Was bisher geschah: Gunst

Der Gott-Pharao ist zurückgekehrt, und die fünf Stunden sind wie prophezeit angebrochen. Die Stunden der Offenbarung, des Ruhms und der Verheißung haben Unheil über Naktamun gebracht, und nun beginnt mit der Stunde der Ewigkeit ein Schrecken, der den Bewohnern der Stadt unvorstellbar nahegeht.


Nun war Glaube mit einem Mal gerechtfertigt.

Nylah hatte all die Eiferer zuvor nie verstanden – oder deren nie enden wollendes Bedürfnis, ständig ihren Glauben zu verkünden. Die Götter wandelten unter ihnen. Es bedurfte jetzt keiner besonderen Hingabe mehr, um an sie zu glauben – nur Augen, um sie anzublicken. Nur Hände, um sie zu berühren. Nur Ohren, um ihnen zu lauschen. Worte, die die Götter sprachen, hallten durch die Stadt, und ihr göttliches Gewicht war mehr als offensichtlich und wahrer als alles, was sonst noch existierte.

Den Glauben an sich hatte Nylah nie verstanden. Sie hielt ihn für Schwäche, für das Vortäuschen von Frömmigkeit für jene, deren Charakter Schwächen zeigte. Was nützte Glaube, wenn die Götter so untrüglich echt waren?

Doch jetzt glaubte sie.

Die Rückkehr des Gott-Pharaos hatte ihre Gedanken bislang wenig beschäftigt. Es gab noch immer so viel zu lernen und so viel zu meistern. Sie wollte die Beste sein. Wie alle. Welchen Sinn hatte es, über die Prüfungen hinaus zu denken, wenn die Prüfungen alles waren, wonach sie strebte? Kein Liebhaber, kein Kind, kein Freund hatte lange in ihrem Leben verweilt. Niemand konnte es mit ihrem Ehrgeiz aufnehmen. Ja, die Götter verdienten ihre Verehrung, und ihre Übungen waren ihre täglichen Gebete an sie. Ihr einziges Ziel war es, sich als würdig zu erweisen. Und dieses Streben duldete nichts neben sich.

Aber dennoch hatte sich ihr Puls beschleunigt, als sich die Tore zum Paradies geöffnet hatten. Zu wissen, dass eines Tages jetzt war, dass die Ewigkeit hier war ... ! Sie reckte den Hals, begierig darauf, Zeugin der göttlichen Glücksseligkeit zu sein ... doch hinter den Toren zeigte sich keine Glücksseligkeit. Nur Schrecken.

Niemals hatte sie die Schönheit der Stadt zu schätzen gewusst, bis sie ihr genommen worden war. Der mächtige Luxa, einst so blau wie der Sommerhimmel, floss nun blutrot dahin, gefüllt von stinkenden Fischkadavern und brodelndem Unrat. Wolken surrender Heuschrecken fraßen Gärten und Bäume kahl und stürzten sich auf kleine Tiere, um nur Gerippe zurückzulassen.

Selbst die Götter starben. Der mächtige Rhonas. Der kluge Kefnet. Die ehrgeizige Bontu. Die schöne Oketra. Sie alle waren tot, ihre Göttlichkeit hinfortgerissen durch eine überraschend aufgekommene Sterblichkeit.

Was für ein Gott ist ein Gott, der stirbt?

Nylahs bösartigster Gedanke kam ungebeten in ihrem Verstand auf. Die Götter haben ihre Prüfung nicht bestanden. Sie haben den Tod verdient.

Ein Augenblick des Innehaltens, und dann tat sich lockend der Abgrund auf. Das tun wir alle.

Dieser letzte Gedanke jagte ihr keine Angst ein. Stattdessen entzündete er eine Glut in ihrem Inneren, eine tröstliche Wärme, hier, am Ende des Jetzt und am Beginn der prophezeiten Ewigkeit. Ihre Stadt war verwüstet, ihre Götter tot, ihr Volk auseinandergestoben. Und niemals war ihr Glaube stärker gewesen als in diesem Moment.

