Was bisher geschah: Überdauern

Empört über die anhaltende Zerstörung, die über Amonkhet hereinbricht, stellen sich die Wächter Nicol Bolas entgegen, um ihn für seine Gräueltaten im ganzen Multiversum zur Rechenschaft zu ziehen. Nicol Bolas verfolgt jedoch eigene Pläne.


Nicol Bolas flog auf die Helden zu, begierig darauf, heute jemanden zu töten.

Entweder sollte er Tod, Schreie und Blut bekommen oder vielleicht gar etwas noch Besseres.

Er rechnete nicht damit, dass es beides sein würde. Man konnte eben nicht alles haben. Selbst ein Nicol Bolas nicht. Er war nicht gierig. Gier bedeutete, etwas zu wollen, was man nicht verdiente.

Und alles, was Nicol Bolas wollte, hatte er mehr als verdient.

Vor einigen Jahrzehnten war er auf die Welt Amonkhet gekommen – eine kümmerliche, von Aberglauben beherrschte Hinterwelt, die niemanden von Bedeutung interessierte, und kaum jemand schenkte ihr überhaupt Beachtung. Er hatte sich vorbereitet – Schicht um Schicht an Vorbereitungen hatte er getroffen. Erbärmliche Leben, die ohnehin bald geendet hätten, endeten nun einfach ein wenig früher und ein wenig gewaltsamer.

Unter gewöhnlichen Umständen wäre das alles kaum der Mühe wert gewesen. Allerdings ... Allerdings waren einige Jahrzehnte nur ein Wimpernschlag für ihn gewesen, als er im Vollbesitz seiner Kräfte gewesen war und über die Göttlichkeit hatte gebieten können, die ihm zustand. Doch so, wie er nun war – nur noch der Schatten eines Schattens eines Gottes –, waren ihm diese Jahrzehnte wie eine Ewigkeit vorgekommen.

Und das Nachgrübeln über all das, was er verloren hatte, fachte die Glut des Hasses, die in seiner Brust schwelte, nur umso mehr an. Die größer werdende Flamme fühlte sich gut an. Der Hass fühlte sich richtig an. Heute, dachte Nicol Bolas, beginnt es.

Er flog zur Mitte eines verwüsteten Platzes herab. Geröll und zerschmetterte Leichen zierten die umgestürzten Statuen und zerbrochenen Obelisken. Am Rande des Platzes hatten fünf Planeswalker Aufstellung bezogen, grimmige Entschlossenheit auf den winzigen Gesichtern. Er erkannte jeden von ihnen sofort. Er hatte sie ausgekundschaftet, studiert, analysiert und kategorisiert. Chandra Nalaar, Pyromagierin. Liliana Vess, Nekromagierin. Jace Beleren, Telepath und Illusionist. Nissa Revane, Elementaristin. Gideon Jura, unverwundbarer Kämpfer.

Sie nannten sich selbst Die Wächter. Als ob das Multiversum irgendwen brauchte, der es bewachte. Wovor denn?

Die Helden, dachte Nicol Bolas. Seien sie gesegnet. Jeder Einzelne von ihnen.

Wolken aus gelbem Staub stoben in die Luft, aufgewirbelt vom Schlagen seiner gewaltigen Schwingen. Er sah, wie sich Chandras Augen ein wenig weiteten, als ihr bewusst wurde – vermutlich erst genau in diesem Moment –, wie groß Nicol Bolas war. Ihre Naivität war entzückend. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob sich diese Helden für das eigneten, wofür er sie vorgesehen hatte.

Es spielte keine Rolle. Sollte es nötig werden, gab es noch andere.

Winzige Nadelstiche kitzelten seinen Verstand: eine vorsichtige, aber beharrliche Sondierung durch Jace. Ja, mein lieber Junge, such ruhig deinen Halt an mir, beschwor ihn Bolas stumm. Er landete mit einem dumpfen Aufschlag und schlug ein letztes Mal schwerfällig mit den Flügeln. Er hatte lange keine Schwingen gebraucht, um zu fliegen, doch es gefiel ihm, wie es sich anfühlte, seine ganze Pracht zu entfalten und stolz zur Schau zu stellen.

Er hob den Kopf zum Himmel und brüllte: ein kehliger Ruf, der Gebäude zum Erbeben und Herzen zum Stocken brachte. In seinem Gebrüll hallten die Schreie zahlloser anderer Jäger durch die Äonen hinweg wider – Jäger, die nicht mehr still zu sein brauchten. Im Laufe der vielen Jahre hatte Nicol Bolas gelernt, dass es ihm wenig nutzte, ganz den Drachen zu geben. Es machte aber auch keinen Spaß, zu wenig Drache zu sein.

Die fünf Planeswalker standen unsicher um ihn herum. Er breitete sein Bewusstsein aus und spürte die seichten Wogen ihrer von Jace in die Wege geleiteten telepathischen Unterhaltung. Er hätte sie abfangen können, wenn er es denn gewollt hätte, doch er hielt es für spannender, mit eigenen Augen zu sehen, welchen Plan diese anderen Planeswalker ersonnen hatten. In Anbetracht ihres Zögerns und Zauderns war er wahrscheinlich eher enttäuschend.

Oh, sie hatten mit Sicherheit einen Plan. Ein Plan konnte großzügig betrachtet auch einfach nur aus einem simplen Wir töten den Drachen bestehen. Oder Du verbrennst ihn, du zombifizierst ihn, du elementarisierst ihn, du illusionierst ihn, du blockst ihn. Dies alles ging mit ein wenig Wohlwollen bereits als Plan durch. Und Pläne ähnlicher Gestalt hatten sie bei ihren jüngsten Eskapaden durchaus weit gebracht. Nicol Bolas wusste Effizienz zu schätzen. Warum sollte man sich auch die Mühe machen, besonders gewitzt zu sein, wenn das Multiversum sich bequemerweise dazu verschworen hatte, die eigene Dummheit am Leben zu halten?

Chandra und Nissa begannen, ihn in entgegengesetzte Richtungen zu umkreisen. Ja, Taktik, ganz zweifellos. Er fragte sich, wie sehr es sie entmutigen würde, wenn er ihnen applaudierte. Metaphorisch gesprochen natürlich. Sein Klauen eigneten sich nicht sonderlich gut zum Spenden von Beifall.

