Heimweh
Was bisher geschah: Das prophezeite Ende
Fünf Planeswalker haben sich zusammengeschlossen und die Wächter gegründet. Die Pyromagierin Chandra Nalaar aus Kaladesh. Der Hieromagier Gideon Jura aus Theros. Die elfische Animistin Nissa Revane aus Zendikar. Der Telepath Jace Beleren von einem Ort, an den er sich nicht mehr erinnert. Die Nekromagierin Liliana Vess aus Dominaria. Mithilfe Tamiyos, einer Soratami-Gelehrten aus Kamigawa, besiegten sie die Titanin Emrakul, indem sie die unheimliche Wesenheit in den silbernen Mond Innistrads sperrten.
Drei Monate sind seitdem vergangen.
Sie klopfte erneut, diesmal lauter.
Hinter der Tür erklang ein Poltern und ein gemurmelter, farbiger Fluch. Nach langen Augenblicken, in denen Stoff mal hierhin, mal dorthin raschelte – begleitet von gedämpften Verwünschungen dieser Decken und sämtlicher Bettwäsche überhaupt und den Berufsstand der Weber im Allgemeinen –, ertönte endlich das Geräusch unsicherer Schritte auf Holzdielen, die sich auf die Tür zubewegten.
„Ja. Was. Was?“, fragte die schlaftrunkene Stimme einer Frau.
„Es ist schon fast Mittag. Du musst aufstehen.“
„Es kann noch nicht Mittag sein. Draußen ist es noch dunkel.“
„Könntest du bitte die Tür aufmachen?“
„Nein." Ein Moment des Schweigens, ein Seufzen und dann ein langes Hantieren am Türschloss. Eine letzte Pause. „Augenblick. Ich hatte gar nicht abgesperrt. Mach du doch auf.“
Sie drückte sanft gegen die Tür, die sich quietschend öffnete. Der entstehende Luftzug fing sich in der dunklen Seide ihres Kleides. Die Frau, die erschöpft am Türrahmen lehnte, war ein heilloses Durcheinander aus vom Schlaf zerzaustem, kupferrotem Haar in einem sackähnlichen Nachthemd, dessen Kragen aufgeknöpft war und an einer Schulter herunterglitt. Das Licht aus dem Flur fiel auf eine sonnenverbrannte, sommersprossige Wange. Die Frau, die ihrer Besucherin gerade einmal bis zum Kinn reichte, stöhnte und kniff ein bernsteinfarbenes Auge zu. „Guten Morgen, Liliana“, murmelte sie in den Türrahmen.
„Ach herrje“, sagte Liliana. „Du siehst ja furchtbar aus, Chandra.“
Chandra wischte sich mit der Hand, mit der sie sich gerade nicht abstützte, den Schlaf aus den Augen. „Ach ja? Nun, du siehst ...“ Sie ließ die Hand sinken und blinzelte ihr Gegenüber träge an. Ihr Augenlid zuckte. „... eigentlich ganz toll aus.“ Am Ende des Satzes stand ein deutliches, unausgesprochenes „Verdammt!“.
„Oh, vielen Dank.“
Das einzige Licht hinter Chandras Schultern war ein winziger Sonnenstrahl, der sich durch zugezogene Vorhänge stahl. Das Schlafzimmer schien von wütenden Goblins heimgesucht worden zu sein. Oder vielleicht hatte sich auch ein Bär dort dauerhaft niedergelassen. Die Decken auf dem Himmelbett waren heruntergezogen und über die glanzlackierten Holzdielen verstreut, um nur eine schwankende Festung aus dicken Kissen in der Mitte der Matratze zurückzulassen.
Der Schreibtisch war von ausgetrockneten Farbfässchen in verschiedensten grellen Tönen sowie einem riesigen, angebissenen Keks bedeckt. In zwei verschiedenen Ecken stapelte sich Kleidung. In der Dunkelheit vermochte Liliana nicht zu sagen, welche davon sauber waren. Ihrer Einschätzung nach wahrscheinlich gar keine. In einer dritten Ecke lagen die verkohlten Überreste mindestens zweier Staffeleien.
„Ich nehme an, der Abend hat sich gelohnt?“, erkundigte sich Liliana. Eine Brise fuhr durch den Flur und trug den Duft von sonnengebrannten Ziegeln und gebratenem Essen, das Flüstern der Menge und das Klimpern von Musik auf dem Platz unter ihnen mit sich. Eine verirrte Haarsträhne regte sich im Sommerwind und fiel Chandra über ein Auge. Liliana griff danach und steckte sie dem Mädchen seufzend hinters Ohr. Das Haar war trocken wie Stroh und die Enden voller Spliss. Das war angesichts dessen, dass es in Flammen aufzugehen pflegte, womöglich auch gar nicht anders zu erwarten.
„Lass das“, sagte Chandra und schob Lilianas Hand weg. „Ich habe letzte Nacht gar nichts gemacht. Ich habe mir bloß ...“ Sie zögerte und lugte mit bernsteingelben Augen in die Düsternis ihres Schlafzimmers. „Äh, ein paar Barden angesehen. Ja. Eine Taverne in ... In der Zinnstraße. Sie hatten so ... Fideln.“
Im Laufe der Jahrhunderte hatte Liliana viele grässlich schlechte Lügner kennengelernt, doch beeindruckend wenige davon hätten Chandra das Wasser reichen können. Liliana verschränkte die Arme vor der Brust und gestattete einem ihrer Mundwinkel, sich nach oben zu verziehen. „Du hast dir die Luftrennen der Izzet angesehen.“
„Nein! ... Ja.“ Chandra gähnte. „Willst du mich jetzt dafür zusammenschreien oder was?“
Liliana lachte fröhlich. „Warum um alles in der Welt sollte ich das tun? Du kannst doch machen, was du willst.“ Sie deutete flüchtig über die eigene Schulter. Der kurze Wink umfasste den sonnigen Flur, die stillen, von Bücherstapeln dominierten Räume von Jaces Refugium sowie die groteske Schar freiwilliger Weltverbesserer, der sie nun ständig mit einem Abstand von zwei Schritten folgte und über die sie nur den Kopf schütteln konnte. „Niemand hier hat das Recht, dir zu sagen, was du tun sollst. Das ist sicherlich nicht, wozu ich mich hier verpflichtet habe.“
„Du hast dich zu gar nichts verpflichtet.“
„Das tue ich nie, Süße. Ich lebe am liebsten ungebunden.“ Liliana klopfte sich mit einem Finger gegen die Lippen. „Luftrennen sind für die meisten Leute gefährlich. Doch nach Emrakul scheint der Schrecken von Goblins, die sich Raketen auf den Rücken geschnallt haben, für dich wohl vergleichsweise harmlos.“
„Einer von ihnen hatte Raketen in seinen Stiefeln. Aber er ist explodiert. Puff!“ Chandra hob die Hände und deutete eine Wolke auseinanderstiebender Innereien an. „Die Brocken von ihm waren überall. Brutal eklig.“
„Entzückend. Hattest du Spaß?“
Die jüngere Frau grinste und die Sommersprossen auf ihrem Gesicht gerieten in die allerbezauberndste Unordnung. „Ja! Ich liebe Luftrennen. Ich habe keines mehr gesehen, seit ...“ Ihr Mund stand einen Augenblick offen und sie blinzelte zweimal rasch hintereinander. „Seit einer ganzen Weile. Sie sind bei den Mönchen nicht sonderlich beliebt“, sagte sie mit einem wenig überzeugenden Lachen.
Liliana betrachtete, wie die Mittagssonne auf Chandras Haar fiel, und sie erinnerte sich daran, wie trocken und brüchig es sich zwischen ihren Fingern angefühlt hatte. „Der Fleischklops will, dass wir alle in einer Stunde unten sind. Wir haben einen Gast.“
„Wer?“
„Ich habe nicht weiter nachgefragt.“
„Was? Nein, ich meine ... der Fleischklops?“
Liliana ließ erneut einen Mundwinkel nach oben wandern, legte eine Hand auf die Hüfte und wartete.
„Oh!“ Chandra lachte prustend. „Gids.“
Liliana wackelte mit einem bleichen Finger in der Luft und verdrehte dramatisch die Augen. „Das hast du doch sicherlich auch gedacht? Man hat den Eindruck, ihn jeden Tag bitten zu müssen, sich was überzuziehen.“
Chandra rieb sich das linke Auge und gähnte erneut. „Mir macht der Anblick nichts aus. Ich will mir auf dem Weg noch etwas zum Frühstücken holen. Oder zum Mittagessen. Auch egal. Kommst du mit?“
Sie schickte sich an, an Liliana vorbeizurauschen, doch diese hielt sie mit einer Hand an ihrer entblößten Schulter auf. Die Haut fühlte sich unnatürlich warm an, als hätte Chandra lange in der Sonne gelegen. Zu den wenigen Gelegenheiten, bei denen Chandra tatsächlich einmal still saß, zog ihr Schoß unweigerlich eine kleine Schar dösender Katzen an, wie Liliana aufgefallen war.
„Süße, bevor wir nach unten gehen“, sagte sie, „solltest du dir vielleicht lieber Hosen anziehen.“
„Wer bist du denn? Meine M– Tante?“, knurrte Chandra. Sie drehte sich um und schlurfte auf einen der Kleiderhaufen zu, wobei sie ob der kalten Hartholzdielen die Zehen krümmte. Das beantwortete die Frage, welcher der beiden Haufen der saubere war. Hoffentlich.
Liliana zwitscherte ein Lachen in die Luft. „Ich fände es schöner, wenn du mich als deine Schwester ansähest. Findest du nicht?“
Chandra zog ein paar eng anliegende Hosen aus dem Haufen, roch daran und warf sie danach mit einer angewiderten Grimasse in hohem Bogen hinter sich. „Ich habe keine Geschwister. Und bist du nicht irgendwie zweihundert Jahre alt oder so?“
„Ach, aber im Herzen bin ich keine Dreißig.“
„Trägst du heute keine Rüstung?“, fragte Liliana, während sie in Richtung Treppe gingen.
„Im Haus? Nö. Meinst du, ich sollte für dieses Treffen eine anlegen?“ Chandra blickte zur Schnürung ihres Hemdes hinunter. Sie hatte sich an einem Knoten versucht, sich dabei aber nur den Daumen eingeklemmt. „Ich habe sie unten gelassen. In dem Raum, in dem Jace seine ganzen Mäntel aufbewahrt.“ Sie verzog grübelnd den Mund. „Er hat schon ungeheuer viele davon. Warte mal eben.“
Sie hielt vor einer offenen Schlafzimmertür an, um ihren Daumen zu befreien. Theoretisch handelte es sich um Nissas Zimmer. Die Vorhänge waren jedoch weit aufgezogen und ließen die Sonne auf unberührtes Bettzeug und einen staubigen Schreibtisch fallen. Chandra spähte hinein. „Wir sind schon fast seit drei Monaten hier, aber seit Innistrad habe ich Nissa kaum gesehen.“
„Du wirst sie dort drin auch nicht finden. Lass mich mal sehen.“ Liliana wandte sich ihr zu und stupste Chandras Hand unsanft von der Schnürung ihres Hemdes weg. Inzwischen hatten sich der Daumen und ein weiterer Finger der anderen Hand hoffnungslos verheddert. „Gleich am ersten Morgen, nachdem ihr alle hier eingezogen wart, stolperte sie aus diesem Zimmer heraus und sah dabei wie der lebende Tod aus.“
Chandra grinste und öffnete den Mund.
„Ja, ja“, seufzte Liliana. „Ich muss wohl am besten wissen, wie das aussieht.“
„Ohhhh ...“
„Vertrau mir, Süße. Ich kenne schon alle Witze über Nekromagier.“ Liliana biss sich auf die Unterlippe, während sie mit einem Fingernagel einen Knoten zu entwirren versuchte. „Nissa hat so etwas gemurmelt wie: ‚Kann nicht schlafen. Zu viele Winkel und Ecken.‘ Seither hält sie sich im Dachgarten auf.“
„Seltsam.“ Chandra beobachtete, wie kleine Staubkörnchen in der Luft tanzten. „Was ist mit dir?“
„Was soll denn mit mir sein?“ Liliana zog an einem weiteren Knoten.