Wir müssen geprüft werden. Ohne Prüfung kann es keine Ehre geben. Ohne Opfer keinen Ruhm. Ohne Tod kein Leben. Die Litanei der Priester hatte sie zuvor nie gekümmert, doch nun klammerte sie sich an jedes Wort, als wäre es ein Floß inmitten einer Flut. Dies war ihre Prüfung. Dieser Schrecken war es, den sie überwinden musste, um sich als würdig zu erweisen.

Das Wort schlug eine tiefe Saite in ihrem Herzen an. Würdig.

Eine Schar Engel am Himmel, die all das Chaos und all die Gewalt ohne einzuschreiten beobachtet hatte, warf plötzlich die Köpfe zurück und breitete Arme und Schwingen aus. Ihre Augen erstrahlten in einen kränklichen grünen Schein, als sie im Chor riefen: „Die Verewigten kommen!“

Nylah stand neben dem Eingang des zentralen Mausoleums, wo die würdigen Toten verwahrt wurden. Als die Engel ihren Ruf wiederholten, taten sich die Tore des Mausoleums auf.

Eine grausige Gestalt, hochgewachsen wie ein Gott, in Form eines Skarabäus und in Dunkelheit gehüllt, schritt durch das geöffnete Tor. Und hinter ihr, im Nachgang ihrer unergründlichen und finsteren Göttlichkeit, folgte eine Streitmacht.

Es waren Tausende, gewappnet mit einem harten, metallischen Hellblau. Menschen und Minotauren und Naga und Aviore. Sie alle waren imposant, obwohl ihre Gestalten nur aus Sehnen und Knochen bestanden und mit poliertem Lazotep schöner als jeder Edelstein überzogen waren. Nylah stellte fest, dass sie trotz der fehlenden Muskeln eine Reihe ehemaliger Auserwählter und Teilnehmer an früheren Prüfungen wiedererkannte. Der Minotaurus Bakenptah, der seine Axt durch eine Steinmauer getrieben hatte, um seinen letzten Gegner zu bezwingen. Die Zauberin Taweret, die viele die mächtigste Magierin genannt hatten, welche seit einem Jahrzehnt bei den Prüfungen gesichtet worden war. Wohin Nylah auch sah, erblickte sie Auserwählte, die sie kannte, und noch mehr, die sie nicht kannte.

Alle von ihnen trugen scharfe, glänzende Waffen, und die toten Auserwählten bewegten sich mit einer Anmut und Geschmeidigkeit, die nahelegte, dass keiner von ihnen jene Beweglichkeit oder jene Kraft eingebüßt hatte, denen er seine früheren Siege verdankte.

Dies waren die Verewigten. Die würdigen Toten. Dies war das Schicksal derer, die auserwählt wurden.

Nylahs Herz schlug laut vor Neid. Dieses Schicksal war alles, was sie je gewollt hatte. Alles, was sie noch immer wollte. Die Skarabäus-Gottheit schritt an Nylah vorüber, ohne Notiz von ihr zu nehmen, doch die Streitmacht der Würdigen hinter dem göttlichen Wesen bemerkte sie.

In ihren Augen leuchteten goldene Flammen, und ihre Gesichter waren zu einem grimmigen Grinsen erstarrt, als sie die Waffen hoben. Nylah konnte das sanfte Licht der Dämmerung sehen, das sich auf ihren Klingeln spiegelte. Sie umschwärmten sie, während sie ekstatisch aufjauchzte und nichts mehr wollte, als auf ewig eins mit ihnen zu sein.

„Jetzt glaube ich!“, rief sie ihren geliebten Geschwistern zu. Jede Klinge senkte sich mit einem kalten Kuss in ihr Fleisch, ein Gruß aus dem Jenseits des Ruhms, eine Schärfe, die nicht vorstellbar war, sondern nur gespürt werden konnte – nur erlebt.

Jetzt glaube ich, dachte sie bei jedem Schlag. Ihre Verwandten stürzten sich auf sie und stachen zu ... wieder und wieder. Jetzt glaube ich.