Nicht zum ersten Mal versetzte es ihn in Erstaunen, wie es diesen Planeswalkern gelungen war, so lange am Leben zu bleiben. Sie waren Kinder eines zivilisierten und verzärtelten Zeitalters, diese Planeswalker – diese Wächter. Sie hatten keine Ahnung von den Gefahren, die auf sie lauerten und bereit waren, sie zu töten ... oder Schlimmeres. Das Fehlen tatsächlicher Macht hatte sie irgendwie vor all den vielen Möglichkeiten bewahrt, auf die sie hätten ums Leben kommen können. Oder vielmehr das Fehlen jeglichen Wissens darüber, wie tatsächliche Macht eigentlich auszusehen hatte. Mit Ausnahme von Liliana hatte keiner von ihnen je wahre Macht gekannt.

Nicol Bolas fuhr sich mit einer zischelnden Zunge über die Lippen. Er tat es lediglich der Wirkung wegen, doch das machte es nicht weniger erforderlich.

Diese Planeswalker hatten ihr Leben lang Glück gehabt. Das Problem mit einem solchen Leben war jedoch, dass jede Glückssträhne irgendwann endete, wie Nicol Bolas nur allzu gut wusste. Das eigene Schicksal verdüsterte sich. Der mühelose Zauber ging einem abhanden. Und in diesen Augenblicken des Unglücks und der Ungerechtigkeit half es, einen gut vorbereiteten und makellosen Plan zu haben. Genauer gesagt sogar gleich mehrere davon. Im Idealfall sogar eine ganze Menge, aber sofern man kein brillanter Drachenältester, Erzmagier und Planeswalker in einer Person war, reichten „mehrere“ in aller Regel aus.

Oder einer. Nur ein Plan. Selbst der kleinste Funke von Genialität – taktisch oder strategisch – hätte Nicol Bolas Hoffnung für ihre Zukunft gemacht. Doch er sah den Plan in ihren Gesichtern, in ihren angespannten Muskeln und in ihren zu Schlitzen verengten Augen ... und in den stärker werdenden Wogen ihres telepathischen Plausches.

Sie hatten sich für Wir töten den Drachen entschieden. Bis zu einem gewissen Punkt konnte Bolas das verstehen. Simple Pläne wurden gern einmal unterschützt, besonders von den richtig klugen Köpfen. Viel zu oft verlor ein intelligenter Gegner eine Schlacht wegen seiner viel zu komplexen Herangehensweise an die Lage. Meisterhaft umgesetzt konnten simple Pläne ausgesprochen verheerend sein.

Aber simple Pläne als letztes Mittel der Verzweifelten? Die Folgen dieses Ansatzes würden hier in Kürze aufgezeigt werden. Er sollte entweder Blut oder gar etwas noch Besseres bekommen, und er war so oder so ganz begierig darauf, dass es endlich losging.


Jace

Der Drache landete weich auf dem Platz, und Jace hatte Angst.

Nichts an diesem Tag war so gelaufen wie geplant. Er hatte zu viel Schrecken und zu viel Tod gebracht – und zu viele Leben, die sie nicht hatten retten können. Sie hatten zu helfen versucht, so gut es eben ging, aber sie waren wie Schnaken gewesen, die einem Sturm trotzen wollten. Jace hatte noch nie zuvor so viel Tod gesehen.

Er fühlte sich leer, und sein Verstand war gegenüber der endlosen Pein und Trauer, der er sich ausgesetzt gesehen hatte, wie abgestumpft. Einen Augenblick lang kamen die Bilder: Schreiende Kinder; fliehende Menschen, die zu entkommen versuchten und von hinten niedergestreckt wurden; beständig surrende Insektenflügel ... Nein. Er verschloss sich diesen Eindrücken wieder. Es galt eine Aufgabe zu beenden.

Doch nun war es mehr als eine Aufgabe. Jace hatte Gideon gedrängt, einen echten Plan zu entwickeln, und er hatte davor gewarnt, Nicol Bolas unvorbereitet gegenüberzutreten, aber Gideon war nicht zu bremsen gewesen: Sein roher Schmerz hatte jedes seiner Wort durchzogen, als er darauf bestanden hatte, sich dem Drachen sofort zu stellen.

„Er wird für alles, was er getan hat, bezahlen. Das muss er.“ Es war jener letzte Satz, der Jace so sehr besorgte. Doch er stritt nicht mit Gideon. Niemand von ihnen tat das, nicht einmal Liliana. Sie alle waren leer. Sie alle suchten nach einem Sinn in dem Gemetzel und den Schreien der Kinder. Sie wollten Gerechtigkeit.

Irgendwo musste es Gerechtigkeit geben, doch hier und heute auf Amonkhet blieb sie nach wie vor verschollen.

Bist du sicher?, fragte Jace Gideon ein letztes Mal und hoffte, dass es einen besseren Plan gab.

Wir beharken ihn mit allem, was wir haben. Er wird fallen, erwiderte Gideon. Jace hatte noch nie so viel unterdrückte Wut in Gideon gespürt, wie sie sich nun in dessen übliche starrsinnige Entschlossenheit mischte. Jace wurde von den Strömen dieser Wut erfasst und zwang sich zu glauben, dass sie heute triumphieren würden.

Sie fingen an. Gideon stürmte vor. Sein goldener Schutzschild schimmerte, während Chandra Flammenstöße auf den Weg brachte. Dank Nissa brachen Setzlinge aus dem Boden, die zu Wurzeln und Ranken wurden und sich bogen und um die Beine des Drachen wanden. Liliana begann, die Toten zu erheben – und an denen herrschte nach dem Gemetzel in der Stadt kein Mangel.

Jace versuchte, Bolas’ Verstand anzugreifen.

Die Mauern um den Geist des Drachen waren glatt und konturlos wie Obsidian. Es schien keinen Eingang zu geben, nichts, woran man sich auch nur hätte festhalten können. Jace hatte noch nie einen dermaßen gut befestigten Verstand erlebt – außer bei ... Ihn überkam der Hauch einer Erinnerung an einen Verstand so glatt und schillernd wie eine Kristallmauer. Doch kaum sickerte der Gedanke in seinen Geist ein, löschte er sich auch schon selbst wieder aus, und Jace vermochte sich nicht mehr daran zu erinnern, wo er so etwas gesehen haben konnte, oder auch nur daran, was es überhaupt gewesen war.