Mit der freien Hand schob sich Chandra die Schutzbrille höher die Stirn hinauf. „Jace hat dir auch ein Zimmer angeboten. Stimmt doch, oder? Wie uns anderen auch. Aber du hast dir eine eigene Bleibe gesucht, obwohl hier alles so teuer ist.“
Ein letztes, festes Zupfen und Chandras Hand war befreit. „Ich bin nicht gern auf die Großherzigkeit anderer angewiesen“, sagte Liliana und zwang dabei viel Fröhlichkeit in ihre Stimme. Das war zwar die Wahrheit, aber nicht ganz die vollständige. „Lass mich das jetzt mal richtig schnüren.“ Unter einem Dach zu schlafen, für das Jace bezahlte? Das war kein „Nein!“. Das war ein klares „Auf überhaupt gar keinen Fall!“.
„So. Fertig.“ Sie strich Chandras Hemd glatt. „Fass es nicht wieder an. Das nächste Mal verhedderst du dir wahrscheinlich noch einen Zeh.“
„Danke." Chandra grinste, legte einen warmen Arm um Lilianas Schultern und drückte sie. „Ich bin so hungrig, ich könnte einen ganzen Eldrazi verschlingen. Vielleicht sogar einen von den schleimigen.“ Sie wirbelte in Richtung der Treppe davon. „Auf Ravnica wird gar nicht gefrühstückt. Es ist, als würden sie alles rückwärts machen. Ein üppiges Abendessen, ein großes Mittagessen, kein Frühstück. Knuspriges Brot mit Butter? Zum Frühstück?“ Chandra machte ein Gesicht, als hätte sie in etwas Saures gebissen. „Also bitte.“
„Kommst du hier deshalb morgens nicht aus dem Bett?“, fragte Liliana milde.
Chandra knuffte sie in den Arm. „Blöde Kuh.“ Liliana war so überrascht, dass sie ins Stolpern geriet. Chandra ging unbekümmert weiter, während Liliana sich die Stelle rieb, wo sich demnächst womöglich ein blauer Fleck bilden würde. Chandras Schritte wurden schneller, als sie sich für ihr Gesprächsthema erwärmte und zu einer Zuhörerschaft sprach, die nur sie sehen konnte. „Aufgepasst. Ein richtiges Frühstück beginnt mit Methi Thepla. Mit Ingwer, Chilis und etwas Joghurt. Wenn man von diesem Geruch aufwacht ...“ Sie hielt inne, schluckte und schüttelte den Kopf. „Mit eingelegter Mango! Mango ist das Beste. Jeder, der etwas anderes sagt, verdient aufrichtiges Mitleid ob seines tragischen und offenkundigen Irrtums.“
Liliana schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Ahnung, was Mango ist.“
„Ein Obst“, sagte Chandra. „Nichts im gesamten Multiversum schmeckt so. Zumindest nicht dort, wo ich gewesen bin. Wenn sie perfekt reif ist und man in sie hineinbeißt ...“ Sie hielt sich beide Hände wie kleine Auffangschüsseln unter den Mund. „Dann läuft der Saft dir das Kinn herunter. Süß und gleichzeitig würzig – und scharf in der Nase. Ein bisschen so wie der Geruch von Wacholder. Das ist wie ein Sonnenaufgang in deinem Mund, der so groß und hell ist, dass er dir zwischen den Lippen hervorquillt.“
„Das klingt nach einer ziemlichen ... Sauerei“, gab Liliana zu bedenken.
„Ja, schon. Manchmal. Aber das ist es mehr als wert.“ Chandra grinste. „Für den zweiten Gang ... Weißt du, was Kichererbsen –Oh“ Sie waren um die Ecke in eine Halle getreten, die sich zur einen Seite hin zu einem Hof öffnete, über dem der Himmel zu sehen war und in dem es vor Grün nur so strotzte. Chandras bremste ihren Schwung, als sie auf die Balustrade zuhielt.
„Wir haben Zeit für eine weitere Runde, ehe das Treffen beginnt. Wann immer du bereit bist.“ Die dröhnende Stimme Gideons. „Auf geht‘s!“ Ein widerhallendes Klatschen mit fleischigen Händen.
Sie stellte sich neben Chandra. Unter ihnen nahm der Muskelprotz eine Haltung an, die wohl so etwas wie eine Ringerstellung aus Theros war, und wappnete sich in Erwartung eines Hiebes. Ihm gegenüber stand die gertenschlanke Elfe aus Zendikar, die mit ihrer rechten Hand nach ihrer linken Schulter griff, was den Eindruck erweckte, als wollte sie sich selbst zusammenfalten und so verschwinden.
„Bist du dir sicher?“, fragte sie das Gras. Ihre Stimme schwankte und war kratzig vom langen Schweigen.
Das Mauerwerk warf Gideons Lachen zurück. Liliana hätte schwören können, in der Ferne Glas klirren zu hören. „Wenn ich weiß, was auf mich zukommt, bin ich unverwundbar. Es geht hier doch einzig und allein darum, dass wir sehen wollen, wie weit du gehen kannst. Vertraue auf dich, Nissa. Und falls du das nicht kannst ... dann vertraue auf mich. Ich halte das schon aus.“
„Aber ...“
„Unverwundbar“, wiederholte er fröhlich und entblößte perfekte Zähne.
„Na schön.“ Nissa schloss die kiefernschattengrünen Augen. „Hier ist nicht viel, mit dem ich arbeiten könnte.“
„Wir könnten das im Garten machen.“
„Ich meinte ... Vergiss es.“ Sie atmete ein und hob eine Hand.
Die Büsche begannen schlagartig zu blühen. Blütenblätter in Lavendel und Weiß wirbelten in einem plötzlichen Windstoß umher und erfüllten die Luft mit schwerer Süße. Efeu schoss die Wände hinauf. Smaragdgrüne Blätter sprossen hervor, falteten sich auf und bedeckten jede Oberfläche. Das Gras streckte sich und bog sich und flüsterte im Wind, während es sich liebkosend um Nissas Beine schlang.
Chandra machte unwillkürlich einen Schritt zurück und sog scharf die Luft ein, als das Grün die Balustrade umrankte.
Zweige wuchsen und verflochten sich zu einer einzigen, vierbeinigen Gestalt. Irgendeine Bestie aus Zendikar? Liliana hatte diese Welt vor einigen Jahrzehnten besucht, sie allerdings zu öde gefunden, um länger dort zu verweilen. Das Gebüsch riss sich selbst aus dem Boden und scharrte Erde von seinen Wurzelfüßen wie eine reinliche Katze.
Die Buschbestie – die inzwischen schon eher einem Baum ähnelte – bäumte sich auf und knarrte und ächzte wie der Welt größter Schaukelstuhl. Blütenblätter regneten beständig von ihr herab, und Pollenstaub tanzte in der Mittagssonne. Ihre Vorderläufe verschmolzen zu einer einzelnen Faust, die wie eine grünbraune Lawine auf Gideon niederfuhr.
Seine Haut glänzte vor flüssigem Gold.
Dann wurde er bis zur Brust in die Erde getrieben.
Nissa schnappte nach Luft. Ein Wink von ihr genügte, und die Baumbestie sprang von Gideon weg. Sie landete mit einem dumpfen Aufprall, der Liliana dazu brachte, die efeuumrankte Balustrade zu umklammern. Irgendwo im Haus hörte sie Porzellan zerspringen. An verschiedenen Orten sogar.
Gideon lachte schallend. „Das war unglaublich!“ Er stemmte die Hände zu beiden Seiten des Kraters gegen den Boden und wuchtete sich ächzend daraus hervor. Er rollte sich auf die Füße und klopfte sich schwarze Erde von den Hosen, wobei er über beide Ohren grinste. „Mir kannst du zwar nichts anhaben, aber ich habe glatt den Boden vergessen.“
Die Baumbestie winselte wie ein gescholtenes Hündchen Nissa an. „Sch“, flüsterte die Elfe und beugte sich vor, sodass ihre Stirn die der hölzernen Bestie berührte. „Meine Schuld, meine Schuld.“
„Gut gemacht.“ Gideon legte eine gewaltige Pranke auf Nissas schmale Schultern. Sie zuckte zusammen und holte erschrocken Luft. Die Baumbestie drehte sich zu ihm um und schüttelte sich, wodurch ihre Blätter ein katzenhaftes Fauchen von sich gaben.
Er hob die Hände und wich vor ihr zurück. „Ganz ruhig, Großer. Ich greife deine Mama nicht an.“
Nissa legte der Bestie beruhigend eine Hand auf den Rücken. „Danke. Ruhe dich jetzt aus.“ Die Bestie grub die hölzernen Finger und Zehen in die Erde, ächzte auf und wurde wieder eins mit ihrer Umgebung. Nissa richtete sich auf, während die letzten bleichen Blütenblätter der Bestie um sie herumtanzten.
Gideon rieb sich das stachelige Kinn. „Ich hoffe, Jace hat nichts gegen unsere Gartenarbeit einzuwenden.“
Liliana warf Chandra einen Blick zu. Diese stand auf Zehenspitzen weit über die Balustrade gebeugt, ein verzücktes sanftes Lächeln auf den Lippen. „Pass auf, dass du nicht runterfällst.“
Liliana lächelte und folgte ihr.
Hinter ihr hallte Gideons Stimme von den Mauern des Hofs wider. „Nissa, bevor du gehst. Diese Sache, die ich immer mache, bei der ich Leuten auf die Schultern klopfe. Löst das Unbehagen bei dir aus?“
Liliana hielt an der Tür inne und lauschte. Wenn die Elfe antwortete, so waren ihre Worte nicht zu hören.
„Es tut mir leid. Das wusste ich nicht. Ich mache das nicht noch mal.“ Liliana konnte sich seinen Gesichtsausdruck nicht vorstellen, doch sein Tonfall triefte nur so vor so viel hündischer Aufrichtigkeit, dass ihre Mundwinkel gereizt zu zucken begannen.
„Danke.“ Kaum mehr als ein Wispern des Windes in den Blättern.
„Gib mir bitte Bescheid, wenn du dich wegen irgendetwas unbehaglich fühlst, ja? Besonders dann, wenn es an mir liegt.“
Liliana presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und folgte Chandra. Ihre Stiefelabsätze klackerten auf den Dielen, und ihr seidener Saum wehte seufzend hinter ihr her. Wenn sie noch mehr davon hörte, bestand die Gefahr, dass sie speien musste. Natürlich bekam die Elfe Entschuldigungen und Versprechungen zu hören. Vor zweihundert Jahren hatte sie lernen müssen, wie man Finger bricht.
Es gab ein Dutzend Wege in Jaces Bibliothek – die zahllosen Geheimgänge, die ihre Schatten aufgespürt hatten, gar nicht mitgezählt. Drei Stockwerke voll überbordender Bücherregale, alle in alphabetischer Reihenfolge nach Verfasser und nach Themengebiet sortiert. Nach ein paar Wochen hatte sie damit begonnen, wahllos Bücher in andere Regale zu stellen. Das würde ihn in den Wahnsinn treiben, sobald er es bemerkte.
Der Marmortisch in der Mitte war üblicherweise von Jaces akkurat angeordneten Notizen bedeckt. Diese hatte er jedoch in sein privates Arbeitszimmer verlegt, denn da der Tisch der einzige war, an dem sie alle Platz fanden, war die Bibliothek zu einer Art Gemeinschaftsraum geworden. Er war deutlich sichtbar zusammengezuckt, als sie dort auch zu essen begonnen hatten.
Heute standen auf dem Tisch nur eine Karaffe mit Wasser und sechs Gläser. Jace war natürlich schon da. Stirnrunzelnd ging er auf und ab, während er durch ein Bündel Notizen blätterte und dabei versuchte, Lavinia fernzubleiben, die sich an der äußeren Tür postiert hatte und pragmatisch in die Ferne starrte. Man konnte beinahe sehen, wie sie im Kopf abwechselnd Listen und Formationsmärsche durchging, während sie darauf wartete, dass etwas Wichtiges passierte.
Liliana hatte ihresgleichen schon tausende Male gesehen. Pflichtbewusst, wachsam und vollkommen fantasielos. Wenn sie denn eine Lieblingsschänke hatte – was unwahrscheinlich erschien –, dann würde sie dort aller Wahrscheinlichkeit nach stets nur einen Krug Wasser in Zimmertemperatur bestellen.