Jetzt wurde Glaube belohnt.


Asenue würde verlieren.

Es lag nicht daran, dass die anderen besser waren als sie, obgleich ihre Widersacher einige der besten Klingenmeister waren, gegen die sie je gekämpft hatte: hingebungsvolle Auserwählte, die im Tod nichts von ihrem Können eingebüßt hatten. Auch sie war eine Meisterin in der Blüte ihrer Fähigkeiten und ihrer Ausbildung.

Es lag auch nicht daran, dass sie allein gegen zwei von ihnen stand, obwohl das Verhältnis nicht zu ihren Gunsten ausfiel. Sie hatte ihren Kampfstil mit zwei Klingen eben genau wegen seiner Nützlichkeit beim Kampf gegen mehrere Gegner ausgewählt, und sie verspürte einen echten Kitzel, als sie Hiebe parierte und herumwirbelte und Angriffe konterte. Ihre Handgelenke waren Verlängerungen ihres Verstandes, die zwischen Anspannung und Lockerung wechselten, während sie sie für eine weitere Parade, einen weiteren Schlag, einen weiteren Atemzug am Leben hielten. Nur noch einen Atemzug mehr.

Nein. Sie würde diesen Kampf verlieren, weil sie menschlich war. Ihre Gegner indes nicht.

Ihre Schultern schmerzten. Ihre Lungen brannten. Ihre Beine ermüdeten. Die Stimme ihres Waffenmeisters schrie sie an: „Ihr Dummköpfe glaubt, eure wichtigsten Muskeln wären in euren Armen, euren Schultern und eurem Rücken? Sie sind in euren Beinen! Wenn eure Beine müde werden, werdet ihr sterben!“ Und ihre Beine waren sehr, sehr müde.

Sie würde verlieren. Sie würde sterben.

Irgendwann. Aber nicht jetzt. Nicht gerade jetzt. Nur noch einen Atemzug mehr.

Erst seit einigen Minuten preschten Hunderte von albtraumhaften Kreaturen in blauer Rüstung und mit Skelettgesichtern durch die Straßen von Naktamun und mähten alles in ihrem Weg nieder. Die Engel hatten sie die „Verewigten“ genannt. Asenue sah ihre Mitbürger – Saatgeschwister, Freunde und entfernte Bekannte gleichermaßen – unter den Klingen der Verewigten fallen.

Ich liebe euch – jetzt, da das Ende kommt. Ob ich euch nun kenne oder nicht. Ich liebe euch alle.

Es war jene Liebe, derentwegen sie sich in den Kampf gestürzt hatte. Menschen starben beim ersten Ansturm; Menschen starben, als sie schreiend zu fliehen versuchten; Menschen starben, als sie um den Beistand ihrer Götter bettelten. Die Verewigten töteten sie alle, und kein Hauch von Gnade verlangsamte ihre Klingen.

Asenue hatte sich in das Gemetzel geworfen und die Aufmerksamkeit zweier Verewigter auf sich gezogen, während zahllose andere in ihrer Mordlust an ihr vorbeigeeilt waren. Doch diese beiden konnte sie aufhalten.

Nur, dass ihr das nicht gelingen würde. Sie würde ihren Klingen nicht zum Opfer fallen. Zumindest nicht so einfach. Doch während die Verewigten Asenue vielleicht nicht töten konnten, waren sie dennoch zu gut, als dass Asenue sie hätte bezwingen können. Um sie herum hatten sich andere Kämpfer den größeren Gefechten auf der Straße angeschlossen, und Asenue hörte ihr schweres Atmen, das Scheppern von Stahl und gurgelnde Todesschreie.

Niemand kam, um sie zu retten.

Doch ihre Rettung spielte auch gar keine Rolle. Jeder Augenblick, den sie am Leben blieb, bedeutete, dass jemand anders nicht starb ... Dass jemand anderem noch ein Wimpernschlag mehr blieb. Ein Wimpernschlag, um zu überleben und sich in Sicherheit zu bringen.

Irgendwo musste es doch sicher sein, oder? Es musste einfach so sein ... Sie unterbrach den Gedanken. Noch einen Atemzug mehr.