Was ... Jace schüttelte die plötzliche Geistesabwesenheit ab, die sich seiner bemächtigt hatte. Sie schien nicht von Bolas zu stammen, sondern aus ihm selbst. Worüber habe ich gerade nachgedacht? Doch er wusste es nicht mehr. Bolas’ Verstand ragte noch immer vor ihm auf, verschlossen und undurchdringlich, während er vergebens einen Weg hinein suchte.

Seinen Freunden erging es nicht besser.

Nicol Bolas’ Schwanz schlug blitzschnell um sich, und sein Ende prallte mit der Wucht eines anstürmenden Baloths auf Gideon und seinen Unverwundbarkeitsschild. Gideon wurde gegen eine dicke Backsteinmauer geschleudert, die einen Teil des Platzes umgab. Sein Schild verhinderte, dass er verletzt wurde, doch er konnte wenig anderes tun, als sich von Bolas’ Schwanz wie ein Ball an einer Schnur gegen diese Mauer werfen zu lassen – immer und immer wieder, während bei jedem Aufprall Steine zerbarsten und umherflogen.

Die Mauer würde zwar vor Gideon zerbrechen, doch es würde auch eine ganze Weile nichts anderes geschehen.

Bolas schenkte Chandras Feuer keinerlei Beachtung, trampelte über Lilianas Zombies hinweg und zerriss Nissas Ranken. Er machte keine Anstalten, sie anzugreifen, sondern begnügte sich damit, den hilflosen Gideon gegen die Mauer zu schleudern. Er starrte Jace an und wusste, was der Telepath vorhatte und woran er scheiterte.

Die Stimme dröhnte mit aller Subtilität einer Lawine in Jaces Verstand und riss mühelos einige seiner Schutzmaßnahmen in Fetzen. Du hast nicht länger als einen Wimpernschlag gelebt, und wegen eines klitzekleinen Quäntchens an Naturtalent wagst du es, meinen Verstand zu berühren? Und da nannte man mich überheblich. Bolas’ Gelächter war beißend wie Säure und begann, Jaces Verstand zu zersetzen.

Eilig begann er, stärkere mentale Schilde zu errichten, entsetzt darüber, wie leicht es Bolas gefallen war, seine äußeren Mauern einzureißen. Doch vielleicht hatte der Drache in seiner Überheblichkeit einen Fehler gemacht. Bolas hatte eine Spur hinterlassen, ein metaphysisches Band, das seinen Verstand mit dem von Jace verband. Vielleicht war dies genau der Halt, den Jace brauchte.

Er folgte der Spur, in dem verzweifelten Bemühen, den Durchbruch zu schaffen und seine Freunde zu retten.

Und es klappte! Er fand einen kleinen Spalt inmitten der ansonsten konturlosen Obsidianschilde. Er konzentrierte sich darauf, ihn weiter zu öffnen. Er musste nur ...

Wenn du hineinwillst, Kind, hättest du doch nur fragen müssen. Jedes Wort von Bolas war wie ein Felsen, der einen Berg herabstürzte.

Der Obsidianschild verschwand, und Jace plumpste völlig überrumpelt in Nicol Bolas’ Verstand hinein. Und dort wartete lächelnd der Drache.

Nicol Bolas umklammerte Jaces Verstand, während dieser versuchte, ihn abzuschütteln. Jace krümmte sich vor Schmerz zusammen und schalt sich dafür, so leicht in Bolas’ Falle getappt zu sein. Ich muss mir mehr Mühe geben. Er konnte dieser Falle noch immer entkommen – er brauchte einfach nur mehr Zeit. Sekunden, mehr nicht. Nur Sekunden ...

Du hast keine Sekunden mehr, flüsterte Bolas in seinem Verstand. Das Multiversum hat mit Narren nur eine begrenzte Zeit Geduld. Eine nützliche Lektion ... falls du überleben solltest. Der Drache hielt Jaces Verstand grob gepackt und drückte zu.

Synapsen fielen in sich zusammen. Schmerz gleißte auf. Wahnsinn lockte. Eine Woge aus Finsternis türmte sich in der Ferne auf. Jace wusste, dass der Aufprall dieser Welle das Ende bedeuten würde. Der Tod des Verstands. Ohne einen bewussten Gedanken zu fassen, begann er blindlings, diese Welt zu verlassen. Er wusste nicht, wohin, und es kümmerte ihn auch nicht. Er musste dieser Woge aus Finsternis entrinnen.

Er spürte, wie er durch die Blinden Ewigkeiten gezogen wurde, als die Woge über ihm zusammenbrach, und dann wusste er gar nichts mehr.


Liliana

Liliana starrte entsetzt auf die leere Stelle, an der sich vor Augenblicken noch Jace befunden hatte. Der Kampf gegen Bolas war eine Katastrophe – ganz so, wie sie es befürchtet hatte. Sie war noch immer voller Hoffnung gewesen, dass Jace schon irgendein Plan einfallen würde, als dieser vor Schmerz aufschrie. Es war ein Schrei, den sie nur allzu gut kannte: der Schrei eines Sterbenden, der Urschrei eines Lebens, das nicht enden wollte.

Liliana zitterte. Er kann nicht tot sein. Er hat die Welt verlassen, bevor es zu Ende ging. Ich habe es gesehen. Er ist am Leben.

„Das war euer Fachmann für Fragen des Geistes, nehme ich an? Habt ihr einen Ersatz? Ich kann warten. Und ich verspreche, nicht zu lauschen, während ihr einander anschreit.“ Nicol Bolas kostete jedes Wort aus. Seine Stimme dröhnte über den offenen Platz und wurde von dem beständigen Klatschen unterstrichen, während er Gideon weiter gegen die Wand prallen ließ.

Liliana kochte vor Wut. Sie hatte gewusst, dass dieser Kampf gegen Nicol Bolas eine schreckliche Idee war und dass jede fehlgeleitete Einmischung und Ablenkung, um den dem Untergang geweihten Bewohnern dieser Welt zu helfen, ihr Ende nur weiter hinauszögern würde. Die Gruppe war abgerissen und ausgezehrt und nicht in der Verfassung, sich einem Planeswalker zu stellen, der so mächtig war wie Bolas. Liliana wäre bereits abgereist, hätte sie nicht selbst durch ihre Machenschaften, einen Sieg über Razaketh herbeizuführen, die Gruppe jenseits ihrer Belastungsgrenze getrieben. Einige Male hatte sie bereits erwogen, die Gruppe zu verlassen, doch sie fand, dass ihre Investition in sie es rechtfertigte, weiter Teil von ihr zu bleiben.

Vielleicht hatte sie die falsche Entscheidung getroffen.