Lavinia stand ohne jeden Zweifel bloß dort an der Tür, um Jace davon abzuhalten, sich in irgendein Abenteuer zu stürzen. Doch wenn er wirklich fortwollte, brauchte er natürlich nur ein paar Augenblicke ganz allein für sich. Das wusste Lavinia mittlerweile. Da nun inzwischen vier Planeswalker hier lebten (und eine weitere Vertreterin ihrer Art dankend auf die Unterbringung verzichtet hatte), war eine Erklärung notwendig geworden. Jace hatte sich auf irgendeinen Absatz eines Paragrafen irgendeines Gesetzes des Gildenbunds berufen, das von wem auch immer erlassen worden war, um sie zur Verschwiegenheit zu verpflichten.
Liliana lächelte in sich hinein, als sie sich einen Stuhl zurechtrückte und sich die Wache dabei vorstellte, wie sie an die Tür zum Abort klopfte: „Bist du noch da drin, Gildenbund? Antworte mir auf der Stelle!“
Jace blickte beim Scharren ihres Stuhls auf. „Du bist zu früh?“ Er klang bestürzt. Sie war angemessen empört.
„Nein. Alle anderen sind zu spät.“ Sie musterte ihn kritisch von Kopf bis Fuß. Schlank, gesund, wachsam und mit gekämmtem Haar. Sie durchschaute ihn sofort. „Du kannst den Zauber fallen lassen, mein Lieber. Niemand schert sich darum.“
Er seufzte und schimmerte, als sich die Illusion auflöste. Da war der echte Jace: bleicher, das Haar zerzaust, dank der langen Nächte mit tiefen Ringen unter den Augen und das Kinn von jenem entzückenden Flaum überzogen, der eines Tages vielleicht fast als Bart durchgehen würde.
„Eitelkeit?“, fragte sie. „Das sieht dir gar nicht ähnlich.“
Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, was allerdings nicht dabei half, es auch nur ansatzweise zu bändigen. „Ich sollte mich für solche Besprechungen von meiner besten Seite zeigen. Führungsqualitäten ausstrahlen. Und Zuversicht. Zeigen, dass ich weiß, was ich hier tue. Und warum muss ich ausgerechnet dir das erklären?“ Er wirkte, als ärgerte er sich über sich selbst.
Sie hob eine elfenbeinfarbene Schulter in einem nichtssagenden Achselzucken. „Wer sonst kennt dich gut genug, um dich zu verstehen?“ Liliana lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und legte die Füße auf den Tisch, einen Knöchel über den anderen. Der Saum ihres Kleides entblößte mit dem Rascheln von Seide ihre Stiefel.
„Das ist unhöflich“, sagte Jace mit in Falten gelegter Stirn.
„Hm.“
Seine Augenbrauen wurden zu einer einzigen buschigen Linie aus schierer Gereiztheit. „Und es lenkt ab.“
Liliana bedachte ihn mit einem müden Lächeln. „Ich werde es mir merken.“ Sie wandte ihre Aufmerksamkeit den Buchrücken in der Nähe zu und stellte sich vor, wie er aus der Haut fuhr.
Gideon polterte die Treppe hinunter. Er nahm immer zwei Stufen auf einmal, während er sich ein Hemd über die verschiedenen Ausbuchtungen, Wülste und pulsierenden Teile seines Leibes streifte. „Oh, gut. Du hast an heute gedacht“, sagte sie.
Er blinzelte sie an. „Was?“
„Ach, nichts.“ Sie sandte einen gleichgültigen Salut in seine ungefähre Richtung. „Weitermachen, Herr General.“
Jace ließ seine Notizen sinken, als Gideon sich den Stuhl ihm gegenüber heranzog. „Wir sind beinahe vollzählig. Also fange ich an. Wir können Chandra auf den neuesten Stand bringen, sobald sie eintrifft.“
Liliana ließ den Blick durch den Raum streifen. Was ist denn mit – oh. Nissa saß einige Schritte entfernt im Schneidersitz auf einem Stuhl im Schatten der Bücherregale. Sie fragte sich, wie lange die Elfe wohl schon hier war.
„Es ist so“, fuhr Jace fort, „dass ich derzeit noch die Pflichten des Gildenbundes erfüllen muss – und das auch noch für eine ganze Weile. Bei meiner Rückkehr von Innistrad quoll mein Schreibtisch über. Eigentlich war das gesamte Arbeitszimmer ein einziges Labyrinth aus Papierstapeln und Büchern. Ich habe allein fünf Minuten gebraucht, um meinen Schreibtisch überhaupt zu finden.“
Ein leises Lächeln zupfte an Lavinias Mundwinkeln. Liliana korrigierte ihre Einschätzung zur Kreativität der Frau ein wenig nach oben.
Jace legte die Fingerspitzen auf den Tisch, als würde er sich grazil darauf abstützen. „Ich habe allerdings kundtun lassen –“
Rüstungsteile sprangen scheppernd quer über den Tisch. Jace funkelte Chandra an. Die Pyromagierin klaubte ihre frisch verstreute Ausrüstung eilig wieder zusammen. „Tschuldschung“, brachte sie murmelnd um das Gebäckteilchen herum zustande, das sie gerade zwischen den Zähnen durch die Gegend trug. Zimtglasur tropfte auf den Marmor. Sie ließ sich in den Stuhl neben Liliana fallen, biss ein Stück von ihrem Gebäck ab und begann dann damit, Rüstungsteile anzulegen. „Wasch hascht du geschagt?“, fragte sie mit vollem Mund.
„Ich sagte“, erwiderte Jace mit übertriebener Geduld, „dass ich Tamiyo kundtun lassen habe, dass die Wächter bereit sind, ihre Hilfe anzubieten. Sie und andere Planeswalker tauschen sich untereinander aus. Sie sammeln Neuigkeiten und Geschichten auf ihren Reisen. Ganz so, wie es auch unter Barden üblich ist. Sie tragen die Kunde jedoch über ganze Welten hinweg anstatt nur in die nächste Stadt.“
„Wie viele gibt es von ihnen?“, fragte Gideon und stützte das Kinn in eine Hand. „Wie oft treffen sie sich?“
Jace schüttelte den Kopf. „Sie sind nicht so organisiert wie wir. Das ist alles eher zwanglos. Im Grunde nur Tratsch. Doch sie reisen oft umher und sprechen mit vielen Leuten. Falls jemand um Hilfe bittet, wird unser Name nicht unerwähnt bleiben. Und falls jemand akut Hilfe braucht, werden sie es uns wissen lassen.“ Er hielt inne und sah jeden von ihnen der Reihe nach an. „Dieser Ansatz hat bereits Früchte getragen. Jemand hat uns aufgesucht. Er wartet draußen.“
Gideon grinste und richtete sich in seinem Stuhl, der unter seinem Gewicht knarrte, ein wenig gerader auf. „Hervorragende Arbeit, Jace.“
Jace nickte. „Unser Gast heißt Dovin Baan. Er ist der Inspektionsminister bei irgendeinem Erfinderwettstreit auf Kaladesh.“ Eine plötzliche Wärme stieg rechts von Liliana auf. „Lavinia, bittet du ihn herein?“
Minister. Hm. Liliana nahm die Füße vom Tisch, setzte sich gerade hin, schlug die Beine übereinander und strich die Falten ihres Kleides glatt. Jace flirrte erneut, als er wieder jene ordentliche und gepflegte Illusion heraufbeschwor, die er bei ihrem Eintreten getragen hatte.
Von der anderen Seite des Tisches aus beäugte Gideon ihrer beider Vorbereitungen nachdenklich.
Chandra ließ sich tiefer in ihren Stuhl sinken, zog sich die Schutzbrille über die Augen und verschränkte die Arme vor der Brust.
Der Vedalkenmann war groß, dünn wie eine Duellklinge, blauhäutig und makellos gekleidet. Sein Anzug war teilweise mit filigranen Messinggebilden verziert, von denen einige leise zischten und tickten. Mit präzisen, forschen Bewegungen und hinter dem Rücken gefalteten Händen schritt er die Stufen hinab. Liliana fragte sich, wie er das anstellte. Würde sich das Metall, das seine Ärmel bedeckte, so nicht zwangsläufig verheddern?
Als er an einem Gemälde vorbeikam, hielt er mit kritischer Miene inne und streckte eine Hand aus, um den Rahmen an der einen Seite eine Winzigkeit nach oben zu verschieben.
„Minister Baan“, sagte Jace. „Dies sind meine Kollegen Nissa, Gideon, Chandra und Liliana.“
Als sie vorgestellt wurde, erhob sich Liliana aus ihrem Stuhl und setzte ein gefälliges Lächeln auf. Sie knickste und hielt dabei den Blick auf Baan gerichtet. Seine Augen waren von einem fieberhaften, unsteten Fuchsienrot. Ein faszinierender Gegensatz zu seinem kühlen Verhalten. „Es ist mir ein Vergnügen, Minister.“ Sie war etwas eingerostet, doch sie bezweifelte, dass er mit den Einzelheiten der Manieren bei Hof auf Dominaria vertraut war.
Baan nahm einen Arm quer über die Brust und verbeugte sich aus der Hüfte, während er den Blick auf den Boden vor Liliana senkte. „Das Vergnügen ist ganz meinerseits, Fräulein Liliana.“
„Ich hoffe, Eure Wartezeit war angenehm“, sagte Jace und deutete auf einen leeren Stuhl am anderen Ende des Tisches.
Baan schaute das Möbelstück mit kurzzeitiger Verwirrung an und machte keinerlei Anstalten, sich darauf niederzulassen. „Die Unterbringung war akzeptabel.“
Jaces projiziertes Gesicht ließ kein Anzeichen jenes Unbehagens erkennen, das Liliana dahinter vermutete. „Gut. Nun. Was können die Wächter für Euch tun?“
„Ich kam hierher, um Erkundigungen wegen jener Angelegenheit einzuholen, die in meiner vorherigen Korrespondenz bereits zur Ausführung gelangt ist.“
Nach einem Augenblick des Schweigens, den er zweifellos gebraucht hatte, um Baans verschwurbelte Formulierungen zu enträtseln, räusperte sich Gideon. „Verzeiht uns, Minister. Nicht alle hier haben Euren Brief zu Gesicht bekommen.“
Baan atmete langsam ein. „Ah. Wohlan denn. Dann werde ich wohl rekapitulieren müssen.“ Er verschränkte erneut die Hände hinter dem Rücken und begann, am Ende des Tisches auf und ab zu gehen.
„Ich habe die Ehre, heute als offizieller und ordnungsgemäß ernannter Vertreter des Konsulats von Kaladesh vor Sie treten zu dürfen. Selbstredend habe ich mich mit den Gepflogenheiten der Regierungsform auf Ravnica und Ihrem System miteinander im Widerstreit liegender ‚Gilden‘ vertraut gemacht.“ Baan sprach das Wort mit Bedacht aus, als wäre es eine seltene Süßigkeit, die er noch nie zuvor probiert hatte. „Unser Konsulat ist das exakte Gegenteil. Es ist geeint, zentralistisch und meritokratisch. Sämtliche Ressourcen werden über eine rationale und gerechte Anwendung von Gesetzen verwaltet und verteilt. Auf diese Weise haben wir eine Gesellschaft errichtet, in der niemand etwas will.“
Lilianas rechter Arm fühlte sich an, als hätte sie dort einen Sonnenbrand. Sie warf Chandra einen Blick zu. Über dem Kopf der jungen Frau flirrte Hitze. Verirrte Strähnen kupferroten Haares schwebten und tanzten in der nach oben steigenden heißen Luft. Sie blieb jedoch stumm und stocksteif sitzen. Nur ihre Kiefermuskeln zuckten, als sie die Zähne zusammenbiss.
Liliana rutschte sachte mit ihrem Stuhl nach links.
„Vor sechs Monaten“, fuhr Baan fort, „rief das Konsulat in der Hauptstadt Ghirapur einen Erfinderwettstreit aus. Er wird am kommenden Morgen beginnen. Es wird dabei zahlreiche Zuschaustellungen der Handwerkskunst aus einer ganzen Reihe verschiedenster Gebiete zu sehen geben. Außergewöhnliche Arbeiten werden mit Stipendien belohnt.“
Baan gestattete seinen Mundwinkeln, sich eine Winzigkeit nach oben zu bewegen. „Es war mir ein persönliches Vergnügen, alle Einreichungen zum Zwecke der Sicherheit der Besucher zu inspizieren. Und wenn mir diese Anmerkung gestattet ist: Die Preisrichter werden ganz gewiss viele schwere Entscheidungen zu treffen haben. Ich bin allerdings zuversichtlich, dass es zumindest einer unserer Koryphäen gelungen ist, ein vollkommen neues Gebiet der Handwerkskunst ins Leben zu rufen.“
Er hielt an den Büchern inne, die an der Wand gestapelt waren, und tippte gegen sein Schulterstück aus Messing. Eine Anordnung aus Linsen surrte vor sein linkes Auge. Er schaute einen Augenblick hindurch, um dann grübelnd mit einem dürren Finger über das Regal zu fahren.