Vor einigen Minuten – vor einer Ewigkeit – hatte Panik gedroht, sie zu überwältigen. Sie war stark, geschickt und es dank ihrer Ausbildung gewohnt, einen ganzen Tag lang über Stunden hinweg zu kämpfen ... doch niemals, ohne je innezuhalten, niemals ohne einen einzigen Augenblick, um zu Atem zu kommen, niemals gegen Gegner, die um so vieles stärker und schneller waren als sie und die niemals schwitzten, ermüdeten oder stolperten.

Die Panik hatte sich in ihrer Brust ausgebreitet, bis sie auf ihr neues Mantra gestoßen war. Dann wurde ihr Atem ruhiger, und der Schmerz in ihren Schultern verschwand in weite Ferne, und das Feuer in ihren Lungen brannte schwächer, und ihre Beine bewegten sich weiter und weiter und weiter ... durch die bloße Kraft ihres Willens.

Noch ein Atemzug mehr.

Asenue sah einen, zwei, drei Menschen mehr, die unverletzt durch eine zerborstene Mauer vor ihr huschten. Sie hatte keine Zeit, ihnen alles Gute zu wünschen oder gar zu hoffen, dass sie den morgigen Sonnenaufgang noch erleben würden. Das Atmen schmerzte. Es schmerzte, sich zu bewegen. Ihre Beine waren so müde.

Noch ein Atemzug mehr. Noch ein Atemzug. Noch. Ein. Atemz–


„Makare! Makare!" Genub schrie in irrer Verzweiflung den Namen seiner Geliebten in den sich verfinsternden, roten Himmel. In der Ferne sah er die Mörder in ihren blauen Rüstungen, ihre grotesken Gestalten ein Zerrbild ihres früheren Selbst. Er wusste, dass er sterben würde, wenn er sich ihnen stellte, doch wenn er Makare nicht fände, würde er den Tod ohnehin willkommen heißen.

Vor Monaten schon hatten sie einander die Treue geschworen und jene drei wahren Worte gesagt, die auszusprechen verboten war. Eine Lästerung des Gott-Pharaos – so nannten es die Priester, doch die Liebenden kümmerte das nicht. Nichts – weder die Prüfungen noch ihre Saatgeschwister noch der Gott-Pharao selbst – hatte angesichts ihrer Liebe eine Rolle gespielt.

Später in jener Nacht – in dem stillen Hain, in den sie sich zurückgezogen hatten – hatte sie zu ihm aufgeblickt, und ihre großen braunen Augen waren das Einzige gewesen, was er jemals hatte sehen wollen.

„Ich werde immer bei dir sein, Genub“, hatte sie gesagt. Er hatte nicht gewusst, wie das möglich sein sollte – wie sie wohl zusammenbleiben und den Prüfungen entgehen konnten –, doch in jenem Augenblick war ihm das einerlei gewesen.

„Ich werde immer bei dir bleiben, Makare.“ Und als er es gesagt hatte, war er überzeugt davon gewesen, dass es die Wahrheit war. Es fühlte sich wahrhaftiger an als alles andere in Naktamun.

Und nun war sie fort. Nachdem Oketra gefallen war, hatte jemand geschrien, es gäbe außerhalb der Stadt einen alten Tempel, in dem sie sicher wären. Sie waren als Teil einer großen Gruppe losgerannt, und Genubs Herz war vor lauter Schrecken ins Wummern geraten, während er Makares Hand umklammert gehalten hatte.

Solange wir nur zusammen sind, hatte er gedacht und sich verzweifelt an diesem Gedanken festgehalten. Wenn er nur bei ihr war, würde schon alles gut werden.

Dann hatte jemand aufgekreischt, und die Verewigten waren von allen Seiten her mit erhobenen Schwertern, Äxten und Sensen in ihre Straße hineingestürmt. Einer war geradewegs vor Genub und Makare gesprungen – ein Naga, geschmeidig und sehnig, der einen Zauber aus blauem Feuer wob, das zahllose Menschen hinter ihnen versengte.