Doch dies war nicht der einzige Grund für ihren Zorn. Vor langer Zeit, damals auf Innistrad, hatte sie ihre Gefühle für Jace mit jenen verglichen, die sie einem Hündchen oder einem anderen Haustier entgegenbringen würde. Der Junge war wie beabsichtigt angesprungen.

Liliana hatte ihre Haustiere gern. Üblicherweise war es eine schlechte Idee, sich mit jemandem anzulegen, der ihr gehörte. Sie war begierig darauf, Bolas die Folgen seiner Torheit zu zeigen.

Ja, benutze uns. Entfessle deine volle Macht, wisperte der Kettenschleier an ihrer Hüfte.

Du warst nie eine so große Närrin, ernsthaft zu glauben, dass du diesen Kampf gewinnen könntest, Liliana, flüsterte der Rabenmann.

Und das war vielleicht der wichtigste Grund für ihren Zorn. Sie wollte, dass ihre Gedanken wieder ihr allein gehörten.

Sie wusste, dass sie den Kettenschleier verwenden musste – und mit ihm die Geister der Toten der Onakke –, wenn sie gegen Bolas kämpfen sollte. Der Schleier gewährte ihr große Macht, doch diese Macht hatte stets einen Preis. Jedes Mal, wenn sie sie nutzte, riskierte sie den Tod oder die Unterwerfung durch die Geister der Onakke. Und keines dieser beiden Schicksale war hinnehmbar.

Der Kampf ebbte ab, als Chandra und Nissa mit ihrem eigenen Entsetzen über den Verlust von Jace fertigzuwerden versuchten. Nichts, was die drei bislang getan hatten, hatte gegen den Drachen irgendetwas ausgerichtet. Nicol Bolas wandte sich zu Liliana und lächelte: eine groteske Zurschaustellung von Zähnen und Arroganz, die Liliana abstoßend fand – nicht zuletzt deshalb, weil sie erkannte, dass sie selbst genauso dazu neigte, besiegten Feinden ein derartiges Lächeln zu schenken.

„Liliana Vess. Wie schön, dich wiederzusehen. Deine Haut sieht erstaunlich ... gesund ... aus.“ Bolas versuchte nicht einmal, seine Herablassung zu verbergen.

Ihre Finger zuckten zum Kettenschleier. „Ich werde dich töten, Bolas. Ich werde dich sterben sehen und dann deine Leiche wiederbeleben, um ...“

„O bitte“, schnitt Nicol Bolas ihr das Wort ab. „Diese Kinder hatten diesen Kampf schon verloren, noch ehe sie geboren worden waren. Das weißt du. Von ihnen weißt du allein, was wahre Macht ist. Von ihnen weißt du allein, was wahre Macht wieder sein kann.“

Der Drache sagte die Wahrheit, doch erneut dachte sie an Jaces letzten Schrei, an den Jungen, der blindlings diese Welt verlassen hatte. Die in ihr Gesicht und ihren Körper geritzten Runen leuchteten in einem dunklen Violett, während der Schleier weiter zu ihr wisperte. Mit unserer Macht hat er dir nichts entgegenzusetzen. Benutze uns!

Der Drache beugte den Kopf dichter zu Liliana und senkte die Stimme zu einem sanften, leisen Flüstern. „Ich verstehe dich, Liliana. Du hast dich ihnen angeschlossen und dich darauf verlassen, dass du sie manipulieren kannst. Doch das Problem dabei, sich mit Narren zu umgeben, ist ... dies.“ Der Drache drehte den Kopf und nahm den Rest der Szenerie in sich auf, während Chandra und Nissa sich aneinanderklammerten, um einen neuen Plan zu ersinnen.

Jedes Wort, das er sprach, war die Wahrheit, und das war mehr, als sie ertragen konnte. Sie strich über den Kettenschleier und sog die Macht, die sie brauchte, in sich auf. Ja, riefen die Stimmen in den goldenen Kettengliedern. Ja, wir werden ihn vernichten!

Der Drache fuhr mit seiner sanften Stimme fort: „Weißt du, wie du den Kettenschleier nutzen kannst, ohne dass er deine Haut aufreißt oder dir das Leben entzieht, Liliana? Weißt du, wie du die Geister der Onakke dazu bringen kannst, dir als ihre Herrin zu dienen, anstatt nach der Vernichtung deines Leibes und deiner Seele zu trachten? Ich weiß es, Liliana. Ich weiß es.“

Er lügt!, schrien die Onakke in ihrem Kopf. Eindringling! Wir werden ihn zermalmen!

Du weißt, dass er die Wahrheit sagt, Liliana. Er kann dir helfen. Der Rabenmann.

Seid still!, herrschte sie all die Stimmen in ihrem Kopf an, und diese verstummten gnädigerweise. Sie war ausgelaugt, erschöpft. Wusste Nicol Bolas wirklich, wie man den Kettenschleier beherrschen konnte? Eines Tages würde der Schleier sie töten. Bei jedem Einsatz zeigte er ihr, dass sie nicht seine Herrin war, wenn er ihren Willen beugte und ihren Körper schändete.

„Ja, in den Händen der Uneingeweihten ist er eine garstige Waffe. Es zeugt von deiner Macht und deinem Können, dass er dich noch nicht getötet hat. Doch ich kann dir helfen, seine Macht zu entfesseln, Liliana. Seine wahre Macht.“

Liliana ließ den Schleier schlaff an ihrer Seite baumeln. Sie suchte Gideons Blick. Er war während seiner Tortur als Bolas’ Spielball grimmig und stoisch geblieben, während er wieder und wieder gegen die zerbröckelnde Mauer geschleudert wurde. Ich brauche mehr als Schweigen von dir, Gideon, dachte sie bei sich selbst. Liliana hasste es, über ihren nächsten Schritt so im Unklaren zu sein.

Bolas starrte sie an, seine Augen schwarze Seen aus Bosheit. „Ich verspreche dir eines: Ob du den Kettenschleier nun einsetzt oder nicht – wenn du heute gegen mich kämpfst, wirst du sterben. Ich bin ein besserer Telepath als euer Gedankenmagier, zerstörerischer als eure Feuermagierin, mächtiger als eure Elementaristin und ein besserer General als euer sogenannter Taktiker. Dass jeder von euch so lange überlebt hat, ist lediglich Ausdruck dessen, wie nützlich ihr mir seid.“

Nissa und Chandra näherten sich gemeinsam. Nissas Augen leuchteten in hellem Grün, und die Erde grollte unter ihren Füßen und hob sie eine gute Handbreit in die Höhe. „Du lügst, Drache“, zischte sie mit vor seltenem Zorn verzerrtem Gesicht.