„In den vergangenen Wochen“, fuhr er fort, während er ein Taschentuch hervorzog und sich auf dem Absatz umdrehte, „wurden die Vorbereitungen jedoch zum wiederholten Male von Vandalen und anderen Querulanten gestört. Meine Sicherheitsvorkehrungen konnten bislang verhindern, dass jemand zu Schaden kommt.“ Er wischte sich seinen Finger an dem Taschentuch ab, faltete es sorgfältig zusammen und verstaute es wieder. „Bemühungen, die Ursache dieser Unruhen aufzuspüren und zu eliminieren, haben sich bedauerlicherweise als weitaus weniger erfolgreich herausgestellt.“
Baans Linsenanordnung schnappte zurück in eine Ruheposition auf seiner Schulter. „Das ist alles.“
Gideon räusperte sich. „Also nur um das klarzustellen: Ihr wollt, dass die Wächter sich um die ... Sicherheit dieser Veranstaltung kümmern?“
„Oder die Quelle dieser Angriffe ausmerzt?“, schlug Jace vor.
Baans Blick wanderte vom einen zum anderen, und der Minister atmete zaghaft ein, als würde er an etwas riechen, was an einer Schuhsohle klebte. „Genau das“, sagte er. „Wie auch bereits in meiner ursprünglichen Korrespondenz erwähnt.“
„Wer sind diese Leute?“, fragte Gideon. „Warum wollen sie eine Ausstellung? stören?“
Baan neigte den Kopf. „Eine logische Frage, Herr Gideon. Doch ich fürchte, es gibt keine logische Antwort darauf. Die Unzufriedenheit dieser Renegaten hat ihren Ursprung größtenteils in jenem vom Fieber geplagten Raum zwischen ihren eigenen Ohren. Ihr wichtigster Einwand bezieht sich darauf, dass die gleichmäßige Verteilung von Ressourcen durch das Konsulat auf irgendeine Weise ihnen persönlich gegenüber ungerecht sein soll. In einfachen Worten: Sie glauben, ihnen würde mehr zustehen als ihr gerechter Anteil. Da das Konsulat sich weigert, ihrem selbstsüchtigen Verlangen nachzugeben, greifen sie auf Sabotageakte gegen Regierungseigentum sowie auf den Diebstahl von Ressourcen zurück, die für das Gemeinwohl bestimmt sind.“
Chandras Stuhl kippte nach hinten, als sie auf die Füße sprang. Liliana streckte eine Hand aus und fing den Stuhl auf, während Chandra in einem Wirbel aus vor Hitze flirrender Luft und sprühenden Funken davonstapfte.
„Was machst du –?“, setzte Gideon an, zuckte jedoch vor Chandras aufflammenden Händen zurück, als sie an ihm vorbeiging. Sie stürmte die Treppe nach oben und stieß dabei derbste Verwünschungen aus.
Baans Blick folgte ihr, und seine Augenbrauen hoben sich. „Ich gehe davon aus, sie weiß, dass das anatomisch gar nicht möglich ist, ja?“
Jace räusperte sich etwas zu laut. „Minister Baan?“ Der Vedalken drehte sich zurück zum Tisch, als die massiven Türen zur Bibliothek zugeschlagen wurden. „Sind irgendwelche dieser Renegaten Planeswalker?“
„Meines Wissens nach nicht.“
Gideon schüttelte den Kopf. „Dann weiß ich nicht, wie wir Euch helfen können. Verzeiht, aber –“
„Warte.“ Jace beugte sich vor. „Er sagte, er weiß es nicht. Wir können für Gewissheit sorgen.“
Baan schloss die fieberhellen Augen und zwickte sich mit dünnen Fingern in die Nasenwurzel. „Meine Herren, bitte entschuldigen Sie meine Dreistigkeit. Doch wer von Ihnen trifft die Entscheidungen für diese Gruppe?“
Jace und Gideon schauten einander an.
„Nun ...“
„Also ...“
„Gideon hat auf dem Schlachtfeld den Befehl ...“
„Jace ist eher eine Art Verwalter ...“
„Aber wir beide ...“
„Aber keiner von uns ...“
Baan griff sich an den Kopf, als litte er unter Migräne.
„Minister Baan“, warf Liliana ein. Sie erhob sich in einem prächtigen Rascheln aus Seide und Spitze und setzte ihr entwaffnendstes Lächeln auf. „Was meinen Kollegen Sorge bereitet, ist der Fokus unserer Gruppe. Die Wächter wurden gegründet, um Leute wie uns – Planeswalker – daran zu hindern, sich in die Angelegenheiten anderer einzumischen. Bedrohungen von außen sozusagen. Eure Bedrohung scheint jedoch von innen zu kommen. Und in einem solchen Fall“, sie vollführte eine Geste gespielter Hilflosigkeit, „sind uns die Hände gebunden.“
Baan atmete leise und erleichtert aus. „Ah. Danke, Fräulein Liliana. Ihre Position ist mir nun um einiges klarer. Ich hatte die Vorgaben, innerhalb derer Sie agieren, noch nicht ganz begriffen. Selbstverständlich erwarte ich nicht von Ihnen, die Gesetze zu übertreten, welche Sie sich auferlegt haben.“ Er verneigte sich ein weiteres Mal. „Ich bitte aufrichtig um Verzeihung. In Zukunft werde ich mich bei meinen Nachforschungen um noch mehr Präzision bemühen. Wenn Sie es gestatten, werde ich mich nun empfehlen.“
Jace starrte Liliana mit offenem Mund an. Verärgerung und Verblüffung standen ihm ins Gesicht geschrieben. Köstlich.
„Ähm ... wartet mal!“ Gideon sprang auf die Füße. „Minister, Ihr solltet zumindest zum Abendessen bleiben.“
Baan sah Gideon an, als wären diesem gleich mehrere zusätzliche Köpfe auf einmal gewachsen. „Herr Gideon, selbst wenn ich es als akzeptabel ansähe, Ihre Gastfreundschaft noch länger in Anspruch zu nehmen, so ist meine Anwesenheit auf Kaladesh dringend vonnöten. Ich hege keinen Zweifel, dass sich seit meiner Abreise mehrere Sabotageakte ereignet haben müssen.“
Gideon grinste Baan an. „Das Weltenwandeln ist mühsam, und Ihr habt heute schon eine solche Reise hinter Euch. Wir können Euch doch nicht mit leerem Magen aufbrechen lassen. So lauten die Regeln der Gastfreundschaft. Während wir uns darum kümmern, führe ich Euch gern durch Jaces Ha... – unser Hauptquartier.“
Baan starrte ihn hochmütig an. „Ich versichere Ihnen, dass meine Gesundheit sich für einen Mann meines Alters und meines Berufes innerhalb eines vollkommen annehmbaren Rahmens bewegt, auch wenn ich kaum wüsste, weshalb Sie das etwas anginge. Und dennoch. Wenn es Ihr Brauch ist, einem scheidenden Gast eine Stärkung zukommen zu lassen, so werde ich dies respektieren.“
„Hervorragend!“ Gideon machte eine Bewegung, als wollte er dem Minister auf die Schultern klopfen, hielt sich aber gerade noch zurück und führte die Geste in einem höchst absonderlich wirkenden Recken und Strecken zu Ende.
Lavinia räusperte sich. „Gildenbund. Bevor Eure Verbündeten gehen ... Da wäre noch diese andere Angelegenheit, nicht wahr?“
Gideon stutzte. „Eine andere Angelegenheit?“
Jace verzog das Gesicht. „Während ich auf Zendikar und Innistrad unterwegs war, wurden einige einflussreiche Mitglieder des Azorius-Senats ... ausgeschaltet.“
„Das ist zweifellos ein Grund zur Sorge“, sagte Gideon. „Doch was hat das mit uns –“
„Ihr spracht von ‚ausschalten‘“, warf Liliana ein. „Nicht ‚töten‘.“
Jace nickte. „Sie wurden petrifiziert. In Stein verwandelt.“ Er zögerte. Liliana hob die Augenbrauen. Jace war sprachlos? Wie faszinierend. „Vor etwa einem Jahr gab es eine gorgonische Meuchlerin, die auf Ravnica operierte. Eine weltenwandelnde Gorgo mit einem Groll auf die Azorius. Ich konnte sie aufhalten, doch ich habe sie ... gereizt.“
„Du hast aber auch ein echtes Händchen mit den Damen“, sagte Liliana.
„Der Punkt ist“, sagte Jace, „dass sie geschworen hat, eines Tages zurückzukehren.“
Gideon rieb sich das Kinn. Sein Blick huschte zu Lavinia. „Hm. Irgendwelche Spuren?“
„Noch nicht“, sagte Lavinia.
Jace wandte sich zu Gideon. „Ich möchte, dass du dir das ansiehst.“
Gideon schüttelte den Kopf. „Du bist dafür die beste Wahl, Jace. Nimm dich der Sache an und erstatte mir anschließend Bericht.“
Lilianas Blick pendelte zwischen den beiden hin und her. Sie war so was von froh, dass sie ihre eigene Bleibe hatte. Sollte es jemals zu einer Abstimmung innerhalb der Gruppe kommen, würde es dieser Umstand nur noch leichter für sie machen, die Dinge ganz nach ihrem Belieben in eine bestimmte Richtung zu lenken.
„Du hast keine Vorstellung, wie gern ich mich selbst darum kümmern würde“, sagte Jace. Leder knirschte leise, als Lavinias Hand sich enger um die Scheide ihres Schwertes schloss. „Ich habe Papierkram zu erledigen.“ Er spie das Wort wie eine Obszönität aus. „Gideon, ich habe nicht vor, dir ... Das ist kein Befehl, klar? Es ist nur etwas, was getan werden muss. Ich kann es nicht selbst erledigen, und ich glaube, du kannst gut mit den Azorius zusammenarbeiten. Zumindest besser, als Liliana das könnte.“
„Oh, da hat er recht“, sagte Liliana milde. Sie war sich ziemlich sicher, dass ihr Steckbrief von vor vier Jahren, als sie und Jace für Tezzerets verbrecherisches Konsortium gearbeitet hatten, noch immer bei ihnen aushing. Seltsam, wenn man bedachte, wie viel sich seither geändert hatte. Nun war Jace derjenige, den die Azorius um Hilfe baten, und sie war mächtiger, als die Gilde es sich wohl je hätte ausmalen können.
Sie legte eine Hand auf die verborgene Tasche, in der sie den Kettenschleier aufbewahrte. Nicht, dass sie sich seiner Gegenwart hätte versichern müssen. Sie spürte seinen eisigen Hauch an ihrer Taille, und wann immer ihre Konzentration nachließ, erklang das rasselnde Flüstern der Onakke-Geister in seinem Inneren aus den dunklen Winkeln des Raumes.
„Das macht Sinn“, sagte Gideon und nickte langsam. „Na schön. Lavinia, ich hätte gern eine Zusammenfassung dessen, was die Azorius wissen.“
Die Wache blickte pikiert drein. „Eine Zusammenfassung? Hauptmann Jura, die Zeugenaussagen allein umfassen mehrere tausend –“
„Ich bin neu hier.“ Er lächelte sie an. „Ich muss mich auf Eure Kundigkeit verlassen. Ich weiß, es ist viel verlangt, doch könntet Ihr mir bis heute Abend etwas zusammenstellen? Selbst etwas von nur geringem Umfang wäre schon ganz prächtig.“
Lavinia wirkte unter seinem Blick fahrig. „Selbstverständlich, mein Herr.“
„Danke, Lavinia." Gideon winkte Baan zu und bewegte sich zur Tür am anderen Ende des Raumes. „Jaces Küche ist unglaublich. Das scheint einer der Vorzüge zu sein, wenn man der Gildenbund ist. Was möchtet Ihr denn gern?“
Jace ließ seine Illusion der Gelassenheit fallen und funkelte Liliana an.