Genub konnte sich nicht erinnern, was danach geschehen war – nur, dass er gerannt und gerannt war und sein Schrecken keinen Platz für irgendeinen anderen Gedanken gelassen hatte. Als er das nächste Mal angehalten hatte, um zu Atem zu kommen, war Makare nicht mehr da gewesen.

Er hatte versagt. Er hatte sie verlassen. „Makare!“, schrie er und drehte wild den Kopf, verzweifelt hoffend, einen Blick auf sie zu erhaschen.

Dort! Er rannte über einen verlassenen, verwüsteten Platz. Ihr braunes Haar und ihr Kleid mit den bronzefarbenen Streifen waren unverwechselbar. Just als er an ihre Seite lief, sah er, wie sich eine Gruppe von Ewigen an ihrer Flanke versammelte, doch diesmal würde ihn nichts aufhalten – selbst wenn er gegen sie alle kämpfen musste.

Er kam schlitternd vor ihr zum Stehen, als sie den Kopf drehte. Ihre Augen, das wunderschöne Braun ihrer Augen, war durch ein kaltes, leuchtendes Blau ersetzt worden. Sie starrte ihn an, und da war keine Liebe in ihrem Blick. Erst jetzt sah er die große Axt in ihrer Hand. Blutiges Braun befleckte die Klinge, und erst jetzt bemerkte er auch den Naga-Zauberer hinter ihr, der ihr etwas ins Ohr flüsterte.

Sie hob die Axt, und Genub wusste, dass es nicht sein konnte, er wusste, dass es ihm gelingen würde, sie zu erreichen und den Zauber zu durchbrechen, der auf ihr lag. Sie konnten noch immer frei sein. Sie konnten noch immer zusammen sein.

„Makare!“ Das Einzige, was in dieser Welt wahr war, war ihre Liebe füreinander. „Makare!“ Er musste sie erreichen, er musste zu ihr durchdringen. „Makare!“

Ihr Hieb wurde nicht langsamer. Ihre war nicht die einzige Klinge, die sein Fleisch durchstieß, doch sie war die erste. Als sie herniederfuhr, war das Letzte, was Genub sah, das Lächeln auf dem Gesicht seiner einzig wahren Liebe.


Kawit hätte aufgeben sollen, als Oketra gestorben war.

Ihre Göttin war seit ihrer frühesten Erinnerungen Teil ihres Lebens gewesen, und ihre Güte, ihre Wärme und ihre Gegenwart hatten für sie einen beständigen Ansporn dargestellt, ein besserer Mensch zu werden. Oketra zu kennen, Oketra zu verehren, in ihrem Licht zu baden – all das war so beständig wie die Sonnen am Himmel gewesen ... bis Oketras Licht ausgelöscht worden war, erstickt vom giftigen Stachel eines Skorpions.

Kawit hätte Verzweiflung verspüren sollen. Panik. Doch stattdessen empfand sie nichts als Wut. Einen gleißenden, verzehrenden Zorn, der in seiner weißglühenden Klarheit sämtliche Zweifel und alle Angst ausbrannte.

Sie kniete neben Oketra, als das Blut aus ihrer Göttin rann, deren Augen bereits ein stumpfes Grau angenommen hatten. Der Platz war bar jeglichen anderen Lebens. Die meisten waren vor der Bedrohung durch die Verewigten geflohen. Nur Kawit war zurückgeblieben und verspürte nichts als den Wunsch, ihre Göttin ein letztes Mal zu sehen. Eine wachsende Gruppe Gesalbter hatte sich um sie versammelt. Sie ölten Oketra die Haut und schlugen sie in Leinen, um die gefallene Göttin für das Schicksal vorzubereiten, das sie erwartete.

Inmitten der Toten kümmerte es niemanden, dass Kawit einen von Oketras Pfeilen aufhob, der in ihren Händen mehr wie ein Speer wirkte. Zwar war er nicht mehr vom Licht der Göttin durchsetzt, doch Kawit spürte dennoch eine summende Kraft in seinem Inneren, ein Nachhall der Präsenz ihrer Göttin.

