

Bild von Steve Prescott

„Nun, was hast du gelernt?“ Er wandte den Kopf in ihre Richtung.

Er blickte sie an.

„Was hast du gefunden?“

Er sprach zu ihr.

Narsets Innerstes bebte. So lange hatte sie geglaubt, dass er sie verstoßen hatte, wie es von Taigam prophezeit worden war. Sie war eine Ketzerin. Sie war ungehorsam gewesen.

„Was kennst du?“

Vielleicht hatte Taigam sich geirrt. Vielleicht war Ojutai noch immer ihr Lehrmeister. Seine Frage hallte in Narsets Ohren nach. Was kannte sie? Sie kannte Tarkir. Sie kannte es mit all seinen Facetten: seine Schönheit, seine Wunder und seine Unvollkommenheit. Und oft waren es jene Unvollkommenheiten, die unsere größten Stärken darstellten. Sie lächelte zu ihrem Drachen hinauf. Er war ein Teil Tarkirs, und dank seiner Gegenwart waren das Land, die Menschen und die Geschichte besser geworden. Die Welt war stärker, vollkommener. Das sah sie nun.

„Ich habe die Wahrheit erfahren“, wisperte sie.

Ojutai nickte. Und obwohl sie es nicht sehen konnte, wusste Narset, dass er dabei lächelte. Eine Wärme durchströmte sie. Frieden. „Sobald wir nachgesonnen haben, müssen wir voranschreiten“, sagte Ojutai. „Man muss immer nur nach ...“

„Erleuchtung suchen“, fügte Narset ihre Stimme der seinen hinzu.

„Denn es gibt immer mehr zu lernen.“ Damit breitete Ojutai seine Flügel aus und schwang sich in die Lüfte auf.

„Ich danke dir“, sagte Narset. Ihre Worte wurden von den Winden Tarkirs davongetragen, als sie endlich ihrem Innersten nachgab.

Narset die Erleuchtete | Bild von Magali Villeneuve