„Ich bin mit einem Laib ungesäuertem Brot, einer dünnen Scheibe Fleisch und etwas Wasser zufrieden.“
Ein dröhnendes Lachen. „Wir haben weitaus mehr zu bieten!“ Sie bogen in einen Gang ab.p>
Lavinia trottete davon und machte sich auf einem kleinen Block Notizen.
Sie waren wieder allein.
Liliana postierte sich zwischen dem Tisch und der Tür zu Jaces Arbeitszimmer, während er seine Papiere zusammensammelte. Er blickte finster drein, als er bemerkte, dass sie wartete. Mit gesenktem Kinn und betont abwesendem Blick stapfte er an ihr vorbei. Sie lächelte gutmütig. Großherzig. „Mein Lieber, vielleicht solltest du in Zukunft lieber mir das Reden überlassen, hm?“
„Ich hasse es, wenn du das tust“, sagte Jace mit tiefer Stimme und kälter, als sie es verdient hatte. „Wenn du hereinschneist und alles an dich reißt. Als würde dir alles und jeder gehören. Und dann noch erwartest, dass ich dir danke.“ Er wandte ihr die Schulter zu und rauschte an ihr vorbei.
Ihre Worte kamen reflexhaft, ungewollt – und sie vergalten Schmerz mit Schmerz. Sie hauchte in den kleiner werdenden Raum zwischen ihnen: „Ich erinnere mich noch an eine Zeit, in der du daran Freude hattest.“
Dann war er fort und ließ nur seine zornigen Worte zurück, jedes wie ein eisiger Nagel, den man ihr ins Herz gehämmert hatte.
Na schön, verdammt. So viel zu ihrer guten Laune. Sie wischte sich mit der Hand unter einem Auge entlang (nur um sich zu vergewissern, dass sie dort niemals etwas finden würde), straffte die Schultern und hob das Kinn. Dann soll er doch in Grixis schmoren. Schauen wir mal, wohin Chandra davongestürmt ist. Das könnte Spaß machen.
Sie wandte sich zur Treppe und bemerkte, dass Nissas Stuhl leer war. Die Elfe hatte den Raum so unbemerkt verlassen, wie sie ihn betreten hatte.
Erst auf halben Weg zum zweiten Stockwerk wurde Liliana klar, dass Nissa während der gesamten Zusammenkunft kein einziges Wort gesprochen hatte.
Ich teile Schläge aus.
Die Stöße der Treffer zucken mir die Arme hinauf, unregelmäßig, abgehackt. Gideons Sack aus Sand schwingt und wackelt unter den Hieben.
Wäre er hier, würde er mir raten, es nicht zu übertreiben, meine Arme immer schön durchzudrücken und kurze, kontrollierte Geraden zu üben. Da habe ich wohl großes Pech gehabt, dass er stattdessen lieber diesem Armleuchter vom Konsulat zuhört.
Erfinderwettstreit? Am Arsch. Sie haben die verdammt noch mal besten Erfinder auf Kaladesh umgebracht. Baan und seinesgleichen. Die Konsuln und ihre dummen Regeln.
Und jetzt versuchen sie, wen anders zu jagen. Das Kind von wem anders. Vielleicht sogar –
Das grobe Tuch von Gideons Sandsack geht in Flammen auf.
„O Mist!“
Es muss hier doch ... Er muss doch irgendwo hier drin Wasser haben. Immerhin trinkt er acht Flaschen davon am Tag. Ich schaue mich im Raum um. Gewichte. Bodenkissen zum Ringen oder so. Ein großer Ball, den ich nicht noch mal nach Jace werfen soll. Mehr Gewichte. Ein Regal voller komischem Kram, den er nie erklärt hat. Noch mehr andere Gewichte. Da!
Ich werfe mich über den Tisch und schnappe mir den Eimer unter dem Fenster. Er riecht komisch. Vielleicht taucht er seinen Kopf da hinein. Keine Ahnung. Ich brauche nur das Wasser.
Hinter mir platzt der Stoff auf und Sand rieselt zu Boden.
Oh, verdammt.
Ich leere den Eimer über brennenden Stofffetzen aus.
Das ist ein gewaltiger Schlammhaufen. Ich frage mich, ob er den Boden ruiniert. Ich stecke die Spitze meines Stiefels hinein und ziehe eine Linie durch die Unordnung. Vielleicht kann ich ja eine Sandburg bauen.
Ich hasse das. Ich hasse dieses Ich, das unschuldigen Leuten ihr Zeug kaputtmacht. Auch wenn Gids gerade nett zu einem der Kerle ist, die meine –
Meine Augen brennen schon wieder. Ich lasse den Eimer fallen und reibe sie. Glut und Funken schweben davon.
Vielleicht hat Gids das auch gar nicht anders verdient. Pfeif auf seinen Sandsack.
Warum bin ich überhaupt hier? Ich gehöre nicht hierher.
Ich sollte nach Regatha zurückkehren. Um dieses dumme Ritual abzuhalten, bei dem man die ganze Nacht einem Baumstamm beim Brennen zuschaut. Stück für Stück beginnt er zu glühen. Rot, Orange und Gelb kriechen die Rinde hinauf. Gleißen auf und verblassen wieder. Dann wird der Stamm grau und zerfällt zu Asche. „Das ist, was es bedeutet, von Göttlichkeit verzehrt zu werden“, meinte Mutter Luti. „Verwandelt zu werden.“ Das alte Leben zerfällt und bla, bla, bla.
Welche Göttlichkeit? Die Eldrazi? Die Typen, die Gids reingelegt haben? Ich kann nicht an einen Gott glauben, der alles verbrennt, was er berührt. Ein Gott muss besser sein.
Ich erinnere mich an den stillen Teich.
Hinter der Macht, die mir sämtliche Kraft aus den Beinen geschüttelt hat.
Ich war da. Ich habe ihn gesehen. Ich schwöre, dass ich ihn gesehen habe.
Sie schwebte im Grün und ich konnte dort atmen.
Dort möchte ich sein.
Dort muss ich sein.
Das ist ein Jucken, das ich unbedingt kratzen muss. Es kriecht mir den Rücken hinauf und unter mein Haar. Ich muss gehen. Jetzt.
Meine Füße haben mich bereits zur Tür getragen. Nein, halt. Ich kann nicht einfach so hereinplatzen und ... Ich meine ... Das wäre schräg, oder? Unhöflich. Ich will nicht, dass sie mich für wen hält, der einfach so irgendwo aufschlägt und ... Also schön, vielleicht bin ich ja so jemand, aber ich versuche wirklich, von jetzt ab höflich zu sein. Ich brauche nur ein paar Augenblicke Zeit, um ...
Verdammt, ich bin schon oben auf der Treppe. Und ich trample durch den Flur wie ein grober Klotz, weil mir die Beine zittern und mir der Kopf schwirrt. Das ist so dumm. Ich werde jetzt sofort aufhören, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ich werde mich umdrehen. Ich werde ganz leise die Treppe hinunterschleichen – wie ein kleines Mäusejunges. Gleich. Verdammt, Chandra, mach diese Tür nicht auf. Hör auf, die gewaltigen Blüten anzustarren, die hier vor einem Monat noch nicht waren. Böse Chandra. Kein Zimtgebäck mehr. Dreh dich einfach um, gehe zurück nach unten und denk nie wieder daran, das zu t–
„Chandra?“
SCHHHHHEI ...
„H-hey. Nissa? Du bist hier?“ Ja, genau so. Tu richtig beiläufig. Gut gerettet. Sei ganz nonchalant. Wie Liliana. Liliana bringt nichts aus der Fassung.
„Ich meine, hehe, natürlich bist du hier. Weil du ja gerade eben erst was gesagt hast. Ich meine, öhm, hast du einen Augenblick Zeit? Vielleicht?“ In Ordnung. Du kannst das Reden jetzt einstellen.
„Ja. Ich bin hinter den Kass-... Hinter den purpurnen Blumen."
Meine Hände zittern. Ich schiebe Zweige beiseite und gehe auf ihre Stimme zu. Die Blätter fühlen sich wie Sandpapier an. Nur noch ein kleines Stückch–
Sie sitzt im Schneidersitz auf einem Flecken Moos. Das dunkle Haar ist offen und fällt ihr in Wellen über die Schultern bis in den Schoß. Sie hat sich kleine Blüten ins Haar geflochten. Schmetterlinge tanzen um sie herum. Sie beachtet sie nicht. Ein Lichtstrahl durch die Blätter taucht sie in goldenen Glanz. Sie riecht wie die schönste Kindheitserinnerung, die man je haben könnte.
Sie hat den Blick nicht von mir gelassen. Sitzt einfach nur da. Hört zu. Wartet. Es macht mich unruhig, und ich glaube, ich schwitze.
Wann habe ich eigentlich das letzte Mal gebadet? Haben Elfen nicht unglaublich feine Sinne ... wie Hunde oder so?
Noch dazu stehe ich vornübergebeugt unter einem Zweig und halte mir die Blätter aus dem Gesicht wie ein verdammter Tölpel. „Ähm. Darf ich mich setzen?“ Ich atme durch den Mund und ringe um Atem und versuche, nicht laut zu schnaufen.
„Bitte.“ Sie macht eine Geste. Ihr Arm bewegt sich wie Wasser. Er fließt einfach irgendwie.
Dann schaffe ich es, zu stolpern und mich lang hinzulegen.
„Oh!“ Sie streckt die Hand aus, doch ihre Finger scheinen an einer unsichtbaren Blase eine Handbreit von mir entfernt abzuprallen. „Da ist eine Wurzel ...“ Sie zieht die ausgestreckte Hand zurück und umfängt sie mit der anderen.
„Nichts passiert!“, plappere ich in den Schmutz, bevor ich mich auf die Knie aufrichte und mir an den Kopf fasse, um festzustellen, ob diese Behauptung auch zutrifft. Es wäre unfassbar peinlich, während dieser Unterhaltung im Gesicht zu bluten. „Geht es dir gut?“
Sie neigt den Kopf zur Seite. „Ich ...“
„Ha-ha-ha! Natürlich geht es dir gut. Entschuldige. Immerhin bin ja ich diejenige, die gerade hingefallen ist.“ SEI STILL SEI STILL.
Ich versuche, mich so hinzusetzen wie sie, aber die Rüstung an meinen Schienbeinen gräbt sich in meine Oberschenkel. Ich lehne mich an einen Baum, strecke die Beine aus und schlage sie an den Knöcheln übereinander.
Moment! Meine Füße berühren ja beinahe ihre Knie! Das sollte ich nicht tun. Das gefällt ihr vielleicht nicht. Ich verlagere mein Gewicht und strecke meine Beine stärker zu einer Seite hin aus.
Toll. Jetzt sticht mir eine Wurzel in den Hintern.
Sie sieht mich einfach nur an. Schweigend. Geduldig.
Ich kichere und streiche mir das Haar aus der verschwitzten Stirn. Ich dampfe unter ihrem Blick und meine Haut schmilzt. „Ich glaube, ich zerdrücke deine Blumen.“
„Das macht ihnen nichts aus.“ Ihre Augen sind so tief. Als ich ein Kind war, gab es da diesen Steinbruch bei Ghirapur. Er war mit Wasser voll gelaufen, und überall wuchs Moss und so Grünzeug, das im Wasser herumtrieb. Tief, schwarz, ruhig. Wenn man dort hineinfiel, erreichte man nie den Boden. Zumindest erzählte man sich das so. Ich stehe am Rand und habe zu viel Angst, um zu springen.
Sie räuspert sich. „Kann ich etwas für dich tun?“
Ich schlucke, aber meine Kehle ist trocken und ich brauche ein paar Anläufe. „Ich ... Ich dachte nur gerade daran, wie ... Weißt du noch auf Zendikar, als sich unsere Bewusstseine verbanden? Sie haben einander berührt. Ich habe Zendikars Zorn gespürt, oder? Die Macht einer ganzen Welt. Deiner Welt. Und es war atemberaubend. Das Unglaublichste, was ich je erlebt habe. Aber hinter Zendikar, hinter dem Zorn und der Macht, da habe ich dich gespürt. Dein Bewusstsein. Und es war richtig ruhig und ausgeglichen, weißt du? Du hast mich irgendwie ... geerdet, schätze ich mal. Du warst ganz gefasst und so sehr mit allem verbunden ...“
Dann knipst sich mein Verstand aus, während mein Mundwerk mich um Kopf und Kragen redet.