Sie war eine Oketra treu ergebene Kriegerin, stolz und mächtig, und heute würde sie den Tod ihrer Göttin rächen.

Ein donnerndes, klapperndes Geräusch wurde hinter ihr lauter, und sie wandte sich um, um zu sehen, wie ein verewigter Minotaurus mit hocherhobener Axt auf sie zustürmte. Kawit hatte gerade genug Zeit, um sich mit ihrem neu erworbenen Speer gegen den Ansturm zu wappnen.

Der Minotaurus krachte in die Speerspitze, und Kawit spürte das Aufwallen von Macht. Weißes Licht blitzte auf, als der Minotaurus sich auflöste und seine blaue Lazoteprüstung dank Oketras Macht zu Staub zerfiel.

Kawit stand einfach nur da und keuchte, während ihr Zorn weiter anschwoll. Er würde nicht abklingen, ehe nicht jeder einzelne Verewigte zu Asche zerfallen war.

Und dann sah sie ihn.

Zuerst erblickte sie die Hörner, die lange, gewundene Form, deren Anblick ihr so vertraut war. Diese Hörner waren überall in ihrer Stadt, und sie wusste, dass es nur ein Lebewesen gab, zu dem sie gehören konnten.

Es war der Gott-Pharao selbst.

Er war gewaltig, größer noch als jeder Gott. Ein seltsames goldenes Ei schwebte zwischen seinen geschwungenen Hörnern. Und er war ein Drache. Ihr Verstand wankte einen Augenblick und fragte sich, ob dies ein Eindringling war: irgendeine böse Macht, die den Gott-Pharao übernommen hatte. War es dieser Betrüger, dessentwegen ihre Stadt verwüstet worden war und der Luxa sich in Blut verwandelt hatte? War es dieser Betrüger, dessentwegen ihre teure, wunderschöne Göttin tot war?

Die Klarheit ihres Zorns gab ihr ihre Antwort, und sie traf sie mit solcher Wucht, dass sie ihre Wahrheit sofort spürte.

Dieser Drache ist kein Betrüger. Dieser Drache ist unser Gott-Pharao. Diesem Wesen haben wir unser ganzes Leben lang gedient. Ihr drehte sich der Magen um, und ihr Kopf fühlte sich fiebrig heiß an.

Sie schrie ihre Herausforderung in den dunklen Himmel hinauf und reckte dem Gott-Pharao – nein, nicht mehr dieser Titel! – dem Drachen ihren Speer entgegen. „Ich werde dich töten!“ Sie stürmte auf ihn zu.

Ihr Schrei hatte die Aufmerksamkeit einiger in der Nähe umherziehender Verewigter auf sie gelenkt, und nun rannten, krochen und flogen sie auf sie zu.

Oketra, beschütze mich. Gib mir Kraft. Kawit wusste nicht – nicht wirklich –, zu wem sie da betete, doch das schmälerte ihre Zuversicht nicht, dass Oketra ihr beistehen würde.

Und das tat Oketra. Ein leuchtender, pulsierender Schild bildete sich um Kawit, ein greifbarer Ausdruck von Oketras Liebe und Macht. Verewigte prallten gegen den Schild und von ihm ab, als Kawit unversehrt weiter auf den Drachen zuschritt.

Oketra, lass meinen Treffer tödlich sein. Kawit schleuderte den Speer in die Luft, und er flog mit einer Geschwindigkeit und einer Präzision, die sie nie allein erreicht hätte. Er strahlte in der Luft, als wäre er geradewegs aus Oketras Bogen selbst abgeschossen worden, und er raste auf die Seite des Halses des nichtsahnenden Drachen zu.

Die Verewigten um sie herum hieben weiterhin vergeblich auf den Schild ein, der sie umgab. Oketras Liebe schützte sie. An diesem Tag sollte ihr Gerechtigkeit widerfahren.