Belustigt wandte er sich zu ihr. „Lügen? Ich? Sieh dich doch um, Elfe. Welchen Grund hätte ich denn, hier etwas vorzutäuschen?“ Das Grollen unter Nissas Füßen wurde lauter.

Bolas richtete sich auf, und seine riesenhafte Gestalt ragte erneut über ihnen allen auf. „Liliana. Geh. Geh fort, wenn du leben willst. Der sicherste Ort im Multiversum ist der, an dem du mir nützlich bist.“

Sie würden heute nicht gewinnen. So viel war klar. Wie Bolas selbst gesagt hatte, hatten diese Kinder den Kampf schon verloren, noch ehe sie überhaupt geboren worden waren. Und es stimmte ja. Wozu sollten sie kämpfen? Um zu sterben? Das war lachhaft, selbst für diese Gruppe. Sie schaute erneut zu der Stelle, an der Jace gestanden hatte. Seine schmerzerfüllten Schreie hallten in ihrem Verstand wider. Sie spürte etwas Nasses in den Augenwinkeln, doch sie zwang es fort, völlig unwillens, Schwäche vor irgendjemandem zu zeigen.

Sie wusste nicht, was sie dazu brachte, sich zu den anderen umzudrehen, aber sie tat es dennoch. Die Worte kamen, bevor sie sie aufhalten konnte.

„Kommt mit mir. Wir wurden besiegt. Das seht ihr doch, oder? Wir werden heute nicht gewinnen. Wir können uns neu sammeln, Jace finden, uns etwas ausdenken ...“ Es kümmerte sie nicht, dass Bolas sie hören konnte. Er wusste, dass sie keine Chance hatten, und er würde auch nicht glauben, dass sie in Zukunft eine Chance haben würden.

Er hat recht, flüsterte der Rabenmann. Der Kettenschleier schwieg.

Chandra wich Lilianas Blick aus. Nissa schüttelte den Kopf. Der Zorn auf Gideons Gesicht war offensichtlich, aber er ging nicht auf ihre Worte ein oder bat sie inbrünstig, ihre Meinung zu ändern. Sie war den Strudel an Gefühlsregungen, die sie verspürte, nicht gewohnt. Es wäre besser gewesen, einfach fortzugehen und sie ihrem Schicksal zu überlassen.

„Bitte. Wenn ihr hierbleibt, werdet ihr sterben. Das ist nicht der richtige Weg.“ Sie hasste, wie flehentlich ihre Stimme klang, aber sie meinte jedes Wort.

Sie antworteten nicht.

Sie wandte sich zurück zu Bolas. „Wo ... Wohin soll ich gehen?“ Sie schluckte beklommen und fand es genauso schwer, diese Worte auszusprechen, wie die anderen zuvor.

„Nein!“, schrie Chandra. „Nein! Wir haben dir vertraut! Ich habe dir vertraut! Nein!“ Chandras Kopf und Hände gingen erneut in Flammen auf. Du wusstest, wer ich war, Kind. Du wusstest es. Doch diese Worte konnte sie nicht laut aussprechen.

„Fort“, sagte Bolas. „Fort. Ich werde dich finden, und dann reden wir. Es gibt so viele nützliche Angelegenheiten zu besprechen. Geh jetzt, Liliana Vess.“

All ihre Entscheidungen hatten sie an diesen Punkt geführt. Zu einem weiteren Verrat. Zu einer weiteren Enttäuschung. Zu einer weiteren Falle. Das war der Trost, den sie in den Toten fand. Sie konnte man nicht verraten. Sie konnte man nicht enttäuschen. Sie blickten einen nicht mit verletztem Zorn in den Augen an.

Sie sah zu Chandra und fragte sich, ob sie sie niederstrecken musste, um zu überleben. Die Luft um sie herum wurde sehr heiß. Ich will dich nicht töten, Chandra.

Dann geh fort, flüsterte der Rabenmann.

Das war eines der wenigen Male, dass sie mit der verfluchten Stimme einer Meinung war. Sie umgab sich mit einem leuchtenden Nimbus aus dunkler Energie und verschwand in der Leere, und ihre Tränen konnten endlich ungehindert ins Nichts zwischen den Welten fließen.


Chandra

Sie wollte, dass dieser Tag – dieser schreckliche, entsetzliche Tag – endlich vorbei war. Nichts war nach Plan verlaufen.

Sie hatte Gideons Vorhaben für brillant gehalten – bar unnützer Einzelheiten, die sich ohnehin ständig ändern würden. Es war ein kurzer, simpler Plan, der genau zu ihren Fähigkeiten passte. Perfekt.

Und selbst wenn er nicht perfekt war, so gab er ihr doch die Freiheit, schön etwas zu verbrennen. Und sie musste irgendetwas verbrennen, um all das Grauen und das Blutvergießen zu verarbeiten, das sie heute gesehen hatte. Trauer konnte sie nicht wegbrennen. Schrecken konnte sie nicht wegbrennen. Mutlosigkeit konnte sie nicht wegbrennen.

Also beschloss sie, sich damit zu begnügen, Bolas zu verbrennen.

Doch das gelang ihr nicht. Ja, er war ein Drache, und das wusste sie auch, doch sie hatte gehofft, ihn zumindest verletzen zu können. Es war ja nicht so, als würde er buchstäblich aus Feuer bestehen. Sie musste es stärker versuchen.

Nicol Bolas blickte auf die Planeswalker herab und lächelte. „Und da waren es nur noch drei. Ich wollte eure Nekromagierin, die uns kürzlich verlassen hat, nicht ärgern, aber ganz unter uns: Ich muss zugeben, ich kenne mich ziemlich gut mit Nekromagie aus. Habt ihr einen Platz für mich bei euch Wächtern? Gibt es irgendeine Art von Bewerbungsprozess?“

„Sei still!“, schrie Chandra. Sie hasste Leute, die endlos redeten, nur um zu zeigen, wie schlau sie waren. Sie hasste verräterische Nekromagierinnen, die so taten, als wären sie ihre Freundin. Und an meisten hasste sie es, zu verlieren – sie hasste, hasste, hasste es.