„Als ich diesen Teil von dir berührt habe, war es, wie wenn man schwimmt und man sich einfach flach auf den Rücken legt und treiben lässt und in den Himmel schaut. Unter einem ist nichts. Über einem ist nur Blau und Luft, und alles ist kühl und still. Man kann unendlich weit sehen und muss sich keine Sorgen um nichts mehr machen ...“
WAS REDE ICH DENN DA?
Ich fahre mir mit der Hand durch das verschwitzte Haar. „Haha, hui. Du musst das für ganz schön dumm halten, hm? Ich platze hier einfach so rein und brabble schlechte Poesie vor mich hin ...“
Die winzigste Andeutung eines Lächelns. „Ich fand es sehr treffend ausgedrückt.“
Ich ziehe an einer Haarsträhne, bis es wehtut. Das wird mir helfen, mich zu konzentrieren, wette ich. „Wie auch immer. Ich dachte mir nur, es gibt da so Augenblicke, in denen ich unheimlich angep... – äh, verärgert bin. Und dann fliegt irgendwas in die Luft. Aber ich glaube, es wäre mir lieber, ich könnte diesen Ort wieder berühren. So, wie sich dein Verstand angefühlt hat. Ruhig. Geerdet. Ich meine ...“ Ich mache den Fehler, aufzuschauen, und ihre Augen sind einfach da und beobachten mich und die Luft in meiner Kehle staut sich auf und weigert sich, sich zu bewegen.
Ich habe Mühe, meinen nächsten Atemzug zu tun. „Ich glaube, Jace wäre das lieber. Damit ich sein Haus nicht zerlege. Ich meine, er hat überall so teures Zeug rumstehen.“
„Ich kann dich das Meditieren lehren, falls du dies wünschst.“
„Äh ... ja.“ Versuchen wir‘s. Klingt gut.
Ihre dünnen Augenbrauen kräuseln sich. „Fühlst du dich nicht gut? Du wirkst beunruhigt.“
Der gesamte Garten ist voller schwebender, glitzernder, silberner Stäubchen. Ich habe die letzte Stunde damit verbracht, mich so weit im Zaum zu halten, dass ich Jaces Haus nicht in die Luft jage, und mein Herz hämmert mir gegen die Brust, als hätte ich gerade einen Langstreckenlauf hinter mir. MIR GEHT‘S BESTENS. DANKE DER NACHFRAGE.
Stattdessen plappere ich drauflos: „Es ist nur so, dass du mich die ganze Zeit über so angestarrt hast.“
„Du hast mit mir gesprochen. Sollte ich dir da nicht aufmerksam zuhören?“ Ich könnte schwören, dass ihre Lippen beben. „Ist dies auf deiner Welt nicht – nicht höflich?“ Zum ersten Mal wendet sie den Blick ab und eine Hand zupft an einem ihrer Ohren, deren Spitzen so lang wie Grashalme sind. Der Schnee ihrer Wangen nimmt die Farbe des Sonnenuntergangs an.
WAS ZUM TEUFEL HABE ICH DA GERADE GESAGT?
„Wa...? O nein! Ich meine ... entschuldige!“
Ich springe auf und stoße mir den Kopf an einem niedrig hängenden Ast. „Au! E-entschuldige. Das war dumm.“ Ich weiche zurück, greife mir an den Kopf, nehme die Ellenbogen hoch, um meine brennenden Augen zu verbergen, stolpere über die gleiche verdammte Wurzel, zittere und ringe um Atem, während sich mir der Magen umdreht. Was habe ich nur getan? Was habe ich nur getan? Was habe ich nur getan?
In einem Wimpernschlag ist sie auf den Beinen. „Warte.“
„Du fühlst dich meinetwegen komisch. Ich sollte gehen. Ich gehe einfach. Entschuldige. Bis dann. Entschuldige.“
„Chandra, bitte ...“
Ich drehe mich um und laufe los. Funken, Bäume und Blumen verschwimmen für mich miteinander, als ich durch die Tür poltere.
... Ich glaube, ich muss vor Aufregung gleich kotzen.
„Was für eine Katastrophe“, murmelte Liliana. Sie lehnte mit einer Hüfte gegen den Türrahmen zum Übungsraum des Fleischklopses. Nach der Szene unten hatte sie mit Feuerschäden gerechnet. Die Sandburg war eine Überraschung.
Gideons Stimme dröhnte von der Treppe hinter ihr. „Und hier oben mache ich meine Übungen. Ich habe versucht, Chandra und Jace zu ertüchtigen und jeden dazu zu befähigen, mit einer echten Waffe umzugehen. Ihr wisst schon. Nur für den Fall.“
„Ich bin voller Zuversicht, dass sich dieser Raum als nicht minder faszinierend wie der Rest Ihrer Einrichtungen erweisen wird“, erwiderte Baan müde.
RUMS.
Liliana fuhr zusammen und sah gerade noch, wie Chandra an Baan und Gideon vorbeiwirbelte wie ein Komet mit rotem Haar. Sie zog Bahnen aus Funken hinter sich hier, die ihr aus den Augen sprühten.
„Entschuldigungdassichdaskaputtgemachthabe“, sagte sie im Vorbeigehen, als würden die Worte wie Luftblasen aus einem See emporschießen.
Dann war sie fort und ihre Schritte donnerten die Treppe hinunter.
„Vorsicht! Fall nicht!“, rief Gideon ihr nach.
Liliana trat auf die Treppe und spähte hinauf. Nissa blickte händeringend nach unten, die Lippen in unausgesprochener Verwirrung geöffnet und die langen Ohren traurig herabhängend.
Liliana schüttelte den Kopf und machte sich auf den Weg nach unten. Irgendjemand musste dieses Chaos beseitigen. Chandra war so leicht zu durchschauen. Zu leicht. Und dennoch verfügte sie über unbändige Macht. Eine nützliche Kombination.
Die Sonne wanderte westwärts und beschwerte ihnen einen langen, heißen Nachmittag. Im Osten kündeten tief hängende, schiefergraue Wolken einen jener Schauer an, die dafür sorgten, dass die Sommerluft sich noch schwüler statt kühler anfühlte.
Nicht, dass die Hitze Liliana sonderlich zugesetzt hätte. Nekromagische Macht bot gewisse Vorzüge, von denen man nur selten hörte. Beispielsweise eine Körpertemperatur, die niedrig genug war, um Heilern einen Schrecken einzujagen. So wurde ein Sommer deutlich angenehmer, und ihr Atem war eisig statt warm. Jace war außerordentlich empfindlich dagegen gewesen. Der kleinste Lufthauch an seinem Hals hatte ausgereicht, ihn aus dem Schlaf zu reißen.
Sie runzelte die Stirn und schob die Erinnerung entschlossen beiseite.
Chandra war nicht schwer zu finden. Auch wenn man den Umstand außer Acht ließ, dass sie die klare Neigung dazu aufwies, in allerlei Gegenstände und Personen hineinzulaufen, wenn sie losrannte, rauchte ihr Haar zudem in einer leicht anderen Farbe als die Essenskarren, die auf dem Platz verteilt standen. Liliana musste nicht einmal einen Schatten heraufbeschwören, um ihr suchen zu helfen.
Chandra hatte sich in einer Gasse drei Blocks von Jaces Haus entfernt zusammengekauert, deren Eingang von einem heiseren Essensverkäufer verborgen war, dessen Karren nach billigem Schweinefleisch und zerkochtem Kohl roch. Mit den Knien bis ans Kinn gezogen und gegen eine Backsteinmauer gelehnt zupfte sie an Strähnen ihres kupferroten Haares.
Zischende Laute kamen vom Eingang der Gasse als Echos zurück: „Saublöd, saublöd, saublöd ...“
Das klang überhaupt nicht gut. Liliana fegte beherzt um die Ecke und achtete darauf, dass der Saum ihres Kleides nicht in die Pfützen geriet, die wie Regenbogen schimmerten. „Ach, Chandra, hier steckst du also.“
Sie sprang auf die Beine und wischte sich mit einem zittrigen Handrücken übers Gesicht. „Oh, he. Was ... Was machst du denn hier?“
„Ich war auf dem Weg, ein paar Einkäufe zu erledigen“, flunkerte Liliana. Das würde sie wahrscheinlich glauben. Die große Schwester Liliana, die so ein glamouröses Leben führte und so weiter und so fort.
Chandra zog die Nase hoch und warf Liliana einen skeptischen Blick zu. „In einer Gasse?“
„Wir kaufen nicht alle an den gleichen Orten ein“, sagte Liliana. „Möchtest du mitkommen?“
Chandra spähte über die Schulter zum anderen Ende der Gasse, wo die Schatten der Menschenmenge flirrten und im Licht des Nachmittags tanzten. „Ist jemand bei dir? Gids?“
„Um Himmels willen, nein. Er würde eher sterben, als mit mir einkaufen zu gehen.“
Chandra grinste. „Würde er das tun, dann würdest du ihn allerdings sofort wieder von den Toten auferstehen lassen, damit er dir deine Taschen trägt!“ Sie hielt inne. „Hast du mich gerade einen Nekromagier-Witz machen lassen?"
„Nur dieses eine Mal. Weil ich dich so mag.“ Die Steifheit in Chandras Schultern löste sich, wenn auch nur ein wenig. Gut.
Chandra wischte sich erneut die Nase ab und rieb sich danach gedankenverloren die Hand an dem Schal sauber, der um ihr Handgelenk geknotet war. „Was wolltest du denn überhaupt einkaufen?“
„Ach, nichts Wichtiges“, sagte Liliana fröhlich. „Eine Flasche Wein, ein halbes Dutzend tote Katzen – wenn möglich welche, die schon zwischen sieben und zehn Tagen vor sich hin wesen –, Lavendelduftkerzen, eine drei Ellen lange Knochensäge ...“
Chandras Mund zuckte einen Augenblick, ehe sie die nächsten Worte über die Lippen brachte. „Ich ... Ich kann nicht sagen, ob du das ernst meinst.“
„Dann wirst du wohl mitkommen und es dir mit eigenen Augen anschauen müssen. Wir können uns unterwegs unterhalten.“
Alles war dunkel. Kalt. Still. Feuchtigkeit umgab sie. Von fern sickerte eine schwache Wärme zu ihr durch, nur ein kaum spürbarer Hauch auf ihrem Rücken. Sie hatte eine Ewigkeit gewartet, unter Monden aus knisterndem Eis und plätscherndem Regen, und sie hatte gespürt, wie über ihr in aller Hast ganze Lebzeiten vergingen.
Es war Zeit, sich zu regen.
Behutsam entrollte sie sich und schob die Weichheit von sich, die auf ihr lastete. Ihre Gliedmaßen streckten sich ächzend und zitternd von der unvorstellbar langen Zeit, die sie zusammengekauert im Dunkel verbracht hatte. Überall um sich herum nahm sie wahr, wie auch ihre Geschwister sich rührten. Die Wärme auf ihrem Rücken breitete sich auf alle von ihnen aus und rief sie wach. Endlich war es an der Zeit, sich zu versammeln.
...Nissa...
Sie stemmte sich dem Gewicht über ihr entgegen. Sie streckte sich. Bleiche, dünne Zehen sanken in die violetten Tiefen unter ihrem Bauch – dort drunten, wo die lange Kälte noch immer knurrend umherschlich und Klingen aus Kristall durch unerforschte Räume schnitten. Sie bebte vor Anstrengung.
Vielleicht konnte sie es gar nicht schaffen. Vielleicht würde sie für immer hier unten bleiben müssen. Verloren und wieder zu einer vergessenen Hülle zusammengefallen. Nicht tot, doch niemals lebendig.
...Nissa?
Die Dunkelheit über ihr brach auf.
Sie erschauerte. Auf schmerzenden, unsicheren Beinen kämpfte sie sich hoch. Ihre Arme zitterten, als sie sie behutsam weit von ihrem Oberkörper streckte. Jede Bewegung war eine schreckliche Qual. Die Hitze drückte auf sie nieder, brachte kaltes Blut zum Fließen und füllte ihre Gliedmaßen mit Kraft und Farbe. Ihr Kopf hob sich ins Licht, und ihr Haar begann zu leuchten.
„Nissa?“
Das Wort traf sie selbst aus einer Entfernung von tausend Meilen wie ein Peitschenschlag.