Im letztmöglichen Augenblick wandte der Drache seinen Kopf dem Speer zu, und das Geschoss erstarrte mitten in der Luft, als es binnen eines Wimpernschlags sämtliche Geschwindigkeit und Kraft verlor. Der Speer fiel nutzlos zu Boden und brach entzwei, als er auf den rauen Stein prallte.

Der Drache betrachtete einen Augenblick lang den Speer, und dann sprach er mit einer Stimme wie Donnergrollen im Sturm: „Auf einer anderen Welt, Kind, in einer anderen Zeit ...“ Er hielt inne und warf ihr einen Blick zu. „... wärest du vielleicht von Nutzen gewesen.“ Da war kein Hass und kein Zorn in seinem Blick – vielmehr eine milde Belustigung. Er wandte sich ab, schritt davon und vergaß, dass sie jemals existiert hatte.

Dieser Augenblick der Unbekümmertheit erreichte, was ein Zornesausbruch nicht geschafft hatte. Sie brach unter dem Gewicht seiner Verachtung zusammen, gelähmt davon, wie viel ihres Lebens er ohne irgendeine Regung vernichtet hatte. Es wäre gütiger gewesen, so erkannte sie, ihr ihr Leben voller Zorn zu entreißen.

Sie kniete beinahe ohnmächtig nieder, während ihr Schild zu flimmern begann. Ein letztes Aufflackern, und dann war er fort.

Die Verewigten kamen näher, und Kawit hatte nicht mehr genug Kraft, um zu schreien.


Amenakhte hörte Schritte. Sanfte Schritte, nicht das harte Klirren von Metall auf Stein. Er fand, es sei sicher, ein Wort zu sprechen, bevor er in wenigen Augenblicken nie wieder etwas würde sagen können.

„Hilfe ...“ Blut tropfte ihm aus dem Mund, und das Wort gurgelte kaum verständlich zwischen seinen Lippen hervor. Er dachte, es wäre leichter, einfach zu sterben, aber er erinnerte sich des Kindes unter ihm – jenes mutigen und klugen Kindes, das selbst jetzt schwieg, um nicht noch mehr der Mörder aufzuschrecken.

Als das Blut aus seinem Mund sickerte, erkannte er, wie durstig er war, wie sehr ein Krug Wasser dabei helfen würde, ihn zu heilen. Alles wird gut. Ich brauche nur etwas Wasser, dachte er.

„Hilfe.“ Er sagte es erneut. Klar. Deutlich. Es erforderte mehr Kraft, das Wort zu sagen, als alles andere, was er an diesem Tag getan hatte, obgleich er allein in der letzten Stunde bereits stark genug für ein ganzes Leben gewesen war.

Irgendjemand drehte ihn um und hielt hörbar den Atem an. Er schaute zu seiner Retterin auf, doch sein Blick war verschwommen. Alles, was er erkennen konnte, war, dass sie menschlich war – keine aus der Armee der Verewigten, die die Straßen überfüllten und jeden töteten, den sie erwischten.

„Bitte“, krächzte er und spie mehr Blut aus. „Bitte rette das Kind.“

Er war davongelaufen. Das waren sie alle. Die Heuschrecken, die Zerstörung des Hekma, der Tod der Götter. Das war alles zu viel. Ihre Welt – alles, was sie über ihre Welt zu wissen glaubten – war ihnen innerhalb eines einzigen Tages entrissen worden.

Also rannten sie. Und dann entdeckten sie den wahren Schrecken der Stunden, die wahre Bedeutung der Rückkehr des Gott-Pharaos. Die Verewigten waren unter ihnen, ebenso zahllos wie die Heuschrecken, ebenso tödlich wie die Skorpion-Gottheit und ebenso gnadenlos, wie es der Gott-Pharao zweifellos sein musste. Ihre Klingen schlugen zu, ihre Zauber blitzten auf und Menschen starben.

Amenakhte war groß und hatte die breiten, starken Schultern eines Kriegers. Doch er war kein guter Krieger, und er war nie mutig gewesen. Die Verewigten töteten die, die rannten, und sie töteten die, die blieben. Amenakhte hatte gespürt, wie die Angst von ihm Besitz ergriff, bis er das Kind in der Mitte der Straße hatte laufen sehen.