Ihr Feuer war gleißend weiß, sprühende Ströme aus Feuer, die auf den Drachen eindrangen. Bolas’ kniff die Augen zusammen, und das erste Mal während dieses Kampfes war er gezwungen, sich rückwärts zu bewegen und dabei Gideon zu Boden fallen zu lassen.

Ich habe ihn verletzt! Ich habe es geschafft! Es war die einzige Freude, die sie den ganzen Tag lang empfunden hatte. „Gideon! Nissa! Wir können das schaffen!“ Gideon war bereits auf den Beinen und auf dem Weg zu ihr. Nissa war seltsam still. Chandra wusste nicht, was sie vorhatte, doch sie vertraute darauf, dass ihr etwas einfiel.

„Genug jetzt, närrisches Kind.“ Der Drache schwang sich in die Luft und damit aus der Reichweite ihrer stärksten Feuerstöße, doch das hielt sie nicht davon, sie weiter auf ihn zu schleudern. Es fühlte sich gut an, etwas zu tun.

„Chandra Nalaar. Du hattest so viele nützliche Eigenschaften. Mächtig. Emotional instabil. Leicht zu manipulieren. Erfrischend berechenbar unberechenbar. Ich wollte wirklich, dass das mit uns etwas wird.“ Bolas’ Stimme dröhnte durch die leere Luft. Ich bin nicht leicht zu manipulieren, dachte sie voll aufsteigender Wut. Ihre Flammen erhellten den Nachthimmel.

„Aber Feuer? Gegen einen Drachen? Einen Drachen! Ich habe schon gewisse Standards.“ Bolas stieg noch höher hinauf und breitete seine Flügel weit aus.

Er beendete den Aufstieg und schoss wieder auf Chandra zu, die Schwingen nun eng an den massigen Leib gepresst. Komm doch, dachte sie. Das war es, was sie wollte: die Gelegenheit, alles fahren zu lassen und alles brennen zu sehen. Das Feuer strömte frei und rückhaltlos aus ihr heraus.

Wenn sie auf diese Weise sterben sollte, würde sie den Unhold mit in den Tod reißen.

Die Erde um sie herum erhob sich.

Ein gewaltiger Wirbel aus Steinen und Erde und Wurzeln schoss aus dem Boden und versuchte, den herabstürzenden Drachen aufzuspießen. Bolas schwenkte im letzten Augenblick beiseite, doch weitere Sporne schossen hervor: tödliche Spitzen, die darauf aus waren, ihn zu töten. Er wich ihnen aus und begann, weite Kreise zu ziehen.

„Ja! Los, Nissa!“ Sie spähte zu Nissa am anderen Ende des verwüsteten Platzes hinüber und sah ihre Freundin vollkommen von einer grünen Aura umhüllt, während sie die Erde gegen den Drachen aussandte. Sie wusste, dass Nissa sich etwas Tolles würde einfallen lassen. Chandra war nun inmitten einiger Sporne aus dicken Felsen geschützt und konnte ihr Feuer auf den Drachen schleudern. „Wir können das schaffen ...“

Bolas’ Schwanz krachte durch die Felsen und zerschmetterte sie, als wären sie dünnes Glas. Von dem Schlag beschleunigte Felsen und Steine flogen auf Chandra zu. Instinktiv wirkte sie eine Flammenwelle, um die Geschosse abzuwehren, doch diese trafen sie dennoch und schleuderten sie gegen einen der weiter entfernten Felssporne.

Schmerz pulsierte durch ihren Körper. Einige ihrer Rippen waren gebrochen. Benebelt versuchte sie, sich aufzurappeln, als sie die gewundene Gestalt von Nicol Bolas sah, die sich durch die Felstrümmer schlängelte – mit einem für jemanden dieser Größe atemberaubenden Geschick. Er rauschte heran und las sie mit einer gewaltigen Klaue auf.

Sie versuchte, weiteres Feuer heraufzubeschwören, doch der Schmerz war zu stark. Nicol Bolas drückte mit seiner Klaue zu, und sie spürte eine weitere Rippe brechen. Qualvoll schrie sie auf.

Nicol Bolas lächelte. „Ja, Chandra. Lass mich dir zeigen, wozu Drachen fähig sind.“

Ein gewaltiges Erdelementar erhob sich hinter Nicol Bolas und rammte dem Drachen seine riesige Faust gegen den Kiefer. Bolas knurrte und drehte sich zu dem Elementar um, nachdem er Chandra zu Boden fallen gelassen hatte.

Hui. Das ist wirklich jede Menge Schmerz. Sie hatte Mühe aufzustehen. Sie musste Nissa helfen. Um sie herum drehte sich alles, und sie stolperte erneut. Der Boden bebte, als das Elementar und der Drache miteinander rangen, und in der Ferne konnte Chandra weitere titanische Gestalten aus Erde sehen, die sich in den Kampf stürzen wollten.

Trotz ihrer Qualen lächelte Chandra. Vielleicht konnten sie das wirklich schaffen ...

„Also schön. Ich war wohl etwas zu bescheiden. Ich bin nicht nur ein Drache.“ Nicol Bolas sprach ein einzelnes Wort, das Chandras Ohren, sobald sie es gehört hatte, auch schon wieder verließ, und schwarze Tentakel erhoben sich aus dem Boden, rankten sich um Nissas Brust und Kehle und würgten sie, während sie sich verzweifelt ihrem Griff zu entwinden versuchte.

Nein, nein, nein, ich muss ... Chandra machte einen Schritt auf Nissa zu und schrie vor Schmerz auf. Sie konnte sich kaum bewegen.

Nissa blickte sie an und rief: „Geh! Geh fort!“ Die Tentakel griffen unbarmherzig an, und selbst als Nissa sie mittels Magie durchtrennte, erhoben sich weitere, um ihren Platz einzunehmen.

„Nein ...“ Chandra hustete, und da war Blut: rote Tropfen, die auf die Trümmer unter ihr spritzten. Sie versuchte, sich gerade zu halten und dem Drang zu widerstehen, sich zu übergeben. Wo ist Gideon? Sie schaute sich nach ihm um und erkannte, dass sie nur noch Augenblicke davon trennten, das Bewusstsein zu verlieren.

Nissa schrie sie erneut an. „Geh! Mir geschieht schon nichts! Aber du wirst sterben! Geh doch!“

Chandra konnte Gideon nicht finden. Sie konnte Nissa nicht retten. Sie konnte den Drachen nicht besiegen. Sie konnte nicht einmal bei Bewusstsein bleiben.