Binnen eines einzigen Atemzugs wurde sie davongerissen.
Die Welt schoss an ihr vorbei. Ein Gewirr aus Holz und Pilzen, die über- und durcheinander wucherten. Ödlande aus fauchendem Staub, der geduldig Steine verschlang. Massen murrender Wolken, die sich der Erde unter ihnen öffneten. Reihen messerscharfer Steine, die den Himmel aufrissen. Tiefe, kalte und leere Wasser.
Sie blinzelte zu Gideon, augenblicklich verwirrt von seinen grunzenden Bestienlauten – seinen Worten, verbesserte sie ein Teil von ihr – und den knubbeligen Auswüchsen – den Fingern –, mit denen er vor Augen herumwedelte, die plötzlich Licht statt Wärme sahen. „Ich ...“
Ich bin kein Samen.
Nissa. Ich bin wieder Nissa.
Er blickte sie erwartungsvoll an. Regen trommelte gegen die Fenster von Jaces Bibliothek. Ihre Worten klangen rau und krächzend: „Entschuldige, Gideon. Was hast du gesagt?“
Er zeigte die Zähne. Ein Grinsen. „Ich dachte, du wärst für einen Augenblick eingeschlafen.“
„Ich habe nur ...“ Eine Blume spross eine halbe Welt entfernt aus dem Boden einer frühlingshaften Tundra und frohlockte ob ihrer Berührung durch die ersten Sonnenstrahlen. Sie musterte sein freundliches und offenes Gesicht, entdeckte aber nichts, woraus sie ein tieferes Verständnis für die Situation hätte entwickeln können. Keinen Zusammenhang, der ihr Orientierung geboten hätte. Keine Worte der Erklärung.
„... nachgedacht.“ Sie schaute in ihren Schoß, auf dem eine unangetastete Schüssel mit Essen ruhte.
Er spießte ein Stück Fleisch auf seinem Teller mit einem Werkzeug auf – Gabel nannte man es, wie sie sich nun erinnerte –, das zwischen seinen dicken, schwieligen Fingern geradezu verloren wirkte. „Ich habe Minister Baan erzählt, was ihr auf Zendikar getan habt. Du und Chandra.“
Chandra. Das Blut, das heiß durch ihre sommersprossigen Wangen strömte. Die schnellen, geschickten Bewegungen ihrer Hände. Wie Vögel.
Nissa fütterte manchmal die Vögel, dort im Garten. Sie pickten ihr Samen aus der Hand, hungrig und gierig, doch sie flatterten schon bei der kleinsten falschen Bewegung davon.
Sie hatte sich falsch bewegt und Chandra war davongeflogen.
All ihre Sinne und Instinkte waren verwirrt.
Ravnica bedrängte sie schon seit ihrer Ankunft – der heiße, beständige Atem einer Bestie in ihrem Nacken. Die Sonne war gleißend weiß, die Gerüche schwer und unangenehm. Jede Oberfläche schien scharfe Kanten aufzuweisen, die nur dazu dienten, Dinge zu schneiden und zu zerreißen.
Eine endlose Aneinanderreihung von Gesichtern strömte durch die Straßen, fremd und bedrohlich. Mehr Gesichter, als sie sich je hatte vorstellen können. Sie flossen ineinander, wurden zu einer einzelnen Monstrosität mit tausend Köpfen, die sich an ihr vorbeidrängte. Allein schon ein kleiner Spaziergang um das Gebäude herum ließ sie zitternd in Schweiß ausbrechen. Sie musste sich zusammenkauern und die einsamen Blumen betrachten, die sich durch das zerbrochene Kopfsteinpflaster mühten. Sie durfte den emsigen, lauten Gestalten, die unablässig schubsten und traten und stachen, keinerlei Beachtung schenken.
Es gab keine Stille. Tagsüber dröhnten von überall misstönende Ambosse. Endlose Bankette zischten und fauchten aus tausend Öfen. Bei Nacht erhob sich eine Mauer aus Sirenen und dem Knistern von Mana. Milliarden Stimmen krakeelten und keiften beständig, schrien vor Schmerz und Trauer, vor Lust und Zorn und überlagerten sich in ihrem Gebrabbel. Seit drei Monaten hatte sie nicht mehr das Flüstern des Windes in den Bäumen gehört. Sie hatte nichts davon gehört.
Die Gesichter. Der Lärm. Die unzähligen fremden Gerüche, die sich in ihrer Kehle ansammelten, um sie zu knebeln. Wenn es zu schwer zu ertragen war, kauerte sie sich im Garten zusammen und hielt sich die Ohren zu, und die Bäume wiegten sie in Sicherheit.
Alles hier war hart und grell und scharf.
Chandra. Augen wie ein Sonnenaufgang. Ein Gesicht, auf dem jeder ihrer Gedanken klar zu lesen stand. Furchtlos.
Oh, Zendikar. Wodurch habe ich sie nur verärgert? Was habe ich getan?
Doch ihre Freundin – ihre beste Freundin, ihre ständige Gefährtin seit vierzig Jahren – konnte ihr nicht antworten. Jener Winkel in ihrem Verstand, in dem Zendikar gelebt hatte, war stumm und leer. Es gibt so vieles, was ich nicht verstehe. Ich wünschte, du wärst hier.
Sie war noch nie unter so vielen anderen und doch noch niemals so allein gewesen.
„Nissa?“
„Ja.“ Sie nahm eine kleine rote Frucht aus ihrer Schale. Tomate, nannte Jace sie. Straffe Haut voller Wasser und ein feiner Geruch von Säure. „Was wolltest du gerne wissen?“
Baan legte sein Besteck in einem derart präzisen Winkel quer über den Rand seines Tellers, dass es ihr in den Augen wehtat, ehe er die Fingerspitzen wie zu einem kleinen Dach aneinanderpresste. „Bitte verzeihen Sie meine Neugier, Fräulein ... Nissa.“ Er runzelte die Stirn, als der Name ihm zwangsläufig einen Zischlaut entlockte. „Wenn ich das recht verstanden habe, verfügen Sie über die Fähigkeit, natürlich vorkommende Muster der Magie zu erkennen und zu manipulieren? Durch das Land selbst, wenn ich mich nicht irre?“
Der goldene Zierrat auf seinem Mantel tickte leise, ein Kontrapunkt zu der Uhr am anderen Ende des Raumes. Sie konnte die Energie in seinem Inneren zischen und klackern hören, unerkennbar für Gideon und vielleicht sogar für Baan selbst. Seine Ohren waren so klein wie die eines Menschen.
„Leylinien“, sagte sie. „Ja.“
Seine Nasenlöcher zuckten, als er scharf einatmete. „Ein faszinierende Inversion. Auf meiner Welt strömen ähnliche Energien durch die oberen Schichten des Himmels. Man nennt sie Äther. Wir schöpfen diese Kraft ab – auf Bergspitzen oder mithilfe von Thoptern – und speichern sie in mechanischen Geräten, um sie für eine Reihe produktiver Anwendungsgebiete zu nutzen. Tun die Menschen auf Ihrer Welt etwas Ähnliches?“
Dolchscharfe Steine schwebten in der Luft und beugten die Welt ihrem Willen. Ein Netz, ein Käfig ... ein Geflecht.
Eine Woge aus Übelkeit stieg kurz in ihr hoch.
„Nein“, sagte sie in ihre Schüssel und zog die Schultern zusammen. „Manche taten es, aber sie ...“ Die Geschichten türmten sich in ihrer Kehle auf. Wo sollte sie anfangen? „Das Land ist nicht – wir bitten es. Wir nehmen uns nichts ungefragt.“
„Bitten?“, wiederholte Baan und zog das Wort sehr lange. „Wen bitten Sie denn? Ihre Leylinien sind doch zweifellos ein natürlich vorkommendes Phänomen, nicht wahr?“ Seine Stimme wurde dünn vor ätzender Verachtung. Die Form seiner Augen veränderte sich und zeigte nun sehr spitze Winkel. „Würden Sie auch den Berg um seine freundliche Erlaubnis bitten, das Eisen an seinem Fuß zu schürfen? Würden Sie den Baum um die Frucht bitten, die Sie ernährt?“
„Ja.“ Mehr sagte sie nicht. Sie nahm die Tomate in den Mund und biss darauf. Das Wasser spritzte heraus – das scharfe Licht einer weißen Sonne, die unbarmherzig herabgleißte. Furchen dunkler Erde, durchsetzt mit den Überresten jener, die längst fort waren. Sanft bebaute Pfade, über die flüsternde Elfen und Dryaden tanzten. Schräg gehaltene Kannen, die geborgten Regen brachten, der auf Blätter prasselte und zitternd an ihnen herabrann..
Ein ganzes Leben in einem Mundvoll süßen Fleisches. Monate der Geduld. Danke, dachte sie und schluckte.
Gideon bewegte sich in seinem Stuhl. Er beugte sich vor und platzierte sich so auf unauffällige Weise zwischen ihnen. „Herr Minister, die Dinge sind ... anders ... auf Nissas Welt.“
Die schwere Tür am Ende des Raumes öffnete sich und ein erschöpft aussehender Jace trottete herein. Lavinia folgte ihm auf dem Fuße. Als er murmelte: „Ich könnte wirklich etwas zu trinken gebrauchen“, drückte sie ihm einen Becher Tee in die Hand, dessen Dampf nach Zitrone, Hibiskus und verschiedenen Kräutern duftete, die Nissa nicht erkannte. Er blinzelte. „Woher wusstest du ...?“
„Es ist meine Aufgabe, dich zu kennen, Gildenbund“, sagte sie steif. „Soll ich jemanden dein Abendessen aufwärmen lassen?“
„Nein. Danke, Lavinia.“ Er zog sich einen Stuhl heran – alte Eiche, dunkel von Jahren der Sonne. Nissa fragte sich, woher dieser Stuhl stammte. Er war deutlich älter als das Haus. Das Leben in ihm war nun nur mehr ein Flüstern, ein flüchtiger Schatten an einem wolkigen Tag.
Auf Jaces Teller befand sich eine gelblich-weiße Masse aus Käse und Getreide. Selbst kalt konnte Nissa sie von der anderen Seite des Raumes aus riechen. Er runzelte die Stirn. „Ist da Brokkoli drin?“
„Du brauchst Eisen“, sagte Lavinia.
„Ich hasse –“
„Du wirst ihn kaum schmecken.“ Ihre Stimme duldete keinen Widerspruch.
Baan sah ihn kühl an. „Sie wurden als Kind gehänselt.“
Jace verschluckte sich schier an seinem ersten Mundvoll Essen und brachte ihn nur mit größer Mühe hinunter. „Ich, ähm, erinnere mich nicht an meine Kindheit.“ Ein Dutzend verschwommener Gedanken flackerte vor seinem inneren Auge auf.
Der Kaladeshi hob die Brauen. „Man muss sich nicht bewusst an ein Ereignis erinnern, um sich Verhaltensweisen anzugewöhnen, die in der fraglichen Erfahrung begründet liegen. Es ist nicht unvorstellbar, dass jemand sein gesamtes Leben vergisst. Wenn dies der Fall wäre, so würde ich darauf wetten, dass der Betreffende noch immer die gleichen Entscheidungen träfe und sich zu den gleichen Menschen hingezogen fühlte.“ Er wedelte mit einer Hand wie ein Ochse, der eine lästige Fliege mit dem Schwanz verscheucht. „Das Wesen der Sterblichen ist nicht so veränderlich, wie man es leichtfertigerweise vielleicht annehmen könnte. Jemand mit religiösen Tendenzen wird immer etwas finden, was größer ist als er selbst, woran er glauben kann. Und ein Verbrecher bleibt für immer ein Verbrecher.“
Jace legte die Gabel weg. „Das ist ein sehr ... deterministischer Standpunkt, Herr Minister.“
Baan blinzelte, erst mit dem einen Auge, dann mit dem anderen. Es war kein einfaches Zwinkern, sondern eine Körpersprache, die einzigartig an ihm war. Eine, wie sie Nissa noch nie zuvor gesehen hatte. „Der sterbliche Korpus und selbst der Verstand ist lediglich eine Anordnung ausgefeilter Mechanismen. Nichts ist leichter, als einen in Gang gesetzten Mechanismus zu beobachten und die richtigen Schlüsse aus seinem Verhalten zu ziehen.“
Einen Augenblick lang herrschte Stille. Jace räusperte sich. „Hat Euch die Führung gefallen?“
Nissa blickte auf ihr Essen. Sie zupfte ein Stückchen gedämpften Fisch mit den Fingern heraus und ließ den Geschmack auf ihrer Zunge zergehen. Silbrige Leiber flimmerten in grünen Schatten. Torfbröckchen rau wie Grieß und das schwache Aroma von Metall. All dies kam nicht in ihrer Muttersprache zu ihr, aber es war ihr dennoch verständlich. Danke, dachte sie. Ich werde das, was du gegeben hast, weise nutzen.