Es war nicht sein Kind. Das wusste er. Er hatte sein Kind einst getroffen – ein paar Jahre war das her –, obwohl solch zufälligen Begegnungen meist wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde und man sie nie offen zugab. Nichtsdestotrotz hatte er die breiten Schultern des Kindes gesehen und das dichte schwarze Haar, das so sehr seinem eigenen glich, und er hatte es gewusst. Das ist mein Kind. Und sein Herz war an diesem Tag vor Stolz angeschwollen – auch wenn er diesen Stolz mit niemandem hatte teilen können, nicht einmal mit der Mutter der Kindes, die er nur selten sah.

Das Kind, das er heute schluchzend auf der Straße gesehen, hatte nicht sein dichtes schwarzes Haar oder seine breiten, starken Schultern gehabt. Doch irgendetwas hatte an Amenakhtes Herz gezupft, genau wie an jenem Tag, als er sein eigenes Kind gefunden hatte. Die Verewigten hatten begonnen, von beiden Seiten aus auf die Straße zu stürmen. Ihre Klingen hatten geblitzt und ihre metallenen Sohlen rau auf den Steinen geklirrt.

Er war zu dem Kind hingesprungen, hatte es hochgehoben, um es wegzutragen, aber die Verewigten waren überall gewesen. Ihre Klingen waren herniedergefahren, und alles, wozu Amenakhte noch Zeit gehabt hatte, war, sich zwischen die Klingen und das Kind zu werfen und es vor den Hieben zu schützen.

Ich bin dein Schild, Kind.

Er hatte jeden Schlag, jeden Schnitt gespürt, aber waren seine Schultern nicht breit? War er nicht stark? Bei jedem Stich hatte er an das Kind gedacht, das er beschützte. Seine einzige Hoffnung war gewesen, es am Leben zu erhalten.

Nach einem Augenblick, der sich wie eine Ewigkeit angefühlt hatte, war die brutale Gewalt vorüber gewesen, und das harte Klacken hatte sich fortbewegt. Der Mann hatte es nicht gewagt, sich zu regen, aus Furcht, die Verewigten zurückzuholen, doch nach wenigen Atemzügen war ihm klar geworden, dass er sich selbst dann nicht hätte bewegen können, wenn er es gewollt hätte. Das Kind hatte während des gesamten Aufruhrs geschwiegen. Selbst jetzt bemerkte er keine Regung. So tapfer. So klug. Ich werde dich retten.

Und nun war die Frau da, und Amenakhte konnte ihr das Kind geben. Und dann konnte er sterben.

Sie sagte nichts, doch sie kniete nieder und hielt seine Hand. Ihre Hände waren so warm, so weich. Sie waren beinahe so gut wie ein Schluck Wasser. Er blickte zu ihrem Gesicht auf, und obgleich er sie nicht gut erkennen konnte, wusste er, dass sie schön war.

„Wirst du ... Wirst du das Kind retten?“ Seltsam, wie die Worte nun leichter kamen als vorher, wie sie wie sein Blut aus ihm herausflossen. Sie nickte, und Amenakhte nahm wahr, dass sie weinte.

Weine nicht um mich, wollte er sagen. Nimm einfach nur das Kind. Doch sein Mund gehorchte ihm nicht.

Sie beugte sich dicht zu ihm und flüsterte ihm leise ins Ohr: „Das Kind ist ... Das werde ich“, schluchzte sie. „Ich werde ... das Kind retten.“

Ihre Stimme war wie ihre Hände, weich und warm wie der erste Tropfen goldenen Honigs, der aus der Wabe tropfte. Es wurde dunkel um ihn, und er versuchte, aus ihrem Gesicht, ihrem wunderschönen Gesicht, das letzte Silber der Sonne zu trinken, ehe er sich vor der Nacht verneigte ... endlos und dunkel und ewig.


Stunde der Vernichtung-Storyarchiv
Planeswalker-Profil: Nicol Bolas
Weltenbeschreibung: Amonkhet