Wenn ich hierbleibe, werde ich sterben. Sie wollte nicht sterben. In einem feurigen Gleißen verließ sie diese Welt, und das Einzige, was von ihrer Anwesenheit dort zeugte, war das Blut, das die Steine befleckt hatte und das nun ebenso von der Hitze versengt wurde.


Nissa

Nissa verspürte Erleichterung, als Chandra diese Welt verließ. Sie konnte nicht darauf hoffen, sich selbst und Gideon zu retten, während sie gleichzeitig eine schwer verwundete Chandra beschützte. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie Gideon und sich selbst überhaupt retten konnte.

Dieser Kampf verlief nicht gut. Nissa konnte Bolas’ Zauber kaum die Stirn bieten, während ihre Elementare erstarrt waren und nicht mehr durch ihren Willen belebt wurden, da sie nun selbst um ihr Leben kämpfte.

Schon früh während des Kampfes, nachdem deutlich geworden war, dass kleinere Beschwörungen dem Drachen nichts anhaben würden, hatte sie versucht, ein engeres Band mit der Erde einzugehen. Es war gewesen, wie sich durch zähen Schlamm zu kämpfen. Irgendwie hatte die Gegenwart des Drachen den Widerstand des Landes gegenüber Nissas Berührung noch verstärkt.

Doch am Ende war sie endlich zu der Erde durchgedrungen und hatte genug Kontrolle über sie erlangt, um sie Kraft ihres Willens zu bewegen – nur um dies alles durch ein einziges Wort von Bolas zunichtegemacht zu sehen. Sie hatte geglaubt, ihr Schicksal wäre ein anderes auf dieser Welt, und sie hatte gedacht, ihre Zeit in Kefnets Tempel hätte ihr Möglichkeiten eröffnet, die zuvor noch unvorstellbar gewesen waren ... doch nein, Kefnet und die anderen Götter lagen tot in den Straßen, ihre Fäden durchtrennt und ihr Zweck unergründet.

Und dieser Kampf, diese Auseinandersetzung mit dem Bösen, das Nicol Bolas war ... Die Wächter standen auf dem Prüfstand.

Nissa hatte den Zweck der Wächter bisher noch nie infrage gestellt. Es gab immer eine unmittelbare Aufgabe: Unrecht, das wiedergutgemacht werden musste, oder Böses, das es zu überwinden galt. Und so war es auch geschehen. So lange war es gut gegangen. Bis jetzt. Bis ein Drache von gewaltiger Macht und nicht minderem Intellekt ihnen den Fehler aufgezeigt hatte, unvorbereitet und mit zu wenig Macht vorzupreschen.

Vielleicht gab es einen anderen Weg.

Solcherlei Gedanken beschäftigten sie, während sie versuchte, die Kontrolle über das Land zurückzuerlangen. Wenn sie in diesem Kampf irgendeine Chance haben wollte, brauchte sie unbedingt die Hilfe der Erde.

Nicol Bolas’ Gedanken drangen ranzig und ölig in ihren Verstand ein. Dieses Land gehört nicht dir, Elfe. Es ist mein. Wage nicht, es anzurühren. Dunkle, nekrotische Energie schoss durch die Leylinien, die zu kontrollieren Nissa sich abgemüht hatte. Die Verderbnis peitsche durch sie hindurch und verdorrte Fleisch und Gewebe. Sie schrie vor Pein auf.

Nun erkannte sie die Wahrheit. Sie hatte nie eine Chance gehabt. Das Land hatte sich vor langer Zeit Bolas unterworfen und ihn als seinen Meister anerkannt. Sie musste fort, fort, aber die Ranken des Zerfalls hielten sie hier fest.

Der Drache näherte sich langsam und mit breitem Lächeln. „Die Zeit der Erkenntnis ist nahe. Du bist gesegnet, Zeugin des Anfangs vom Anfang zu werden, Nissa Revane. Ein Geschenk, das nur wenigen Sterblichen zuteilwird.“

Etwas krachte tief und mit großer Wucht in die Flanke des Drachen und warf ihn aus dem Gleichgewicht. Es war Gideon, doch Nissa hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, wie sie ihm helfen konnte, denn die fesselnden Ranken schnürten ihr den Atem ab. Sie nutzte Gideons Eingreifen, um sich von dieser toten Hülle einer Welt zu befreien.


Gideon

Wut verzehrte ihn. Nur einmal in seinem Leben hatte Gideon sich so hilflos gefühlt. Er hatte sich geschworen, nie wieder zuzusehen, wie seine Freunde starben, wie damals als Erebos alle getötet hatte, die ihm lieb und teuer gewesen waren. Dieses ganze Gefecht war von Anfang an, als Bolas ihn aus dem Kampf herausgehalten hatte, nichts als ein einziger Albtraum. Gideon hatte nur mit verdrossener Ohnmacht zusehen können, wie Bolas sich erst Jace entledigt und dann Liliana überzeugt hatte, sie kampflos zu verlassen.

Er hatte mit angesehen, wie Chandra und Nissa nur knapp dem Tod entgingen, und er war froh, dass ihnen die Flucht gelungen war. Er konnte sich nicht vorstellen, wie er mit dem erneuten Tod seiner Freunde fertigwerden sollte, besonders deshalb, da er wusste, dass alles nur seine Schuld gewesen wäre.

Er kletterte Bolas’ Beine hinauf und versuchte verzweifelt, sein Sural in die Kehle des Drachen zu stoßen. Bolas griff mit einer großen Klaue nach ihm und schleuderte ihn zurück zu Boden. Gideons gesamte Unverwundbarkeit hatte sich als wenig nützlich gegen einen Gegner von der Größe, Kraft und Masse des Drachen erwiesen. Gideon wehrte sich gegen Bolas’ Krallen, doch er konnte ihnen nicht entkommen.

„Du kannst nicht gewinnen. Wir werden dich besiegen.“ Trotzig spie er die Worte aus, doch selbst in seinen eigenen Ohren klangen sie hohl. Er musste weiterkämpfen.