Baans Stuhl knarzte, als er sich zurücklehnte. „Es gibt eine Reihe struktureller und organisatorischer Unzulänglichkeiten, auf die ich Sie nur zu Ihrem Besten hinweisen möchte. Die tragenden Balken in der untersten Etage sind angebrochen. Die Anwendung ausreichender Kraft würde sie einstürzen lassen. Die Anordnung der Möbel in den meisten Schlafräumen ist ineffizient und hinterlässt eine Vielzahl von ‚Taschen‘ im Raum – wenn Sie mir die Ungenauigkeit dieses Begriffs bitte verzeihen mögen –, die zu klein sind, um sie praktisch zu nutzen. Es gibt siebzehn Bücher, die auf die falschen Regale in der Bibliothek einsortiert wurden. Mehreren Lampen in der zweiten Etage fehlt der angemessene Schutz vor Zugluft ...“
„Vielleicht sollte ich mir das aufschreiben“, sagte Gideon mit einem schiefen Lächeln.
„Ich werde an alles denken“, sagte Jace.
Baan merkte auf. „Wenn ich das richtig verstanden habe, geht der Zwischenfall in Gideons Übungsraum zulasten der Pyromagierin in Ihren Diensten?“
„‚Dienste‘ ist da vielleicht etwas zu hart.“
„Ungeachtet der genauen Einzelheiten der von Ihnen untereinander getroffenen Vereinbarungen ist der Mangel an Vorsichtsmaßnahmen dennoch sehr bedenklich. Sie besitzen immerhin eine Bibliothek von einer hinreichend beachtlichen Auswahl und Größe. Für eine Pyromagierin ist sie jedoch lediglich Zunder. Würde etwas hier drinnen in Flammen aufgehen ...“
„Ich mag vielleicht ... Differenzen ... mit Chandra haben, aber ich vertraue darauf, dass ...“ Jace hielt inne. „Wo ist Chandra eigentlich?“
Nissa blickte auf. Chandras üblicher Platz am Tisch war leer.
Gideon zuckte die Schultern. „Ich habe auch schon nach ihr gesucht. Wir zwei müssen uns über den pfleglichen Umgang mit anderer Leute Sachen unterhalten. Das letzte Mal, dass ich sie sah, rannte sie vom Dach –“
Ihr Atem stockte.
„... und Liliana folgte ihr.“
Jace blickte ruckartig auf. Lavinia, die an der Tür stand, räusperte sich. „Gildenbund. Erlaubnis zum Rapport?“
„Was? Ja!“ Jace drehte sich in seinem Stuhl um. „Weißt du, wo sie sind?“
Lavinia nahm beinahe unmerklich Haltung an. „Vor einiger Zeit erbat Hauptmann Jura, dass ich jemanden abstelle, der der Gräfin Vess folgen soll, sobald sie das Haus verlässt.“
Jace funkelte Gideon an, der die Schultern zuckte. „Eine Nekromagierin. Man kann nie vorsichtig genug sein.“ Er schob sich eine weitere Gabel voll Fleisch in den Mund.
Lavinia verlagerte ihr Gewicht auf den anderen Fuß, wodurch ihre Rüstung zu schwingen begann – ein Geräusch, das niemand sonst im Raum hören konnte. „Sie hat die Mönchin Nalaar kontaktiert –“
Baan beugte sich in seinem Stuhl vor. Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen.
„Sie haben den Nachmittag damit verbracht, durch das Marktviertel zu spazieren und haben dann ... äh ... diese Welt verlassen.“
„Gemeinsam?“, fragte Jace.
„Jawohl.“
Gideon ließ die Gabel sinken. „Wohin?“
„Das können wir nicht wissen, mein Herr.“
„Nalaar,“, sagte Baan leise. Er sprach es mit der gleichen Betonung wie Chandra aus, die niemand sonst von ihnen jemals ganz genau nachzuahmen vermochte. „Sie müssen mir meine Konsterniertheit verzeihen. Dies ist ein Name, den ich seit vielen Jahren nicht mehr gehört habe.“
Jace schob seinen Teller beiseite und legte die Hände auf den Tisch. „Das müsst Ihr mir bitte erklären.“
„Ich könnte zwar nicht behaupten, dass mir das eine Freude wäre, doch ich nehme an, es ist nun einmal meine Pflicht.“ Baan faltete die Hände im Schoß. „Pia und Kiran Nalaar sind zwei Führungsfiguren aus der Frühzeit der Renegatenbewegung. Es handelte sich bei ihnen, so ungern ich dies auch sage, um Verbrecher, die an Diebstählen und der ungesetzmäßigen Umverteilung von Ätherressourcen des Konsulats beteiligt waren.“
„Sie sind mit Chandra verwandt?“, fragte Gideon. „Ich wusste nicht einmal, dass sie aus Kaladesh stammt ...“
„Ihre Eltern, wenn ich mich nicht sehr täusche. Vor zwölf Jahren überredeten sie ihre Tochter – deren Name nicht überliefert ist –, ihnen bei ihren Umtrieben als Schmuggler zu helfen. Ich bin mit den Einzelheiten nicht vertraut, doch das Mädchen entging ihrer Gefangennahme, als sie unvermittelt gefährliche pyromagische Kräfte entwickelte. Die Nalaars versuchten, sich auf dem Land zu verstecken. Durch eine Großfahndung wurden sie in Bunarat aufgespürt, doch während des Versuchs, sie dingfest zu machen, ging das Dorf in Flammen auf. Alle drei wurden vom diensthabenden Offizier als tot gemeldet.“
„Vor zwölf Jahren?“ Gideon zeigte sich verblüfft. „Aber sie ist doch erst ...!“
„Sie muss noch ein Kind gewesen sein“, sagte Nissa sanft.
Baan öffnete den Mund, schloss ihn wieder und lauschte in sich hinein, während er mit den Fingern auf die Verzierungen an seinem Ärmel tippte. „Sie müssen das bitte verstehen“, sagte er schließlich. „Dies wurde unter der Herrschaft einer früheren Regierung durchgeführt. Und selbst damals wurden diese Maßnahmen als ... ungewöhnlich ... angesehen. Der für die Untersuchung zuständige Offizier setzte selbige trotz einer offiziell anberaumten Beendigung fort. Wenn ich mich recht entsinne, wurde ihm der daraus entstandenen Kosten wegen ein ordentlicher Prozess gemacht.“
„Wegen der Kosten ... ?!“, entfuhr es Jace.
„Ich weiß nicht, was ihre Eltern getan haben“, sagte Gideon mit grimmiger Miene. „Und es ist mir auch gleich. Welche Verbrechen sie auch immer begangen haben mögen, so haben diese nichts mit Chandra zu tun.“ Er kniff die Augen ein wenig zusammen. „Handelt sie oft vorschnell? Sicher. Ich wäre ein Narr, das zu leugnen. Aber ihr Herz ist so groß wie der Mond.“
Baan verschränkte die Finger ineinander und stützte das Kinn auf ihnen ab. „Herr Gideon, Äther ist die Luft, die wir atmen. Er ist der Regen, der auf die Erde fällt, und das Laub an den Bäumen. Eine derartig große Macht wagen wir nur mit den Handschuhen des Handwerks anzurühren – Abertausenden von Teilen einer Maschinerie, von denen jedes seine ihm zugewiesene Funktion sicher und gefahrlos ausführt. Durch striktes Befolgen dieser Methode vermeiden wir 87,4 % der Unfälle, die von Magiern verursacht werden, welche unmittelbar auf Mana zugreifen. Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber insbesondere Pyromagier sind für durch sie ausgelöste ... Kollateralschäden ... bekannt.“ Baan atmete langsam ein, während seine fuchsienroten Augen über ein Bild huschten, das nur in seinem Kopf existierte. „In der Vergangenheit haben Pyromagier entsetzliche Tragödien angerichtet. Nicht immer mit Absicht, doch stets aufgrund ihrer Natur.“
„Also habt Ihr Streichhölzer verboten?“, fragte Gideon mit einer Ernsthaftigkeit und Strenge, die Nissa noch nie zuvor bei ihm gehört hatte.
Baan senkte den Blick. „Darf ich aus Ihren Reaktionen schließen, dass Fräulein Nalaar in Ihrem Beisein nie darüber gesprochen hat?“
„Kein einziges Wort“, sagte Gideon. Er starrte auf die Reste seines Essens und ballte eine Hand zur Faust.
Jace blickte ihn mitfühlend an. „Sie hat sich niemandem von uns anvertraut.“
Gideon schüttelte schwach den Kopf. „Aber sie hätte doch wissen müssen, dass sie das kann.“
„Das war ihre Entscheidung. Nicht unsere“, murmelte Nissa. Sie legte eine Fingerspitze auf den Rand ihrer Schale und strich darüber, um das Gefäß in Schwingungen zu versetzen. „Wir alle haben Narben, von denen wir nicht wollen, dass ein anderer sie berührt.“
Chandra hatte ihr gegenüber gesessen, mit brennenden Wangen und mit den Händen Blumenstängel verbiegend, und sie hatte um nichts weiter als einen Augenblick des Friedens gebeten. Um etwas, was das heftige, vogelhafte Flattern ihres Herzens verlangsamt hätte. Doch Nissa hatte sich falsch bewegt. Chandra war auf und davon geflogen.
„Wenn ich eine Frage stellen dürfte“, sagte Baan. „Wohin ist sie Ihrer Meinung nach denn gegangen? Sie wird doch kaum so voreilig sein, nach Kaladesh aufzubrechen?“
Nissa schaute auf. Jace und Gideon wechselten einen Blick. Beide sahen sie kurz an.
Sie standen gemeinsam auf.
Jace wandte sich zum Mantelraum um. „Ich gehe nach Kaladesh. Es sollte ein Leichtes für mich sein, sie –“
Lavinia stellte sich ihm in den Weg, eine Hand am Knauf ihres Schwertes. „Schon wieder?“, fragte sie mit leiser, enttäuschter Stimme.
Er blickte sie finster an. „Du kannst doch nicht erwarten, dass ich hier herumsitze und Papierkram erledige!“
Sie nickte in Richtung von Gideon und Nissa. „Sie können die Mönchin Nalaar finden. Sie können nicht der Gildenbund sein."
Gideon legte Jace eine fleischige Hand auf die Schulter. „Sie hat nicht ganz unrecht. Denk an das große Ganze, Jace. Ich kann das hier erledigen. Obwohl ich mich kaum darauf freue.“ Er seufzte. „Du weißt, wie sie ist, wenn ihr jemand vorschreibt, was sie tun soll ...“
Kaladesh. Ghirapur. Eine Stadt aus Messing und Industrie. Wie auch Ravnica eine Stadt, die niemals schlief, wo der Wind nach Metall und knisternden Energien roch und endlose Ströme menschlicher Gesichter auf und ab wogten. Ein Meer aus Fremden, die sie angafften und flüsterten. Sie anstarrten. Auf sie deuteten. Sie schubsten.
„Ich werde gehen.“ Die Worte waren schon ausgesprochen, noch ehe sie sie gedacht hatte.
Gideon drehte sich zu ihr um. „Bist du sicher?“ Sein Blick wanderte zu ihren zitternden Fingern. „Nissa, du musst nicht allein gehen.“
Sie ballte die Hände zu Fäusten, um sie zu beruhigen. „Ich werde nach Kaladesh gehen. Baan kann mich führen. Ich werde ...“
Was?
Chandra nach Hause holen? Sie war zu Hause.
Sie aus Schwierigkeiten befreien? Sie war eine erwachsene Frau. Sie konnte tun, was sie wollte.
Sie beschützen? Chandras Herz war ein Baloth. Sie brauchte keine Heldin.
„... ihr zur Seite stehen.“
Das fühlte sich richtig an.
Kaladesh-Storyarchiv
Planeswalker-Profil: Chandra Nalaar
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Weltenbeschreibung: Ravnica