„Ich kann nicht gewinnen? Ich kann nicht gewinnen?“ Bolas’ Gelächter donnerte über den Platz. „Gideon Jura, du bist sehr schlecht darin, die Wirklichkeit zu analysieren. Ich habe gegen Tausende von Generälen, Tausende von Taktikern und Strategen und Feldherren gekämpft, und du bist wahrscheinlich der Schlechteste von ihnen. Lass mich dir helfen. Das Ignorieren offenkundiger Wahrheiten ist in unserem Metier eine tödliche Schwäche. Ich begreife selbstverständlich die Wichtigkeit von ... Ehrgeiz, doch in der Lage zu sein, die Tatsachen vor einem zutreffend zu bewerten, ist eine entscheidende Fähigkeit unseresgleichen.“

Gideon war sich bewusst, dass der Drache versuchte, ihn weiter anzustacheln und ihn aus der Fassung zu bringen, doch Gideon wusste auch, dass Bolas dieses Ziel bereits erreicht hatte. Er hatte vor langer Zeit aufgehört, logisch zu denken. Und deshalb habe ich verloren.

„Du schließt dich mit einem Illusionisten zusammen, aber du bist der wahre Illusionist. Du betrachtest dich als unverwundbar, ja? Ein Taschenspielertrick, Gideon. So unverwundbar bist du wirklich.“

Eine von Bolas’ Krallen begann zu leuchten, während sie sich gegen den Schild drückte, der Gideon schützte. Die Kralle drückte und drückte, und der Schild teilte sich wie weiche Butter. Die scharfe Spitze durchbohrte Schild und Rüstung und Fleisch. Gideon verzog vor Entsetzen und Schmerz das Gesicht, schrie jedoch nicht auf.

„Ich könnte dich töten, Gideon, wann immer ich wollte. Aber ich nehme an, es macht dir nichts aus zu sterben – so achtlos, wie du mit deinem Leben und dem Leben anderer spielst.“ Gideon warf den Kopf vor und zurück und versuchte verzweifelt zu entkommen.

„Nein, es ist viel besser für dich, wenn du heute überlebst, um zu wissen, wie erbärmlich und wie nutzlos du warst. Und besser noch: um zu wissen, wie wenig mich all das schert. Ich lasse dir die Wahl: Bleib und stirb oder gehe fort und lebe. Mir ist es gleich.“ Das Lächeln des Drachen klaffte wie eine frische Wunde.

Gideon erkannte schockiert, dass ein Teil von ihm sich wünschte, an Ort und Stelle zu bleiben, um keine Schuldgefühle mehr wegen des Todes von Drasus, Olexo und all seinen Freischärlern zu verspüren. Wegen all derer, die auf Zendikar gestorben waren. Er wollte kein weiteres Blut an seinen Händen. Er konnte einfach ... alles loslassen.

Beklemmende Bilder huschten durch seinen Verstand. Drasus, der ihn anstarrte und das Wort „Feigling!“ ausspuckte. Erebos, der über ihm aufragte, das Lachen des Gottes des Todes, das in seinem Kopf rasselte: „Ja, Feigling, komm nur zu mir!“ Chandra, die ihn anschrie: „Verräter!“

Er konnte bleiben und sterben ... oder er konnte gehen und leben. Und lernen. Und kämpfen. Bolas glaubte nicht, dass Gideons Entscheidung eine Rolle spielte. Letztendlich war es die Gleichgültigkeit des Drachen, die Gideons Wahl besiegelte. Er würde ihn eines Besseren belehren.

Er zwang seinen Körper durch die Blinden Ewigkeiten, und das Loch, das der Drache in seiner Schulter hinterlassen hatte, war nur die sichtbarste seiner Wunden.


Der Platz war still und ruhig und wurde nur von den Feuern erhellt, die von Chandras Toben übrig geblieben waren. Einige Minuten später als gewünscht traf Tezzeret ein.

„Du bist zu spät“, sagte Nicol Bolas. „Hattest du Zweifel?“

Tezzeret diente ihm schon lange genug, um die richtige Antwort zu kennen.

„Nein, Meister, ich hatte keine Zweifel. Ich wurde ... aufgehalten. Ihr habt sie so schnell besiegt, wie Ihr es vorhergesehen hattet.“ Er spähte über den Platz und suchte nach Leichen von Planeswalkern, die es nicht gab. „Ich kann mich aufmachen, um herauszufinden, wohin –“

„Nein. Es spielt keine Rolle. Das war besser als Blut.“

Tezzeret blickte ihn verwirrt an, doch er wusste, dass er keine weitere Erklärung erhalten würde.

„Meister, ich sollte Euch unterrichten, dass ...“

„Später. Geh und sage Ral Zarek, dass er zu mir kommen soll. Sein Fortschritt ist zu langsam.“ Tezzeret hasste es, als Botenjunge missbraucht zu werden – und gerade deshalb hatte Bolas so viel Freude daran. Ein aus der Bahn geworfener Tezzeret war ein nutzbringender Tezzeret. Jedes Mal, wenn er ein wenig Zufriedenheit gefunden hatte, wurde er rasch nutzlos. „Geh. Sofort.“

Tezzeret neigte den Kopf und verschwand. In der Stille der Nacht – der ersten wahren Nacht seit Jahren auf Amonkhet – begutachtete Bolas die Leichen und die Zerstörung und die Ruhe. Er hatte sich bei der Schöpfung dieser Welt vor sechzig Jahren gut geschlagen. Er hatte sich heute gut geschlagen. Die Weltenbrücke gehörte ihm. Seine Streitmacht war bereit. Die Wächter waren über das Multiversum versprengt.

Er brüllte in die Nacht, und ein Feuerstoß jagte aus den Tiefen seiner Kehle empor. Vieles von dem, was Bolas tat, war nur ein Schauspiel für ein Publikum, und dies war in jedem Gefecht ein wichtiger Teil seiner Taktik. Doch dieses Brüllen war nur für ihn. Keine Schatten mehr. Kein Umherschleichen mehr. Kein Verstecken mehr.

Nicol Bolas, Drachenältester, Genie, Erzmagier und Planeswalker unternahm endlich seine ersten Schritte: offen und sichtbar.

Mögen sie nun alle erzittern, denn sie werden sich noch früh genug verneigen. Er schwang sich in die Luft, um sich noch mehr von der Zerstörung anzusehen, die er entfesselt hatte. Und einen Augenblick lang war er zufrieden.


Stunde der Vernichtung-Storyarchiv
Planeswalker-Profil: Nicol Bolas
Planeswalker-Profil: Jace Beleren
Planeswalker-Profil: Liliana Vess
Planeswalker-Profil: Chandra Nalaar
Planeswalker-Profil: Nissa Revane
Planeswalker-Profil: Gideon Jura
Planeswalker-Profil: Tezzeret
Weltenbeschreibung: Amonkhet